ieser Antrag kam in der Reichstagssitzung vom 20. Mai 1869 zur Berathung; er wurde von dem einen der Herren Antragsteller, von dem Herrn von Puttkamer (Fraustadt), unter Hinweis auf die Verhandlung des preußischen Abgeordnetenhauses im Wesentlichen damit begründet, daß die Schwierigkeiten und Unzuträglichkeiten, welche aus der jetzigen Verschiedenheit der Landesgesetzgebungen über das Indigenatswesen bestehen, sich nicht im Wege der Landesgesetzgebungen vollständig beseitigen lassen, sondern nur auf dem Wege der Bundesgesetzgebung. Es erfolgte dann eine zusagende Erklärung von Seiten des Herrn Präsidenten des Bundes⸗ kanzleramts und der Reichstag nahm ohne weitere Debatte mit großer Majorität den Antrag an. Die Bundesregierungen legen nun den Gesetzentwurf vor, dessen erste Berathung heute auf der Tages⸗ ordnung steht; sie erfüllen damit den Wunsch des Reichstages, und ich kann mich deshalb der Aufgabe überhoben erachten, das Pe⸗ dürfniß einer solchen Gesetzesvorlage Ihnen gegenüber zu begründen. Die verbündeten Regierungen konnten sich nicht verhehlen, daß, wenn auch eine einheitliche Instgbnas gesehgebung für den Bund nicht in dem Maße eine unerläßliche Nothwendigkeit sei, wie für einen ein⸗ heitlichen Staat, dennoch mancherlei Gründe und Rücksichten, nicht nur allgemein politische, sondern auch praktische Gesichtspunkte dafür sprechen, das Indigenatswesen im Ganzen sowohl für den Bund, als für die ein⸗ zelnen Staaten gleichmäßig zu regeln.
Was den Inhalt des Entwurfs angeht, so kann ich mich auf wenige Bemerkungen beschränken. Er stellt an die Spitze des ganzen Gesetzes das Prinzip, welches jetzt schon in der Bundesversassung und Bundes⸗Gesetzgebung sanktionirt ist, daß nämlich die Bundes⸗Ange⸗ hörigkeit durch den Besitz der Staats⸗Angehörigkeit bedingt ist. Die Bundesverfassung hat bekanntlich in Artikel 3 diejenigen Wirkun⸗ gen, die sie unter den Begriff des gemeinsamen Indigenats zu⸗ sammenfaßt, an den Besitz der Staats⸗Angehörigkeit geknüpft und damit das System angenommen, welches beispielsweise in der Bundesverfassung der Schweiz gilt, wo das kantonale Bürgerrecht die Grundlage für das Schweizer Bürgerrecht bildet, während in Amerika das Unions⸗Bürgerrecht bekanntlich selbständig, unabhängig von dem Verhältniß zu den einzelnen Staaten besteht. Der vorliegende Ent⸗ wurf beschränkt sich übrigens nicht darauf, den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit in den Fällen zu regeln, in welchen davon Erwerb und Verlust der Bundesangehörigkeit abhängt, sondern er geht weiter und trifft auch die Fälle, wo der Angehörige eines Bundes⸗ staates, der bereits die Bundesangehörigkeit besitzt, in einem andern Staate die Angehörigkeit erwirbt. Grade in diesem Punkte enthält der Entwurf die bei weitem wichtigste Aenderung des bestehenden Zustandes. Ich eriaube mir, meine Herren, Ihre Aufmerksamkeit auf diesen Punkt besonders hinzulenken, zumal derselbe in einem gewissen Zusammenhange mit dem Gesetzentwurfe über den Unterstützungs⸗ wohnsitz steht. Bisher galt in Deutschland allgemein der Grundsatz, daß die Verleihung der Staatsangehörigkeit ein Akt der Souveränetät sei, der von dem freien Ermessen der Regierungen abhing. Es war keine Regierung verpfltchtet, irgend Jemanden die Staatsangehö⸗ rigkeit zu ertheilen. Der §. 