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Zeitung N.
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2 1 3 Vermiſchte Nachrichten. n Vorleſungen uͤber die neuere Geſchichte, gehalten zu Paris im Sommer 1828, von Guizot. (Zweite Vorleſung.) *)
Wenn in der erſten Vorleſung beſonders der Begriff der Civiliſation im Allgemeinen auseinander zu ſetzen war, ohne Ruͤckſicht auf irgend eine beſondere Art derſelben, auf die Verhaͤltniſſe der Zeit und des Orts und die Civiliſation, an und fuͤr ſich und nur von dem philoſophiſchen Stand⸗ punkte aus betrachtet wurde, — ſo iſt es jetzt die Europaͤi⸗ ſſche Civiliſation beſonders, welche, als eine eigenthuͤmliche,
Gegenſtand der Unterſuchungen werden wird. Soll dies ge⸗
ſchehen, ſo iſt vor Allen zuerſt dasjenige anzugeben und aus⸗ eainander zu ſetzen, was ſie vor allen uͤbrigen auszeichnet und unterſcheidet und wodurch ſie den Vorrang uͤber jene Bildung
es Alterthums gewann, welche noch jetzt von vielen als das
letzte Ziel, wonach auch die neuere Zeit zu ſtreben habe, an⸗ 8 geſehen wird. Aber die Anſicht dieſer wird ſelbſt am beſten
durch ein getreues Bild alles deſſen, was die Menſchheit
dlurch harte Kaͤmpfe und große Opfer in neuerer Zeit ſich er⸗ rang, widerlegt werden. 3
8Biefe — einen genauern Blick auf die Art und Weiſe der Civiliſation, welche in den Staaten des Alterthums heerrſchte, ſo iſt es unmoͤglich, uͤber die große Einheit, welche
iinn den verſchiedenſten Arten derſelben obwaltet, nicht zu er⸗ ſtaunen. Alle ſcheinen von derſelben Idee ausgegangen zu ſeyn, und man koͤnnte ſagen, daß die Geſellſchaft ein em Princip angehoͤrte, welches ſie beherrſchte, und ihre Religion, liſhre Sitten, ihre Einrichtungen, mit einem Worte, ihre
ganze Entwickelung hervorrief. 1 1
Beiſpiele zur Beſtätigung deſſen bietet die ganze Geſchichte des Alterthums dar, ſo war es in Aegypten das Princip der Theokratie, welches den Staat und die Geſellſchaft beherrſchte, welches ihre Sitten, ihre Monumente und Alles, was uns von
Aeggyptiſcher Civiliſation uͤbrig blieben iſt, erzeugte. In
Indien findet ſich daſſelbe, die Herrſchaft des theokratiſchen
Princips iſt dort beinah ausſchließlich geworden, anderswo
errſcht eine andere Organiſation, welche aber eben ſo ein⸗ eitig iſt. Entweder herrſcht eine ſiegende Kaſte, das Prin⸗ cip der Gewalt regiert allein die Geſellſchaft, giebt ihr Ge⸗ ſetze und druͤckt ihr ſeinen Charakter auf. Wieder an andern Orten iſt die Geſellſchaft der Ausdruck des demokrati⸗ ſchen Princips, dies fand ſtatt in den Handels⸗Repu⸗ bliken, welche die Kuͤſten Klein⸗ Aſiens und Syriens be⸗ deckten, in Jonien und Phoͤnicien. Mit einem Wort, in allen Formen der alten iviliſationen druͤckt ſich der her⸗ vorſtechende Charakter der Freiheit in allen Einrichtungen, Sitten, Ideen aus, eine einzige Gewalt, und ihr Princip beherrſcht und entſcheidet Alles. Doch muß man ſich ſehr in Acht nehmen, dieſe Freiheit nicht fuͤr eine urſpruͤngliche zu halten. Sie war das Reſultat eines langen Ringens und oft blutiger Käͤmpfe der Principe und Syſteme unter einan⸗ der, doch fallen alle dieſe Elemente, aus welchen nachher ſich jene Freiheit bildete, groͤßtentheils in eine Zeit, welche außer⸗ halb des Bereichs unſerer hiſtoriſchen Kenntniſſe liegt, und bei den Völkern ſelbſt bildete ſich die Erinnerung an die Zeit dieſer Kämpfe, als dieſe Welt der Heroen in Sage, Mythos und Gedicht aus, die daher mit Recht den Anfang aller und jeder Geſchichte bilden.
Doch zugleich iſt es nicht zu laͤugnen, daß dieſes Ringen der verſchiedenen Elemente in einem Volk ſich auch im Laufe ſeiner Geſchichte wohl wiederholt hat, aber immer iſt dies nur eine voruͤbergehende Reaction geweſen, die bald dadurch
aufgehoben wurde, daß eine der Maͤchte, die um die Herrſchaft
ſch derſelben bemaͤchtigte. Der Krieg hat im⸗ — dg Herſcof eines Princips geendigt. Das noth⸗ wendige Reſultat von allem dieſem iſt eine merkwuͤrdige Ein⸗
*) S. Nr 313 ünd 315 dieſer Zeitung. 8 ee“ 1114“
fachheit in der alten Civiliſation, welche aber die verſchie⸗ denſten Reſultate gehabt hat. Bald hat naͤmlich, wie in Griechenland, dieſe Einfachheit des Princips der Geſellſchaft eine wunderbar raſche Entwickelung herbeigefuͤhrt, denn nie hat ſich ein Volk in ſo kurzer Zeit und mit ſolchem Glanze erangebildet. Nachher war aber auch Alles in Griechen⸗ and erſchoͤpft; ſein Fall war, wenn auch nicht ſo raſch, wie
ſein Emporkommen, doch aber eben ſo vollſtaͤndig. Die
ſchöͤpferiſche Kraft des Griechiſchen Princips hat aufgehoͤrt, Niemand iſt gekommen, 82 zu erneuern!!
