Nach dieser Erklärung entsteht im Hause eine so lebhafte Bewegung, daß die ersten Ausführungen des folgenden Redners, des Abg. Schweickhardt, für die Journalistentribüne n trotzdem der Vizepräsident Dr. Paasche um
uhe bittet.
Abg. Schweickhardt (fortschr. Vollsp.) führt aus, wenn wir auch jetzt noch für die Abschaffung der Liebesgabe sind, obwohl sie an Bedeutung wesentlich verloren bat, so müͤssen wir erst recht auf der Abschaffung des Durchschnittsbrandes und des Vergällungs⸗ zwanges bestehen. Daß eine Preiserhöhung nach dem neuen Gesetz eintreten wird, ist zweifellos, denn eine Vermehrung der Brennereien erscheint uns ausgeschlossen. Welchen Vorteil die Spiritus⸗ produzenten von dem bestehenden Gesetz haben, zeigt ein Blick auf den Kurszettel. Die Spirituszentrale hat die Preise fort. dauernd erhöht; daran ist aber lediglich die Gesetzgebung von 1909 schuld. In diesem Punkt muß Wandel geschaffen werden. Einige Industrien, die von der Spiritusindustrie abhängen, sind in eine chwere Notlage geraten. Die Bevorzugung der süddeutschen Hrennereien durch § 2 des vorliegenden 8er . ist durchaus gerecht⸗ fertigt. Sie wurde sonst nicht konkurrenzfähig bleiben. Gerecht⸗ fertigt ist es auch, daß vor dem 1. April 1912 betriebefähig her⸗ gerichtete landwirtschaftliche Brennereien mit einer Jahreseizeugung von mehr als 10, aber nicht mehr als 300 hl Alkohol die Verbrauchs abgabe nach dem Satze ven 1,175 66 für das Liter Alkohol zu ent⸗ richten haben, sofern ö. das Kontingent für 1911112 nicht überschreiten. Die hohen Ueberbrandsteurrn sollten wegfallen; erst dann würde eine Gesundung des Branntweingewerbes eintreten Das neue Gesetz wird sich nicht in das 97 von 1909 einfügen lassen, das nun einmal auf dem Prin ip des Kontingents aufgebaut ist. Die Kom⸗ mission wird eine schwere Arbeit haben, und schon deswegen möchte ich befürworten, daß diese , . nicht der Budgetkommission, sondern einer besonderen Kommission überwiesen wird. Dem viel geplagten Brennereigewerbe muß endlich Ruhe geschaffen werden.
6 Graf . wsky (b. k. F.: Bei der vorgerückten Tages⸗ zeit will ich mich auf wenige Worte beschränken. Ter Zentrumsredner hat meine Aeußerungen bemängelt, daß es sich bei Militärfragen vorzugsweise um eine Vertiauensfrage handelt. Selbstperständlich ist hiervon vollkommen getrennt die . einer Finanzierung einer solchen Vorlage. Da ist die eingehendsie Prüfung des Parlaments notwendig. Es gibt eine amtliche militärische Vertretung der Vor— lage, die uns beweist, daß sie fordert, was unbedingt notwendig ist zur Sicherheit des Landes und nicht mehr. Auf der andenen Seite sehen wir militärische Sachverständige, die aber keine amiliche Ver— antwortung tragen, und die behaupten, daß die Vorlage nicht aus⸗ reiche. Ich glaube, die Erfahrung wird zeigen, daß auf diesem so eminent technischen Gebiete ein Vertrauen zu der Militärverwaltung am — 36 ist. Um Irreführungen durch die Sozialdemokratie vorzubeugen, ist ein Blick auf die diplomatische Lage der Welt angebracht. Unser eer und unsere Flotte sind die eine Seite der Landesverteidigung, unsere Diplomatie ist die andere, beide müssen sich gegenseitig ergänzen. Wie hat sich nun die Gruppierung der Mächte vollzogen? Frankreich kann immer noch nicht, vergessen, daß wir die alte deutsche Grenze wieder bergestellt haben. Anderseits ist Deutsch— land ein Weitkaufmann geworden und kreuzt vielfach englische Handelswege, die England als sein Monopol betrachtet. Gestern ist mir von hoher Stelle erzählt worden, daß ein englischer Stagts— mann ihm vor Jahren gesagt habe, es wäre ganz ausgeschsossen, daß sich neben dem gewaltigen englischen Handel ein deutscher Welthandel entwickeln könne. Der deutsche Welthandel hat sich nun aber entwickelt. Beide von mir erwähnten Tatsachen haben nun gewisse Stimmungen erzeugt. Die Entwicklung der Marokko—⸗ angelegenheit hat dazu beigetragen, die alten Gegner Frankreich und England wieder zusammenzuführen. Man versäumt keine Gelegen— heit in beiden Ländern, um diesem Freundschafts- und Vertrauens— verhältnis einen prägnanten Ausdruck zu geben. Zu diesem Konzern gehört jetzt auch unser russischer Nachbar, der ein halbes Jahrhundert zum mindesten uns ein stiller Freund gewesen ist. Wir können uns im Interesse des Friedens gewiß freuen, wenn die anderen Na⸗ tionen sich untereinander verständigen, aber wir haben anderseits Veranlassung, zu prüfen, welche Stärke sie uns in kritischen Momenten gegenübeistellen können, und ob wir diesem Stärke⸗ verhältnis gegenüber auch genügend gewappnet sind. Wir hören t allerlei Friedensbeteuer ungen. Daß wir ein friedliches Volk sln ; beweist unsere Geschichte, dazu bedarf es keiner Beteuerungen. Wir haben keine frivolen Angriffskriege geführt. Würden wir aber Schwäche zeigen, so würzen die allen Zustände wiederkehren, so würden wir wieder der Schlachtplatz der Nationen werden. Wer unseren Versicherungen, daß wir den Frieden wollen, nicht glaubt, der will ihnen nicht glauben. Wir tun gut, derartige Friedensversicherungen nicht mehr abzugeben, sondern ruhig und vertrauensvoll der Zukunft entgegenzugehen. Noch ein paar Worte über die Deckungä frage. Der Schatzsekretär hat vor dem Ge— bäude des alten Etats eine schöne neue Fassade aufgebaut mit manchem bildnerischen Schmuck. Ich will ihm und uns wünschen, daß arch, die Fundamente sich dauernd als tragfähig genug erweisen. Die Finanzlage eines Landes, das 5 Miubiarden