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Tätigkeit auf das wirklich Nomwendige zu beschränken, und als die Kassen verpflichtet werden, die Bescheinigung des behandelnden Arztes über die Arbeitsunfähigkeit und seine An⸗ und Ver⸗ ordnungen durch Vertrauensärzte, die die Kassen auch haupt⸗ amtlich anstellen können, oder durch Prüfungsausschüsse in den erforderlichen Fällen nachprüfen zu lassen. Bedeutungsvoll ist auch die Vorschrift, wonach die Aufsichtsbehörde dann, wenn die Ausgaben für Krankenpflege in einem auffälligen Mißverhãlinis u dem den natürlichen . an Stelle der freien ärztlichen Behandlung eine Bar⸗ eistung treten lassen kann, und die weitere Vorschrift, nach der die Aufsichtsbehörde bei einem 8 zwischen der Zahl der Kassenärzte und dem natürlichen Bedürfnis eine völlige oder teilweise Zulassungssperre anordnen kann. Schließlich sind hinsichtlich der Krankenkassen selbst ins⸗ besondere die Vorschriften des Entwurfs hervorzuheben, durch welche die Grenzen für die Festsetzung der Bei⸗ träge eingeengt werden, durch welche die Kassen weiter verpflichtet werden, alle zwei Jahre ihre Geschäfts⸗ und Rechnungsführung durch geeignete Revisoren nachprüfen zu lassen, und durch welche endlich für den Erwerb von Grund- stücken und für die Errichtung und Erweiterung von Gebäuden nicht mehr nur die Genehmigung des Versicherungsamts, sondern die des Reichsversicherungsamts erforderlich sein * Die un⸗ mittelbare Ersparnis, die nach den Vorschlägen des Entwurfs erzielt werden soll, ist in der Ausschußberatung von der Reichs⸗ regierung auf insgesamt etwa 210 Mill. RM beziffert worden. Die verschiedenartigen hemmend wirkenden Vorschriften des Ent⸗ wurfs werden aber darüber hinaus sich noch in einer weiteren Senkung der Ausgaben der Krankenkassen auswirken, ohne daß es möglich wäre, diese Auswirkung zahlenmäßig abzuschätzen. Es wird gehofft, daß der durchschnittliche Beitragssatz der Kranken- kassen, der zur Zeit 63 2 beträgt, so auf etwa 5,5 3 wird gesenkt werden können. Daß die Ersparnisse auch tatsächlich zu einer Senkung der Beiträge verwendet werden, wird durch eine be⸗ sondere Bestimmung (Art. 1) sichergestellt. J Bei der Berakung des Entwurfs in den Ausschüssen ist in der Allgemeingussprache besonders hingewiesen worden 2. den inneren Zusammenhang, der zwischen diesem Entwur und der vom Reichsrat neulich verabschiedeten Novelle zur Arbeitslosenversicherung besteht. Ausgesprochenermaßen soll ja nach der Absicht der Reichsregierung die Mehrbelastung, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer infolge der Beitragserhöhung in der Arbeitslosenversicherung erfahren, durch Ersparnismaß⸗ nahmen und eine entsprechende Senkung der Beiträge in der Krankenversicherung ausgeglichen werden. Daraus, daß dig vor⸗ liegende Reform sich nicht mehr ausschließlich aus dem Wesen der Krankenbersicherung herleite, sondern eben auf jeden Fall ein ganz bestimmtes finanzielles Ergebnis erreichen wolle, würden sich gewisse grundsätzliche Bedenken gegen den Entwurf ergeben. Bedenken bestünden auch in , . und sozialhygienischer Beziehung, insbesondere wegen der Einschränkung der Selbst⸗ verwaltung, wegen der Erschwnerungen der Inanspruchnahme der Krankenhilfe und wegen der Einengung der Betätigungsmöglich⸗ keit des Aerztestandes. Doch waren die n, . in ihrer Mehr⸗ heit der Meinung, daß die allgemeine Situation dazu zwinge, diese Bedenken zurückzustellen und dem Entwurf — vorbehaltlich der Stellungnahme zu den Einzelheiten — grundsätzlich zuzustimmen. Bei der Beratung des Entwurfs im einzelnen sind in den Aus⸗ schüssen n,, der vorgesehenen Beteiligung der Versicherten an den Arzneimittelkosten ernste Bedenken sozialhygienischer Art, Bedenken aber auch iwegen der Verschlechterung der Lage der Versicherten und wegen der Durchführbarkeit der Bestimmung geäußert worden. Doch hat sich die Mehrheit bei aller Würdigung ieser Bedenken nicht zu einer Streichung der Bestimmung oder u einer Herabsetzung des Satzes von 050 RM entschließen können. Immerhin hat die Mehrheit aber geglaubt, den vorgetragenen Bedenken in etwas dadurch Rechnung tragen zu sollen, daß sie eine Bestimmung eingefügt hat, nach der der Reichsarbeitsminister ermächtigt ist, nach Anhörung des Reichsausschusses rsf mr und Krankenkassen Ausnahmen von der genannten Vorschrift fest⸗ usetzen. Stark umstritten war in den Ausschüssen im Hinblick owohl auf das Interesse der Volksgesundheit als auf die Leistungsfähigkeit der e che e auch die Krankenschein⸗ gebühr. Auch hier fand sich indessen keine Mehrheit für die Streichung der Bestimmung. Doch hat sich hier dig ehrheit dafür entschieden, die Gebühr von 1, — RM auf 9,50 RM herab⸗ zusetzen. Sowohl in der Frage der Heilmittelkostenbeteiligung wie in der Frage des Krankenscheins war für die Haltung der Mehrheit mitbestimmend u. a. die Erwägung, daß es gelte, hier auch Hemmungen gegen gewisse Mißbräuche einzuschalten, zur Sparsameit zu erziehen, die Krankenversicherung von Bagatell⸗ fällen zu befreien, und daß, wenn auch nicht verkannt werden soll daß die neuen Bestimmungen in manchen Fällen auch Härten mil 1h bringen können, doch andererseits durch sie der gesunde Ge⸗ anke mit zur Wirkung komme, daß die Versicherten, die die Kasse schonen, die Prämie dafür in Gestalt eines niedrigeren Beitrags erhalten.
