1911 / 253 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 26 Oct 1911 18:00:01 GMT) scan diff

Deutscher Reichstag. 197. Sitzung vom 25. Oktober 1911, Nachmittags 1 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)

Auf der Tagesordnung steht zunächst die erste Beratung der Uebersicht der Einnahmen und Ausgaben der afrikanischen Schutzgebiete, des Schutzgebiets Neu⸗

Guinea, der Verwaltung der Karolinen⸗-, Palau⸗, Marianen- und Marschall-Inseln sowie des Schutz⸗ gebiets Samoa für das Rechnungsjahr 1908.

Ueber den Anfang der Sitzung ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden.

Abg. Dr. Görcke (nl): Was die Art der Uebersicht der Rech⸗ nungen über die Schutzgebiete betrifft, so nehme ich es als ganz n renn, an, daß die Kolonialverwaltung dem Vorgange der allgemeinen Reichsverwaltung darin folgen wird. Sehr wunder⸗ nehmen muß mich eine große Ueberschreitung bei einer Expedition zur Grenzvermessung. In der Erläuterung ist gesagt, daß es so kommen mußte, weil die Expedition in allerlei Schwierigkeiten gekommen wäre, Das mag zutreffend sein. Aber wie kann es nur vorkommen, daß bei einer solchen Kommission vergessen wird, die Gehälter des

gesamten Kommissionspersonals in dem Voranschlag anzusetzen! Das

verstehe ich nicht. Das müßte bei einer ordnungsmäßigen Voranschlag⸗

aufstellung unmöglich sein. Ich halte es ferner für nötig, daß die Budgetkommission eine scharfe Revision der Bestimmungen über den Pensionsfönds vornehmen müßte. Jemandem, der seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt hat, darf an seinen Bezügen nichts verkürzt werden. Aber man hört immer und immer wieder, daß Leute über die eigent⸗ liche Schädigung hinaus Pension erhalten. Auch im Reservefonds müßte mehr Klarheit herrschen. Es ist jetzt nicht zu übersehen, warum auf der einen Seite so große Kosten gespart sind, auf der anderen aber so große Mehrausgaben waren. Ich möchte der Hoffnung Aus⸗ druck geben, daß diese Uebersicht in Zukunft ein besseres Aussehen be⸗ kommen wird.

Staatssekretär des Reichskolonialamts Dr. von Linde quist:

Meine Herren! Es ist der Wunsch hier schon wiederholt aus⸗ gesprochen ich nehme in dieser Beziehung auf die Verhandlungen im Frühling Bezug daß wir in bezug auf unsere Schutzgebiete dem Reiche darin folgen möchten, daß künftig die „Uebersicht der Ein⸗ nahmen und Ausgaben“ und die Rechnung“ zusammengezogen werden. Ich habe bereits in der vorigen Session die Herren können es in dem stenographischen Berichte nachlesen erklärt, daß wir das tun werden. Sie werden in der Form einer „allgemeinen Rechnung“ von 1909 ab ebenso wie im Reich vorgelegt werden; im Reich ist es auch erst von F909 ab geschehen. Dem Reich in dieser Beziehung vor⸗ anzueilen, was geschehen wäre, wenn wir es schon für 1908 getan hätten, hat uns unsere Bescheidenheit nicht erlaubt.

Was nun die Versorgungsgebührnisse in Deutsch⸗Süd⸗ westafrika und die dort leider sehr erheblichen Ueberschreitungen an⸗ betrifft, so sind diese auf die Nachwirkungen des Aufstandes zurück⸗ zuführen. Es ist, wie schon von einem der Herren Vorredner aus⸗ geführt worden ist, nicht möglich gewesen, damals auch nur annähernd zu übersehen, wie groß die Versorgungskosten sein würden. Wir sind in dieser Beziehung sehr vorsichtig gewesen und gehen auch weiter sehr vorsichtig vor, indem nach einer bestimmten Zeit immer wieder von neuem nachgeprüft wird, ob die Betreffenden noch versorgungs⸗ bedürftig sind.

Es ist dann die große überetatsmäßige Ausgabe in Deutsch⸗ Ostafrika bemängelt worden. Ich möchte doch darauf aufmerksam machen, daß diese sich sehr einschränkt, wenn Sie die Bemerkung auf Seite 231 ansehen. Danach sind 992 000 4 Mehrausgaben ent⸗ standen, aber in Höhe von 338 000 M allein aus Anlaß der Münz⸗ ausprägung. Diesen 338 000 6 Mehrausgaben steht aber eine Mehreinnahme an Gewinn von 436 000 S entgegen, sodaß danach die ganze Mehrüberschreitung auf 653 000 „S, also ganz erheblich, zusammenschmilzt.

Dann ist man auf den Reservefonds eingegangen und hat, im Zusammenhang damit, speziell auch die Mehrausgaben bemängelt, welche in Togo für die Landungsbrücke entstanden sind. Meine Herren, der Reservefonds gehört bekanntlich der Vergangenheit an; wir haben ihn nicht mehr; wir haben ihn gerade aus den Gründen, die hier hervorgehoben worden sind, abgeschafft. 1908 bestand er aber noch. Nun war damals ein gemeinsamer Fonds für Verkehrsanlagen vorhanden. Dieser Fonds verfügte über erhebliche Mehreinnahmen; da stellte sich ganz unvermutet ein sehr dringendes Bedürfnis heraus, die Landungsbrücke in Togo zu verbessern; und wir waren, da beim Reservefonds ausdrücklich vorgesehen war, daß aus demselben dringende, unvorhergesehene Ausgaben geleistet werden konnten, wohl berechtigt, nachdem wir uns mit der Reichsfinanzverwaltung in Verbindung gesetzt hatten, diese Ausgabe aus demselben zu leisten. Das entspricht also vollkommen dem Etat.

Was die Grenzkommission anbetrifft, so handelt es sich da um die Grenzkommission von Nordkamerun. Das war eine gemischte deutsch⸗englische Kommission. Ihr Weg hat durch ein gänzlich un⸗ bekanntes und sehr schwieriges, namentlich sehr gebirgiges Gebiet geführt. Es ist infolgedessen nicht möglich gewesen, im voraus richtig zu veranschlagen, wie hoch die Ausgaben sich belaufen würden. Wenn der Herr Abg. Dr. Görcke meinte, es sei nun sehr schlimm, daß man die ganzen Gehälter für die Teilnehmer nicht mit angesetzt hätte, so muß ich da doch eine erhebliche Einschränkung machen; es handelt sich nicht um die Gehälter für die ganze Zeit, sondern lediglich für die Ausreise. In dieser Beziehung ist allerdings, wie ich zugeben muß, ein Versehen vorgekommen.

Die übrigen Einzelheiten werden ja noch in der Kommission be— handelt werden; ich möchte deshalb hier nicht weiter darauf eingehen.

Die Vorlage geht darauf an die Rechnungskommission.