7 und theilweise auch der § 8 des Ent⸗ wurfs enthalten in dieser Beziehung eine sehr bedeutende Beschränkung des bisherigen freien Ermessens der Regierungen. §. 8 beschränkt dasselbe gegenüber den Bundesausländern in negativer Richtung, indem er sagt, daß Ausländern die Naturalisation nicht ertheilt werden darf, wenn sie nicht gewisse Bedingungen erfüllen. §. 7 aber beschränkt das Ermessen der Regierungen in positiver Weise, indem er vorschreibt: die Naturali⸗ sation darf nicht verweigert, sie muß ertheilt werden, wenn der An⸗ gehörige eines anderen Bundesstaates die Voraussetzungen erfüllt hat, die im §. 7 enthalten sind. Bisher, meine Herren, wurde bei der Naturalisation kein Unterschied gemacht, weder in Preußen, noch, so viel ich weiß, in den übrigen Staaten des Norddeutschen Bundes, zwischen den Angehörigen anderer Bundesstaaten und den Bundes⸗ Ausländern. Man verlangte von den Angehörigen der anderen Bun⸗ desstgaten eben so gut, wie von den Ausländern, daß sie unbescholten, daß sie erwerbsfähig seien u. s. w. Der §. 7 des Gesetzes führt hierin eine bedeutende Aenderung ein; er sagt: jeder Bundesange⸗ hörige hat das Recht, in dem Staate naturalisirt zu werden, wo er sich niedergelassen hat, vorausgesetzt, daß die Be⸗ stimmungen des Freizügigkeitsgesetzes erfüllt sind, d. h. daß keine Gründe vorliegen, die der Gemeinde das Recht geben würden, die Aufnahme des neu Anziehenden oder die Fortsetzung des Aufent⸗ halts zu versagen. Es wird also das Prinzip sanktionirt, daß durch diejenigen Bedingungen, unter denen nach dem Freizügigkeitsgesetz der A ufenthalt gestattet ist, auch ein Anspruch auf Naturalisation begründet ist. Dieses Prinzip greift außerordentlich tief in die jetzt bestehenden Landesgesetze und Verwaltungseinrichtungen der einzelnen Staaten ein; es wird, so zu sagen, die jetzige soziale Freizügigkeit er⸗ weitert zu einer politischen Freizügigkeit. Ich darf bei dieser Geiegen⸗ veit nicht unerwähnt lassen, daß gerade dieser Punkt im Bundesrathe zu Meinuugsverschiedenbeiten und Bedenken Anlaß gegeben hat. Ich erlaube mir auszuführen, daß Seitens derjenigen Staaten, die in ihrer Gesetzgebung das Prinzip einer festen öͤrtlichen Heimath für alle Staatsangehörigen durchgeführt haben, der lebhafte Wunsch geäußert wurde, auch hier dieses Prinzip der örtlichen Heimath in der Weise festgehalten zu sehen, daß die Naturalisation nur dann zu ertheilen wäre, wenn erst ein örtliches Heimathsrecht im Staate erworben oder zugesichert sei. Der Bundesrath glaubte aber in seiner Mehrheit, auf diese Beschränkung der Naturalisation der Bundes⸗ angehörigen nicht eingehen zu sollen; er hat also den Gesetzentwurf so vorgelegt, wie er jetzt lautet.