An den Bestimmungen des Entwurfs betreffen, ist wesentliches nicht geändert worben. Antrã e, wel diese Bestimmungen noch mehr den bekannten 2 der ärztlichen Spitzenorganisation anpassen wollten, haben keine Mehrheit gefunden.
Die auf die Kassen bezüglichen Bestimmungen sind insofern geändert worden, als der Erwerb von Grundstücken, die Errichtung oder Erweiterung von Gebäuden, die Beit ragsfestsetzung über einen bestimmten Betrag hinaus der Genehmigung nicht des Reichs versicherungsamts, e frn des Oberversicherungsamts bedürfen sollen. Die Ausschüsse waren der Meinung, daß die Einschaltung des Reichsversicherungsamts eine unnötige Zentra⸗ lisierung und eine unnötige Belastung des Amts mit Kleinarbeit bedeuten würde, und daß die Oberbersicherungsämter, als den Dingen näher stehend, hier die geeigneten Stellen seien. Erweitert haben die Ausschüsse diese Bestimmungen insofern, als auch die Errichtung und der Betrieb von Zahnkliniken, Erholungs⸗ und Genefungsheimen, Krankenhäusern und sonstigen Eigenbetrieben der Genehmigung bedürfen sollen.
Der Entwurf enthielt ef g eine Bestimmung über die Bildung eines Hauptausschusses für Krankenversicherung aus den Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, der Krankenkassen und der Aerzte. Die Mehrheit in den Ausschüffen hat diese Bestimmung gestrichen, weil die Schaffung einer neuen Zentralinstanz mit der notwendigen Sparsamkeit nicht vereinbar schien, auch ein Bedürfnis dafür nicht anerkannt werden konnte und weil schließlich durch die geplante Einrichtung sowohl die Zuständigkeiten der Länder und Aufsichtsbehörden wie die Selbst⸗ verwaltung und Selbstverantwortlichkeit der Kassen in unerträg⸗ licher 3 beeinträchtigt worden wäre.
Wegen der von den Ausschüssen im übrigen vorgenommenen Aenderungen darf ich auf das Protokoll verweisen.
Reichsarbeitsminister Dr. Ste gerwald äußerte Bedenken 2 die in den Ausschüssen vorgenommenen Aenderungen, be⸗ onders aber gegen die Herabsetzung der Krankenscheingebühr Die Reichsregierung hat vorgeschlagen, daß die Gebühr für den Krankenschein eine Mark betragen soll. Die Satzung kann die Gebühr für Versicherte mit einem Grundlohn von nicht mehr als vier Mark bis auf die Hälfte ermäßigen und für Versicherte mit einem Grundlohn von mehr als sieben Mark um die Hälfte er⸗ höhen. Sie kann ferner mit Zustimmung des Oberversicherungs⸗ amts aus besonderen Gründen die Gebühr auf ein Viertel herab⸗ setzen. Auf diese Bestimmung legt die Reichsregierung großes Gewicht. Es gibt kein zweites Land in der Welt, das so vlel 3 Arzt und Arznei verausgabt wie das deutsche Volk. In der Sozialversicherung allein werde gegenwärtig mindestens eine Milliarde Mark jährlich für Aerzte und Apotheken ausgegeben. Dabei ist das deutsche Volk noch lange nicht das gesündeste.
welche die 1. e
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Verhältnissen entsprechenden Bedürfnisse⸗
Reichs- und Staatsanzeiger Nr. 151 vom 2. Juli 19309. S. 2.
Skandinavier, — — Engländer und Amerikaner sind mindestens songefund wie wir. Wenn die Familienversicherung noch weiter durchgeführt ist, wird mehr als die Hälfte des deutschen Volks keinen rosen Pfennig aus eigenen Mitteln für Kranken⸗, Arzt- und Apothekeriosten zu zahlen haben. Unter diesen Um⸗ ständen ist es auch ganz selbstverständlich, daß Arzt und Apotheker mehr in Anspruch genommen werden, als es aus rein volks— gesundheitlichen, Gründen notwendig wäre. Wenn Sie die Familie nversichekung retten wollen, dann bitte ich Sie, dem Vor⸗ schlag der Reichs regierung zuzustimmen, zumal er große Elastizität besitzt. Ich habe schon gestern im Reichstag ausgesührt, daß wir noch einige sehr schwere Jahre vor uns haben. Wenn wir die Sozialversicherung über diese schwere Zeit hinüberretten wollen — vor dem Kriege philosophierten ja viele Leute darüber, ob wir sie über den Krieg hinüberretten könnten, wir haben sie gerettet und haben sie nach Krieg und Inflation wieder aufgebaut —, dann müssen wir dort, wo Ausgaben ohne wesentliche Beein⸗ trächtigung der Volksgesundheit zurückgedrängt werden können, diese Ausgaben zurückdrängen, falls wir in der Sozialver⸗ sicherung nicht vor dieselbe Katastrophe gestellt werden wollen, wie wir uns in der Finanzpolitik vor einigen Monaten vor die Katastrophe gestellt gesehen haben. Ich bitte um namentliche Ab⸗ stimmung.
Preuß. Staatssekretär Weismann: Die preußische Staatsregierung kann sich dem Appell der Reichsregierung nicht entziehen. Sie kann es nicht über 3 gewinnen, sich gleich bei der ersten Vorlage, die ihr im Reichsrat gemacht wird, der Ersparnis⸗ möglichkeit zu verschließen. ir werden für den Antrag der Reichsregierung stimmen.