Es folgt die erste Beratung der Rechnung über den Haushalt des Schutzgebiets Kiautschou für das Rechnungsjahr 1904 nebst den nachträglichen Bemerkungen des Rechnungshofs des Deutschen Reichs zu dieser Rechnung.

Abg. Erzberger Gentr.): Die Vorlegung dieser Rechnung hat auch übermäßig lange gedauert; vielleicht hat sie jahrelang irgendwo geschlummert. Zwischen dem Reichsschatzimt und dem Rechnungshof einerseits und dem Reichsmarineamt anderseits schwebt ein jahrelanger Konflikt, denn das Marineamt hat seine Kompetenz erheblich überschritten; es hat aus dem Kiautschouetat an Beamte Unterstützungen gegeben, die mit der Verwaltung von Kiautschou nichts zu tun haben, sondern im Marineamt beschäftigt sind, aber vielleicht einmal ein Aktenfaskel vom Koloniälamt nach dem Marineamt getragen haben. Der Rechnungshof hat dies moniert und verlangt, daß diese Ausgaben zur nachträglichen Genehmigung dem Reichsiage vorgelegt werden sollen. Die Rechnungskommission muß diese Frage erneut prüfen und sich auf den Standpunkt des Rech⸗ nungshofes stellen, damit diese Ausgaben als außeretatsmäßige Ausgaben zur nachträglichen Genehmigung vorgelegt werden. Es

handelt sich nur um 1465 S6. Ich verlange nicht, daß die betreffenden Unterbeamten das Geld zurückzahlen, aber es muß ordnungsmäßig gebucht und durch nachträgliche Genehmigung muß zum Ausdruck gebracht werden, daß keine Verwaltung be— rechtigt ist, Gelder anders zu verwenden, als der Etat . Das Reiche schatzamnt ist auch der Auffassung, daß das Reichs⸗ marinegmt nicht richtig gehandelt hat. Es . sich hier um keine Fondsverwechslung, sondern um eine Etatsverletzung. Wie man es ferner macht, daß der Reichstag eine Etatsüberschreitung nicht erfahren soll, zeigt folgender Fall: Das Gouvernement Kiautschou hat für den Bau des Gouvernementsdienstgehäudes 1904 246 000 ις ausgegeben; zur Vermeidung einer Ctatsüberschreitung wurden in der Kassenrechnung für 1964 etwa 100 000 M an der Ausgabe abgesetzt und auf das Jahr 1905 zur Verausgabung über⸗ tragen. Das sst eine Budgetverletzung, gegen die sich alle Parteien geschlossen wehren müssen. Eine nachträgliche materielle Genehmi⸗ gung kann der Reichstag ja nicht mehr aussprechen, aber eine formelle Genehmigung ist möglich und nötig. Je nach der Höhe der Etats⸗ überschreitungen richtet sich immer im nächsten Jahr der Reichs⸗ zuschuß, der als subsidiäre Leistung eintritt; darin liegt eine materielle Verletzung des Etatsrechts. Die Rechnungskommission muß durch eine Resolution zum Ausdruck bringen, daß alle über⸗ und außer⸗ etasmäßigen Ausgaben zur nachträglichen Genehmigung, und zwar nicht nur zur materiellen, sondern auch zur formellen Genehmigung, vorgelegt werden.

Abg. Noske (Soz): Die Rechnungskommission muß sich sehr gründlich mit diesen Fragen befassen, weil der Staatssekretär des Reichsmarineamts mit ganz erstaunlicher Hartnäckigkeit seinen falschen Standpunkt aufrecht erhält. Die Beträge für die Beamten hätten nur gejahlt werden dürfen, wenn diese Beamten über ihre Pflicht im Marineamt hinaus Ueberarbeit für die Kiautschouverwaltung geleistet hätten. Davon ist aber keine Rede. Ich stimme der Auffassung zu, daß die Beamten diese Beträge nicht zurückzuzahlen brauchen, aber ich wäre sofort bereit, die nachträgliche Genehmigung für diese Aus⸗ gaben zu verweigern, wenn der Staatssekretär des ze en Henne gezwungen werden könnte, aus seiner Tasche diese Summe zu geben. Das wäre eine sehr heilsame Lektion. Solche Etatsschiebungen wie bei den Kosten des Gouvernementsdienstgebäudes dürfen nicht mehr vorkommen.

Abg. Dr. Görcke (ul): Ich will der Auffassung entgegen⸗ treten, als ob bei dem Gouvernementsdienstgebäude ein zu ger . Luxus getrieben worden wäre; ich bedauere sogar, daß es nicht möglich war, die Freitreppe besser zu gestalten. Selbstverständlich kann ich auch nicht die Verschiebung der 100 000 M in der Rechnung gerecht⸗ fertigt finden. Ueber die Zuwendungen an die Diener im Reichs⸗ marineamt waren die Meinungen in der Rechnungskommission sehr verschieden. Die Zuwendungen sind den Beamten gewissermaßen als Zulagen zum Gehalt gegeben worden, ohne daß eine besondere Leistung verlangt wurde. Wir gönnen den Beamten diese Zulagen, aber das Verfahren ist nicht richtig, und die Kommission muß die Frage noch⸗ mals prüfen. . ; ö

Abg. Erzberger (Zentr. : Es steht fest, daß beim Gou— vernementswohngebäude in Kigutschou ein Luxus besteht. Die Kom⸗ mission hat tatsächlich ein Recht, mit dem Rechnungshof zu ver⸗ handeln; der Rechnungshof muß ihr Rede und Aniwort stehen. Wer dafür der Briefträger ist, der Reichskanzler oder sonst jemand, ist gleichgültig.

Korvettenkapitüin Brüninghaus: Der Wunsch des Abg. Noske, die Rechnungskommission möge sich eingehend mit solchen Sachen befassen, ist bereits in der Vergangenheit erfüllt worden. Wir haben über diese Uebersichten der Einnahmen und Ausgaben stundenlang verhandelt; über die Beanstandungen der Vorredner kann ich mich kurz fassen. Wir werden in der Rechnungskommission darauf eingehend zurückzukommen haben. Der Wunsch des Abg. Erzberger, daß jede überetatsmäßige Ausgabe der nachträglichen Genehmigung des Reichstags vorgelegt werden soll, ist bereits in Erfüllung gegangen und wird auch weiter erfolgen. Daß am Dienstgebäude in Kiautschou weiter gebaut wurde, ohne daß eine etatsrechtliche Genehmigung vor⸗ lag, ist seitens des Reichsmarineamtes ebenso scharf gerügr worden, wie seitens dieses Hauses. Davon, daß wir tatsächlich die Absicht gehabt hätten, den Reichstag irrezuführen oder ihn gar zu düpieren, kann gar keine Rede sein. ö

Abg. Dr. Görcke (nl): Meine Bemerkungen bezogen sich nicht auf das Wohngebäude, sondern auf das Dienstgebäude des Gouvernements.