Schulden gemacht hat, ist immerhin eine ernste. Wie sind diese 5 Milliarden entsianden? (Zuruf links: Durch PuQmpöh Weil man das Ausgabewesen zu wenig vom finanztechnischen Stand punkte und zu sehr vom politischen Standpunkie betrachtete. Dazu kam die verhältnismäßig schwache Stellung des Schatzsekretärs. Durch die lex Lieber ist der Versuch gemacht worden, seine Stellung zu stärken, leider ohne Erfolg. Es ist nun gesetzlich bestimmt worden, daß gewisse öffentlich rechtliche Korporationen einen Teil ihrer Bestände in Reichs- und Staatspapieren anzulegen haben. Dem Abgeordnetenhause liegt ein Entwurf vor, der die gleiche Veipflichtung den Sparkassen auferlegt. Wenn, trotz aller dieser Maßregeln unsere Reichs⸗ und Staatspapiere eine sinkende Tendenz zeigen, so liegt das daran, daß wir nicht rechtzeitig die nötigen Steuern zur Deckung der Ausgaben gemacht haben. Auch die Gemeinden haben viel zu viel Anleihen auf den Markt gebracht. Wenn wir den öffentlichen Korporationen die Verpflichtung auf erlegen, einen Teil ihrer Bestände in Staats, und Reichs⸗ papieren anzulegen, so haben wir auch die mt eine Finanzwirtschaft zu führen, die sie vor Verlusten schützt. Ich wünsche dem Schaßsekretär, daß sich alle seine Erwartungen erfüllen. Aber ich . eine fortschreitende Tilgung unserer An⸗ leihen wird durch sein Vorgehen hintangehalten. Wir dürfen unter keinen J eine Vermehrung unserer bisherigen Schulden vor⸗ nehmen. Erfüllen sich die Erwartungen des Schgtzsekretärs nicht, so nüssen wir zu neuen Steuern schreiten. Der Abg. Wurm hat in bezug auf mein Verhältnis zur Liebesgabe eine Aeußerung zitiert, die ich angeblich getan haben soll. Ich bin bis 1897 Schatzsekretär ge⸗ wesen und habe in dieser Eigenschaft zwei Branntweinvorlagen ver⸗ teidigt. Die betreffende Aeußerung müßte also mindestens 15 Jahre zurückliegen. Ob es am Platze , auf Privatäußerungen zurückzu⸗ kommen, überlasse ich dem Urteil des Hauses, und darauf näher ein— zugehen, den Kaffeeklatschgesellschaften älterer Damen. Als ich die Branntweinsteuervorlage vertrat, befand sich die deutsche Landwirt⸗ schaft in einer verzweifelten Lage, und da mag ich privatim gesagt haben, daß man ihr helfen müsse, wo man könne. Die Brennerei sei die fin und if. r der Landwirtschaft. Ich mag auch gesagt haben, daß unsere deutsche Landwirtschaft des Qstens für aden Staat von großer Bedeutung ist, weil sie eine Reihe höherer Be⸗ amten dem Staate stelle. Im Wahl kampfe ist nun diese meine Aeuße⸗ rung so umgemodelt worden, als hätte 9 . t, die Liebesgabe müsse erhalten werden, damit die, Söhne der ostelbischen Gutsbesitzer Garde⸗ kavallerieoffiziere werden könnten. Ich glaube, die Sache ist zu ernst, um in dieser Weise behandelt zu werden.
Abg. Götting (nl.): Die Aeußerungen des Redners der deufsch⸗hanneverschen Partei nötigen mich zu einer kurzen Er⸗ widerung. So sehr ich es vorlage freundlich gegenübergestellt Lat, so sehr bedauere ich, daß er die Flottenverlage betämpft hat. Als Hannoveraner sollte
es begrüße, daß er sich der Militär⸗
uns die Marinevorlage doch sehr am Herzen liegen, zudem sieht sie doch nicht fo aus, als ob sie einen Angriff auf England bezweckt. Sie ist eingebracht, um unsere deutschen Küsten schützen zu können. Die vorgebrachte pessimistische Auffassung ist nicht die Meinung des überwiegenden Teiles der hannoverschen Bevölkerung. Diese kleine Gruppe ist aus der Versenkung entstanden durch den Zwist der nationalen Parteien und dadurch, daß in einem kleinen Teile des hannoverschen Volkes noch ultramontaner Geist schlummert. Es muß der üble Eindruck im Auslande zerstreut werden, als ob hinter dieser kleinen Gruppe die Mehrheit der hannoverschen Bevölkerung steht. In Hannover ist die deutsch⸗nationale Gesinnung vorherrschend, deren hauptsächlichster Vertreter ja Herr von Bennigsen war. Wir wollen diese Vorlage nicht mit dem klein⸗ mütigen Blicke in die Vergangenheit der Geschichte betrachten, sondern ohne Chauvinismus mit ruhiger Entschlossenheit den großen Aufgaben der Gegenwart entgegengehen und mit dem Gefühle der großen Aufgaben der deutschen Kultur, die wir in der Zukunft er—⸗ kämpfen wollen. Gerade aus meiner Heimat sind mir Ansichten aus⸗ gesprochen worden, ob die Vorlage genügend ist, insbesondere wegen der Zeit der Durchführung. Es kam dabei das Gefühl zum Durch⸗ bruch, daß deswegen andere dringende Bedürfnisse nicht erfüllt worden sind, sondern eine n auf spätere Jahre , haben. Ich möchte doch bitten, eventuell der Anregung des Abg. von Liebert näherzutreten, ob es nicht möglich ist, ohne größere Unkosten eine weitere Verstärkung der Friedenspräsenzstärke vorzunehmen. Unter . iu gen schwachen Bestande der Kompagnien muß die Ausbildung ehr leiden.
Abg. Werner Hersfeld (. Reformp.): Die Sozialdemokratie verlangt eine friedliche Entwicklung, aber das wollen ja gerade die, die die Vorlage annehmen. Wir können uns in unserem dentschen Vater⸗ lande ganz auf die Armee verlassen. Sie ist kein Instrument des
Krieges, sondern des Friedens. Wir wollen deshalb die Armee um des ö willen erhalten.
Der Schatzsekretär hat gesagt, daß er ei dieser Vorlage in den Bahnen seines Vorgängers wandelt, also keine Ausgaben ohne Deckung vornehmen zu wollen. Was die Liebes⸗ gaben anlangt, so ist die Stellung der Regierung richtig. Aber, warum gehen wir nicht einmal der Börse zu Leibe? Denn das mobile Kapital muß noch mehr als bisher herangezogen werden.