Anders iſt es in Aegypten und Indien geweſen; die Einheit in dem Princip der Civiliſation hat dort 2 einem Zuſtand des Stillſtehens und der Ruhe gefuͤhrt. Die Ein⸗ fachheit hat die Einerleiheit (monotonie) erzeugt, und dieſe Laͤnder der Sonne ſind erſtarrt! — Aus dieſer Urſach muß man auch die Tyrannei erklaͤren, welche unter den verſchie⸗ denſten Namen und Formen in der alten Welt hervortrat. Die Geſellſchaft gehoͤrte einer ausſchließlichen Macht, die keine andere neben ſich duldete; jedes Streben nach einer andern war proſcribirt. Dieſer Charakter der Einheit hat ſeinen Stempel auch der Literatur, den Werken des Geiſtes, aufgedruͤckt. Wer hat nicht die Monumente der Indi⸗ ſchen Literatur durchlaufen, ſeitdem ſie in Europa bekannt ſind; ſie ſcheinen alle das Reſultat eines Gedankens zu ſeyn, der Ausdruck einer Idee; reli⸗ ioͤſen, moraliſchen, hiſtoriſchen, poetiſchen, allen iſt dieſelbe hyſiognomie aufge⸗ druͤckt. In Griechenland herrſcht gleicherweiſe, bei allem Reichthum des Geiſtes, derſelbe merkwuͤrdige Charakter der Einheit in allen Werken der Literatur und Kunſt vor. — Wie ganz anders war die Europaͤiſche, neuere Civiliſation. Ohne in die Einzelnheiten einzugehen, gleich auf den erſten Anblick erſcheint ſie verſchieden, die Elemente durch einander gemiſcht und in beſtändiger oft ſtuͤrmiſcher Bewegung. Alle Principien der geſellſchaftlichen Organiſation beſtehen neben einander, geiſtliche und weltliche Macht, Theokratie, Monar⸗ chie, Ariſtokratie, Demokratie, alle Klaſſen, alle Verhaͤltniſſe der Geſellſchaft miſchen ſich untereinander, draͤngen ſich, es erſcheinen unendliche Abſtufungen in der Frei eeit, im Reich⸗ thum im Einfluß, aber in allen herrſcht ein das ſie alle verbindet, das des Fortſchritts naäͤmlich. Aber Alles iſt in einem beſtändigen Ringen mit einander, ohne daß je eines dieſer Elemente im Stande waͤren, die andere zu unterdruͤcken und ſich allein die ausſchließliche Herrſchaft anzueignen. Eu⸗ ropa bietet Beiſpiele aller Syſteme, aller Arten der geſell⸗ ſchaftlichen Organiſation dar, reine und gemiſchte Monar⸗ chieen, Theokratieen, mehr oder weniger ariſtokratiſche Repu⸗ bliken, Alles geht mit und nebeneinander fort. In den Ideen und Empfindungen (wenn man ſo ſagen darf), die Europa beſeelten, herrſchte dieſelbe Verſchiedenheit, daſſelbe Ringen gegen einander. Man ſehe die Schriften des Mittelalters an, nirgends iſt eine Idee bis zu ihren letzten Conſequenzen ausgefuͤhrt, andere Ideen, andere Reflexionen halten 82 in ihrem Lauf, in ihrer bis zu Ende gebrachten Entwi e⸗ lung auf. Vergleicht man nun beſonders die Literatur dieſer Zeit mit der des Alterthums, ſo ſteht ſie zwar in Bezug auf die Kunſt und Vollendung der Form weit hinter Allem zu⸗ ruͤck, was uns heilige und geliebte Ueberreſte jener Zeit ſind, aber auf der andern Seite enthäͤlt ſie auch eine Tiefe des Gefuͤhls und der Ideen, welche dem Alterthume doch nur in wenigen und entfernten Anklaͤngen eigen iſt. Doch iſt gerade dieſer Unterſchied durchaus in dem Geiſte beider Zeiten be⸗ gruͤndet. Je mehr die neuere Zeit an Reichthum des Stof⸗ fes uͤberfließt, deſto ſchwerer iſt es, die Bearbeitung dieſes ſo verſchiedenartigen Materials auf eine reine, einfache und klare Form hinauszufuͤhren. Die Einfachheit, welche hier in der Form literariſcher Erzeugniſſe verlangt wird, hatte das
Alterthum als Grund⸗Element ſeines Geiſtes, daher dieſe reine und einfache Großartigkeit. Dies iſt ein zuſammengedraͤngtes
eben ſo viel 8 moͤglich treues dem Fortſchritte, welcher
die alte Welt von der neuern Zeit trennt und ſe 2*
v 3
1„2. Aamhdh
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(Fortſetzung folgt.)