Gegen die Fassung der Regierungsvorlage (Kranken⸗ scheingebühr 1 Marh stimmten die Länder Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Thüringen, Hessen, Hamburg, Braun⸗ schweig und Schaumburg⸗Lippe sowie die preußische Provinz Sachsen. Die übrigen Länder und preußischen Provinzen stimmten mit der preußischen Staatsregierung für die Re⸗ ==, , . Diese wurde daher mit 34 gegen 31 Stim⸗ men abgelehnt, es bleibt bei der von den Ausschüssen vorge⸗ schlagenen Krankenscheingebühr von 50 Pf. Die Reichs⸗ regierung behielt sich vor, dem Reichstag eine Doppelvorlage zugehen zu lassen.
Der Vertreter der freien Stadt Hamburg erklärte, der Sengt Hamburg halte den Abbau der lebenswichtigen Leistungen der Krankenversicherung nicht für tragbar. Da die
anderen Bestimmungen der Vorlage nicht von solcher Bedeutung . der önnten, stimme
seien, daß um ihretwillen die scharfen Ein Krankenhilfe mit in Kauf genommen werden Hamburg gegen die Vorlage.
Der Vertreter Thü ke,. ns erklärte, seine Bedenken * ien verschiedene Bestimmungen der Borlage seien so stark, daß
— sich der Stimme enthalten müsse.
Der braunschweigische Gesandte Boden erklärte gleichfalls, er könne dem Gesetz nicht zustimmen, nachdem im Ausschuß seine Anträge zugunsten der Versicherten abgelehnt worden seien.
Gegen die Stimmen von Hamburg und Braunschweig wurde bei Stimmenthaltung Thüringens die Vorlage in der Ausschußsitzung angenommen.
Ferner stimmte der Reichsrat einer Neufassung des Wechselsteuergesetzes zu.
Die Verlängerung des Nothaushalts durch den Reichstag nahm der Reichsrat zur Kenntnis, ohne Ein⸗ spruch zu erheben.
Deutscher Reichstag. 187. Sitzung vom 30. Juni 1930.
Nachtrag.
Die Rede, die der Reichsarbeitsminister Dr. Steger⸗ wald zum Etat des Reichsarbeitsministeriums gehalten hat, lautet nach dem vorliegenden Stenogramm, wie folgt:
Meine Damen und Herren! Nachdem ich mich am letzten Freitag über die deutsche Wirtschaftslage, das Schlichtungswesen, die Lohnfrage, die Arbeitslosenversicherung, die Arbeits⸗ beschaffungsfragen geäußert habe, lassen Sie mich heute nach dem Gang der Diskussion der letzten Tage einiges über die deutsche Sozialversicherung, das Wohnungswesen und das Siedlungswesen sagen. Ich weiß, daß ich damit nicht alle Aufgabengebiete des Reichsarbeitsministeriums gestreift habe. Ueber die restlichen Fragen und Aufgaben möchte ich mich gegenwärtig aber nicht breiter äußern.
Der gegenwärtigen deutschen Sozialversicherung haftet noch vieles Unorganische an. Das ist verständlich, weil nach der Inflation jeder Versicherungszweig wieder notdürftig in Ordnung gebracht und die verschiedenen Versicherungsgesetze mit unter⸗ schiedlichen politischen Kräftelagerungen und Koalitionen durch⸗ geführt werden mußten. Nun kommt allmählich die Stunde, wo auf organische Vereinfachung und Verbilligung hingearbeitet werden muß. Dabei sehe ich ganz klar, daß auch das gar nicht einfach sein wird. Wir befinden uns gegenwärtig in einer Ueber⸗ gangsperiode vom alten Staat, vom Dreiklassenstaat und Obrig⸗ keitsstaat, zum Volksstaat. Und diese Umwälzungen spielen auch sehr stark in die Sozialversicherung hinein. Wir haben aus dem Obrigkeitsstaat 1,6 Millionen Beamte übernommen, darunter 1 Million untere Beamte. Wir haben aus dem Obrigkeitsstaat ein teilweise anderes Angestellten⸗ als Arbeiterrecht übernommen. Nun sagen sich die Arbeiter, insbesondere die Qualitätsarbeiter: der mit uns vergleichbare Beamte bekommt bis zu 80 vH seines Gehalts an Pension, der mit uns vergleichbare Angestellte be⸗ kommt sehr viel höhere Leistungen aus der Angestelltenversicherung als wir aus der Invalidenversicherung; wir, die wir in erster Linie als Arbeitnehmer die produktiven Kräfte in der Wirtschaft darstellen, müssen es ablehnen, uns in der Sozialversicherung dauernd schlechter behandeln zu lassen als andere, die bestimmt für das Ganze keine wichtigeren Funktionen ausüben als wir! — Das ist gegenwärtig das Kernstück in der Invalidenversicherung, womit insbesondere ihre Reform begründet wird.