Was die übrigen Bestimmungen des Entwurfs betrifft, so be⸗ dürfen dieselben keiner besonderen Erläuterung. Sie stimmen mit dem Rechte, welches in den meisten Bundesstaaten jetzt schon geltend ist, überein; soweit sie davon abweichen, sind die Abweichungen in
Unterstützungswohnsitzes für das
den Motiven des Entwurfs erläutert und ich kann auf diese Motive lediglich Bezug nehmen. 3
Ich erlaube mir zum Schluß nur noch einige Druckfehler zu be⸗ richtigen, die schon in der dem Reichstage zugegangenen Vorlage ent. halten und deshalb von dem Herrn Präsidenten noch nicht berichtigt sind. Es muß im §. 8 Alineta 2 statt »Nr. 1« — »Nr. 2« heißen. Nr. 1 des Paragraphen betrifft die Dispositionsfähigkeit, Nr. 2 die Unbescholtenheit, und Nr. 2 soll in dem Alinea 2 des §. 8 wieder erwähnt werden. In §. 10 muß es statt „mit den Staatsangehörig⸗ keiten« heißen »mit der Staatsangehörigkeit; und endlich im §. 15 in der Position 1 muß vor den Worten ⸗der Flotte« das Wörtchen »in« eingeschaltet werden. 8
— Bei der Diskussion über den genannten Gesetzentwurf erwiderte der Geheime Legations⸗Rath Hofmann dem Ab⸗
geordneten Freiherrn zur Rabenau:
Was die letzte Bemerkung des Herrn Abg. zur Rabenau betrifft, so glaube ich nach der gestrigen ausführlichen Debatte über die deutsche Frage auf das Verhältniß Südhessens zum Norddeutschen Bunde in diesem Augenblick nicht eingehen zu sollen. Die Bestimmung des §. 1, die der Herr Vorredner berührt hat, hat lediglich den Grund, die Vor⸗ aussetzung festzustellen, unter welcher ein hessischer Staatsangehöriger als Bundesangehöriger zu betrachten ist. Daß nicht alle Hessen unter den gegenwärtigen Verhältnissen einen Anspruch darauf haben, als Bundesangehörige betrachtet zu werden, liegt in der Natur der Sache. Es fragt sich, soll man es einfach der Praxis der Verwaltungsbehörden überlassen, das Kriterium zu finden, nach welchem zu entscheiden ist, ob ein Hesse Bundesangehöriger ist oder nicht, oder soll man im Bundes⸗ gesetz etwas darüber sagen? Aus dieser ganz einfachen, ich möchte fast sagen, geschäftlichen Erwägung des Zustandes der Dinge ist der Absatz 2 des §. 1 hervorgegangen. Ob es in Zukunft in Bezug auf die Behörde, welche die Naturalisation in Hessen zu ertheilen haben, einen Unterschied machen wird, daß das Bundesgesetz die fragliche Bestimmung enthält, das wage ich im Augenblick nicht zu entscheiden. Ich glaube es nicht. Sollte aber der Herr Abgeordnete zur Rabenau darin Recht haben, daß eine solche Naturalisationsurkunde nur von einer Oberhessischen Behörde ausgehen könne, so giebt ja der §. 6 dazu vollständig die Handhabe; denn es heißt dort:
Die Verleihung erfolgt durch eine von der oberen Verwaltungs⸗ Behörde ausgefertigte Naturalisationsurkunde.
Ich sehe nicht ein, welcher Grund entgegenstehen könnte, daß die
hessische Regierung, wenn sie dazu die Nothwendigkeit erkennen sollte, etwa der Provinzial⸗Direktion von Oberhessen, die eine obere Ver⸗ waltungsbehörde für diese Provinz ist, die Ertheilung der Naturali⸗ sationsurkunden in Oberhessen übertrüge.
— Nach dem Abgeordneten Grumbrecht nahm der ge⸗ nannte Bundesbevollmächtigte noch einmal das Wort:
Meine Herren! Ich erlaube mir zunächst in thatsächlicher Be⸗ den eine Bemerkung, die sich auf eine Aeußerung des vorletzten Redners, des Herrn Abg. Dr. Friedenthal bezieht. Derselbe hat näm⸗ lich geglaubt, daß durch die jetzige Gestaltung des Gesetzentwurfs, im Gegensatz zu einer durchgreifenden Einführung des Prinzips des Unter⸗ stützungswohnsitzes, das Hin⸗ und Herschieben der Verarmten befördert werde. Ich muß dagegen anführen, daß, wenn man das System des ganze Bundesgebiet durchgreifend und Herschieben dadurch nicht vermieden ist, denn Jeder, der einen Unterstützungswohnsitz erworben hat und sich von dem Ort, wo er ihn erworben hat, entfernt, und dann außerhalb des Verbandes, welcher ihn zu unterstützen hat, verarmt, riskirt auch nach dem Prinzip, welches Herr Dr. Frieden⸗ thal zu vertheidigen schien, daß er ausgewiesen und an den Unter⸗ stützungswohnsitz zurückgewiesen wird. Es würde also das Hin⸗ und Herschieben dadurch allein nicht vermieden werden, daß man die innere Armenpflege der Staaten, die noch an dem Prinzip einer ört⸗ lichen Heimath festhalten, nach dem System des Unterstützungswohn⸗ sitzes abändert.