Damit schließt die Diskussion.
Es folgen persönliche Bemerkungen.
Abg. Kreih (ckons.): Der Abg. Wurm hat Angaben über ein privates Gespräch mit einem Kollegen von mir unter Nennung meines Namens gemacht. Ich habe keinen Augenblick daran gezweifelt, daß Graf Posa—⸗ dom sky diese Acußerung nie gemacht hat. Man hat auch gesagt, ich hätte Einfluß auf das Branntweinsteuergesetz gehabt und hätte das Gesetz sogar diktiert. Ich stelle fest, daß ich der Kommission, die das Gesetz ausgearbeitet hat, niemals angehört habe und auch überhaupt nicht an dem Gesetz mitgearbeitet habe. Ich war zu der Zeit Referent in der Tabaksteuerkommission. Ich bin also an der Vaterichaft dieses Gesetzes unschuldig. Was er uüͤber die Spiritus⸗ zentrale und über mich sonst noch gesagt hat, so liegt das vor der Zeit, ehe ich ihr überhaupt angehört habe. Alle diese Behauptungen sind unrichtig. Wenn das nicht der Fall ist, so bitte ich es mir in der Kommission nachzuweisen. .
Abg. Freiherr von Gamp (Rp.): Ich habe hereits in einem Zwischenrufe den Kollegen Haußmann darüber belehrt, daß ich den Ausdruck „Gehässigkeit' ihm gegenüber nicht angewandt habe. Der Abg. Haußmann hat auch seinem Befremden darüber Ausdruck gegeben, daß die ‚„Pest? meine Rede zu hoch bewertet habe. Dagegen bin ich machtlos. Ich nehme an, daß die liberale Presse die Rede des Abg. Haußmann ebenso hoch bewerten wird, wie die des Kanzlers.
Der Antrag auf Ueberweisung der Wehrvorlagen an die Budgetkommission wird einstimmig angenommen; die Ab⸗ stimmung, den Gesetzentwurf, betreffend Aufhebung des Brannt⸗ weinkontingents, einer Kommission von 28 Mitgliedern zu über⸗ weisen, bleibt zweifelhaft; es muß deshalb ausgezählt werden. Für den Antrag stimmen 160, dagegen 158 Mitglieder. Das Resultat wird mit großer Heiterkeit und lebhaftem Beifall links aufgenommen. Dafür stimmen geschlossen die Sozial⸗ demokraten, die Freisinnige Volkspartei und die National⸗
liberalen. Schluß der Sitzung gegen 6/4 Uhr. Nächste Sitzung kö 1 Uhr. (Wahlprüfungen; Interpellation, betreffend
Vollzug des Jesuitengesetzes, Reichseisenbahnetat.)
Prenßzischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 56. Sitzung vom 25. April 1912, Mittags 12 Uhr.
(Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)
Das Haus setzt die zweite Beratung des Entwurfs des Staats haushaltsetats für das Rechnungsjahr 1912 bei dem Etat des Ministeriums des Innern fort.
Die Einnahmen werden ohne Debatte genehmigt.
Zu dem ersten Titel der dauernden Ausgaben, „Gehalt des Ministers“, liegen zwei Anträge der Abgg. Aronsohn . Volksp.) und Genossen vor:
1) die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, sobald als mög⸗ lich einen Gesetzentwurf vorzulegen, duich den die §S§ 9, 10 und 41 des preußischen Preßgesetzes vom 12. Mai 1851 auf⸗ gehoben werden;
2) die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, alsbald einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch den die Bestimmungen des Reichs⸗ gesetzes, betreffend die Einwirkung von Armenunterstützung auf öffentliche Rechte, vom 15. März 1909 auf die preußi⸗ schen Landesgesetze sinngemäß übertragen werden.
Von den Sozialdemokraten Abgg. Borchardt und Genossen sind noch folgende Anträge eingegangen:
1) die Regierung zu ersuchen, sobald als möglich den Ent⸗ wurf eines Gesetzes zum Schutze der persönlichen Frei⸗ heit der Staatsbürger gegen behördliche Ein⸗ griffe vorzulegen;
2) die Regierung zu ersuchen, sobald als möglich einen Gesetz⸗ entwurf zur Regelung und Reform des FIrrenrechts vorzulegen;
3) die Regierung zu ersuchen,
a. sofort eine Anweisung an die Verwaltungsbehörden zu er—⸗ lassen und sobald als möglich eine Gesetzesvorlage ein⸗ zubringen, nach der der Gebrauch fremder Sprachen in öffentlichen Versammlungen allgemein ge⸗ stattet wird (5 12 Abs. 3 und 4 des Vereinsgesetzes vom 10. April 1908),
sofort eine Anweisung an die Verwaltungebehörden zu er⸗ lassen, wonach gemäß § 9 des Vereinsgesetzes für Ver⸗ sammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge die Genehmigung durch öffentliche Bekanntmachung ersetzt wird.
Außerdem stellen die Sozialdemokraten denselben Antrag wie die Abgg. Aronsohn und Genossen betreffs Ab⸗ änderung des preußischen Preßgesetzes.
Auf Antrag des Berichterstatters Abg. Winckler wird beschlossen, die Medizinalangelegenheiten vollständig aus der allgemeinen Besprechung auszuschließen und das Zigeuner⸗ unwesen sowie die nordschleswigsche Frage erst am Schluß der
allgemeinen Besprechung zu behandeln. . Arg. Winckler (kons.) berichtet über die Verhandlungen der Kommission.