Auch diese Vorlage geht an die Rechnungskommission.

Hierauf wird die Besprechung der Teuerungs⸗ interpellationen fortgesetzt.

Abg. Graf von Kanitz (dkons): Die Rede des Reichskanzlers ist in diesem Hause wie in der rf nicht überall mit Befriedigung aufgenommen worden. Wir sind ihm aber dankbar für die Er⸗ klärung, daß an unserem bewährten Wirtschaftssystem unter keinen Umständen gerüttelt werden darf. Denn werden erst einmal die land⸗ wirtschaftlichen Zölle abgeschwächt, dann sind auch die industriellen Schutzzölle gefallen. Die Freisinnigen und Sozialdemokraten haben den Freihandel auf ihre Fahne geschrieben. Unsere Wahlparole lautet aber: Schutz der nationalen Arbeit und Schutz jeder ehrlichen Arbeit in Stadt und Land. Ich freue mich, daß die Regierung fest entschlossen ist, an der bewährten Wirtschaftspolitik nicht zu rütteln. Der Abg. Fuhrmann hat seine Rede mit einem scharfen Vorstoß gegen die Konservativen, gegen das Hpperagrariertum geschlossen. Ich will diesen Vorstoß nicht erwidern. Die Frage der Volksernährung ist für mich viel zu ernst, als daß ich sie zum Ausgangspunkt für eine politische Auseinandersetzung machen will. Ich freue mich aber doch, konstatieren zu können, daß es glücklicherweise, wenn auch außerhalb dieses Hauses, auch angesehene Mitglieder der nationalliberalen Partei gibt, die den Standpunkt des Abg. Fuhrmann nicht teilen. Der Staats⸗ minister von Schorlemer hat gestern eine Aeußerung des Stadt⸗ direktors Tramm in Hannover verlesen, der erklärt hat, daß das Ge⸗ schrei der Teuerung absichtlich stark übertrieben sei, und daß das Volk in eine Teuerungsstimmung hineingeredet worden ist. Ich kenne den Stadtdirektor Tramm, mit dem ich zusammen im preußischen Abgeordnetenhause gesessen habe, als einen praktisch erfahrenen und intelligenten Mann und habe ihn als solchen in guter Erinnerung. In diesem Ausspruch des Herrn Tramm liegt die beste Antwort, die dem Abg. Fuhrmann auf seine gestrige Rede erteilt werden kann. Ueberlassen Sie es nun dem Abg. Fuhrmann, sich mit seinem Partei⸗ genossen Tramm auseinanderzusetzen. Weizen steht jetzt in Berlin auf 204, Roggen auf 183 6. In den östlichen Provinzen haben wir etwas niedrigere Preise. In Königsberg steht der Weizen auf 197 bis 200, ist also 7 bis 4 66 niedriger als in Berlin, Roggen notiert 172, ist also 11 0 niedriger als in Berlin. Das ist eine Preis differenz, die für den Produzenten aber doch nicht unerheblich ins Gewicht fällt. Früher, vor 35 bis 46 Jahren waren diese Preise durchweg höher. Die uns vorliegende Tabelle reicht nur bis 1878 zurück. Aber ich bitte Sie, doch nicht zu vergessen, ö. immer Jahre der hohen Getreidepreise abgewechselt haben mit Jahren niedriger Getreidepreise. 1905/66 stand Weizen in Berlin 175, also 30 „S weniger als heute, Roggen 153 und 160 S6, alfo auch sehr viel weniger als heute, und im vorigen Jahre hat der Roggen in Königsberg noch im Durchschnitt auf 148 gestanden. Ich für meine Person habe den größten Teil meines Roͤggens für 46 und 142 6 verkauft. Das sind doch wahr⸗ haftig keine überhohen Preise. Ich möchte aber die Herren Sozial— demokraten daran erinnern, daß sie Preise in ähnlicher Höhe wie die heutigen vor gar nicht langer Zeit gutgeheißen haben. Ich entsinne mich, daß uns mehrere Anträge von der sozialdemokratischen Fraktion zugegangen waren, wonach, gefordert wurde, die Getreide⸗ zölle zu suspendieren, wenn der Weizenpreis auf mehr als 215 und der Roggenpreis auf 165 steigen sollte. Die heutigen Preise können um so weniger hoch erscheinen, als die, Produktionekosten für den Landwirt in den letzten Jahren erheblich gestiegen sind. Vor allem liegen auf ihm die kolossalen Lasten der soözialpolitischen

Gesetzgebung. Der Abg. Scheidemann fondert einfach die Beseitigung der Getreidezölle, der Abg. Oeser drückt sich etwas vorsichtiger aus, er verlangt nur den Abbau. Ja, was heißt Abbau? Dieses Wort Abbau hat der Abg. Kaempf im vorigen Jahre gesprochen. Ich

