Abg. Dr. Bell. Gn (Zentr.) führt darauf kurz aus, daß die K der Polizeisekretariatsanwärter verbessert werden müßten. Abg. Dr. Hintzmann (nl) tritt gleichfalls kurz für Erfüllung dieses Wunsches ein. . Ag; Dr. Fr ank (Zentr.): Die Schutzmannschaft in Cöln ist ihrer Zahl nach vollständig unzulänglich. Die Lage der Verhältnisse Wird nech ungünstiger, wenn man? bedenkt daß die Polizei außer Maßnahmen für die Sicherheit auch noch eine Reihe anderer unktionen zu erfüllen hat. Wenigstens müßte die Vermehrung der Polizeibeamten mit dem Wachsen der Bevölkerung gleichen Schritt halten. Das ist leider auch hier nicht der Fall.
Minister des Innern Dr. von Dallwi tz:
Wenn der Herr Vorredner es bemängelt hat, daß im Etat eine geringere Vermehrung der Schutzmannschaft in Cöln vorgesehen werde, als beantragt worden wäre, so ist das eine Erscheinung, die leider bei allen größeren Schutzmannschaften zu verzeichnen ist und die mit den allgemeinen finanziellen Verhältnissen zusammenhängt. Es werden aber gerade für Cöln im vorliegenden Etat neue Schutz⸗ leute in nicht unerheblicher Anzahl vorgesehen, und zwar 35 Schutz leute, 1 Wachtmeister und 4 Kriminalbeamte. Die Stadt Cöln erfreut sich eines stärkeren Aufgebots von Schutzleuten, auch von Kriminalbeamten, als andere größere Ortschaften der Monarchie. Die Stadt Cöln besitzt einschließlich der in dem Etat
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vorgesehenen Vermehrung 690 uniformierte und 83 Kriminal⸗ schutzleute, verfügt also im ganzen über 773 Schutzleute. In Cöln kommt auf 742 Einwohner 1 Schutzmann; in anderen Städten kommt im Durchschnitt auf 762 Einwohner 1 Schutzmann, mithin ist Cöln in dieser Beziehung dem Durchschnitt nicht unwesentlich überlegen. (Abg. Schmedding (Münster): Hört, hört)
Ich gebe übrigens zu, daß auch mir zu Ohren gekommen ist, daß der sittenpolizeiliche Dienst in Cöln nicht zur vollen Zufriedenheit der dortigen Bürgerschaft funktioniere. Ich werde in eine Prüfung der Frage eintreten, womit dies zusammenhängt, und werde, wenn und
soweit es sich ermöglichen läßt, Nemedur eintreten lassen.
Das Kapitel wird bewilligt.
Bei dem Titel „Landgendarmerie“ bemerkt
Abg. Hamm er (kons.): Die Vermehrung der Gendarmenstellen halte ich für zu gering. Die Gendarmen haben eine Reihe von Wünschen. Alle zu erfüllen, wird ja nicht möglich sein. Aber bei der Wichtigkeit dieser Beamten für den Staat sollte man ihnen doch möglichst weit entgegenkommen. Man wundert sich darüber, daß wir bei allem Wohlwollen fär die Gendarmen keine Anträge stellen. Das würde aber dem Uebereinkommen zwischen allen bürgerlichen Partetlen widersprechen, das bei Feststellung der neuen Besoldungsordnung dahin ging, daß weitere Erhöhungsanträge nur gemeinsam zu stellen sind. Eine Besserstellung der Gendarmen läßt sich erreichen, indem man die Dienstaufwandsentschädigungen erhöht. Man ? könnte ja dazu einmal feststellen, welche Aufwendungen im Interesse des Dienstes der Gendarm überhaupt hat. Es könnte auch in Er— wägung gezogen werden, ob ein Teil davon pensionsfähig zu machen ist. Eine Vermehrung der Stellen für Oberwachtmeister wäre für die Zukunft erwünscht, damit die Beförderungsverhältnisse der Gendarmen aufgebessert werden.
Abg. Heine (nl. Die Verdienste der Gendarmen für den Staat erkennen auch wir an. Ste müssen bereit sein, sich sofort jeder Gefahr auszusetzen. Trotzdem unterliegen die Gendarmen mancherlei Beschränkungen, so dürfen sie keinem Berufsverein angehören. In Gendarmenkreisen hat man allerlei Wünsche, die leicht erfüllt werden können. Zu begrüßen ist, daß die Dienstzulagen diesmal erhöht worden sind. Um die Arbeitskraft der Gendarmen nicht allzu sehr an—⸗ zustrengen, empfiehlt es sich, vtelleicht die Bezirke zu verkleinern und mehr Gendarmeriestationen zu errichten. Die Erhöhung der Dienst⸗ aufwandsentschädigung halte auch ich für nötig. Das Kleidergeld müßte dem Dienstgehalt eingerechnet und pensionsfähig gemacht werden. Weitere Wünsche gehen auf Erhöhung des Wohnungsgeldzuschusses und auf die Berechtigung, im kleinen Dienst die Mütze tragen zu dürfen. Zu bedauern ist es, daß den Gendarmen die Pferdegelder, die sie in den ersten Jahren anzusammeln haben, nicht verzinst werden. Es ist vielfach vorgekommen, daß die Gendarmen einen Verbrecher nicht fassen konnten, weil sie ihn nicht über die Grenze ihres Bezirkes hinaus verfolgen dürfen. Der Urlaub der Gendarmen muß verbessert werden; in der Verwaltung der Unterstützungskasse könnten gleich⸗ falls Reformen vorgenommen werden. Vielfach klagen die Gendarmen darüber, daß das Schreibwerk nicht abgenommen, sondern noch zu⸗ genommen hat. Einem Gendarmen, der seine Frau von einem Privat⸗ arjt hatte operieren lassen, anstatt in einer Klinik, weil der Arzt die Operation für dringend erklärte, wurden von der vorgesetzten Brigade Vorwürfe gemacht, weil er nicht vorher die Genehmigung der Brigade eingeholt hatte. Gerade in diesem Jubiläumsjahre sollte die Regierung daran denken, die Wünsche der Beamten zu erfüllen. .
Abg. Drinnenberg Gentr.) tritt für die Besserstellung der Oberwachtmeister bei der Gendarmerie ein.