*
Abg. Dr. Pach nicke (fortschr. Volksp.): An die rig meiner ,, . stelle ich die Frage des preußischen Wahlrechts. Nur unter der Bedingung stimmen wir der Vertagung vor Pfingsten zu, daß unsere Wahlrechtsanträge behandelt werden. So viel Selbstachtung muß das Haus besitzen, daß es nicht nur die Regierungsgeschäfte be—⸗ sorgt, sondern daß es auch das, was es ed will, zur Verab⸗ . bringt. Das Haus hat sich auch in der vorigen Session o wenig arbeitswillig gezeigt, daß schließlich eine große Reihe von Petitionen und Initiativanträgen unter den Tisch fiel. Preußen hat das reaktionärste Wahlrecht von Europa. Es begünstigt den Groß. grundbesitz und dasjenige Beamtentum, das gesellschaftlich mit dem Großgrundbesitz zusammenhängt. Es benachteiligt den Mittelstand; 820 der Wähler sind in die dritte Klasse verwiesen. Wie kann man ein solches Wahlrecht mittelstandsfreundlich nennen! Das Haus bietet kein Spiegelbild der Stimmung des Landes. Die Konseiva— tiven zählen hier 150 Abgeordnete, im Reichstage 465, die Freikonser⸗ vativen hier 61, im Reichstage nur 13, die Sozialdemokraten hier 6, im Reichstage aber 110 Abgeordnete. (Lebhafte Zurufe rechts: Durch die Schuld der Freisinnigen) Für das geheime und direkte Wahl recht haben wir hier eine Mehrheit. Gegen dasselbe sind die 150 Kon— serbatlven und die 61 Freikonservativen, also 211 Abgeordnete. Für das geheime und direkte Wahlrecht sind aber alle übrigen Parteien mit 227 Stimmen. Die Mehrheit ist zweifellos vorhanden, wenn das Zentrum gemäß seinen Worten bei der Abstimmung handelt. Der Zentrumsabgeordnete Güiesberts ist sogar für die Ueber tragung des Reichstagswahlrechtg auf Preußen eingetreten, er hat gesagt, daß man noch schärfer als bisher für diese Forderung ein— treten und kein Tüpfelchen davon preisgeben dürfe, und der Zentrumsabgeordnete Itschert hat in der ‚ Germania. dle Forderung erhoben, daß bei der Abstimmung über das direkte und gebeime Wahlrecht kein einziges Zentrumsmitglied fehlen dürfe, das Zentrum werde vollzählig dafür eintreten. Wir stehen mit unserer Forderung nicht allein, sie deckt sich zum Teil mit dem Standpunkte des Königs von Preußen. Er hat in seiner Thronretde die Reform des Wahlrechts für eine der wichtigsten Aufgaben erklärt. Wir erinnern Sie immer wieder an diese Zusage der Thronrede, damit Sie endlich dieses Versprechen einlösen und die Autorität der Krone befestigen. Mit einer gewaltsamen Vernichtung der Sozialdemokratie ist es nichts, wir können die Sozialdemokratie nur bekämpfen durch verständige Reformen. Die Zunahme der Sozialdemokratie kommt nicht auf unser Konto, Stichwahlabkommen wird es geben, solange es Stichwahlen gibt. Keine Partei ändert sich durch den Abschluß eines solchen Abkommens in ihren Prinzipien. Das gilt auch fur uns. Die Konservativen sind nicht liberal geworden unter dem Bülem— block, und das Zeutrum ist nicht sozialdemokratisch geworden daduich, daß es im Dom zu Speyer mit der Sozialdemokratie verhandelte. Wir wahren unsere Selbständigkeit, wir sind und bleiben eine monarchische Partei, eine Partei der Versöhnung der Klassengegen— sätze. Das Abgeordnetenhaus hat bereits einmal, ein Votum gefaßt für die geheime Wahl bei Besprechung einer Petition, die in diesem Sinne nach unserem Antrage der i n, zur Berücksichtigung überwiesen wurde. Der Wahlreformgedanke läßt die Volksseele nicht wieder los, denn er ist Grund- und Vorfrage aller Politik, einer weitschauenden Politik. Solange nicht sämtliche Volksteile bei en Wahlen zur Geltung kommen, kommen wir nicht zur Ruhe. Tie Beschwerden gegen die Handhabung des Vereins- und Versammlumes— rechts sollen nach der Erklärung des Ministers in der Kommission alle unrichtig gewesen sein, ja es sollen sogar Beschwerden aus Orten gekommen sein, die gar nicht existieren, und die Zahl der Beschwerden soll überhaupt geringer geworden sein. Ich kann dat nicht finden. Die Beschwerden haben oft wenig Zweck, da die Re— primanden für den Beamten immer viel zu spät kommen, da die ö verbotenen Versammlungen nicht so spät nachgeholt werden önnen. Minister veranlassen müßten, den Behörden Achtung vor dem Gertz beizubringen. In einem Falle wurde eine Versammlung unter freiern ö nicht genehmigt, da der Gendarmeriewachtmeister Hochzeit abe; ein Amtsvorsteher von Zastrow verbot eine Versammlung unter freiem Himmel, weil es in dieser Gegend nicht Sitte sei, Versammlungen unter freiem Himmel abzuhalten; die Versammlung würde daher Aufseben erregen, die Bevölkerung könnte sich zu Angriffen gegen die Veranstarter veranlaßt sehen, und es könnten fremde Grundstücke betreten werd n= In einem Falle legte ein Amtsvorsteher einem sozialdemokratischen Verein nahe, sich als solcher aufzulösen und lieber sich dem evangelisch⸗kirchlichen Arbeiterverein anzuschließen. Ein Amtsvorsten er verbot eine Versammlung wegen Feuersgefaht für die he— nachbarten Strohdächer durch das Rauchen der Versammlungs teilnehmer und wegen einer Diphtherieepidemie. In Schlesien wurde eine Versammlung verboten, damit die Fasanen nicht gessört würden. In einem Falle bot den Grund das herumliegende Kartoffelkraut, ferner die Möglichkeit, daß nach der Versammlung in den Lokalen es zu Messerstechereien kommen könnte, daß der Genuß geistiger Getränke am Sonntag die Regel bilde, daß kein Wasser auf dem Grundstück vorhanden sei und erst ein Brunnen gebaut werden müßte, usn. Der Amtsvorsteher in Tarnowke im Kreise Flatow in Westpreußen schrieb an einen sozialdemokratischen Versammlun s einberufer zur Begründung des Versammlungsverbots: „Die Be— völkerung setzt sich hier aus Ackerbürgern zusammen, die zur be— sitzenden Klasse gehören. Sie haben einmal ein 6 auf den Landes fürsten nicht ausgebracht und dadurch die Erbitterung dieser be— sitzenden Klasse erregt. Es ist zu befürchten, daß die Versammlung durch die Zwischenrufe der besitzenden Klasse gestört wird und es zu Tätlichkeiten kommen kann und dadurch die öffentliche Sicherheit gefährdet wird. Eine Versammlung wurde verboten, weil der