Früher befanden sich sodann Staat und Wirtschaft in einer fundamental anderen Lage als heute. Früher betrieben wir, welt⸗ wirtschaftlich gesehen, Ueberschußwirtschaft; heute betreiben wir bis auf weiteres Defizitwirtschaft. Früher hatten wir eine aktive Handelsbilanz, heute haben wir eine passive Handelsbilanz. Früher haben wir jährlich einige Milliarden Mark deutsche Kapitalien in fremden Staaten angelegt, heute und für die nächsten Jahre haben wir Zuschuß von framden Staaten notwendig. Im alten Obrigkeitsstaat, dem Staat des Dreiklassenwahlrechts, war die be⸗
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scheidene Sozialversicherung ein Stück Emanzipationstampf Arbeiterschaft mit der bürgerlichen Gesellschaft, heute spitzt der Streit um die materielle Ausgestaltung der Sozialversicher mehr dahin zu: wieviel wollen sich die im Produktionspre stehenden Arbeiter und Angestellten von ihrem Lohn abhan lassen zugunsten jener, die vorübergehend oder dauernd aus Produktionsprozeß ausgeschieden sind? . Dann müssen wir uns klar sein darüber, daß die heun Sozialversicherung etwas ganz anderes ist als die Sozialversi rung, die vor etwa 40 Jahren geschaffen wurde. Damals hand es sich um unbedeutende Käßchen, heute haben die Krankenka allein einen größeren Etat, als der Nettoetat des Reiches a macht. (Hört, hört! bei den Deutschnationalen) Wir ste⸗ weiter vor der Frage: ist die Sozialversicherung Selbstzweck, sie lediglich den Versicherungsgedanken mit den rationell Mitteln durchführen oder sollen mit der Sozialversicherung gesellschaftspolitische Zwecke verfolgt werden? Nur wenn nm auf dem letzteren Standpunkt steht, haben die Innungskranl kassen, hat die Angestelltensonderversicherung ihren Sinn. t wer die berufsständische Selbsthilfe höher bewertet als die a schließliche Hilfe des Staatsmechanismus, nur wenn man 4 Innungen als Hilfsorgane für den gewerblichen Mittelstand 1 die Krankenkassen als Bindemittel der Innungen ansteht, Innungskrankenkassen und ist die besondere Angestelltenversig rung zu verantworten. J Kürzlich sagte mir jemand: wenn Rationalisierung das . und O aller Politik ist, so müßte man schließlich auch katholische und die evangelische Kirche zu einer einheitlichen 6 meinschaft zusammenschließen (Heiterkeit); denn rationell ist 9 auch nicht, daß in den konfessionell gemischten Bezirken z Kirchen, zwei Pastoren und zwei Lehrer vorhanden sind. (Heit keit und Zurufe.) Man kann also den Rationalismus auch üß spannen, man kann ihn auch in der Sozialversicherung üb spannen. Mit der Rationalisierung allein kann man nicht al großen Fragen beikommen. ö. Die Frage, ob die Sozialversicherung bloßes Versicherun problem ist oder ob sie auch gesellschaftspolitischen Grundgedan dienstbar gemacht werden soll, das ist ein sehr weitgreifen Problem, das natürlich in einigen Sätzen nicht abgetan wen kann. . Ueber die Sozialversicherung im ganzen habe ich seit Jah ö. meine eigene Meinung vertreten, und diese Meinung hatt der gegenwärtigen Regierungskoalition nichts zu tun. Ich h kürzlich bei Besprechung der Arbeitslosenversicherung gesagt, in der Arbeitslosenversicherung eine Anzahl Dinge enthalten ii die mir innerlich nicht zusagen, daß wir aber vor Zwangsverh nissen gestanden haben. Wenn Sie meine Reden, die ich in letzten Jahren über Sozialversicherung gehalten habe, zurück! folgen, dann können Sie sehen, daß das, was ich in den Monaten, die ich Arbeitsminister bin, gesagt habe, nichts Ne ist. Im Januar 1921 habe ich hier ausgeführt, daß die Zentrun partei für eine Zerschlagung der Sozialversicherung und deren setzung durch den Sparzwang für die Versicherten nicht zu hah sei, daß aber andererseits zwei Gefahren ausgewichen wen müsse, die durch die Sozialversicherung heraufbeschworen wer . könnten, nicht heraufbeschworen werden müssen: Erstens dür; durch die Sozialversicherung nicht die Blutsbande und! Familienzugehörigkeitsgefühl zerstört oder gefährdet (Sehr richtig! im Zentrum.) Ich sagte damals, daß dort, Vater und Mutter dazu imstande sind, sie in erster Linie s für ihre Kinder aufzukommen hätten, und daß dort, wo die Kin dazu imstande wären, sie für ihre alten und gebrechlichen Elt in erster Linie selbst aufzukommen hätten. Und daß erst wo diese Voraussetzungen fehlen, die Gesellschaft einzugr habe. Das ist natürlich eine grundsätzliche Auffassung, die ma anormalen Notzeiten wie gegenwärtig nicht von einem Tag anderen durchführen kann. Zweitens sagte ich, es dürfte du die Sozialversicherung die persönliche Verantwortung des einze sowie die berufsgenossenschaftliche, gewerkschaftliche und geno schaftliche Selbsthilfe nicht zerschlagen werden. Sehr richtig Zentrum) Aus dieser grundsätzlichen Einstellung heraus h ich seit Jahren folgende Reformforderungen in der Sozial! sicherung vertreten: Zurückdrängung von Bagatellsachen in Krankenversicherung, Neuordnung des Arzt⸗ und Arzneiwese Stärkung der Selbstverantwortung des einzelnen in der Kran und Arbeitslosenversicherung. Die Sozialversicherung ist Selbstzweck, fie verfolgt die Förderung der Vollsgesundheit, Sicherung gegen unvorhergesehene Wechselfälle des Lebens, Fürsorge bei Krankheit, Unfall, Invalidität und Alter und unverschuldeter Arbeitslosigkeit. Daneben gibt es noch eine von Schicksalsschlägen im Leben, die nicht von der Sozialverst rung, sondern an Stelle der früheren Armenpflege von einer edelten Wohlfahrtspflege zu betreuen sind. In neuerer Zeit fließen in der Kranken⸗ und Arbeitslosenversicherung au einen Seite und in ber Wohlfahrtspflege auf der anderen S die Aufgaben durcheinander. Hier gilt es, wieder klare Begt und Unterscheidungsmerkmale herauszustellen. 