Meine Herren! Wenn diejenigen Regierungen, in deren Staaten die Armenpflege auf das Prinzip der örtlichen Heimath basirt ist, sich dagegen gesträubt haben, den Unterstützungswohnsitz nach dem preußischen Gesetz bei sich einführen zu müssen, oder vielmehr im Bundesgesetzwege eingeführt zu sehen, so war daran, wie ich glaube, nicht Partikularismus schuld, und ich muß die sämmtlichen verbündeten Regierungen, die diesen Entwurf vorgelegt haben, gegen den Vorwurf in Schutz nehmen, daß sie damit eine Konzession an einen unberechtigten, an einen engherzigen Partikularis⸗ mus gemacht hätten. Nein, meine Heanea, so liegt die Sache nicht, sondern es stehen sich, wie der Herr Präsident des Bundeskanzleramts schon gesagt hat, zwei Systeme der Armengesetzgebung gegenüber, ven denen man doch nicht sagen kann, daß das eine, nämlich das System des Unterstützungswohnsitzes, den Standpunkt, wie soll ich sagen? — der Bundestreue, und das andere, nämlich das auf dem Prinzip der örtlichen Heimath beruhende System, den Parti⸗ kularismus repräsentire, — wenn Sie nicht etwa unter Partikularismus jede Beziehung auf ein lokales Verhältniß bei den einzelnen Staatsbürgern verstehen wollen. Meine Herren! Das scheint doch nicht die Aufgabe der Bundes⸗ gesetzebung zu sein, daß man die Bundesangehörigen von allen rechtlichen Beziehungen zu einer lokalen Heimath möglichst les⸗ löst. Ob dies zweckmäßig, ob es namentlich im konservativen Interesse wünschenswerth sein würde, steht sehr dahin. Das System der Armen⸗ pflege, welches in sämmtlichen nichtpreußischen Bundesstaaten und in den neuerworbenen Landestheilen Preußens besteht, und welches auf das örtliche Heimathsrecht basirt ist, hat doch entschieden eine sittliche Grundlage und verdient nicht mit solcher Geringschätzung behandelt zu werden, wie es der vorletzte Hr. Redner gethan hat. Der Heimathssinn ist glücklicher Weise noch lebendig in unserm Volke, und wenn man
feststellt, das Hin⸗
enpflege auf einen Begriff von solch' innerlichem Gehalte, wie 8 Lemespf ennahe, stützen kann, so ist das, wie mir scheint, ein roßer Vortheil für die Gesetzgebung. Setzt man an die Stelle der heimath den zufälligen Umstand, daß sich Jemand drei oder fünf ahre lang an einem Orte aufgehalten hat, so ist das ein Nothbehelf der Verwaltung, aber kein Prinzip, welches aus dem Rechtsbewußt⸗ sein des Volkes herstammt, und ob es räthlich ist, Gesetze nur zu geben für die Zwecke der Verwaltung, oder ob es richtiger ist, bei der Gesetzgebung eben die Begrifse zu berücksichtigen, die im Rechts⸗ bewußtsein des Volkes wurzeln, das ist doch sehr die Frage. Wenn daher die Regierungen bei der Vorlage des jetzigen Ent⸗ wurfs geglaubt haben, die Gesetzgebungen derjenigen Staaten schonen u müssen, welche an dem Prinzip der örtlichen Heimath und der barauf basirten Armenpflege festhalten, so verdienen sie, wie 7”- nicht den Vorwurf, daß sie eine Konzession an einen verwerflichen Partikularismus gemacht hätten. — Es ist auch Bezug genommen auf den Zusammenhang der Frei⸗ zügigkeit mit der Gesetzgebung über die Armenpflege. Auch in dieser Beziehung läßt sich nicht sagen, daß das Heimathsprinzip schlecht⸗ hin zu verwerfen sei, denn wenn Jemand ein festes Heimathsrecht be⸗ sitt, so bewegt er sich viel freier, als wenn er es nicht bat, weil die Gefahr, daß er der Gemeinde, in der er sich aufhält, zur Last falle, tine weit geringere wird, oder auch ganz beseitigt ist. Jeder Einzelne wird willkommener sein überall, wohin er zieht, und man wird es seitens