Automobilverkehr auf der Straße gestört werden könnte. Professor Stier⸗Somlo hat einmal gesagt, daß es sich hierbei nicht um kleine Ueberschreitungen handelt, sondern um höhere Güter der Nation, um die Gleichmäßigkeit der Anwendung des Rechts gegen Ungerechtigkeit und Polizeiwillkür. Ich möchte dem Minister des Innern auch eine Aeußerung des Staatssekretärs Delbrück vorhalten, der im Reichstage erklärt hat: „Ich habe den Eindruck, daß in einer ganzen Anzahl von Fällen das Reich- vereinsgesetz eine Anwendung erfahren hat, die den eigensten Interessen der Behörden nicht ent spricht. Wir müssen verlangen, daß ein preußischer Minister der= artige Rechtsbeugungen nicht duldet. Ich erinnere den Minister auch an die Aeußerung des Ministeipräsidenten, der die Ansicht aus— gesprochen hat, daß, wenn die r ger . sich dazu auswal sen sollten, daß der Beamte seine Macht politisch mißbraucht, dies für den Staat verhängnisvoll werden könnte. Er sagte weiter, daß er eine solche Parteinahme von Beamten entschieden mißbellige und sie weder des Beamten noch der Partei für würdig halte, zu deren Gunslen sie betrieben würde. Aber es ist in der Tat so weit ge— kommen, daß Landratsämter zu konservativen Parteibureaus geworden sind. Ich erinnere an das Vorgehen des Landrats Dr. Hegensche dt. (Zuruf rechts: Der war ja Reichstagskandidat) Um so mehr hätte er sich Zurückhaltung auferlegen müssen. Die Landratsämter agitieren für die Kreiskalender, die Landratsämter, die so sehr über— lastet sind! Ein Rundschreiben hieß: ‚Annoncen für den Rreie— kalender werden entgegengenommen von den Landratsämtern in Kalan, Kottbus, Spremberg.“ Ein Mitglied des Hauses, der Landrat von Rönne hat zur Einsendung von konservativen Parteibeiträgen, auf⸗ gefordert und hinzugefügt, daß es „weniger auf die Höhe des Beitrags ankommt als darauf, daß möglichst zahlreiche Beiträge kommen Ein anderes Rundschreiben war von einem Kreissekretär unterzeichnet, aber es hieß in dem Schreiben, daß die Unterzeichnung aus besonderen Gründen nicht von dem Herrn geschehen könne, der die Aufforderung sonst erlasse. Die Erlasse des aus dem Beckerprozeß bekannten Land ratö von Maltzahn haben von neuem dessen Parteilichkeit bewiesen—
(Schluß in der Zweiten Beilage.)
Aber es bleiben noch genug Beschwerdefälle übrig, die den.
zum Deutschen Reichsan
M 1901.
Zweite Beilage
zeiger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger.
Berlin, Freitag, den 26. April 1912 f —
(Schluß aus der Ersten Beilage.)
Er wies die Wahlvorsteher an, daß niemand, der sich in sei Eigenschaft als Wähler nicht legitimieren könne, in den Hal s i ser geduldet werden dürfe; er sprach sogar verächtlich von Wahl aufpassern. In dem zweiten Erlaß wird sogar Stellung zu den Reichstagskandidaten genommen. So wird bon einzelnen Landratz⸗ ämtern versucht, der konservativen Partei Hasen in die Küche zu gen! Der Minister hat ung im vorigen Jahre erklärt, daß er bei Besetzung der höheren, einflußreichen Verwaltungsstellen nach t keit und nach besonderer Eignung verfahre, und hat uns aks Beweis eine. Slatistit angeführt. enn der Glaube an solche Grundsätze im Lande verstärkt werden soll, dann ist es sehr empfehlenswert, daß der Minister in allen solchen Fällen mit aller Energie eingreift. Ein Landrat glaubt sich verpflichtet, Stockschirme zu empfehlen“ und zwar von einer bestimmten Fabrit! Der Berliner Polizeipräsident, Herr von Jagow, hat in seinem berühmten Huterlaß die Theater⸗ direktoren mit Strafe bedroht, die Damen mut Hüten im Theater dulden. Ich erinnere auch an seinen Schießerlaß mit seinem Telegrammstil, der Anschauungen erwecken kann, die dem Urheber vielleicht ganz fern liegen. Man sehe sich demgegenüber die vorsichtige Abfassung des Düsseldorfer Erlasses an! Ueber die Stadtwen ung von Vororten müssen festere Normen aufgestellt werden. Unseren Anträgen bitte ich die Zustimmung zu geben. Der Antrag der Sozialdemokraten über den Gebrauch fremder Sprachen in öffent' lichen Versammlungen ist für uns annehmbar. Der 5 12 des Vereins— gesetzes stellte ein Kompromiß dar, das zunächst gehalten werden mußte, das aber keine Bindung auf alle Zeit und für alle Zukunft bedeuten kann. Für den zweiten Teil des Antrages über die Versammlungen unter freiem Himmel würde ich nicht stimmen können. Da müffen gewisse ordnungspolizeiliche Bestimmungen beobachtet werden. Beson ders wichtig ist der Antrag für ein Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit. Im Reichstag war es kein geringerer, als der stellvertretende Reichskanzler selbst, der sagte, es müsse praktisch erwogen werden, ob nicht allgemeine gesetzliche Bestimmungen zum Schutze der persönlichen Freibeit möglich seien, aber zum Schutze der Freiheit nach allen Richtungen hin. Mit dieser Er— läuterung würde ich dem Antrage ohne weiteres zustimmen. Das, was die Konservativen fordern, ist nur ein Ausnahmegesetz gegen die Streikenden. Nach den Paragraphen des Strafrechts sind wir schon jetzt in der Lage, alle Ausschreitungen zu unterdrücken und zn bestrafen. möchte an den Ausspruch des saͤchsischen Ministers des Innern Giafen Vitzthum erinnern, der sagte: „Ich wünsche durchaus, daß die Polizei entsprechend der Gesetzgebung das Koalitionsrecht der Arbeiter genau so beachtet, wie das der UÜnter⸗ nehmer, und nicht in die Lohnverhältnisse eingreift. Aus diefem Grunde lehne ich auch den Wunsch der Unternehmer ab, sie ein—⸗ seitig gegen die Streifpost'n zu sch stzen. Die Polizei hat sich darauf zu beschränken, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten.“ Es bleiht bei dem alten Grundfatz: Je konservativer das Regiment, desto zahlreicher die Sozialdemokratie, je volkstümlicher die Politik, desto 8 die sozialdemokratischen Stimmen. Die Erfahrungen von 1907 sollten Ihnen doch als Beweis fuͤr dieses politische Natur— gesetz gelten. Wir wünschen, daß auch das Ministerium des Janern bon modernem Geist⸗ durchdrungen wird, von Gerechtigkeit und Ün— parteilichkeit nach allen Seiten und gegen alle Volksschichten.