habe ihn gebeten, sich etwas deutlicher auszudrücken. Man kann ein

Haus abbauen bis auf den Grund. Es wäre sehr interessant, namentlich für die ländlichen Wähler, wenn ihnen verraten würde, was unter diesem Abbau verstanden wird, und wieweit dieser Abbau gehen soll. Der Abg. Oeser würde mir einen sehr großen Gefallen tun, wenn er sich über dieses Wort erklären wollte. Ig, wenn es darauf ankommt, ländliche Wähler für die Sache der freisinnigen Partei zu interessieren, dann können die Herren unter Umstanden auch anders. Mein verehrter Landsmann, der Abg. Gyßling, hat vor kurzem gesagt: Kein Mensch denkt daran, die Schutzzölle aufzuheben oder sie in Bausch und Bogen zu erniedrigen. In unserm Programm wird eine schriktweise Herabsetzung der Lebensmittelzölle gefordert. Wann wir diesen Schritt tun werden, das hängt von der wirtschaftlichen Lage ab.“ Jedenfalls war diese Aeußerung des Abg. Gyßling auf einen ganz anderen Ton gestimmt als die Reden, die wir jetzt hier gehört haben. Der Abg. Scheidemann hat auch auf den Notstand in Frankreich exemplifiziert. Ich weiß nicht, ob dieser Hinweis gerade glücklich war. Denn die französischen Sozialdemokraten stehen ganz anders zu der Frage des Schutzes der französischen Landwirtschaft. Der Führer der französischen Sozialdemokratie Jaures hat einen Wetzenpretz von 250 S für unbedingt notwendig erklärt, wenn die Landwirtschaft bestehen soll; er hat sogar ein Gesetz beantragt, welches diesen Weizenpreis sicherstellen soll. Die französischen Sozialdemokraten stimmen ohne jedes Bedenken für jede Erhöhung der landwirtschaftlichen Schutzzölle. Wenn ich an die schwere Zeit zurückdenke, die wir durchgemacht haben, als unser heutiger Zolltarif geschaffen wurde, und wir Schritt für Schritt unser Terrain erobern mußten, wie dagegen in der französischen Deputiertenkammer mit der größten Majorität alle Zollforderungen glatt bewilligt wurden, dann finde ich allerdings einen sehr großen Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich. Frankreich hat beispiels- weise auch einen Kartoffelzoll von 40 Centimes, und der fran⸗ zösische Ministerpräsident Briand, auch Sozialdemokrat, hat gar nicht daran gedacht, den französischen Zolltarif zu reformieren. Manchmal kommen aber auch aus deutschem sozialdemokratischen Lager Stimmen zum Schutz der deutschen Landwirtschaft. Da jagt z. B. der frühere Abg. Schippel ich weiß ja, daß Sie sein Zitat nicht gern hören es sei nicht wahr, daß die Preise infolge der Zölle gestiegen seien, die Agrarzölle seien Zölle, die mit Mühe und Not die alten Preise der landwirtschaftlichen Erzeugnisse aufrecht erhielten und die Landwirtschaft vor dem Zufammenbruch bewahrten, niemand sei durch die Agrarzölle bereichert. Wenn Sie Schippel nicht gelten lassen, so lassen Sie vielleicht doch Calwer gelten, der ausführte, daß man, wenn man das wichtige Ziel wirtschaftlicher Selb⸗ ständigkeit nicht preisgeben wolle, den Verschiedenheiten der Produktion durch die Wirtschaftepolitik Rechnung tragen müsse, das heißt also, daß ungünstige Bedingungen, unter denen das Getreide produziert wird, durch einen angemessenen Schutzzoll paralysiert werden sollen. Calwer ist Mitglied der sozialdemokratischen Partei, er weist aus den Statistiken von 48 Städten nach, daß die Großpreise um 3, die Detailpreise aber um 10 bis 30 o gestiegen sind. Wo hier die Abhilfe gesucht werden muß, hat auch ein Freisinniger wie der Abg. Kaempf erkannt, wenn er in einer Rede in Moabit vor wenigen Tagen erklärte, die Städte müßten sich gegen die Bildung von Händlerringen, die die Lebensmittelpreise in die Höhe treiben, mit allen Kräften wehren. Trotz alledem steht er aber mit unter der freisinnigen Interpellation. Man hat auch an der Ein— richtung der Einfuhrscheine zu rütteln versucht. Die Entfernung von Königsberg nach Berlin ist 20 km, macht für den Waggon 277 Fracht inkl. Abrechnungsgebühr; sehr häufig mußte das Getreide über Berlin hinaus nach Sachsen 2c. gehen, dann waren die Frachtkosten entsprechend höher. Um dem ostpreußischen Getreide die Konkurrenz zu erleichtern, führte der Eisenbabnminister Thielen die Staffeltarife ein. Diese stießen aber in Sachsen und Süddeutschland auf den hef⸗ tigsten Widerstand, und als es sich um die Erneuerung der Handels⸗ verträge handelte, wollten die süddeutschen Staaten nur unter der Bedingung der Aufhebung der Staffeltarife dafür stimmen. So kam es zur Aufhebung des Identitäatsnachweises und zur Einführung

des Einfuhrscheinsystems; ohne dieses wäre der Getreide produzierende Osten, in die größten Kalamitäten gekommen.

Die Handelskreise von Danzig und Königsberg wußten auch die russische Regierung dieser Einrichtung geneigt zu machen, und so wurde endlich diese Maßnahme, um deren Zustandekommen namentlich der Abg. Rickert sich die größten Verdienste erworben hat, gesetzlich festgelegt. Von einer Schädigung der Reichskasse kann bei der Sache nach meiner Meinung nicht die Rede sein. Wenn auch die Ausfuhr von Brotgetreide stieg, die Mehreinfuhr hat Jahr für Jahr 14 bis 2 Millionen Tonnen betragen. An Stelle des ausgeführten Roggens trat natürlich eine gewisse Weizeneinfuhr, und da macht tat⸗ sächlich die Reichskasse noch ein gutes Geschäft, weil der Weizen⸗ zoll 0 3 höher ist als der Roggenzoll. Wenn der Abg. Scheidemann behauptet, die Reichskasse habe 1919 nicht weniger als 123 Millionen auf Einfuhrscheine gezahlt, so übersieht er nur, daß in dem⸗ selben Jahre an Getreidezöllen 242 Millionen oder das Doppelte von dem auf die Einfuhrscheine Gezahlten vereinnahmt wurde. Ueber die Frage der Geltung der Scheine für Kaffee und Petroleum habe ich mich schon vor drei Jahren ausgelassen; ich habe aus— gesprochen, daß eine Schädigung der Reichskasse durch diese Aus—⸗ dehnung der Geltung doch nur fehr schwer zu konstruieren sei. Es handelt sich auch nicht bloß um das Interesse der Landwirtschaft. Handelsstädte, wie Königsberg, Danzig und auch Stettin, haben daran ein großes Interesse, Und will sich der Abg. Kaempf etwa über die Wünsche so bedeutender Handelsemporien einfach hinweg—⸗ setzen? In dem Kampf um die Getreidezölle ist nicht nur von Windthorst, sondern auch von dem Freiherrn von Schor— lemer, dem Vater des jetzigen Ministers, eifrig dagegen protestiert worden, daß der Getreidezoll auch ein Finanzzoll sein solle. Ich möchte also bitten, an dieser Einrichtung der Einfuhrscheine nicht zu rühren. Geschähe dies, so müßten die Staffeltarife wieder eingeführt werden, und damit würde unseren Bundesbrüdern im Süden kein Gefallen geschehen. Vergessen Sie auch nicht, daß die Einfuhrscheine auß dem Prinzip des Freihandels beruhen. Die Beseitigung der Einfuhrscheine würde uns in Abhängigkeit vom Aus— lande bringen. Noch einige kurze Ausführungen über die Fleischpreise. Daß der Fleischverbrauch in Deutschland sich gehoben hat, ist gestern zahlenmäßig bewiesen worden; wir sind jetzt beinahe an den eng— lischen Fleischverbrauch gekommen, obwohl wir in der Haupt⸗ sache inländisches Fleisch verbrauchen. 1883 —1907 hat die Zahl der Rinder von 15 Millionen auf. 20 Millionen zugenommen, ähnlich ist es mit den anderen Fleischsorten. Das wird auch von Artur Schulz in den „Sozialistischen Monatsheften“ zugegeben. Die Gründe der Preissteigerung liegen in der erheblichen Steigerung der Nach— frage, der Zunahme des Wohlstandes auch der Arbeiterbevölkerung. Ins Gewicht fällt auch, daß eine große Zahl von Rindern usw. für bedingt zum Genuß brauchbar befunden worden ist. Dazu kommt die Steigerung der Preise für andere Bedarfsartikel, nicht bloß in Europa. Daran ist nichts zu ändern. Wohl aber kann und muß auf eine Aenderung hingewirkt werden in der kolossalen Spannung zwischen den Vieh⸗ und Fleischpreisen. Gewiß ist zuzugeben, daß die Ladenmieten gestiegen und die Ausstattung der Lokale der Schlächter teurer geworden sind. Aber diese Steigerung rechtfertigt in keiner Weise die außer⸗ ordentliche Differenz in den Preisen in verschiedenen Orten. Ungerechtfertigt sind auch die hohen Schlachthofgebühren. Viele große Städte sind in der Lage, das, was ihnen durch den Fortfa der Oktrois entgangen ist, durch hohe Schlachthofgebühren wieder einzubringen. Vergeblich haben die Fleischer eine Beseitigung dieser Gebühren gefordert. Gegen die Einfuhr des amerikanischen Fleisches hat sich schon der sozialdemokratische Schriftsteller Artur Schul; gewendet. Die Schweizer Regierung hat sehr eingehende Erkundigungen eingezogen über die Brauchbarkeit und Verwendbarkeit des argentinischen Fleisches und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß

das Pfund kostet, aber doch teurer fei, weil es zu fett sei. Be

uns würde das argentinische Fleisch' nicht behauptet wurde, sondern ue ests! 6 3 k nnr nur, sondern auch Elbing hat das Bestehen eines Fleischnot⸗ standes glatt in Abrede gestellt. In Königsberg hat ein Stadtrat sich auf der Freibank überzeugt, daß viel Rindfleisch unver⸗ A . , , , nicht die Rede n. inländische Landwirtschaft d sein. denfalls wäre e gerechtfertigt, di nländische Landwirtschast den öffnen und unsere Viehställe der Ver en r. k .

käuflich war.

läge auch nicht im Interesse der ländlichen Arbeiter.

vertreten wie in Bayern, daher ist 4 sich für eine Verbilligun der . interessiert. 3 er auch nicht die ctreideproduktion außer acht lassen. n Getreide ist für unsere Ernährung ebenso wichtig wie das Fleisch.

35 ist auch nicht richtig, wenn Br. Heim sagt, daß der kleine Grundbesitz für die Viehproduktion besser geeignet sei als der große; auch der roßgrundbesitz könnte viel mehr Vieh produzieren, er braucht nur mehr Getreide zu verfüttern und weniger zu verkaufen. Ich habe das selbst probiert, aber die Folge würde eine Ueber- i von Vieh und ein starkes Sinken der Viehpreife fein, und

as ö dem Abg. Heim und den Bauern sehr wenig willkommen sein. ann. würde die Folge eine vermehrte Getreide⸗ einfuhr vom Auslande sein, und wir wollen uns doch möglichst wenig bom Auslande abhängig machen. Bei den Futtermittel. ölen handelt es sich nur um Mais und Gerste. Die Differenzierung von Brau⸗ und Futtergerste haben wir nicht mitgemacht diese ruhmreiche Erfindung müssen wir anderen überlassen. Hafer hat such der kleine Bguer, der sein eigenes Brotgetreide selbst braucht immer noch zum Verkauf übrig, und ich würde bedauern, wenn ihm dieser Verdienst noch verringert werden sollte. Ich würde mich freuen, wenn der Abg. Heim den Wanderstab einmal nach den östlichen re hinten . wollte, ich lade ihn dazu ein; er würde dann unseren Standpunkt ür gerechtfertigt halten. Wenn die Wunsche der Frei⸗ sinnigen tjnd Sozialdemokraten in Erfüllung gehen follten, so würde mit der Aufhebung der landwirtschaftlichen Zölle die Beseitigung der industriellen Zölle Hand in Hand gehen müffen. Eine folche Frei' handele berlgde haben wir erlebt, und als im Norddeutschen Reichstag die Eisen; lle abgeschafft wurden, wurde Deutschland sofort mit eng⸗ lichem Eisen überschwemmt. Ich kann das ziffernmäßig nachweisen. Ich war damals einer der wenigen, die gegen die Aufhebung der Fi enz olle stimmten. Unsere Eisenindzustriemerke wurden zum Still⸗— stand Jejwungen. Tausende von Arbeitern wurden auf die Straße geworfen und hatten Muße, sich der niedrigen Eisen- und Brotpreise zu erfreuen, wenn sie auch wegen des leeren Beutels den Bäckerladen nicht betreten konnten. In England hat die Abschaffung der Getreide—⸗ lle zum Stillstand des Ackerbaues geführt, und wir würden diesel be Folge haben. Endlich, wenn die Kaufkraft der ländlichen Bevõlkerung egfillt, so verliert die Groß⸗ und Kleinindustrie ihre besten Abnehmer, die Arbeitslöhne, der Industriearbeiter würden sinken, die ebene haltung würde sich verschlechtern trotz der niedrigen Preise. Es ist falsch, wenn der Abg. Defer sagte, daß die Industrie auf. die Schutz ʒõlle verzichten würde, wenn nur die Teuerung be⸗ seitigt würde. Die schwerste Gefahr würde aber über uns im Falle eines Krieges hereinbrechen, wenn die deutsche Landwirtschaft nicht mehr imstande sein würde, den Bedarf des Landes zu decken. Dann würden, wir selbst mit siegreschen Waffen vor dem Aussande a itulic gen müssen. Der Sozialist Calwer hat gesagt: „Geben wir i n r ru hill preis, so opfern wir damit unsere politische Selb

Stellvertreter des Reichskanzlers, Staatssekretär des J ; retär des In Dr. Delb rück: * .

Preußischer Minister der

Breitenbach:

; Meine Herren! Im Laufe der Diskussion ist wiederholt auf die bestehenden Ausnahmetarife für Getreide zur Ausfuhr hin— gewiesen worden. Ich glaube, die Sachlage kurz auseinandersetzen zu können und werde die Zeit des hohen Haufes nicht lange in Anspruch nehmen. .

. Ich habe aus der Diskussion den Eindruck gewonnen, daß wohl die Mehriahl dem Bestehen dieser Ausnahmetarife keine bedeutsamere Einwirkung auf die Loge des Lebensmittel- und Getreidemarktes zu— weist. Der Herr Abg. Oeser schien aber der Meinung Ausdruck geben zu wollen, daß diese Ausnahmetarife doch unter Umständen zu einer Entblößung des inländischen Getreidemarktes führen könnten. Wir baben im Jahre 1894 auf den preußischen Staatseisenbahnen und viel ich weiß, bestehen ähnliche Tarifermäßigungen auch bei anderen Bahnen einen Ausnahmetarif eingeführt für Getreide zur Ausfuhr über die deutschen Seehäfen. Dieser Ausnahmetarif für die deutschen Seehäfen ist demnächst auch über die trockene Grenze gewährt worden, und zwar im Verkehr mit Oesterreich⸗Ungarn, der Schwetz, Belgien, den Niederlanden und Frankreich.