der Aufenthaltsgemeinde mit der Prüfung der Voraussetzungen für die Niederlassung, die in dem Freizügigkeitsgesetz enthalten sind, weit weniger scharf nehmen, wenn man weiß, daß im Falle der Verarmung die Heimathsgemeinde die Last der Unterstützung trägt. Diese örtliche Armen⸗ pflege ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine erweiterte Alimen⸗ fationspflicht der Verwandten. Man betrachtet gewissermaßen die Gemeinde als eine große Familie und den Verarmten als einen An⸗ gehörigen, der von dieser Familie unterstützt werden muß, wenn seine
wirklichen alimentationspflichtigen Verwandten dazu nicht im Stande
sind. Dies ist aber, meine ich, ein Prinzip, welches nicht mit dem Namen Partikularismus bezeichnet zu werden verdient. Ob man, wenn einmal durchgegriffen werden soll, dieses Prinzip zur Norm für die Armenpflege in dem ganzen Norddeutschen Bunde machen will, das ist eine Frage, die in der Kommission erwogen wer⸗ den mag. Man kann darüber verschiedener Ansicht sein, aber dagegen muß ich mich entschieden verwahren, daß ohne Weiteres aus der Bundesverfassung zu folgern sei, die Armenversorgung müsse ein⸗ heitlich regulirt werden. Die Heimathsverhältnisse sind allerdings Gegenstand der Bundesgesetzgebung. Wo es sich aber nur um die Armenversorgung handelt, da bestehen gewisse Beschränkungen in der Bundesverfassung, die es sehr wohl rechtfertigen, die innere Armen⸗ pflege der einzelnen Staaten ganz unberührt zu lassen.
— Nach dem Abgeordneten Miquél äußerte der Bundes⸗ bevollmächtigte:
Ich 8 mir, ein Mißverständniß des Herrn Abg. v. Kardorff nachträglich zu berichtigen. Er hat angenommen, daß ich von dem jetigen Gesetzentwurf gesagt hätte, er beruhe auf einer Alimentations⸗ pllicht der Gemeinden. 2 Das war nicht meine Absicht, ich wollte sagen, daß das Hei⸗ mathsrecht, welches der Gesetzentwurf da, wo es jetzt besteht, für die innere Armenpflege der betreffenden Staaten unberührt läßt, eine gewisse Analogie mit der Alimentationspflicht der Familie darbietet.
Wenn Herr v. Kardorff gesagt hat, daß der Reichstag allein der Interpret für das Rechtsbewußtsein des Volks sei, so bin ich weit ent⸗ sernt, dies bestreiten zu wollen; sobald der Reichstag den Beschluß gefaßt hat, daß die Erwerbung des Unterstützungswohnsitzes durch bloßen Aufenthalt dem Rechtsbewußtsein des Volks entspricht, werde ich der Erste sein, das anzuerkennen. Aber so lange das Gesetz nicht erlassen ist, glaube ich das Recht zu haben, zu behaupten, daß bei einem sehr großen Theile des deutschen Volkes das System des Unterstützungs⸗ wohnsitzes durchaus keine Basis in dem Rechtsbewußtsein hat. Ich bin berechtigt, dem Reichstage den Wunsch auszudrücken, daß er ernst⸗ lich prüfe, ob nicht das Heimathsprinzip es ist, welches den Rechts⸗ anschauungen unseres Volkes entspricht. — Dem Herrn Abgeordneten Miquél erwiedere ich, daß, wenn Arbeiter aus einer Gemeinde in eine andere ziehen, sie es deshalb thun, weil sie dort Verdienst finden, daß also der Vortheil nicht allein auf Seiten der Gemeinde ist, in der sie arbeiten, sondern gegenseitig. Es können allerdings die Fälle vor⸗ kommen, wo der Arbeiter krank oder sonst erwerbsunfähig wird und dann der Heimathsgemeinde zur Last fällt. Dies ist aber doch nur die Ausnahme. Die Regel ist, daß der Arbeiter dort, wo er hinzieht/
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etwas verdient und erwirbt. Dies kommt dann auch der Heimaths⸗ e zu gut, so daß sich Vortheil und Nachtheil im Großen und anzen gewiß ausgleichen.