Minister des Innern Dr. von Dallwi tz:
Meine Herren! Der Herr Vorredner hat so verschiedenartige Materien berührt und eine solche Blütenlese von Einzelbeschwerden vorgebracht, daß ich naturgemäß auf alle Einzelheiten nicht werde eingehen können. Es ist mir aber aufgefallen, daß er folgendes Urteil über die Landräte im allgemeinen gefällt hat. Er hat gesagt, die Landratsämter seien geradezu zu konservativen Partei—⸗ bureaus geworden. Eine solche generelle Beschuldigung (Wider⸗ spruch links) gegenüber einem ehrenwerten Beamtenstand scheint mir der schärfsten Zurückweisung zu bedürfen. Ich verstehe es wohl, wenn gegen einzelne Mißgriffe und Verstöße, die überall vorkommen werden und vorkommen können, Verwahrung eingelegt und über sie Be— schwerde geführt wird; aber eine solche allgemeine Krltik (Widerspruch links) scheint mir weit über das Ziel hinauszuschießen.
Die einzelnen Fälle, die der Herr Abg. Dr. Pachnicke zur Be— gründung seines allgemeinen Ausspruchs angeführt hat, scheinen mir auch nicht derartig zu sein, daß der Versuch, seine Kritik damit zu rechtfertigen, irgendwie von Erfolg gekrönt sein könnte. Er hat bei— spielsweise einen Fall erwähnt, der schon im vorigen Jahre hier er— örtert worden ist, in dem ich schon im vorigen Jahre erklärt hatte, es sei Remedur geschaffen worden, der also meines Erachtens längst erledigt ist. Es handelt sich um den Fall, wo ein Landrat mit seiner Amtsbezeichnung zur Einsendung möglichst hoher Vereinsbeiträge auf⸗ gefordert hat. Diese Sache ist, wie ich eben schon erwähnte, im vorigen Jahre erledigt worden, durfte also meines Erachtens von Rechts wegen heute nicht mehr erwähnt werden.
Weiter hat der Herr Abg. Pachnicke einen Fall erwähnt, wo ein Landrat die Anregung gegeben hatte, daß man in seinem Kreise, wo die Kreisbewohner in der einen Hand einen Stock und in der anderen Hand einen Schirm zu tragen pflegen, sich doch lieber eines Stockschirmes bedienen möchte. Ich gebe zu, daß das nicht unbedingt notwendig war (Heiterkeit), möchte aber erwähnen, daß, wie ich festgestellt habe, die Anregung von dem Landrat in seiner Eigenschaft als Vorsitzender eines land— wirtschaftlichen Kreispereins und nicht in seiner landrätlichen Eigen— schaft gegeben worden ist. Ich glaube, daß ein Grund zur Beschwerde in diesem Fall wohl nicht anerkannt werden kann. (Heiterkeit rechts.)
Der Herr Abg. Pachnicke hat dann behauptet — er hat dies bei seiner Besprechung der Landräte erwähnt, scheint also auch in diesem Falle die Landräte dafür verantwortlich zu machen —, ein Distrikte⸗ kommissar habe Propaganda für die „Ostdeutsche Warte“ dadurch ge— macht, daß er die sämtlichen Gemeindevorsteher aufgefordert habe, genau zu berichten, wer auf dieses Blatt abonniert habe. Der Zu— sammenhang dieses Vorganges, der übrigens auch schon im vorvorigen Jahre sich ereignet hat (hört, hört! rechts und im Zentrum und Heiterkeit), ist folgender: Die „Ostdeutsche Warte“ hatte den Antrag bei dem Regierungspräsidenten in Bromberg gestellt, sie bei der Ver⸗ öffentlichung von amtlichen Bekanntmachungen zu beteiligen. Der Regierungspräsident hat diesem Antrag erst dann näher treten zu sollen geglaubt, wenn er sich über die Verbreitung der Zeitung unterrichtet hätte. Er hatte dabei besonders Rücksicht darauf zu nehmen, daß schon andere deutsche Blätter eine weite Verbreitung im Regierungs« bezirk haben, von denen namentlich die „Ostdeutsche Rundschau“ 23 000 Abonnenten zählt. Die vom Regierungspräͤsidenten an die
Landräte erlassene Verfügung, innerhalb drei Wochen zu berichten, ob und welche Verbreitung die „Ostdeutsche Warte“ im dortigen Kreise gefunden habe, ist in diesem Falle dann dem Distriktskommissar übergeben worden, der darauf das zitierte Rundschreiben erlassen hat. Ich glaube, es ist dies ein ziemlich harmloser Vorgang, der in dieser Weise aufgebauscht zu werden kaum verdient.
Der Herr Abg. Dr. Pachnicke hat zwei Verfügungen des Landrats in Grimmen zum Gegenstande der Kritik gemacht, von denen die eine die Anwesen heit Unbeteiligter bei der Ermittlong des Wahlergebnisses in den einzelnen Wahlbezirken betrifft. Der Landrat in Grimmen hat da zum Ausdruck gebracht, daß zur An—⸗ wesenheit in solchen Fällen nur Leute berechtigt seien, die die Wahl— berechtigung haben. Es steht das genau im Einklang mit einer Ent— scheidung des Kammergerichts aus dem Jahre 1890 und mit einem Zirkularerlaß des Ministeriums aus dem Jahre 1892, der seitdem nicht abgeändert worden ist; und wenn auch die Reichstags⸗ wahlprüfungskommission einmal — ich glaube, im Jahre 1698 — einen anderen Standpunkt eingenommen hat, so ist dieser andere Standpunkt auch im Reichstag lebhaften Anfechtungen unterworfen gewesen, und jedenfalls hat eine Aenderung des diesseitigen Stand— punktes nach dieser Richtung hin nicht stattgefunden. Der Erlaß ent— spricht mithin durchaus den Verhältnissen.