Abg. Lüdicke (freikons. : Es ist ja anzuerkennen, daß in dem diesiährigen Etat eine Vermehrung der Gendarmerie vorgesehen ist. Aber diese Vermehrung hat doch nicht gleichen Schritt gehalten mit dem Anwachsen der Bevölkerung, insbefondere in der Nähe der Großstädte. Es werden an die Gendarmerie besonders hohe An— forderungen gestellt, die weit über das Maß dessen hinausgehen, was ein Beamter zu leisten vermag. Ich bitke die Regierung, daß sie den Wünschen auf eine größere Vermehrung der Gendarmerie stattgeben wolle. Ich begrüße mit Freuden, daß in dem diesjährigen Etat eine größere Summe für Dienstwohnungen ein⸗ gestellt ist. Die Regierung möge auch dafür sorgen, daß die Hendarmerie angemessene Wohnungen zu billigen Preisen erhält. Ich halte es aber für notwendig, daß die Regierung in dem nächsten Jahre eine erhebliche Vermehrung der Dienstwohnungen vornimmt. Die Dienstaufwandsentschädigungen sind viel zu gering bemessen. Die Regierung hatte schon früher einmal in Aussicht gestellt, eine Er— hebung anzustellen, ob die Gendarmerie mit den Dienstaufwands⸗ entschädigungen auskommen kann. Ich bitte die Regierung, daß sie diese Erhebungen möglichst bald vornimmt.
Abg. Delius kfortschr. Volksp.): Die Wünsche, die wir früher bei diesem Kapitel vorgebracht haben, sind leider in der Hauptsache nicht erfüllt worden. Darauf wird bei den nächsten Wahlen die entsyrechende Antwort gegeben werden. Die Gendarmen sind dazu berufen, wahre Freunde und vielfach sogar die einzigen Ratgeber der Bevölkerung zu sein. Deshalb sollte man dafür sorgen, daß ihre berechtigten Klagen beseitigt werben. Leider läßt die Behandlung der Gendarmen alles zu wünschen übrig. Dabei tönnen sie sich nicht einmal beschweren, denn sonst würde man es ihnen an höherer Stelle verübeln. Leider besteht auch kein Petitionsrecht für die Gendarmen— Auch in ihrer Tätigkeit als Hilfsbeamte der Staatsanwalt⸗ schaft sind die Gendarmen zu sehr beschränkt. Sie können nicht einmal eine dringende Haussuchung oder Beschlagnahme vornehmen ohne die Genehmigung der Amtsvorsteher. Einen großen Mißstand bedeutet auch die Vorschrift, daß die Gendarmen im Dienst stets die Uniform tragen müssen. In gewissen Fällen wäre es aber dringend erwünscht, wenn den Gendarmen auch das Tragen von Zbilkleidern gestattet wäre. Sogar im Urlaub unterliegt das Tragen von Zivil⸗ kleidern einer gewissen Beschränkung, z. B. darf ein Gendarm in Zivil⸗ kleidern nicht die Gastwirtschaften seines Bezirks besuchen. Auch die vielen Meldungen bei Antritt eines Urlaubs fönnten beseitigt werden. Ferner sollte man den Gendarmen nicht nur das Steckbriefregister für die Provinz, sondern für das ganze Peutsche Reich zustellen, was
ohne große Kosten geschehen könnte. In den Dienstversammlungen sollten den Gendarmen mehr Belebrungen gegeben werden, sowie Anweisung, wie sie sich in gewissen Fällen, besonders dem Publikum gegenüber, zu verhalten haben. Es ist doch wirklich sehr bedauerlich, daß die Gendarmen in den Dienstversammlungen vielfach eine halbe Stunde lang „Griffe kloppen müfsen. Dadurch wird die Freude am Dienst nicht gefördert. Ich hoffe, daß die Prüfung der Dienst— aufwandsentschadigung bald einen befrledigenden Abschluß zeitigen wird. Es scheint mir auch notwendig, daß die Regierung dem Beschluß des Abgeordnetenhauses nachkommt und die Arresistrafen für die Gendarmen aufhebt. Hoffentlich wird die Regierung diesen vor⸗ gebrachten Wünschen etwas mehr Wohlwollen entgegenbringen.
Geheimer Rat Schneider: Die Abgeordneten, welche hier Wünsche vorgebracht haben, haben wiederholt betont, daß dieselben in der Hauptsache von inaktiven Gendarmen ausgehen. Aus diesem Um⸗ stand erklärt es sich, daß diese Wünsche vielfach auf die gegenwärtigen Verhältnisse nicht mehr zutreffen. Ich will deshalb kurz diejenigen Bestimmungen mitteilen, die zurzeit gelten. Bei den Quartier⸗ revisionen soll darauf geachtet werden, daß Familienwohnungen nur dann revidiert werden, wenn die Gendarmen sich selbst darüber be— schweren, oder wenn es sich um Ueberweisung einer neuen Dienstwohnung handelt. Ueberhaupt ist dafür gesorgt, daß bei diesen Revifionen störende Eingriffe in das Familienleben der Gendarmen vermieden werden. Ueber den Anzug bei Revisionen sind den Gendarmen die größten Freiheiten gelaffen. Es liegt auch kein Bedenken vor, den Gendarmen im Monat einen dienstfreien Tag zu bewilligen. Ueber die Frage der Dienstauswandsentschädigung sind auch in diesem Jahre wieder Ermittlungen angestellt worden, die aber noch nicht zum Abschluß gekommen sind. Auch soll den Gendarmen eine seichte Sommeruniform gegeben werden. Es sind bereits im letzten Fahre 6 oder 8 verschiedene Modelle angefertigt worden, die aber von den Gendarmen selbst abgelehnt worden find. Wir werden aber die Frage weiter im Auge behalten, weil wir selbst der Ansicht sind, daß den Gendarmen eine leichte Sommerkleidung geschaffen werden muß. Was die Benutzung' von Militärfahrkarten seitens der Gendarmen anlangt, so sind die Verhandlungen noch nicht ab— geschlossen. Wir bemühen uns aber, den Gendarmen diefe Er— leichterung zu verschaffen. Eine westere Vermehrung der Stellen für Oberwachtmeister ist vorgesehen.