ü Der Anlaß zur Einführung des Tarifs beruht darauf, daß unsere inländische Landwirtschaft befürchtete, sie würde durch die Aufhebung des Identitätsnachweifes geschädigt werden im Vergleich mit denjenigen Gebieten, die in der Küstenzone, also nahe den Seehäfen, liegen. Nach Anhörung des Landeseisenbahn⸗ rats hat man diesen erwähnten Ausnahmetarif eingeführt, der für dle ersten hundert Kilometer, d. h. für die Küstenzone nichts gewährt und darüber hinaus bis 40 km eine nicht unerhebliche Ermäßigung. Schon bei Einführung des Tarifs hat man vielfach gemeint, er werde keine nennenswerte Wirkung äußern, und diese Meinung hat sich denn auch bestätigt. Wenn erwogen wird, daß auf den deutschen Bahnen in Jahre 1309 rund 5.i. Millionen und im Jahre 1910 5,8 Mil⸗ , Tonnen Getrelde befördert worden sind, so wird es als ein emnimum erscheinen, daß in derselben Zeit in dem einen Jahre 36 O00 Tonnen und im anderen Jahre 40 000 Tonnen Getreide zu den Satzen dieses Ausnahmetarifs abgefertigt worden sind. Im Jahre 90 wurden an Mühlenfabrikaten 3,8 Millionen Tonnen und hiervon 2 den Sätzen des Ausnahmetarifs nur 19000 Tonnen befördert. 5 sind das so geringfügige Quantitäten, daß in der Tat ö seit geraumer Zett die Erwägung schwebt, ob man diesen

usnahmetarif nicht aufheben müsse. Nachdem nun neuerlich solche

Intrãge an mich herangetreten sind, hat sich, wie der Herr Reichskanzler neulich schon mitteilte, das Staatsministerium dahm schlüssig gemacht, diese Frage der gesetzlich dazu berufenen Kerperschaft, dem Landeseisenbahnrat, zur Begutachtung vorzulegen. Vas ist der eine der Ausnahmetarife.

Wir haben nun aber noch einen örtlich begrenzten Aus— ahm eta ri; das ist ein Tarif, der gleichfalls im Jahre 1894 von v. Provinzen Posen und West⸗ und Ostpreußen nach den drei Ost⸗ sachafen Danzig, Königsberg und Memel eingeführt worden ist, und war in unmittelbarem Zusammenhange mit der Beseitigung der deannten Getreidestaffeltarife vom Osten nach dem Westen

öffentlichen Arbeiten von

des . 6. verspäteten Eingangs des Stenogramms kann die Rede Staatssekretärs des Innern Dr. Delbrück erst morgen im Wort—

das . zwar gut, aber nicht erstklassig, und zwar nur 68 8

ag ; Der Abg. 1

r, gestern die Suspension der Futtermittelzölle perlen. . Allerdings ist in keinem deutschen Lande das Rindvieh so stark es begreiflich, daß Er sollte

und im Zusammenhange mit dem Abschlusse des deutsch

dieser Bestimmung des berechtigten dem Inlandtgetreide nach den dieselben Elnheitssätzz gewährt werden weil andernfalls eine Bevorzugung des ausländischen Produktes vor— gelegen hätte. Also dieser Ausnahmetarif, der nicht allein auf die Ausfuhr beschränkt ist, sondern der auch für den Verkehr nach den Hafenorten gilt, steht im engsten Zusammenhang mit dem Getreide— staffeltarif und dann mit dem Abschluß des russischen Handels— bertrages. Zu den Sätzen dieses Ausnahmetarifs sind größere Quantitäten abgefertigt. Sie beziffern sich an Weizen und Roggen im Jahre 1909 auf 163 000 t und im Jahre 1910 auf 2110090 t. An Mühlenfabrikaten sind im Jahre 1910 48 000t abgefertigt. Zu⸗ gleich steht aber nach den Berichten der zuständigen Handelskammern fest, daß „m dieses Getreides wieder dem Inlande auf dem Rhein— wege über Emmerich zugeführt werden. Von einer Schädigung des inländischen Getreidemarktes kann also auch hier kaum die Rede sein. Ich meine daher, daß der Hinweis auf das Bestehen dieser Ausnahme⸗ tarife zu der Behauptung einer Schädigung des inländischen Getreide⸗ marktes nicht berechtigt. Ich bitte nun, mir noch zu gestatten, elnige Worte über den Bert und die Bedeutung der Aus nahmetarife hinzu— zufügen, die die preußischen Staatseisenbahnen und nachfolgend die gesamten deutschen Eisenbahnen mutatis mutandis im August und September d. J. zur Abwendung der Schäden, die sich aus einem teilweise verminderten Ernteertrage ergeben haben, eingeführt haben. Ich darf feststellen, daß noch niemals bei den deutschen Eisenbahnen Ausnabmetarife so umfassender Art aus gleichartigem Anlaß eingeführt worden sind, sowohl was die Zahl der Güter wie auch was die Höhe der Tarifermäßigung betrifft. Diese Ermäßigungen gehen sehr weit, sie betragen 50 υο und darüber hinaus bis zu 65 o des im Einzelfalle geltenden Normaltarifes oder des geltenden Ausnahmetartfes. Einige dieser Güter werden bereits regelrecht zu sehr stark ermäßigten Ausnahmetarifen gefahren, die so— genannten Rohstoffe. Trotzdem haben auch sie noch eine Verbilligung bis zu 65 erfahren. . Die Wirkung der Tarifermäßigung auf die Einnahmen der deutschen Eisenb ahnen wird eine sehr erhebliche sein. Der Herr Landwirtschaftsminister hat gestern eine Zahl von 10 bis 15 Mil⸗ lionen bekannt gegeben. Diese Zahl scheint mir außerordentlich gering gegriffen zu sein, wenn erwogen wird, daß, wenn wir nur den Verkehr des Vorjahres an Futtergerste und Mais zugrunde legen, die preußischen Staatseisenbahnen schon aus den Ermäßigungen für Zuttergerste und Mais einen Ausfall von 8 bis 9 Millionen Mark erleiden werden. Wenn Sie erwägen, daß nnter den Futter—⸗ mitteltarif Massengüter aller Art fallen, wie Häcksel, Heu, Kleie, Melasse, Oelkuchen, Rübenschnitzel, Stroh usw., so werden Sie mit mir der Meinung sein, daß eine Schätzung von 15 Millionen sehr gering ist. Nun kommen aber die sehr weit gebenden Ermäßigungen für Kartoffeln, Gemüse, Düngemittel und Fische hinzu. Die Ermäßigungen für Kartoffeln find besonders weit— gehend. Gestern hat uns Herr Dr. Hein mitgeteilt, daß der Konsum von Speisekartoffeln sich auf 14 Millionen Tonnen beziffert. Nun, der größte Teil dieser 14 Millionen Tonnen wird nicht transportiert, aber immerhin ein sehr erheblicher Teil. Wenn auch nur ein Teil dieses Quantums auf den Eisenbahnen befördert würde, so würde das im Vergleich zu dem Vorjahre einen sehr wesentlichen Ausfall bedeuten. Aber ich glaube, den Wert der Tarifermäßigungen das hat der Herr Reichskanzler auch schon bervorgehoben darf man nicht darin seben, daß sie, auf eine gewisse Gewichtseinheit berechnet, eine gewisse Preisminderung herbeiführt. Diese Preisminderungen können immer nur gering sein; denn wenn selbst die ganze Fracht aufgelassen wird, drückt sich das, auf das Pfund und Kilogramm berechnet, nur in Pfennigen aus. Der Hauptwert liegt darin, daß die Entfernung aus⸗ geschaltet ist. Bei einer 50 , igen Ermäßigung wird eine Entfernung bon 500 kmn auf 250 km reduziert, und bei den großen Ermäßigungen die bei den Kartoffeln gewährt werden, auf 200 Km. Wenn bei dem normalen Tarif eine 10st Ladung Kartoffeln von Deutsch-Eylau schon nach Berlin 100 M kostet, so kostet heute eine Ladung von Kartoffeln von Deutsch-Eylau nach Dortmund erst 83 6. Daraus ergibt sich, wie ungeheuer der Aktionsradius erweitert ist, und aus dieser Erweiterung des Aktionsradius ergibt sich eine verstärkte Kon— kurrenz an den einzelnen Konsumplätzen und hierdurch ein Preisdruck. Nun haben aber die Staatsbahnverwaltungen es für angezeigt erachtet, in diesem Jahre die Wirkung der Tarifermäßigung dadurch zu steigern, daß sie beim Bezuge der Lebensmittel durch Kommunen, gemeinnützige Vereine oder sonstige Unternehmer, die die Waren an ihre Arbeiter zu oder unter dem Selbstkostenpreise ab⸗ geben, eine weitere Ermäßigung gewähren. Der Zweck ist, eine An⸗ regung zu geben, und ich kann heute bereits feststellen, daß diese An⸗ regung durchaus auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Die preußischen Staatsbahnen haben selbst von dieser Anregung Gebrauch