— Bei der Diskussion über den Gesetzentwurf, betreffend die lebenslänglichen Pensionen und Unterstützungen an Militär⸗ personen der vormaligen schleswig⸗holsteinschen Armee, sowie an deren Wittwen und Waisen, erklärte der Bundeskommissar, Ge⸗ heimer Regierungs⸗Rath von Puttkamer, über das zu §. 4 ge⸗ stellte Amendement des Abg. Dr. Lorentzen: »dem 8§. 4 des Gesetzentwurfs als zweiten Absatz beizufügen, was folgt: Der Verlauf eines vollen Dienstjahres nach Beförderung in eine höhere Charge oder Aufrücken in ein höheres Gehalt (§. 17 des Gesetzes vom 6. Juli 1865) ist nicht erforderlich, um die normal⸗ mäßige Pension der höheren Charge oder des höheren Gehalts zu erhalten«:
Meine Herren, es ist richtig, daß in dem Gesetze, betreffend die schleswig⸗holsteinischen Offiziere, vom 14. Juni 1868 sich derjenige Passus befindet, dessen Annahme in die gegenwärtige Vorlage die Herren Antragsteller wünschen. Es ist aber ebenso richtig, daß diese Bestimmung nur auf dem Wege des Amendements in jenes Gese gekommen ist, und daß diese Aufnahme mehr oder minder entschiede⸗ nen Widerspruch von Seiten der Bundeskommissarien erfahren ha Ich bin in der Lage, in Betreff des gegenwärtigen Antrages diesen Widerspruch mit verstärktem Gewicht zu widerholen. Es ist die Ab⸗ sicht der Vorlage, die Unterklassen der schleswig⸗holsteinischen Arme in Bezug auf das Pensionirungswesen genau ebenso zu stellen, wi die Mitglieder der Bundesarmee. Sie erlangen dadurch, wie ich mir schon erlaubte in meinem ersten Vortrage hervorzuheben, das Bene⸗ fizium, daß sie durchschnittlich böhere Pensionsbeträge erhalten, wie sie nach der Verordnung vom Jahre 1850 erhalten haben würden Ich glaube, es ist daher nicht mehr als billig, daß sie sich auch die Einschränkungen gefallen lassen müssen, welche fuͤr die Bundesarmee fest⸗ gestellt sind. Ich möchte den Herren Antragstellern doch zur Er⸗ wägung geben, daß sie es den Bundesregierungen einigermaßen er⸗ schweren, auf ihre Anträge einzugehen, wenn sie immer und immer wieder eine Ausnahmestellung für ihre engeren Landesangehörigen in Anspruch nehmen. Es ist mir ganz fernliegend, die Verdienste der Männer, welche bei Idstedt und bei Friedrichsstadt für die deutsche Sache gestritten und geblutet haben, in irgend welcher Weise zu ver⸗ kleinern. Aber die Frage ist doch berechtigt, sind denn diejenigen, die am Main und bei Königgrätz für die deutsche Sache geblutet haben, weniger werth? Was würde die natürliche Folge der Annahme dieses Amendements sein? ein Unteroffizier der Bundesarmee, welcher an demselben Tage eingetreten ist, wie seiner Zeit ein schleswig⸗holsteini⸗ scher Unteroffizier, würde nach dem Gesetze von 1865, wenn er noch nicht ein Jahr in der betreffenden Militärcharge gedient hat, mit der nächstniedrigen Pensionsklasse sich abfinden lassen müssen. Der Unter⸗ offizier der schleswig⸗holsteinischen Armee würde die enisprechend höhere Charge erhalten und um eine ganze Klasse besser stehen, als sein Kamerad von der Bundesarmee. Meine Herren, ist das recht und billig? Ich überlasse das der Beurtheilung des hohen Hauses und bitte dringend, das Amendement abzulehnen. 3