4 Was meines Erachtens in der Sozialversicherung notwer ist, ist, wie gesagt, die Herausarbeitung klarer Begriffe im Rahn der großen gesellschaftspolitischen Auffassungen, organisator Vereinfachung, Vereinheitlichung und Verbilligung der Soo versicherung. Darüber hoffe ich in absehbarer Zeit dem Rei⸗ tag Vorschläge unterbreiten zu können. (Zuruf von den S ö demokraten: Wollen Sie so lange Minister sein? — Heiterkei Zuruf aus dem Zentrum: Die Hoffnung hat er! Es ist nicht so schlimm. Es stellt sich nämlich heraus, daß auch bei verschiedensten Koalitionen die Vorarbeit in den Ministerien nicht so unterschiedlich ist. Ich habe mehrere Gesetze vorgefu die Herr Wissell vorbereitet hat, die ich ohne weiteres glatt i nommen habe. Und wenn einer von Ihnen Gu den So⸗ demokraten) mich ablösen sollte, dann wird er ebenso einen gie Teil dessen übernehmen, was ich vorbereitet habe. (Zuruf den Sozialdemokraten: Das glaube ich nicht! — Zuruf von Kommunisten: Schicksalsgemeinschaft! — Heiterkeit) — Dar! muß man sich natürlich klar sein: wenn man die Methodik i. folgen will wie Sie (zu den Kommunisten), dann muß man gr lich aufräumen. (Sehr wahr! bei den Kommunisten. — Heiter Ob man aber mit dieser gründlichen Aufräumungsarbeit we kommt, ist eine andere Sache. Ich glaube, wenn Rußland
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Struktur hatie wie Deu ischland, das heißt, wenn Rußland so viel Gropᷣsiadte hatte, ein solches industrielles Land wäre wie wir, da nu würde in Rußland die Geschichte auch noch gang euders laujen. (Sehr wahr! bei den Sozialdemotrazen. Aber wenn man der= artig gründlich aufraumen will wie Sie, dann muß man kräftiger durchgreifen, da haben Sie recht, (Zurufe links)
Im Hauptausschuß führte ich aus, daß gegenwärtig vier Gruppen an den Arbeitsminister mit Forderungen herantreten: erstens die Arbeitslosen, zweitens breite Kreise der Invaliden⸗ versiche rungspflichtigen, drittens einzelne Gruppen der Kriegs- beschãdigten und viertens die Kleinreniner. Wenn ich all den Wünschen der Petenten Rechnung tragen wollte, dann waren dafür 1 bis 1 Milliarden Mart notwendig. Ich habe am vorigen Freitag bereits gesagt, daß für die Arbeinslosenversiche⸗ rung schon 700 Millionen Mart gegenwärtig nach dem kleineren Programm notwendig find, daß für die gesamten Vorlagen eine Milliarde notwendig ist. Kleinrentner und Kriegsbeschädigte er⸗ fordern ja nicht Hunderte von Millionen; aber wenn ich die Wünsche in der Arbeitslosen⸗ und Invalidenversicherung gegen⸗ wärtig erfüllen wollte, so wären dazu eben 1 bis 1 Mil⸗ liarden Mark notwendig.
Ich sagte weiter im Hauptausschuß, daß es zur Verwirl⸗ lichung dieser Forderungen vier Möglichkeiten gäbe, von denen aber die meisten nur theoretischer Art seien: erstens eine Er höhung der Einkommen und Vermögensstener. Darüber braucht man heute nicht breit zu reden. Im Reichstag gibt es leine hundert Abgeordnete, die daran glauben, daß aus dieser Steuer in den nächsten Jahren im Hinblick auf unsere Gesamtlage noch Hunderte von Millionen herauszuholen seien.
Die zweite Möglichkeit ist die Erhöhnng der Massen⸗ verbrauchsstenern. Auch dieser Weg begegnet im Interesse der Arbeitslosen den allergrößten Bedenken. Wir müssen nämlich radikal mit der alten Vorstellung brechen, als ob es bei der Steuerpolitik bloß um gegensätzliche Interessen zwischen Befitz und Nichtbesitz ginge. Zwischen beiden steht heute das große Arbeitslosenheer, so daß jede Steuer heute auch dahin geprüft werden muß, wie sie auf die Vermehrung oder Verminderung der Arbeitslosigkeit zurückwirkt. (Sehr wahr! im Zentrum) Im übrigen glaube ich nicht daran, daß bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge in den nächsten Jahren noch Hunderte Millionen neuer Stenern aus Volk und Wirtschaft herausgepreßt werden können, ganz gleich, wie die jeweilige Regierungskoalition aus⸗ sehen mag.
Der dritte Weg ist die Erhöhung der Beiträge zur Sozial⸗ versicherung. Schon heute werden den sozialversicherungspflichti⸗ gen Arbeitern und Angestellten rund 15 Prozent ihres Lohnes, also Arbeitgeber⸗ und Arbeitnehmeranteil, an Versicherungs⸗ beiträgen einbehalten. (Hört, hört! im Zentrum und links) Per⸗ sönlich bin ich auf das allerentschiedenste gegen einen dauernden 15 Prozent überschreitenden Lohnabzug. (Sehr gut! im Zentrum.) Denn zu dem Lohnabzug von 15 Prozent für Sozialversicherung kommen auch noch die direkten und indirekten Steuern, die der Arbeiter bezahlen muß, und letzten Endes wollen die Arbeiter und Angestellten auch noch etwas Lohn mit nach Hause bringen für sich und für die Ihrigen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemo⸗ kraten) Der Emanzipationskampf der Arbeiter kann nicht von den Lädierten und von den Kranken geführt werden, er muß in der Hauptsache von den gesunden Arbeitern geführt werden.
Zapft man aber diesen zu viel Blut ab, dann werden auch sie
flügellahm. Man vermindert dann auch bei ihnen die Energie und Spannkraft, die zum Aufstieg einer neuen Gesellschaftsschicht unentbehrlich ist.
Aus all diesen nüchternen und realpolitischen Erwägungen bin ich der Ansicht, die ich auch bereits im Haushaltsausschuß ausgesprochen habe — und dieser Ansicht bin ich nicht erst in den letzten Monaten geworden —, daß zur Reform der Sozial⸗ versicherung der vierte Weg gegangen werden muß, nämlich der, daß man die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung dahin
überprüft, wo Ersparnisse möglich find, und mit den gewonnenen
Ersparnissen die Lücken und Unzuträglichkeiten beseitigt, die noch an mehreren Stellen in der Sozialversicherung vorhanden sind
Konkret gesehen ergibt sich folgendes Bild: Im Augenblick kommen wir nicht um eine einprozentige Beitragserhöhung zur Arbeitslosenversicherung herum. Auch das ist keine leichte Sache. Ich habe in den letzten Wochen mindestens so viel Zuschriften aus Arbeiterkreifsen wie aus Arbeitgeberkreisen bekommen, die sehr starke Bedenken gegen eine so hohe Beitragserhöhung anmelden. Mehrere Leiter von Krankenkassen haben dasselbe getan. Noch in den letzten Tagen schrieb mir der Leiter einer Krankenkasse aus einer mittleren Stadt, daß seine Kasse 13 000 Mitglieder zähle, und daß er im letzten Monat 280 Pfändungen gegenüber Arbeit⸗ gebern habe vornehmen müssen. Und dann sagt er zum Schluß:
Und in solcher Situation weitere Erhöhung der Beiträge!