Der zweite Erlaß bezieht sich auf die Stellungnahme der Beamten zur Sozialdemokratie. Es ist darin ausgeführt, daß es Pflicht der Beamten sei, gegen die Sozialdemokratie Stellung zu nehmen, und daß dies auch die Pflicht involviere, für diejenigen einzutreten, die in besonders scharfer Weise die Sozialdemokratie be— kämpfen. Da nun im Wahlkreise Grimmen damals eine Stichwahl in Aussicht stand, bei der zwei bürgerliche Kandidaten in Stichwahl waren, von denen der eine vielleicht weniger scharf der Sozial— demokratie gegenüberzutreten pflegt, als der andere (Heiterkeit rechts), so kann allerdings aus diesem Erlaß herausgelesen werden, daß er eine Parteinahme zugunsten des einen bürgerlichen Kandidaten und zu ungunsten des anderen enthält. Insoweit das der Fall ist, geht dieser Erlaß zweifellos über den Rahmen derjenigen dienstlichen Obliegenheiten hinaus, die der Landrat amtlich wahrzunehmen hat, und kann infolgedessen nicht gebilligt werden.
Meine Herren, die Verbreitung der Kreiskalender als solcher scheint mir durchaus eine Aufgabe der Landräte zu sein. (Hört, hört! links Die Kreiskalender sollen ein Gegengewicht bilden gegen die Schmutz- und Schundliteratur, mit der die Bewohner der Kreise in ganz ausreichendem Maße von anderer Selte versehen werden. (Sehr richtig! rechts. — Rafe bei den Sozialdemokraten: Von welcher Seite?) Das gehört zur allgemeinen Wohlfahrtspflege. Ich kann nicht zugeben, daß Landräte ihre Obliegenheiten überschreiten, wenn sie für deren Verbreitung Sorge tragen. (Erneute Rufe bei den Sozialdemokraten: Von welcher Seite? Wer verbreitet den Schmutz? — Zuruf rechts: Die Sozialisten! — Zuruf bei den Sozial⸗ demokraten: Er meint offenbar den Reichsverband! — Unruhe.) Ich werde jetzt weiter fortfahren.
Meine Herren, der Herr Abgeordnete Dr. Pachnicke hat sich dann gegen einzelne Verfügungen des hiesigen Polizeipräsidenten ge— wendet, und ich glaube, auf die eine etwas näher eingehen zu müssen, da sie in der Presse und in der Oeffentlichkeit Gegenstand der Er⸗ örterung geworden ist und zu meines Dafürhaltens unzutreffenden Folgerungen geführt hat. Auf den ersten Punkt, die Dam enhüte im Theater, glaube ich nicht eingehen zu sollen, da die Sache zur— zeit dem Oberverwaltungsgericht vorliegt und jede Stellungnahme meinerseits aus diesem Grunde wohl besser unterbleiben muß.
Was die beiden Schießerlasse anbetrifft, so möchte ich voraus— schicken, daß jeder Schutzmann sich im Besitz eines Heftchens, so⸗ genannter Dienstvorschriften, befindet, in denen alle Regeln und Ver— haltungsmaßnahmen enthalten sind, nach denen er sein Verhalten im Dienste einzurichten hat. Im 88 dieser allgemeinen Dienstvorschriften für die Schutzleute ist ganz genau mitgeteilt, unter welchen Voraus— setzungen nach den bestehenden gesetzlichen Vorschriften seitens der Schutzleute von ihren Waffen Gebrauch gemacht werden darf. Es sind die gesetzlichen Vorschriften, die ja wohl hier allgemein bekannt sind, wörtlich wiedergegeben, und es sind noch eine Reihe weiterer besonderer Kautelen vorgesehen, deren Beachtung durch die Aufnahme in die Vorschriften den Schutzleuten zur Pflicht gemacht ist. Namentlich möchte ich die Bestimmungen unter Nr. V erwähnen:
Es liegt ihnen jedoch auch in diesen Fällen ob, die Waffen mit möglichster Schonung, namentlich des Lebens, und nur dann zu gebrauchen, wenn alle anderen Mittel fruchtlos angewendet sind, und der Widerstand nicht anders als mit bewaffneter Hand über— wunden werden kann. Bei Anwendung der Waffe darf der Beamte absichtlich keine schwereren Verletzungen verursachen, als es für den zu erreichenden Zweck unumgänglich notwendig ist. Er darf sich der gefährlichen Schußwaffe nur dann bedienen, wenn nach seiner pflichtmäßigen Ueberzeugung die von ihm geführte minder gefährliche Hiebwaffe nicht genügt. Eine Gefährdung unbeteiligter Personen ist unbedingt zu vermeiden.
Meine Herren, im Anschluß an diese Bestimmung ist nun der erste Erlaß vom 20. Juni vorigen Jahres dahin ergangen, daß unter Bezugnahme auf § 8 der allgemeinen Dienstvorschriften den Schutz— leuten mitgeteilt wird, daß der Gebrauch der Schußwaffe nicht gebunden sei an den vorhergegangenen fruchtlosen Gebrauch der Hiebwaffe.
Der zweite Erlaß enthält dann das, was Herr Pachnicke zitiert hat, nämlich den Hinwels darauf, daß die Unterlassung des recht zeitigen Gebrauchs der Schußwaffe unter Umständen Strafen nach sich ziehen kann.
Durch diese beiden Vorschriften wird an den bestehenden Ver— hältnissen nicht das mindeste geändert. Denn der erste Erlaß steht mit dem 8 8 der Dienstvorschriften nicht im mindesten in Wider- spruch. Es darf daher nach wie vor jeder Schutzmann erst dann von der Schußwaffe Gebrauch machen, wenn nach seinem pflichtmäßigen Ermessen, nach seiner pflichtmäßigen Ueberzeugung die Hiebwaffe nicht
genügt, und wenn die Gesamtlage des Falles danach angetan ist, daß nach seinem pflichtmäßigen Ermessen der Gebrauch der Hiebwaffe allein nicht mehr genügen würde. Das ist noch besonders durch die Bezugnahme auf 8 8 der Dienstvorschriften zum Ausdruck gebracht. Daran wird auch nichts geändert durch den zweiten Erlaß, der den Hinweis darauf enthält, daß, wenn bei dem Vorliegen aller gesetzlichen Vorschriften von einem Beamten von der Schußwaffe nicht rechtzeitig Gebrauch gemacht wird, eventuell das zu einer Bestrafung Anlaß geben kann. Somit stellen sich bie beiden Erlasse lediglich dar als interne dienstliche Weisungen erläuternder Art, wie sie bei einem geringeren Umfange der Behörde ebensowohl auch mündlich hätten erteilt werden können.