Abg. Borchardt (Soz): Aus den Reden der Vorredner haben wir gelernt, daß der preußische Staat also nicht einmal die Gen—⸗ darmen in eine einigermaßen erträgliche Lage versetzt. Nicht einmal die Gendarmen haben ein auskömmliches Gehalt. Dabei werden aber diese doch vielfach älteren Leute geradezu wie Schulbuben behandelt. Wenn es wahr ist, daß die Gendarmen z. B. zur Strafe 0 mal, das abschreiben müssen, was sie falsch gemacht haben, so, muß man darüber doch seine größte Verwunderung aussprechen— Diejenigen, die die Aufsicht führen sollen über einen ganzen Bezirk und die als eine höhere Instanz die Hoheit des Staates verkörpern sollen, dürfte man doch nicht derart behandeln. Schließlich erblickt man in den Gendarmen doch nur Proletarier, denen man alles bieten kann, die man mundtot machen kann, die nicht einmal mit Ab— geordneten sprechen dürfen, nicht einmal mit dem Abg. Hammer. Die Verbesserung der Dienstaufwandsentschädigung usw. wird alljährlich gewünscht und erfolgt doch nicht. Wir Sozialdemokraten sollen die Zeit in diesem Hause durch lange Reden vertrödeln, aber nachdem der Abg. Hammer seine Rede für die Gendarmen gehalten hatte, mußte der Abg. Heine noch einmal ganz ausführlich dieselbe Rede halten, und dann mußte auch der Abg. Lüdicke noch einmal vieles sagen, was die Vorredner gesagt hatten. Im vorigen Jahre haben sogar vier Redner hintereinander dieselbe Rede für die Gendarmen gehalten! Das sind alles Reden zum Fenster hinaus, und wir könnten manche Abendsitzung vermeiden, wenn die Herren nicht solche Reden zum Fenster hinaus hielten. Wir wollen uns lieber darüber unterhalten, wie das Institut der Gendarmerte sich im Staate bewährt. Die Radfahrervereine, die sich der Gendarmerie gern zur Verfügung stellen würden, werden schikaniert; anstatt sie zu fördern, legt man ihnen allerlei Hindernisse in den Weg. Nicht weit von Berlin be— findet sich die Gastwirtschaft „Zum alten Ziethen“. Dieser Gastwirt stellte seine Räume einein sozialdemokratischen Verein zur Ver— fügung. Da kam die Landgendarmerie und sagte ihm: du darfst dein Lokal nicht mehr „Zum alten Ziethen“ nennen. Der Wirt erklärte sich damit aber nicht einverstanden. Da machte sich der Landgendarm selhst an die Arbelt und überpinselte die Inschrift. Nachher mußte der Gendarm die Inschrift wieder herstellen. In einem Ort in Ostpreußen kamen einige Sozialdemokraten in einer Wohnung zu einer Besprechung zusammen. Diese Versammlung wurde für eine öffentlich politische Versammlung erklärt, weil sich auch zwei fremde Personen, die nicht eingeladen waren, eingefunden Falten. Daß die Versammlung ganz harmlos war, können Sie schon daraus ersehen, daß man den beiden nicht eingeladenen Personen den Zutritt nicht verbot. Der eine nicht eingeladene war der Wirt des Hauses selbst, der andere ein Hausdiener, den ein Kaufmann in die Ver— sammlung schickte, um die Versammlung zu einer öffentlichen zu
machen. Das ist Lockspitzelei schlimmster Art Lockspitzelei ist an sich
schon verächtlich. Aber dadurch, daß fie von Staats wegen geschieht, ist sie ganz außerordentlich verächtlich.
Abg. Dr. Liebknecht (Soz): In Altranstädt bei Markranstädt wohnt ein Schleifer, der seit 25 Jahren in Deutschland ist, obgleich er aller⸗ dings russischer Staatsangehöriger ist. Diefer Mann ist gänzlich un⸗ bescholten und bekommt von sämtlichen Behörden das allerbeste Leimünds— zeugnis. Er hat aber einen Fehler, er ist theoretischer Anarchist. Als im vergangenen Sommer die Kaisermanöver in dieser Gegend stattfinden sollten, erschienen plötzlich in seiner Wohnung frühmorgens zwei Gendarmen, um ihn zu verhaften, und zwar mit der Order, er werde aus dem preußischen Staatsgebiet ausgewiesen und möge binnen einer Stunde seine Sachen packen. Dieser Mann wurde von den Gen— darmen genommen, von der Seite seiner Frau gerissen (einer deutschen Staatsangehörigen) und Über die russische Grenze gebracht. Die Frau erhielt dann keinerlei Mitteilung über das weitere Schicksal ihres Mannes. Diese Angelegenheit hat sich zwar nach einiger Zeit zugunsten dieses Mannes aufgeklärt, aber die ganze Art dieser Aus⸗ weisung ist Barbarekt. Eachen des Abg. von Pappen heim.) Abg. von Pappenheim, Sie scheinen solche Sachen nicht mit dem nötigen Ernst aufzunehmen. Angesichts solcher Fälle ist man versucht, zu sagen: preußische Schande, deutsche Schande. (Vizepräsident Sr. Porsch ruft den Redner zur Ordnung.)
Abg. Hoffmann (Soz.): Ich hätte nicht das Wort genommen, wenn ich nicht von dem Abg. von Pappenheim aufgefordert worden wäre, Fälle vorzubringen, sofern ich dies könnte. Um Fälle sind wir niemals verlegen. Ich will nur drei vorführen. In Zappendorf in der Provinz Sachsen wurde ein Vergnügen eines Arbelkerradfahrervereins durch sieben bewaffnete Gendarmen verhindert. In der Provinz Ost⸗ Preußen verlangte ein Gendarm, daß ein Wirt bauliche Veränderungen seines Lokals vornehmen müsse, wenn er es an Arbeiterversammlungen gebe. Also erst dann, wenn die Arbeiter da sein sollen, muß der Saal um⸗ gebaut werden; dagegen müßten Sie (rechts) doch protestieren, Sie können ja in diesem Saal verunglücken; aber nur die Sozialdemokratie hat man so ins Herz geschlossen, daß man sie davor bewahren will. In Merz⸗ dorf in Schlesien hat der Gendarm eine Versammlung unter freiem Himmel nicht zugelassen, weil die jugendliche Tochter des Wirtes im Vause am offenen Fenster stand und die Worte aus der Versammlung hören konnte, also an einer volitischen Versammlung teilgenommen hätte. Halten Sie so viele Schaifmacherreden, wie Sie wollen, Sie werden uns dadurch nur nützen.
Das Kapitel wird bewilligt.
In dem Kapitel der allgemeinen Aus gaben im Interesse der Polizei find 8700 909 Ab für Zuschüsse an die Kommunalverbände zur A usführung des Für⸗ sorgeerziehungsgesetzes vorgesehen.