Trotzdem aber kommen wir um die Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 1 vH nicht herum. Je nachdem sich die Dinge in Deutschland in der nächsten Zeit entwickeln, kann heute noch kein Mensch dafür garantieren, daß das die letzte Bei⸗ tragserhöhnng zur Arbeitslosenversicherung sein wird; denn der neue Finanzminister, Herr Kollege Dietrich, und ich sind uns einig, daß der Reichsetat nicht ständig durch die Arbeitslosen⸗ versicherung in Gefahr und in Unordnung gebracht werden darf. (Sehr wahr! im Zentrum) Das würde eine ständige Be⸗ unruhigung und Erschütterung des deutschen Kredits und damit eine stets zunehmende Arbeitslosigkeit bedenten. (Sehr richtig! im Zentrum,) Herr Kollege Dietrich und ich werden uns also in den nächsten Monaten zusammensetzen und Wege suchen müssen, wie wir auf der einen Seite den Reichshaushalt sichern und auf der anderen Seite die Arbeitslosenversicherung retten. Wir können schließlich auf längere Sicht nicht 44 und mehr vom Hundert Beiträge zur Arbeitslosenwversicherung, 6e/ié v5 Bei⸗ träge zur Krankenversicherung und daneben, um die Invaliden⸗ versicherung zu retten, die Beiträge zu ihr gleichzeitig um 1 bis 16 vH erhöhen. Das würde mit der Angestellten⸗, Knappschafts⸗ und Unfallversicherung im Gesamwurchschnitt gerechnet auf einen Lohnabzug von 18 bis 20 vH hinauslaufen.
Aus dieser Gesamtbetrachtung der Dinge bin ich zu der Reform der Krankemversicherung gekommen. Etwa 1 vH der Beiträge zur Krankenversicherung lassen sich meines Erachtens
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ohne eine wesentliche Beeinträchtigung der Volksgesundheit ein= sparen Vor dem Kriege betrug der Durchschnittebeitrag zur Krantenkasse / v5 des Grundlohns, gegenwärtig beträgt er Gesie vSH des Grundlohn. (Hört, hört! rechts) Nach dem Zu— jammenbruch und während der Inflation war ohne wefentliche Erhöhung der Beiträge nicht auszulommen. Jetzt, wo wir all⸗ mählich wieder bei normalen Gejundhe its verhaltnissen anlangen, müssen auch die Krankenkassen wieder mit geringeren Beitragen auszulommen suchen, ohne daß dadurch die Volksgesundheit be- einträchtigt zu werden braucht.
Der Ausstieg einer neuen Gesellschaftsschicht ist nicht mög- lich ohne weitgehende Solidarität. Ohne Solidaritãt keine Sozial versicherung, keine Gewe rkschafts bewegung, keine Genossen⸗ schaftsbewegung. Diese Solidarität darf aber nicht uber⸗ spitzt werden, sonst schlägt sie auf die Dauer nicht bloß für ein Volk, sondern auch für die Nchfstbeterligten zu ihrem eigenen Schaden aus. Bei der Arbeitslosenversicherung, insbesondere aber bei der Krankenverfsicherung, ist diese Soli⸗ darität meines Erachtens heute schon überspitzt. Es ist auf die Dauer nicht angängig, daß bei der Arbeitslosenversicherung die untersten Beitragsstufen bis zu 75 vo des Lohnes an Unter⸗ stützung bekommen, wohingegen die besser bezahlten Arbeiter und die Angestellten bei hohen Beiträgen nur bis zu 25 vH des Lohnes an Unterstützung belommen. Die Novelle sieht gegen wärtig vor, daß beispielshalber im ersten Jahre, wenn keine 62 Wochen Beiträge geleistet find, tatjächlich die besser bezahlten Arbeiter und Angestellten in diesem ersten Jahr nur bis zu 25 vH des Grundlohns an Unterstützung bekommen. Und weil dem so ist, weil ich darin selbst eine Uebe rspitzung sehe, habe ich diese Bestimmung in der Arbeitslosenversicherung absichtlich bis zum 31. März 1831 begrenzt.
Kein Volk der Welt gibt sodann so viel für Arzt und Arzneien aus wie das dentsche. Dabei ist das deutsche noch nicht einmal das gesündeste Volk der Welt. Die Sandinavier, die Holländer, die Engländer und die Amerikaner find mindestens so gesund wie die Deutschen, obwohl sie bei weitem nicht so viel für Arzt und Arzneien ausgeben wie wir. Das kommt daher, daß bei uns die Hälfte des deutschen Volles im Einzelfalle aus der eigenen Tasche keinen Pfennig für Arzt und Arzneien aus- zugeben braucht. Gegenwärtig sind bei Einschluß der Familien⸗ versicherung in Deutschland über 35 Millionen Menschen in der Krankenversicherung versichert. Wenn diese 3 Millionen Menschen für Arzt und Arzneien im Einzelfalle leinen roten Pfennig auszugeben brauchen, dann ist es selbstverständlich, daß man dann auf diesem Gebiete in Deutschland zu ganz anderen Ausgaben kommt als in anderen Ländern der Welt. (Sehr wahr! im Zentrum und rechts.) Diesen Dingen muß man meines Erachtens auch im Interesse der Krankenversicherten be⸗ gegnen. Sie sehen ja, daß man dem einmal mit dem Kranken⸗ schein zu begegnen sucht. So wie die Novelle das regelt, ist die Sache sehr elaftisch gemacht. Der Krankenschein soll im all- gemeinen für die erstmalige Untersuchung eine Mark kosten, für
die unteren Stufen auf 60 Pfennig, für die höheren um
50 Pfennig erhöht werden können. Das Obewersicherungsamt kann die Gebühr für diesen Krankenschein dann noch bis zu einem Viertel ermäßigen. Das ist also eine Maßnahme, die man keineswegs als unsozial ansprechen kann. uns so, daß alle diese Ausgaben von der Gemeinschaft, der Krankenkasse, getragen werden. Das ist meines Erachtens eine Ueberspitzung des Kollektismus, wenn die Krankenkasse das Gros der Ausgaben für Arzt und Arznei für die Versicherten zu zahlen hat. Zu einem kleinen Teil wären meines Erachtens auch die Kranken selbst zweckmäßig heranzuziehen. Das hat mit sozialpolitischer Reaktion nichts zu tun; denn zwei Drittel der Beiträge haben ja die Arbeiter aufzubringen, die im Pro⸗ duktion sprozeß stehen.