nunmehr auch

gemacht. Ich habe durch Vermittlung des Eisen⸗ bahnzentralamts in Berlin im Osten umfassende

Kartoffelankäu fe vorbereiten lassen, und die Orga⸗ nisation, die sich durch die ganze Staatseisenbahn hindurcheht die Eisen bahnervereine haben dann die Geschäfte auf Grund der Vorabschlüsse des Zentralamts abgeschlossen. Wir sind hierbei in der Lage gewesen, die Kartoffeln im Osten dag ist das Bemerkens— werte und zwar bis zu einem Quantum von 1 Million Zentner bester kartoffeln zum Preise von 2.70 bis 2,90 zu erhalten. Hört! hört h Wir liefern sie nach Berlin, nach Sachsen, nach Westfalen, nach der Rheinprobin; und sind in der Lage, die Kartoffeln in der hehein⸗ Previn; unseren Angestellten zu einem Preise zu liefern, der nicht böͤher ist als derjenige, den sie im vorigen Jahre gezahlt haben. Sie beziehen die Kartoffeln loko Cöln in den Keller zu 3,50 SP den Zentner. Das ist, wie ich aus meinen eigenen Erfahrungen fest⸗ stellen kann, der Preis, den man auch in anderen Jahren ge⸗ zahlt hat. Man sieht, daß die Selbsthilfe, wenn fie an der richtigen Stelle eingreift, doch sehr Erhebliches leisten kann. Aber dieses Vorgehen wirkt nicht nur auf diefe Kreise, sondern es wirkt noch weiter. Zweifellos hat die Selbsthilfe, die die Kommunen

aut mitgeteilt werden.

.

friedigung blicken.

d. J. auch die Tarifermäßigung den Händlern verstattet. Wir haben dies aber nur getan, nachdem wir darauf aufmerksam gemacht worden sind, daß es notwendig wäre, den Handel zu beteiligen, damit er in der Lage ist, richtig zu kalkulieren und die volle Tarifermäßigung dem Ver— braucher zuzuführen. Nun darf ich feststellen, das auch bei den Abschlüssen, die vor Bekanntgabe der Tarife erfolgt sind, ein großer Teil der Händler ohne weiteres die Frachtdifferenz herausgezahlt hat, ein anderer Teil auf einen gewissen starken Druck, der von den be— teiligten Kreisen auf sie ausgeübt wurde. Wenn aber ein noch immerhin nicht unerheblicher Teil mit der Herauszahlung dieser Diff eren zurückhält, so widerspricht dies der ausdrücklichen Absicht des Tarifs und auch der Begründung, mit welcher die Ausdehnung des Tarifs auf Sendungen an Händler von dem Handel gefordert worden ist. Ich hoffe, daß die Verhandlungen in diesem hohen Hause dazu beitragen werden, einen großen Teil der Beschwerden, die zu unserer Kenntnis gebracht worden sind, zu beseitigen. Ich habe mir aber vor— genommen, für alle Fälle Vorsorge zu treffen; denn wer schützt uns davor, daß nicht bei gleichen Naturereignissen gleiche Schwierigkeiten wiederkehren! Wir werden im Verein mit den Interessenten des Handels und der Landwirtschaft die Mittel und Wege erwägen, um in Zukunft bei Tarifen, die ausschließlich dem Verbraucher dienen sollen, den Nutzen auch ausschließlich diesem zuzuführen. (Bravo! rechts und in der Mitte.)

Gegen 6 Uhr wird ein Vertagungsantrag des Abg. Bebel gegen die Stimmen der Sozialdemokraten und der fortschritt— lichen Volkspartei abgelehnt.