Abg. Schmedding⸗⸗Münster (Zentr.): Bereits im Dejember vorigen Jahres habe ich in diesem Hause einen Antrag auf Abänderung des Fürsorgeerziehungsgesetzes geftellt. Sollten auf irgend eine Weise
Zweifel gegen die Zweckmäßigkeit des Antrages bestehen, so wären sie Aänzend widerlegt durch den Bericht der Statistik für das Jahr 1911. Jener Antrag beruhte auf der Erwägung, daß die Zahl der nicht mehr schulpflichtigen Fürsorgezöglinge von 1901 bis 1911 ständig zu= genommen hat. Der Redner führt aus der Statistik Zahlen an, wonach die meisten der Fürsorgezöglinge, welche, nicht mehr schulpflichtig, von den Eltern in Fürsorgeerziehung gegeben wurden, schon recht berwahrlost waren. Ihre Zahl hat sich von 1901 bis 19g f nach der Statistik von 73 auf g0 o/o erhöht. Man muß daher dem Verfasser der, Statistik zustimmen und zu, dem Ergebnis kommen, daß hier zeitiger, als geschehen, zur Verhütung der völligen sittlichen Ver— derbnis hätte eingegriffen werden können: Es hätte bei rechtzeitigem Einschreiten wohl ein Verschulden der Eltern festgestellt werden und die Ueberweisung in die Fürsorgeerziehung zur Verhütung der Ver— wahrlosung erfolgen können.“ Ich bitte den Minister dringend, der erneut beantragten Anregung nachzugehen und das umsomehr, als auch das Herrenhaus vor zwei Fahren eine Aenderung des Gesetzes gefordert und der Minister selbst am J7. Februar 1911 die Not⸗ wendigkeit dieser Aenderung anerkannt hat.
Minister des Innern Dr. von Dallwi tz:
Meine Herren! In diesem Jahre eine Aenderung des Für. sorgeerziehungsgesetzes vorzunehmen, war bet der Geschäftslage des hohen Hauses nicht angängig. Mein Standpunkt zur Sache ist bei den Beratungen des von dem Herrn Vorredner erwähnten Antrags in der Kommission wiederholt dargelegt worden. Ich erkenne voll— ständig an, daß der vorbeugende Charakter des Gesetzes bisher in der Praxis nicht genügend zur Geltung gekommen ist, und daß nach dieser Richtung hin Wandel geschaffen werden muß. Fraglich war es nur, ob es nach den bisherigen Erfahrungen notwendig sei, alsbald eine gesetzliche Aenderung herbeizuführen, oder ob es nicht möglich sein würde, zunächst einmal den Versuch zu machen, im Verwaltungswege die erwünschte oder notwendige Besserung der Verhältnisse hberbeizu— führen. Nun hatte ich im Sommer vorigen Jahres, am 12. Juni, eine Zirkularverfügung an die Oberpräsidenten erlassen, in welcher sie darauf hingewiesen wurden, daß die Judikatur des Kammergerichts vielfach mißverstanden sei und daß auf Grund dieser mißverständ— lichen Auffassung der Judikatur des Kammergerichts eine Unter— bringung von Kindern in Fürsorgeerziehung häufig auch dann unterlassen worden sei, wenn sie nach dem Wortlaut des jetzigen Gesetzes sehr zweckmäßig gewesen wäre und deshalb hätte erfolgen müssen. Die Oberpräsidenten sind in meiner Verfügung angewiesen worden, in einer entsprechenden Belehrung der Antragsbehörden über die Bedeutung der kammergerichtlichen Rechtsprechung darauf hin— zuwirken, daß durch rechtzeitiges Eingreifen und sorgfältige In— struierung der Behörden die vorbeugende Absicht des Gesetzes tunlichst erreicht werde. Es ist ferner durch die Zirkularverfügung vom 12. Juni vorigen Jahres den Oberpräsidenten aufgegeben worden, nach Jahresfrist über die Erfahrungen zu berichten, die sie mit ihrer Weisungen, die sie auf Grund dieser Verfügung erlassen haben, gemacht hätten. Diese Berichte werden also im Laufe des nächsten Sommerz eingehen. Wenn, was ja nicht ausgeschlossen ist, sich herausstellen sollte, daß alle Bemühungen, im Verwaltungswege die wünschenswerte Besserung herbeizuführen, gescheitert sein sollten, dann würde ich nicht Anstand nehmen, die von diesem hohen Hause be— schlossene Aenderung des Gesetzes im nächsten Jahre vorzuschlagen. (Bravo!)
Abg. Dr. Schepp (fortschr. Volksp.): Ich kann mich den Abg. Schmedding nur anschließen und auch eine Aenderung des Ge setzes befürworten. Die Wirkung des Gesetzes in prophylaktischer Hinsicht ist noch nicht genügend erreicht. Wir haben bei der Fürsorge⸗ erziehung nicht nur mit den Kindern in der Schule und den schüll— entlassenen Kindern zu tun, sondern wir müssen schon über die vorschul⸗
pflichtigen Kinder wachen. In Charlottenburg sind segensreiche Erfolge erzielt worden. Es ist erfreulich, daß man el den Fürsorgezöglinaen spezialisiert und verschiedene Anstalten errichtet hat. Die seelischen Zustände eines Kindes, namentlich eines nicht normalen Kindes, sind sehr schwer zu verstehen. Die Zahl der Zöglinge war unter den ungelernten jugendlichen Arbeitern sehr groß, unter den in einem Beruf ausgebildeten nur gering; daraus folgt, daß die Eltern an— gehalten werden müssen, ihre Kinder in einem bestimmten Beruf aus— bilden zu lassen. Eine ö hat aber einem Bergmann die Kündigung seiner Wo hnung angedroht, wenn er seinen Sohn nicht Bergmann, sondern Maurer werden ließe. Das widerspricht unseren Intentionen bezüglich der Fürsorgeerziehung. In den Volksschulen in Berlin haben Stichproben ergeben, daß in Berlin 14 000 und in Groß Berlin 30 000 Kinder kagsüber ohne Aufsicht sind. Die Kinderhorte sollten auch vom Stagte unterstützt werden. Es fehlt ferner an einer strengen Durchführung des Kinderschutzgesetzes. Ein Arzt hat festgestellt, daß ein Kind stundenlang bei einem Maler Modell stehen mußte, obwohl es durch ärztliches Attest vom Schul⸗ besuch dispensiert war. Ich weiß wohl, daß das Modellstehen nicht unter das Kinderschutzgesetz fällt, aber man müßte solche Fälle doch zu verhindern suchen. Es wird von anderer Seite immer behauptet, daß eine religizfe Einwirkung die Kinder bewahren würde. Die Statistik zeigt aber, daß die Zahl der Bestrafungen der Berliner Schulkinder von 359 Fällen im Jahre 895 auf 126 Fälle im Jahre 1911 gesunken ist, daß also die Volkesschule sich auch die Ein— wirkung auf das Gemüt des Kindes angelegen sein läßt. Die Kinderheime können auch nichts Besseres erreichen. Die Kinderarbeit ist sehr gefährlich. Dadurch bekommen die Kinder zu viel Geld in die Hand und geben es leichtsinnig aus, besonders für Kinos. Diese Kinos sind aber vielfach sehr gefährlich für die Kinder. Die Kino— besitzer verstehen es, das Zensurberbot geschickt zu umgehen. Die
Filmfabrikanten begehen die größten Fehler dadurch, daß fie fast aut
schließlich sensationelle Films in den Handel bringen. 75 0 aller Berliner Kinobesitzer führen nur sensattoneste Films vor. Daher begrüßen wir es, daß eine Jugendbühne für Groß Berlin ins Leben gerufen worden ist. Vielleicht könnte die Regierung diese Bühne finanziell unterstützen. Wir begrüßen es, daß die Aerzte die Errichtung einer Fürsorgestelle angeregt haben. Ich bitte die Regierung, diesem Antrag zuzustimmen. Vielfach wird auch darüber geklagt, daß die Polizei oft so spät einschreitet, wenn die Kinder sittlichen Gefahren ausgesetzt sind, z. B. wenn die Väter dem Trunke ergeben sind usw. Hier ist schnelle Hilfe geboten. Ich hoffe, daß wir bald u einem geeigneten Fürsorgegesetz kommen, wie es in England bereith eingeführt ist.