— Nach einer Erwiderung des Abg. Dr. Lorentzen fügte der Bundeskommissar noch hinzu:
Meine Herren, ich habe mir bereits erlaubt, die Rücksicht anzu⸗ deuten, aus welcher in den Augen der verbündeten Regierungen dieser Unterschied allerdings nöthig ist. Es werden nämlich die Unterklassen durch das vorliegende Geseß besser gestellt, als sie nach ihrem eigenen Pensionsreglement gestellt sein würden. Bei den Offizieren lag die Sache einigermaßen anders, und dies war der Grund, welcher die ver⸗ bündeten Regierungen bewog, sich mit dem damaligen Amendement einverstanden zu erklären, es wenigstens nicht abzulehnen. Die Offi⸗- ziere wurden nämlich, wie anerkannt werden mußte, durch die Vor⸗ lage des Bundesrathes durchschnittlich etwas weniger günstig gestellt, als nach ihrem eigenen Reglement. Ich claube deshalb, daß die Rück⸗ sicht, aus welcher die Unterklassen sich diese Einschränkung gefallen lassen sollten, für die Offiziere weniger in Frage kam.
Landtags⸗Angelegenheiten.
Hannover, 24. Februar. Im 8. Wahlkreise wurde Erxleben mit 77 Stimmen gegen Struckmann, welcher 69 Stimmen erhielt, zum Mitgliede des Hauses der Abgeordneten gewählt.
ntlicher
Anzeiger.
2+
Konkurse, Subhastationen, Auf Vporladungen u. dergl.
“ 1. 114“X“ [530] Konkurs⸗Eröffnung. 88 Ueber das Vermögen des Kaufmanns Joachim Nicolaus Heinrich Pechascheck, Inhabers der Firma Heinrich Pechascheck zu Potsdam, ist am 17. Februar 1870, Vormittags 11 Uhr, der kaufmännische Konkurs eröffnet und der Tag der Zahlungseinstellung auf den 15. Januar 1870 festgesetzt.
Zum einstweiligen Verwalter der Masse ist der Kaufmann Theodor Conradi jun. hierselbst, Waisenstr. 53 wohnhaft, bestellt.
Die Glaäͤubiger des Gemeinschuldners werden aufgefordert, in
dem au 8 den 1. März 1870, Vormittags 11 Uhr,
Kommissar,
in unserm Gerichtslokal, Terminszimmer Nr. 1, vor errn Kreisgerichts⸗Rath Scharnweber, anberaumten Termine ihre Er⸗
lärungen und Vorschläge über die Beibehaltung dieses Verwalters oder die Bestellung eines anderen einstweiligen Verwalters ab ugeben. Allen, welche von dem Gemeinschuldner etwas an Geld, Papieren oder anderen Sachen in 5 oder Gewahrsam haben, oder welche ihm etwas verschulden, wird aufgegeben, Nichts an denselben zu verabfolgen oder zu zahlen, vielmehr von dem Besitz der Gegenstände bis zum 17. März 1870 einschließlich dem Gericht oder dem Verwalter der Masse Anzeige zu machen und Alles, mit Vorbehalt ihrer etwanigen Rechte, ebendahin zur Konkursmasse abzuliefern. Pfandinhaber und andere mit denselben gleichberechtigte Gläubiger des Gemeinschuldners haben von den in ihrem Besitz befindlichen Pfandstücken nur Anzeige zu machen.
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