Auch für den Bezug des Krankengeldes wird eine Karenz⸗ zeit von drei Tagen vorzusehen sein. Vor dem Kriege war das generell so und ist gegenwärtig auch bei der Knappschaftskasse überall der Fall. Der Beruf der Bergleute gehört zu den ungesundesten Berufen in der Krankenversicherung. Von fünf Bergleuten werden im Jahre vier krank, von vier Landarbeitern wird in der Regel nur einer krank. Trotzdem hat man in der Knappschaftskasse seit 709 Jahren nie eine geringere Karenzzeit als drei Tage für den Bezug des Krankengeldes gehabt.
Ich hoffe also, die Beitragserhöhung zur Arbeitslosen⸗ versicherung im wesentlichen durch eine Verringerung der Aus⸗ gaben zur Krankenverficherung ausgleichen zu können. Im Jahre 1933 werden wir um eine wesentliche Erhöhung der Bei⸗ träge zur Invalidenversicherung nicht herumkommen; denn dann übersteigen die Ausgaben der Invalidenversicherung die Ein⸗ nahmen um ein Bedeutendes. Nun ist in der letzten Zeit, ins⸗ besondere vom Hansabund, immer wieder mit dem Gedanken gearbeitet worden, man solle der Inval idenversicherung nicht die hohen Reichszuschüsse geben, die müsse man aufsparen für später. In Wirklichkeit ist das, was heute in der Invalidenversicherung an Reserven vorhanden ist, eine Bagatelle. Vor dem Kriege hatten wir ungefähr zehn Jahresausgaben an Vermögen an⸗ gesammelt. Gegenwärtig haben die Invalidenversicherungs⸗ anstalten ein Bermögen, das gerade für eine Jahres ausgabe rejcht. Man kann also nicht sagen, daß da ein Thesaurierungs⸗
itik getrieben würde, daß man Gelder ansammle, die man gegenwärtig nicht brauche. Im Jahre 18933 also werden die
meichs⸗ uud Staatsanzeiger Rr. 151 vom 2. Jult 1930. S. 3.
Heute ist es bei
nach wie vor den Grundstock für das ländliche Siedlungswesen
Ausgaben der Invalidenversicherung höher sein als die Ein⸗ nahmen, und dann werden wir um eine wesentliche Beitrags-
erhöhung zur Invalidenversicherung nicht herumkommen. Sis
dahin ist aber anzunehmen, daß die Arbeitslofigkeit so weit
zurückgegangen ist, daß die Arbeitslosewersicherung mit ge⸗
ringeren Beiträgen als im kommenden Jahre auskommen wird. Ich stehe in bezug auf die Erfparnispolitik weder als Ab⸗
geordneter noch als Minister auf dem Standpunkt: „Heiliger Florian, verschon' mein Haus, brenn' andre an!“ Ein solcher Standpunkt ist für ein Voll in ernster Stunde kindlich. Ich müßte es aber auch ablehnen, daß man in der Sozialversicherung Ueberspitzungen beseitigt, im übrigen aber im gesamten Staats⸗ organlsmus und in der Privatwirtschaft alles beim alten läßt. Nein, ich werde in den nächsten Monaten mit dem Herrn Reichs⸗
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dem Herrn RNReichswirtschaftsminister
*
finanzminister und mit über diese Dinge sehr ernst reden.
Ich sagte kürzlich an anderer Stelle solgendes: Wir ver⸗ ausgaben gegenwartig, im Jahre 1936: erstens an Sozial- ver sicherung 65 Milliarden ernschließlich der Arbeitslosen- versicherung und dem, was die Gemeinden für Wohlfahrt sunter= stützungen ujw. erhalten; zweitens an Pensionen 19 Milliarden; drittens für Krieg beschadigte ohne Offizierspensionen und ohne die Versorgung der neuen Wehrmacht 14 Milkaarden; vierten für Wohl sahrispflege haben wir im Jahre 1927, für das. die letzte Starrstit vorließt, 13 Milliarden verausgabt; heute sind es aber mandestens 17 Milliarden. Dazu kommen etwa 2 Mil- liarden für Reparationen und für im Vergleich zu den anderen Ländern höhere Zinsen mindestens 2 Milliarden. Das sind gut 15 Milliarden oder etwa 2 vH des heutigen deutschen Volls⸗ einkommens oder etwa 30 vH aller Loöhne und Gehälter, die in Deutschland bezahlt werden, oder nahezu 45 vH der Löhne und Gehälter, die jene beziehen, die in Deutschland sozialversicherungs⸗ pflichtig sind. Bon diesen Beträgen ist natürlich ein großer Teil unvermeidbar. Aber darüber muß man sich lar sein, daß um die für diese und ahnliche Zwecke verausgabten Beträge die Lohnquote aller derer gekürzt wird, die im Produktionsprozeß stehen. Alle diese Dinge mässen genau so von der Volkswirt⸗ schaft erarbeitet werden wie der Lohn.