Abg. Borchardt (Soz): Unsere heutige Fürsorgeerziehung ist gewissermaßen eine Ausnahmemaßregel gegen die Proletarierkinder. Schon in den Berliner Schulen weiden schwarze Listen geführt über diejenigen Kinder, die in Ausficht genommen sind, später der Für— sorgeerziehung übergeben zu werden. Das ist im höchsten Grade be— dauerlich. In den Berichten über die Fürsorgeerziehung wird immer behauptet, daß auf diesem Gebiete große Erfolge erzielt würden, aber worin diese Erfolge bestehen, wird nicht gesagt. Auch darüber, was in den Anstalten vorgeht, wird uns in den Berichten nichts gesagt. Dort herrschen vielfach die unglaublichsten Zustände. Die Räume der An— stalten sind oft durchaus unzureichend. Sie sind vielfach viel zu eng.
(Schluß in der gweiten Beilage.
zum Deutschen Neichsanzeiger und Königlich
Zweite Beilage
lar
Preußischen Staatsanzeiger
1913.
1 ——
Schluß aus der Ersten Beilage.)
Die Kinder, welche Privatpersonen zur Pflege überwiesen werden, nnen von diesen nicht in ausreichender Weise verpflegt werden, weil die Pflegegelder viel zu gering sind. Das Züchtigungsrecht in den Fürsorgeanstalten wird vielfach, mißbraucht. Wie ich aus einer Zeit⸗ schlift entnehme, hat der Minister des Innern einen Erlaß ergehen lassen, der u. a. den Hausvätern gestattet, schulentlassene Mädchen duich, Anstaltsbeamte ohne Zuziehung eines Arztes Drügeln zu lassen. Ich bitte den Minister um Auskunft, ob dieser Erlaß tatsächlich gistiert. Die Lehrer in den Fürsorgeerziehungsanstalten soll ten sich niehr unter die Kinder mischen, mit ihnen spielen, aber nicht als Auf— cher auftreten, wie es des öfteren geschieht. In einem Buch von ert „Deutsche Fürsorgeerziehungsanftakten in Wort und Bild“ ißt es, der Zweck und Triumph dieser Erziehung ist, den Trotz und den Willen des Zöglings zu brechen. Aber in dem Buch des Berliner Pastors Traub, dem man doch in Fürsorgeerziehungsfragen einiges Vertrauen entgegenbringen muß, sind gerade entgegengesetzte Grund⸗ itz aufgestellt. Ein amtlicher Bericht sollte uns Auskunft darüber geben, rie es in dem Innern diefer Anstalten aussieht. Man sollte nur ganz kesonders für die Fürsorgeerziehung ausgebildete Lehrer verwenden. Die Kinder werden überhaupt nicht erzogen, sondern nur eingekerkert. Die Fürsorgeerziehung ist nur eine verkappte Gefängnisstrafe'
Abg. Ur. Lohmann (nl): Der Minister kann unmöglich in jedem einzelnen Falle feststellen, ob die Erziehung im Elternhause genügt, oder ob eine Fürsorgeerziehung angebracht ift. Wir begrüßen es, daß in dem jetzigen Etat eine Summe von 30 000 4 zur Förderung der Be⸗ stiebungen zur Fürsorge für die gefährdete und verwahrloste Jugend eingesetzt ist, hoffen aber doch, daß sie im nächsten Jahre wesenklich eihöht wird., Wir halten die Verwaltungsmaßnahmen für nicht aus⸗ reichend. Wir bitten, daß Sie unseren Antra g auf Erhöhung dieses Fonds annehmen.
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Abg. Dr. Schepp (fortschr. Volksp.): Die Fürsorgeerziehung ist keine Parteifrage, sondern eine pädagogische; der Abg. Borchardt hat also kein Recht, eine Redewendung zu gebrauchen wie: „Selbst Derr Dr. Schepp“. Der Abg. Borchardt übersieht, daß die Für⸗ sorgezöglinge keinesfalls durchaus normale, sondern vielfach minder—
wertige Kinder sind. Deshalb sind auch Psychopathenheime krrichtet
. Die Personalbogen sind keine schwarzen Listen, sie sind absolut notwendig, um alle Fälle schleunigst und sachgemäß zu erledi⸗ gen. Vie gesamte Lehrerschaft hat die Personalakten nicht nur für verwahrloste, sondern für alle Schulkinder verlangt, damit den Lehrern das Kind nicht ein unbeschriebenes Bl ,,, t
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Der Schlußantrag wird angenommen.
Persönlich bemerkt . Abg. Borchardt (Soz.): der Abg. Dr. Schepp sagt, es sei tine Parteisgche, er hat aber bewiesen, aß er sehr gut mit den Kon— erratiden zusammengehen kann.