Wenn somit feststeht, daß weder eine Verschärfung, noch eine
Erweiterung oder Aenderung der bestehenden Bestimmungen über den Waffengebrauch bezweckt war oder erreicht worden ist, daß es sich vielmehr lediglich um instruktionelle Erläuterungen der aus dem 8 8 der Dienstvorschriften für die Beamten sich ergebenden Pflichten und Rechte handelt, so ergibt sich meines Dafürhaltens ohne weiteres die Haltlosigkeit des in der Presse und auch in der Berliner Stadt erordnetenversammlung gemachten Versuchs, den Erlaß als gesetz- widrig hinzustellen und als eine neue Gefahrenquelle für das Publikum. Für die Aufsichtsbehörde war somit nur die Frage zu prüfen, ob ein Anlaß zu derartigen Erlassen gegeben war. Bekanntlich haben den letzten und unmittelbaren Anstoß zu den beiden Erlassen gegeben drei hoch bedauerliche Vorkommnisse im Juni und August vorigen Jahres, bei denen jedesmal Beamte bei Ausführung dienstlicher Obliegen⸗ heiten teils von den zu sistierenden Verbrechern ermordet, teils schwer verletzt worden sind. (Hört, hört! rechts) In allen diesen Fällen hat sich herausgestelt, daß sowohl die ver— letzten Beamten, wie auch die sonstigen anwesenden Schutz leute, obwohl es bekannt war, daß die Verbrecher mit Waffen versehen zu sein pflegten, und jedenfalls angenommen werden mußte, daß von diesen Waffen Gebrauch gemacht werden würde, ihrerseits versäumt hatten, rechtzeitig ihre Schußwaffen in Bereitschaft zu halten. Es hat sich denn auch bei der demnächstigen Untersuchung der Vorkommnisse herausgestellt, daß bei den Schutzleuten vielfach die Auffassung bestand, daß nach 8 8 der Dienstvorschriften erst dann von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden dürfe, wenn die Hieb⸗ waffe zuvor vergeblich benutzt worden sei. Dieser irrtümlichen Auf⸗ fassung entgegenzutreten, hat der Polizeipräsident für seine Pflicht gehalten, und zwar im Interesse der ihm unterstellten Schutzleute sowohl als auch des Publikums. (Sehr richtig! rechts)
Wenn nach den Zeitungsnachtichten in der Berliner Stadt⸗ verordnetenversammlung demgegenüber zum Ausdruck gekommen ist, daß dieser Erlaß erst recht dazu beitragen werde, die Verbrecher an= zureizen, von der Schußwaffe Gebrauch zu machen, ist diese wohl— meinende Befürchtung durch die Erfahrung widerlegt. Sie ist aber auch meines Dafürhaltens logisch unhalibar und psychologisch ver⸗ fehlt; denn das liegt auf der Hand, daß ein weit größerer Anreiz vor— liegt, von der Schußwaffe Gebrauch zu machen, wenn die Verbrecher — wie das bisher der Fall war — genau wissen, oder mit größter Wahrscheinlichkeit annehmen konnten, daß sie durch rücksichtslosen Gebrauch der Schußwaffe, durch die Verwundung oder Ermordung von Beamten sich selbst der Festnahme und der Bestrafung entziehen könnten, als wenn sie — wie das jetzt der Fall ist — jederzeit ge⸗ wärtig sein müssen, daß der geringste Versuch zum Gebrauch der Schußwaffe alsbald eine entsprechende Gegenaktion der Beamten zur Folge haben muß. (Sehr richtig! rechts.)
Bei der Beurteilung dieser Erlasse darf aber auch der Gesichts⸗ punkt nicht außer acht gelassen werden, daß die Zahl der Sicherheits⸗ verbrechen, die Zahl der nächtlichen Ueberfälle, Attentate gegen Schutzleute mit der Ausdehnung von Groß Berlin in ganz gewaltiger Steigerung begriffen ist. (Hört, hört! rechts.) Es ist daher durchaus notwendig, gegen diese Art Verbrechertum, gegen die Einbrecher und Zuhälter, mit aller Energie vorzugehen im Interesse von Leben und Eigentum der Bürger und von Leben und Gesundheit der Beamten, wenn anders wir nicht zu Zuständen ge⸗ langen wollen, wie sie durch die jahrelangen vergeblichen Kämpfe der Pariser Polizei gegen das dortige sogenannte Apachentum genrg'am illustriert werden. (Sehr richtig! rechts) Jedenfalls liegt es nicht im Interesse des Staates, auch nicht des Publikums und auch nicht der Humanität, wenn die Sicherheitsorgane gewissermaßen mit ge⸗ bundenen Händen Verbrechern gegenübergestellt werden (sehr richtig! rechts), denen jede Rücksicht für das Leben anderer, jede Scheu vor Blutvergießen längst abhanden gekommen ist. (Sehr richtig! rechts.)
Meine Herren, der Herr Abg. Pachnicke hat auch die Hand— habung des Vereins, und Versammlungsrechts in Preußen zum Gegenstande seiner Erörterungen gemacht und elne Reihe von einzelnen Fällen erwähnt, denen ich nicht ganz habe folgen können. Soweit das aber der Fall war, habe ich allerdings den Eindruck ge habt, daß das Dinge waren, die schon vor zwei Jahren oder im vorigen Jahre — mindestens bereits zwei, dreimal — zur Sprache gebracht worden sind (Heiterkeit rechts,, und größtenteils reprobiert worden sind. Er hat auch nicht angegeben, ob in den Fällen, wo seitens der untersten Instanzen augenscheinlich recht bedenkliche Miß— griffe vorgekommen sind, nicht alsbald seitens der Landräte und der nächsthöheren Behörden Remedur geschaffen worden ist. Mir ist dieses Vorgehen deshalb interessant, weil es doch einigermaßen erinnert an das Vorgehen, das im vorigen Jahre im Reichstag beliebt worden ist, wo, ohne daß vorher rechtzeitig den Behörden irgend eine Mitteilung über die zur Sprache zu bringenden Fälle gemacht worden war, eine Blütenlese von Beschwerden vorgebracht und dabei behauptet worden ist, daß die preußische Staatsregierung als solche, nicht etwa die untersten Instanzen, ihre Pflichten nicht erfüllt habe und nicht gegen Mißstände eingeschritten sei, welche auf dem Gebiete des Vereins und Versammlungsrechtes vorgekommen seien. Herr Abg. Korfanty hat gesagt: ferner werde das Vereinsgesetz mehr und mehr zu einem Ausnahmegesetz zugespitzt gegen die Arbeiterbewegung, und es müsse verlangt werden, daß die Reglerung die Gesetze des Landetz