Für die Wohnungspolitik gilt im großen ganzen dasselbe, was ich von der Sozialversicherung sagte. Auch hier muß ein⸗ facher und sparsamer gewirtschaftet werden. Ich bin grundsätzlichͥ sehr dafür, daß an die Wohnungskultur möglichst große Ansprüche gestellt werden, weil die Wohnung eines der wichtigsten Mittel zur Pflege der kleinsten Zelle im Staat, der Familie, ist. Alles das aber bleibt schöne Theorie, solange die breiten Schichten die Mieten der neuen Wohnungen, die erstellt werden, nicht bezahlen können. Wir haben im letzten Jahrzehnt 4 bis 5 Milliarden Hauszinssteuer in den Wohnungsbau hineingesteckt. An vielen Plätzen find diese Mittel weder an die ärmeren Kreise noch an die kinderreichen herangekommen. An vielen Plätzen fließt die Hauszinssteuer heute noch überwiegend dem gehobenen Mittel⸗ stand zu. Hier in Berlin gibt es eine ganze Anzahl Kolonien, die aus Hauszinssteuermitteln erstellt find, in denen so gut wie kein Arbeiter wohnt. Mir scheint die Stunde gekommen zu sein, wo die Hauszinssteuer verstärkt den ärmeren Schichten, den Kinder⸗ reichen und den Neuverheirateten, zustatten kommen muß. Das ist nur möglich, wenn man an dem Prinzip der Herstellung ge⸗ sunder und solider Wohnungen festhält, dabei aber viel mehr Kleinwohnungen und sehr viel mehr einfache Wohnungen her stellt und den Anteil der Hauszinssteuer an der Wohnung für Kinderreiche vergrößert, damit ein niedrigeres Zinsniveau und billigere Mieten erreicht werden. Auf diesem Wege kommen wir meines Erachtens den Kinderreichen einfacher und wirkungsvoller entgegen als mit einer neuen Versicherung für Kinderreiche.
Für die Neuverheirateten und kleinen Familien müssen meines Erachtens Wohnungen geschaffen werden mit Wohnküche, Schlafzimmer und Nebenraum nebst Brause. Kurz: was meines Erachtens gegenwärtig notwendig ist, das sind Wohnungen, die 25, 35 und höchstens 45 Mark Miete im Monat kosten. Das sind Wohnungen, die von den neuverheirateten Arbeitern und von Arbeitern mit kleinen Familien bezahlt werden können. Wohnungen aber, die 60 und 70 Mark Miete im Monat kosten, können von den Arbeitern einfach nicht bezahlt werden. Das scheint mir das Entscheidende zu sein. An solchen Kleinwohnungen ist meines Erachtens in den nächsten zehn Jahren kein Ueberfluß. Die Zahl der Wohnungen hat sich nämlich in den letzten zehn Jahren sehr vermehrt. Wir hatten im Jahre 1913 etwa 13 Mil⸗ lionen Wohnungen, heute haben wir nahezu 16 Millionen. Dabei ist aber der Kreis derjenigen, die die Wohnungen bewohnen, zurückgegangen. Heute entfallen auf die einzelne Familie prozentual weniger Köpfe als vor 15 Jahren. Jedenfalls habe ich vor, mit dem zusätzlichen Wohnungsprogramm der Reichs⸗ regierung in dem angedeuteten Sinne vorzustoßen mit dem Ziele: kleinere Wohnungen, einfache Wohnungen, billige Wohnungen, letztere insbesondere auch für die Kinderreichen. Ein ent⸗ sprechendes Gesetz für den allgemeinen Wohnungsbau habe ich dem Kabinett vorgelegt. Um die von mir gekennzeichnete Politik durchzuführen, soll die Verfügungsmacht der Länder durch Ber⸗ stärkung ihres Ausgleichsfonds wesentlich erhöht werden. Außer⸗ dem soll das Reich durch dieses Gesetz in die Lage versetzt werden, bindende Grundsätze auf dem Gebiete des Wohnungswesens her⸗ auszugeben. Damit wird der Wunsch des Reichstags, der bei der Beratung der sogenannten Reichsrichtlinien wiederholt zum Aus—= druck kam, erfüllt werden.
In der Diskussion sind sodann vielfach Befürchtungen über das ländliche Siedlungswesen in der Zukunft ausgesprochen worden, meines Erachtens zu Unrecht. Für meinen Teil würde ich der Osthilfe nicht zugestimmt haben, wenn nicht das Siedlungs⸗ wesen als fester Bestandteil in sie eingebaut worden wäre. Herr Kollege Schiele stand und steht zudem auf dem gleichen Stand—⸗ punkt. Die Gefahr, die dem ländlichen Siedlungswesen drohte, drohte ihm nicht von dem Ernährungsministerium, sondern von der Seite der Reichsfinanzen her. Aber Ostpolitik treiben zu wollen ohne Siedlungspolitik, das hieße tatsächlich das Pferd am Schwanze aufzäumen.
Der Reichstag hat seinerzeit 250 Millionen Zwischenkredite für das ländliche Siedlungswesen genehmigt. Dieser Betrag soll bilden. Die Zwischenkredite sollen bekanntlich immer wieder durch Dauerkredite abgelöst werden. So haben wir insbesondere durch die Errichtung einer entsprechenden Siedlungsbank, worüber gegen⸗ wärrig Verhandlungen schweben, die Hoffnung, dauernd jedes Jahr 50 bis 75 Millionen Mark in das deutsche ländliche Sied⸗ lungswesen hineinstecken zu können. Eine solche Arbeit auf lange Sicht wird und muß ihre Früchte zeitigen. Die Siedlungen haben sich im allgemeinen als durchaus lebensfähig erwiesen. Selbstverstãndlich bedrückt die allgemeine schwere Agrarkrisis auch den neu angesetzten Siedler.
Daneben werden wir nach wie vor dem ländlichen Wohnungs⸗ bau die größte Sorgfalt zuwenden müssen. Meine Absicht geh: dahin, durch teilweise Umgestaltung der Hauszinssteuer vom nächsten Jahre ab größere Mittel für den ländlichen Wohnungs⸗