Der Titel wird bewilligt. „Für die Förderung der Bestrebungen zur Fürsor ge it d gefährdete oder verwaäahrko ste Jugend ind 30 006 S6 neu ausgeworfen worden. ñ Berichter statter Abg. Winckler (kons) bemerkt, daß in der fiommission der Antrag gestellt worden sei, diesen Betrag zu erhöhen, aß aber die Regierung dagegen Widerspruch erhoben habe, weil sich h. gar nicht übersehen, lasse, welche Forderungen an diefen Fonds t werden. Die Regierung habe eventuell für spätere Jahre . Erhöhung. in Aussicht gestellt. Der halb habe die Kommission 6 der Erhöhung in dem vorliegenden Etat abgesehen und nur die ge tion beschlossen, daß die Regierung ersucht werde, vom April 1914 ab den Fonds wesentlich zu erhöhen.
N . z * * ö ., Von dem Abg. Lieber nl.) liegt gleichfalls der An trag . die Regierung um wesentliche Erhöhung des Fonds zu
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ö uf Vorschlag des Vizepräsidenten Dr. Po rsch beschließt un Kaus, beide Anträge von der. Tagesordnung abzüsetzen, ; üi nach der Erledigimg des gesamten Etats besonders zu nantenenmdedurch jedoch die Besprechung des Titels nicht ber indert werden soll. ö
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,, 6 . (nl): Es lann gar keinem Zweifel unter⸗ . pe hen dem Gebiet der Fürsorge noch außerordent ich viel zu auzreich bleibt, und daß vor allem die vorhandenen Mittel nicht edürfen nde nn glendenn. einer weil eren Ausgestaltung dringend die Verte ieser Erkenntnis ist unser Antrag entsprungen. Was nun Linder ji ung der Fonds an die einselnen Vereine, welche sich der n en orge widmen, anlangt, so scheint mir, daß den Bedürfnissen
genügender Welse Rechnung getragen wird. Ich hoffe, daß
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die zur Verfügung gestellten Fonds in Zukunft zweckmäßiger ver⸗ wendet werden.
Abg. Dr. Flesch (fortschr. Volksp.): Ich schließe mich den Aus⸗ führungen des Vorredners poll und ganz an. Die Jugendfürsorge ist eine der wichtigsten Aufgaben. Ihre Förderung muß daher mit allen Mitteln erstrebt werden. Ich möchte aber Len Antrag auf Erhöhung der zu diesem Zweck bereirgestellten Mittel nicht als eine Anrufung des Staates betrachtet wissen, sondern als einen Antrag auf eine wirksame Ergänzung des Schulwesens. Von diesem Gesichtspunkt aus bitte ich die Regierung, ihe erhöhte Aufmertsamkeit auf dieses Gebiet zu lenken. .
Abg. Rosenow (fortschr. Volksp.)
Vorbeugung gegen die Verwahrlofur os die Volkskindergärten dar. Die Vo
die Kinder, deren Eltern infolg
der Lage sind, ihre Kinder zu beaufsichtigen und zu pflegen, eine geeignete Stätte finden, wo sie in zweckmäßiger Weise beaufsichtigt und verpflegt werden. Allerdings wäre es empfel enswert, wenn der Aufenthalt in diesen Kindergärten ohne Entgelt ermöglicht würde.
Der Titel wird bewilligt.
Um 41 Uhr wird die weitere Beratung des Etats des Ministeriums des Innern auf Freitag, 10 Uhr, vertagt.
Beschäftigung nicht
Koloniales.
Dem Reichstag ist soeben eine Denksch rift über die Entwicklung der Schutzgebiete Afrikas und der Süd see für das Etatsj ahr 1911/12 zugegangen, in der
es u. a. heißt:
Das Berichtsjahr (April 1911 bis April 1912) war für alle Schutzgebiete eine Zeit friedlicher Entwicklung. Auf friedlichem Wege wurde unser Kolonialbesitz durch die Erwerbung eines Teils der Nachbarkolonie Französisch Kongo unter Abtretung eines Grenz— streifens von Kamerun wesentlich ausgedehnt. Vereinzelte Unruhen Unter der eingeborenen Bebölkerung in Kamerun, im Nordwesten von Deutsch Ostafrika und in den noch nicht unter Verwaltung ge— nemmenen Teilen von Deutsch Neugulneg wurden tasch und ohne Schwierigkeit unterdrückt.
Die Organisation der Verwaltung hat in den Schutzgebieten keine wesentliche Veränderung erfahren. Die Eingeborenenrechtispflege wurde weiter ausgedehnt, und man wird im großen und ganzen sagen können, daß ein immer größerer Kreis von Eingeborenen für die Ziele und Methoden unserer Verwaltung Verständnis gewinnt.
„„Die Medizinalverwaltung ist in der Lage, für Deutsch Südwest⸗ afrika und Kamerun sowohl bei der weißen wie bei der farbigen Bevölkerung günstige Gesundheits⸗ und Sterblichkeitsverhältnisse sowie Tortschritte in der Bekämpfung der Cpidemten festzustellen. In Deutsch Ostafrika schreitet zwar die Bekämpfung der Schlafkrankheit weiter fort, dagegen war dort der allgemeine Gesundheitszuftand wenig be— friedigend, da die Erkrankungen erheblich zugenommen haben. Auch in Togo lassen die Gesundheite verhältnisse zu wünschen übrig. Die Sanierungzarbeiten in Lome sind zwar fortgeschritten, aber noch nicht beendet. In Samoa verltef das Jahr, abgesehen von einer Masern— epidemie, normal, während in Deulsch Neuguinea gegenüber dem Vorjahre eine Verschlechterung der Gesundheitsverhältnisse zu ver⸗ zeichnen ist.
Die weiße Bevölkerung in sämtlichen Schutzgebieten ist von 21 600 am 1. Januar 1911 auf 23 305 am J. Januar 1912 ge⸗ siegen, hauptsachlich infolge der Vermehrung der Weißen in Deutsch Südwestafrika und in Deutsch Ostafrika. Hier sowohl wie in Kamerun ist diese. Junghme zum Teil durch die Bahnbauten bedingt, während in Togo eine geringe Abnahme der weißen Bevölkerung durch Beendigung des Baues der Hinter— landbahn zu erklären ist. Auch für die Südsee ist eine kleine Zunahme der weißen Bevölkerung zu verzeichnen. Von der farbigen Bevölkerung der Schutzgebiete kann schäͤtzungsweise an— genommen werden, daß sie im ganzen eine Zunahme erfahren hat, wofür unser volkreichstes Schutzgebiet, Deutsch Ostafrita, aus- schlaggebend lst. In Samba“ und in Deutsch Neuguinea haben sich die Chinesen beträchtlich vermehrt. In Deutsch Neuguinea hat die Verwaltung noch eine besondere bevölkerungspolitische Aufgabe zu lösen begonnen, nämlich die teilweise Verpflanzung der Eingeborenenbepölkerung von den kleinen Atollen nach größeren Inseln. Es erweist sich dtes namentlich aus dem Grunde als notwendig, weil die von Zeit zu Zeit auftretenden Taifune Leben und Eigentum der Eingeborenen auf den flinen Atollen schwer gefährden.