. Abg. Dr. de kum (Soz ): Der Staatssekretär bat mit seinen Zahlen nicht nachgewiesen, daß die jetzige Wirtschaftspolitik des Reichs, besser sei als eine andere. Es wird nicht bestritten, daß sich Zustände denken lassen, die viel schlechter sind als die jetzigen. Aber wir können nicht denken, wie sich die Verhaͤltnisse unter einer anderen Wirtschaftspolitik gestaltet hätten. Durch den Hinweis auf die Blüte unseres Wirtschaftslebens wird die augenblick liche Not des Volkes nicht behoben. Es hat sich herausgestellt, daß das Verständnis für diefe Rot von der Linken bis zur Regierungs— bank sich in absteigender Linie bewegt. Vom Zentrum hat ein Redner den Standpunkt der Grandseigneurs, der andere den der kleinen Leute vertreten; der Abg. Spahn weiß aber nur zu gut, daß die Heimschen Vorschläge doch nicht ausgeführt werden. Gewiß sind Nahrungsmittel da; nur können sie von 90 o der Bevölkerung nicht gekauft werden, weil die Preise zu hoch sind. Natürlich führt eine Dürre heute nicht einen Nahrungsmangel herbei wie in früheren Jahrhunderten. Es fragt sich nur, zu welchem Preise Nahrungsmittel herbeigeschafft werden können. Es müssen Preise sein, die der Minderbemittelte bezablen kann. Der Landwirtschaftsminister sagte, es seien nicht nur Kartoffeln vorhanden, sondern auch zu Preisen zu haben, die nicht übertrieben seien; in Pnr̃nmern zu einem durchaus normalen Preise. Der Gemeinde Frankfurt a. O. ist aber unmöglich ge— wesen, Kartoffeln zu den Preisen zu kaufen, die der Minister genannt hat, der Minister sollte die Orte nennen, wo sie für 230 S oder 2,50 M zu haben sind. Eine ausreichende Statistik über alle diese Dinge ist überhaupt noch nicht vorhanden. Die Haushaltebücher und die Sterbestatistik werden später erst zeigen, wie die Teuerung gewirkt hat. Die Detailpreise haben eine Höhe erreicht, die namentlich den Genuß von Gemüse für die Minder wohlbabenden schlechthin verhindert. Ich vermisse in den bisherigen Erörterungen eine Aeußerung des Reichsgesundheitsamts zu diefer Frage. Keine Sache ist so wichtig, wie die dauernde Beobachtung der Ernaährungsverhältnisse des Volkes, namentlich mit Rücksicht auf den Uebergang vom Agrar⸗ zum Industriestaat. Es ist gesagt, die Auf hebung der Zölle würde keine Wirkung haben, nicht einmal momentan helfen. Da vertraue ich doch Männern wie Dr. Heim. Die Forderung der Aufhebung der Zölle ist keine Partei— frage. Ob die Agrarzölle wirklich Schutzzölle oder auch Finanz— zölle sind, wie der Abg. Dr. Heim meinte, ist eine andere Frage. Ich halte sie für Prohibitivzölle. Allerdings haben die französischen Soßialisten zum großen Teile für die Agrarzölle gestimmt, aber nur, weil sie für Frankreich eine ganz andere Bedeutung haben, wie in Deutschland. Frankreich ist eben kein getreideeinführendes Land, sondern deckt seinen Bedarf aus der eigenen Ernte und der algerischen Produktion. Außerdem hat es keine Junker. Frank— reich hat vor allem keine Junkerherrschaft. ÜUnsere Steuer— gesetzgebung ist doch ausdrücklich auf die Bedürfnisse der Junker— kaste zugeschnitten. Der Minister Sydow hat ja das Branntweinsteuer— gesetz als ein Fürsorgegesetz bezeichnet, und der Graf Posadowsky hat gesagt, er stimme der Linken zu in bezug auf die Liebesgabe, aber man brauche sie, um die Grundbesitzer in die Lage zu setzen, ihre Söhne als Leutnants und Referendare zu unterhalten. Infolgedessen können eben in Frankreich die reichen Leute die Einkommensteuer nicht hinterziehen. Sie (rechts würden an dem Zollsystem nicht festhalten, wenn es nicht die Preise erhöhte. Der Professor Conrad, kein Sozial demokrat, hat nachgewiesen, daß allein durch die Zollerhöbung von 1906 die Belastung des Volkes durch den Brotzoll auf 13 M0 für den Kopf zu berechnen jst. Darum ist es durchaus richtig, was der Deutsche Kaiser ein— gl gesagt hat, daß die Agrargesetzgebung der organisierte Brotwucher ist. Als 1902 die Zolldebatten gepflogen wurden, war es ein Zentrums— mitglied, welches den Vorschlag machte, um den Groll der Arbeiter— schaft zu befriedigen, die Mehrerträge aus den Getreidezöllen zu einer Witwen- und Waisenversicherung zu reservieren. Auf dem Wege des Systems der Einfuhrscheine ist das Geld aus der Reichs— kasse in die unergründlichen Taschen der Agrarier geleitet worden und die Arbeiter haben das Nachfehen gehabt. Vor dem Ausbruch der französischen Revolution machten es die französischen Junker g nau so; die Folgen kennen Sie vielleicht, die Folgen des System der Einfuhrscheine bei uns werden Sie am 12. Januar erkennen lernen! Wenn der Kanzler sich jetzt für die Beibehastung der Einfuhrscheine in ihrer jetzigen Gestalt stark macht, so hat er wohl vergessen was derselbe Kanzler 1999 bei Gelegenheit der Reichs finanzreform hier erklärt hat; da behielt er sich eventuell eine Aenderung des Systems bor. Jetzt hat er sich geändert, er hat sich verhärtet. Die ganze Steuerreform der letzten Jahre wäre nicht nötig ge wesen, wenn nicht die Liebesgabe an die Agrarier gewefen wäre Wenn Les sich nicht lohnt, die Grenzen für aus lan dische Lebensmitte zu öffnen durch vorübergehende Aufhebung der Zölle, Tann kann man doch das Experiment erst recht machen, denn es ist dann doch absolut gefahrlos; wir warten darauf, daß man uns ins Unrecht versetze Wir sind gar nicht enragierte Freihändler, wir würden& das har nicht rechtfertigen können; wir hangen dem laisser faire nicht * Aber selbst die ausgesprochenen Schutzzöllner haben immer esagt. daß diese Maßnahmen nur vorübergehend sind. Es ist . unlogisch, behaupten zu wollen, daß der ganze Bau jusammenfalie wenn ein einziger Stein herausgenommen würde. Wenn man sich jetzt aber dagegen wehrt, daß wenigstens vorübergehend die Zölle ermäßigt oder aufgehoben werden, dann setzt man sich dem Verdacht

und die Staatseisenbahnverwaltung in die Wege geleitet haben, preis⸗

aus, daß man aus der Not des Volkes einen Vorteil ziel . man Not des Volkes Vorteil ziehen will. Die Denkschrift des Landwirtschaftsrats sagt, die Teuerung sei ein

mindernd gewirkt. Es ist das ein Erfolg, auf den wir mit Be⸗ russischen Handelsvertrages. Dieser Handelsvertrag bestimmt

u. a., daß das russische Ausfuhrgetreide auf den preußischen Staats— bahnen im Verkehr mit diesen Häfen zu denselben ermäßigten Ein— heitssätzen gefahren werden solle, wie auf den russischen Bahnen. russischen Handelt vertrages zog Schluß, daß genannten müßten,

Ich möchte meine Ausführungen nicht schließen, ohne darauf hin⸗ zuweisen, daß die umfassenden Tarifmaßnahmen nicht volle Befriedigung um deswillen gefunden haben, weil die An⸗ wendungsbedingungen den ersttebten Zweck nicht überall erreichen ließen, eine Erscheinung, die wir leider auch in früheren Jahren haben feststellen müssen. Die Tarkfe sollten ausschließlich dem Verbraucher nätzen, die Futtermitteltarife den Landwirten, den Viehhaltern. Wir haben auf Beschwerden bei der Ausdehnung der Tarife im September

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