Eine erfreuliche Welterentwilcklung des Schulwesens wird aus allen Schutzgebieten gemeldet, zum Teil mit der Betonung, daß neue Bedürfnisse zu befriedigen varen, wie die Einrichtung von Fort⸗ hildungsschulen oder Pensionaten. Ebenso wird die Tätigkeit der Missionen beider Konfefsionen bon der Verwaltung der Schutzgebiete allgemein günstig beurteilt und in Deutsch Südwestafrika das fort⸗ schreitende gute Einvernehmen der Missionare mit der weißen Be⸗ völkerung besonders hervorgehoben.
Die weltwirtschaftliche Lage im allgemeinen war im Berichts jahre der Kolonialwirtschaft sehr günstig.
Die Regelung der Arbeiterverhältnisse macht von den allgemeinen Grundlagen der Kolonlalwirtschaft der Verwaltung am meisten Sorge. Ob durch Arbeitsordnungen allein dem immer drohender werdenden Arbeitermangel in der Farmwirtschaft und im Bergbau Deutsch Südwestaftikas sowle den damit verbundenen Lohnsteigerungen ge⸗ steuert werden kann, erscheint bei den dortigen Eingeborenenverhält⸗ nissen fraglich. Es wird wohl mit einer weiteren Heranziehung aus⸗ wärtiger Arbeitskräfte gerechnet werden müssen. In den tropischen Schutzgebieten Afrikas konnte im Berichtsjahre den großen An⸗ forderungen an den Arbeitsmarkt feisens Per Pflanzungen und der Eisenbahnunternehmungen in der Hauptsache ent sprochen werden. In Deutsch Ostafrika mehren sich aber die Klagen der Pflanzer über unzureichende Versorgung mit Arbeltskräften.
Die schwierigen Fragen der Krediterganisation in den Schutz— gebieten konnten im Berichtsjahre noch nicht gelöst und erst im laufenden Jahre wenigssens zum Teil ihrer Lösung entgegengeführt werden. Es handelt sich dabet nicht fowohl um den“ rein kauf⸗ mäunnischen Kredit, der in der Hauptsache durch die Deuisch⸗ Ostafrikanische Bank, die Handelsbank für Ostafrtka, die Deutsch= Westafrikanischs Bank und die Afrikabank unter erheblicher Ausdehnung der Geschäfte befriedigt wurde. Nur die so wünschens werte Errichtung von Filialen der großen deutschen Handelsbanken in der Südfee kam trotz aller Bemühungen der Ver— waltung nicht zustande. Die Entwicklung der wirtschaftlichen Ver— hältnisse in den Schutzgebieten, insbesondere in Deutsch Südwest— afrika, erfordert, abgesehen von der Pflege des kaufmännischen Kredits, immer dringender die Schaffung von Kreditquellen für Farmer. Pflanzer und die städtische Bevölkerung. So⸗ weit es sich hierbei um kurzfristigen Betriebskredit handelt, wird die Organisation genossenschaftlicher Darlehn kassen in Betracht kommen. Ansätze hierzu sind bereltz vorhanden. Vie Lösung der schwierigen Aufgabe, für die Farmer in Deutsch Südwestafrika iin Kreditinstitut für lagfrisligen Besttz und Meliorations—⸗
kredit zu schaffen, hat erst im laufenden Jahre festere Ge⸗ stalt gewonnen. Immerhin hatten im Berichtsjahre die Ver⸗ handlungen der Ständigen Wirtschaftlichen Kommission der Kolonial⸗ verwaltung“ über die Kreditorganisation in den Schutz gebieten diese Frage nach der Richtung geklärt, daß das Privankapital für, den langfristigen Besitz, und Melibrationskredit der südwest⸗ afrikanischen Farmer nicht in Betracht kommt, daß vielmehr nur ein öffentlich- rechtliches, mit staatlichen Mitteln ausgestattetes Kreditinstitut diesen Bedürfnissen Rechnung tragen kann. Dieses Ziel wurde denn auch bei den vorbereiten ben Arbeiten für die Schaffung einer Deutsch· Südwestafrikanischen Landwirtschafts⸗ bank im Auge behalten. Daneben ging selbständig die Gründung eines privaten Kreditinstituts für den städtischen Bodenkredit in Deutsch Südwestaftika einher, das im laufenden Jahre in Tätig⸗ keit getreten ist. Schließlich ist aus den hier einschlägigen, die Ver⸗ waltung beschäftigenden Fragen noch hervorzuheben * ie Schaffung von Spar- und Dahrlehnskassen für die Eingeborenen in unseren Schutzgebieten. Auch hierfür bieten sich bereits in den immer mehr pon den Eingeborenen benutzten Sparkassen der Deutsch⸗Westafrikani⸗ schen Bank in Lome und der Jemeinde Daresfalam Ansätze dar. Ueber die Errichtung von Postsparkassen zunächst in Deutsch Ostafrita schweben noch Verhandlungen.
Die Kapitalinvestierung erfuhr einen Rückschlag gegenüber dem Vorjahr. Die an den Did mantenwerten erlittenen Verluste schreckten die Kapitalisten ab. Unsolide Gründungen und die Schwierigkeiten einiger Gesellschaften wirkten weiter auf die Zurückhaltung der Kapitalisten ein. Diese Zurückhaltung machte sich zunächst auch am Börsenverkehr mit Kolonialpapieren verstimmend bemerkbar.
Die Kurse der Diamantenwerte gingen andauernd zurück. Weiterhin war aber ein wachsendes Interesse für Werte solider Pflanzungs⸗ gesellschaften zu beobachten. So fanden die Werte einiger Südsee⸗ unternehmungen gesteigerte Aufnahme zu anziehenden Kursen. Wenn der Umsatz in kolonialen Wertpapieren trotzdem im ganzen zurückgegangen ist, so ist dies auch darauf zurückzuführen, daß die gewerbsmäßige Spekulation sich seit der großen Baisse in Diamantenwerten sehr zurückgezogen hat. Dafür hat sich erfreulicher⸗ weise der Kreis solider Reflektanten vergrößert, der gute Kolonial⸗ werte zu dauerndem Besitz erwirbt. Insosern ist eine Konfolidierung des Marktes für koloniale Wertpaptere festzustellen, die sich in einem recht widerstands fähigen Kursstand für gute Nolonialunternehmungen zeigt. So ist es auch zu erklaren, daß die kolonialen Wertpapiere in der für die Börse so kritischen Zeit des laufenden Jahres sich ver⸗ hältnismäßig gut gehalten haben. Die Verwaltung verfolgt diesen Sanierungsprozeß des Börsenverkehrs in kolontalen Werten mit regem Interesse, unterstützt, soweit es in ihrer Macht ist, die Bekämpfung von unsoliden kolonialen Gründungen und fördert solide Unter⸗ nehmungen.
Bei der Frage einer möglichst raticnellen, den praktischen Bedürfnissen der Kolonialwirtschaft Rechnung tragenden Gestaltung der Eisenbahntarife, die einer befriedigenden Lösung entgegen⸗ geführt, werden soll, wird von dem Gesichtspunkte ausgegangen, daß bei den Eisenbahnen unserer Schutzgebiete die direkte Renta⸗ bilitäm zunächst nicht ausschlaggebend sein darf. In Neuländern, wo der wirtschaftlich erschiießende Einfluß der Etisenbahnen nicht nur auf privatwirtschaftlichem, sondern auch auf dem staatswirt⸗ schaftlichen Gebiete, wie in der Vermehrung der Steuer- und Zollerträgnisse, viel rascher, stärker und nachhaltiger hervortrstt als in alten, mit Verkehrsmitteln gesättigten Kulturländern, wird man nicht bloß bet der Berechnung der Bauwürdigkeit einer Eisenbahn, sondern auch bei der Gestaltung ihrer Tarife die indirekte Rentabilität besonders berücksichtigen müssen. Haben doch unsere Schutzgebiete durchweg mit der Betonung dieses Gesichta punktes schon bei den Entschlüssen zum Bau der einzelnen Eifenbahnstrecken, wie sich jetzt immer mehr herausstellt, die benen Erfahrungen gemacht. Die Verwaltung wird deshalb in der Tarifpolitik der Eisenbahnen dte fiskalischen Interessen eigstweilen zurückttellen müssen und sich von der Zuversicht auf die reichen Eischließungsmöglichteiten unserer Schutzgebiete leiten lassen.
Hat sich die Landwirtschaft der Eingeborenen im wesentlichen in den überkommenen Grenzen gehalten, so ist bei der europäischen
Plantagenwirtschaft vielfach ein reger Fortschritt zu verzeichnen. In
Deutsch Ostafrika ist besonders die günstige Entwicklung der Kautschuk⸗ pflanzungen bemerkenswert, während die Baumwollplantagen noch ungünstige Ergebnisse hatten. Es dürfte dies in der Dauptsache auf die Wahl ungeeigneter Böden und Sorten zurückzuführen und deshalb für die Zukunft ein besseres Ergebnis zu erwarten sein. Auch die Kaffeeproduktion in Deutsch Ostafrika hat große Schwieriglelten über⸗ winden müssen, bevor sie sich, wie dies im Berschtsjahre der Fall war, günstiger zu entwickeln begann.
Die Farmwirtschaft in Deutsch Südwestafrika, die im Jahre 19114 durch Trockenheit ungünstig beeinflußt war, hat sich im Taufe des Jahres 1912 von dieser Schädigung erholt. Die Vermehrung der Farmen durch Verkauf und Verpachtung von Regterungsland fowie von Land der Gesellschaften, die beträchtliche Zunahme des Besitz es an Rindvieh und Schafen, befonders Wollschafen, die fortschreitende Ausdehnung des Anbaues von Feldfrüchten, Tabak, Obst und Wein, vielfach mit Hilfe känstlicher Bewässerung, lassen auf eine gute Lage der Farmwirtschaft im Berichts jahre schließen.
Was die Vermittlung des Bezugs und des Ahsatzes, den Handel, der sich sehr lebhaft gestaltete, anbelangt, so läßt sich über den Binnen handel mangels einer zuverläfsigen Statisttk nur allgemein sagen, daß er in allen Schutzgebieten mit deren fortschreitender Erschließung durch Eisenbahnen und sonstige Verkehremitfel von Jahr zu Jahr größere Bedeutung erhält. In Deutsch Ostafrika ist die beträchtliche Steigerung des Binnenhandels auch aut dem Ergebnis der Gewerbe⸗ steuer ersichtlich.
Der in der Handelsstatistik erfaßte auswärtige Handel der Schutzgebiete ist von 229 Millionen Mark im Kalenderjahre 1910 auf 240 Millionen Mart im Jahre 1911 gestiegen. Die Einfuhr stieg von 128 auf 142 Millionen Mark, während die Rus— fubr von 101 auf 98 Milltonen Mark fiel. Der Rückgang der Ausfuhr ist vollständig durch die Minderung der Diamanten“ ausfuhr von Deutsch Südwestafrlka und der Phosphataus fuhr von Deutsch Neuguinea erklärt. Da diese beiden Aus fälle größer sind als der Rückgang der Gesgmtaus fuhr, so ergibt sich, daß die sonstige Ausfuhr zugenommen hat. Zu der bedeutenden Steigerung der Einfuhr haben gewiß die Eisenbahnbaulen beigetragen, anderseits ist aber auch, wie z B. in Togo, der Anteil der Eisenbahn⸗ baumgterialien an der Einfuhr, dem Vorjahr gegenüber, zurückgegangen.
Der Anteil Deutschlands am Gesamthandel der Schutz geh iete ist erfreulicherweise gesliegen, namentlich in Kamerun, wo fast die gesamte Zunghme des Handels auf den deutschen Anteil kam, ebenso in, Deutsch Ostafrika. Dagegen hat der deutsche Anteil am Einfuhrhandel von Togo einen beträchtlichen Rückgang, haupt⸗ sächlich infolge des Ausfalls von Eisenbahnbaumaterialien, erfahren. In Deutsch Sudwestafrika ist mit dem all⸗ gemeinen beträchtlichen Rückgang des Außenhandels auch der Anteil Deutschlands gegenüber dem Vorjahre erheblich geringer ge⸗ worden. In, Samoa fällt die Einfuhrzunahme fast ganz auf Australien, die Ausfuhrzunahme dagegen in der Hauptfache auf Deutschland. In Deutsch Neuguinea schließlich hat der Anteil Deutschlands bedeutend zugenommen, was um so bemerken werter ist,
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