b Amtsrichter Trautwetter in Lengsfeld, ein Danktelegramm für die von ihm im Namen des dortigen konservativen Vereins an ihn gerichtete Begrüßung gerichtet. Weiter habe der Ober⸗Kirchenrath den Geistlichen die Theilnahme an dem jetzt so leidenschaftlichen Parteistreit widerrathen. Er wisse nicht, wie diese Aufforderung sich vertrage mit der Agitation des Abg. Stöcker. Der Wahlaufruf für den Grafen von Bismarck trage nicht weniger als 23 Unter⸗ schristen von Geistlichen. In seinem Wahlkreise hätten mehrere Pfarrer in den öffentlichen Versammlungen die heftigsten Reden gegen ihn gehalten. Ihn ließen ja solche Dinge kalt, er sei etwas hart gesotten, aber nicht seine Mit⸗ bürger. Was solle man aber dazu sagen, wenn ein Herr Pastor Götz sich noch dessen gerühmt habe, daß er nach der Religionsstunde den Schülern die gegen sich gehaltenen Wahl⸗ reden, die Proklamation, die damit geschlossen habe, daß sich der Himmel darüber freuen würde, wenn Herr von Putt⸗ kamer ihn besiegen würde, gegeben habe. Was die Beamten betreffe, so habe ein seinem Wahlkreise Keiner für ihn agitirt, während die Versammlungen der Konser⸗ vativen vom Oberpräsidenten, Regierungs⸗Räthen ec. besucht und sogar von einem Regierungs⸗Rath geleitet seien. Im Wahlkreise Randow⸗Greifenhagen habe der Land⸗ 8 des Randower Wahlkreises, Herr von Manteuffel, obgleich derselbe nicht Wähler des Kreises sei, einen Wahlaufruf für den Gegenkandidaten des Herrn von Arnim erlassen. Auch im Kreise Flatow habe sich der Landrath zu einer solchen Agitation herbeigelassen. Er wolle nun noch darauf hin⸗ weisen, daß man ja in Preußen eine Zeit erlebt habe — nicht die des Konflikts, sondern früher — in der eine Wahlagitation in Scene gesetzt sei, die ein trauriges Dokument der preußischen Geschichte sei. Darüber habe man ein Urtheil von dem Prinz⸗ Gemahl der Königin von England. (Redner verlas einen Brief desselben, in dem die Wahlumtriebe unter dem Ministerium Manteuffel scharf getadelt werden.) Sorge man dafür, daß so trübe Zeiten sich nicht wiederholten. Die Bedeutung der letzten Wahlen liege darin, daß trotz des blendenden Glanzes des Namens des Fürsten Bismarck, der Volkswille durch alle diese Agitationen sich Bahn gebrochen habe und zum unverfälschten Ausdruck gebracht sei, daß derselbe sich nicht mehr am Gängelbande führen lassen werde. Der Reichstag habe die Verpflichtung, der Reichsregierung die nothwendigen Schritte vorzuschlagen, damit jeder Wähler ohne Unterschied des Standes und Vermögens seine Meinung bei den Wahlen unverfälscht zum Ausdruck bringen könne. Er hoffe, daß auch die Herren auf der Rechten sich dieser Forderung nicht entziehen würden.
Hierauf ergriff der Kommissar des Bundesraths, Staats⸗ Minister von Puttkamer das Wort:
Meine Herren! Als ich den zur Diskussion stehenden Antrag zum ersten Male las, fragte ich mich: welches kann füglich die Absicht sein, welche die Herren Antragsteller mit ihm verbinden? Ich glaubte, es handele sich um eine Angelegenheit, bei der Regierung und Reichs⸗ tag ein gleichmäßiges Interesse hätten, nämlich um die Beseitigung gewisser technischer und geschäftlicher Mängel des Wahlverfahrens, Mängel, welche bei der Prüfung der Wahlen sich ergeben haben könnten, und in denen man durch zweckmäßige Bestimmungen für die Zukunft Abhülfe zu schaffen gedachte. Selbst bei dieser Auffassung des Antrags sagte ich mir aber von vornherein: er ist entschieden verfrüht; und zu meiner Genugthuung hat der * Abg. Frei⸗ herr v. Heereman diesen selben Gesichtspunkt aufgestellt. Meiner Auffassung nach war zwar der gegenwärtig zur Berathung stehende analoge Antrag, welchen der Hr. Abg. Mendel am Schlusse der verwichenen Legislaturperiode stellte, ganz korrekt, indem er näm⸗ lich das vorhandene Bild, welches aus den abeeschlosse⸗ nen Wahlprüfungen vorlag, zusammenfaßte und daran An⸗ träge auf Abhülfe und Verbesserung knüpfte. Aber jetzt am Eingang des Legislaturperiode, wo noch kaum einige wenige Berichte der Wahlprüfungs⸗Kommission im Hause dis⸗ kutirt worden sind, einige andere wenige vorliegen, man also noch absolut keinen Blick darüber hat, um was es sich handelt, schien mir der erneute Antrag verfrüht. Nun habe ich aber aus der Diskussion und namentlich aus der letztgehörten Rede die Ueberzeugung geschöpft, daß diese Seite der Sache völlig nebensächlich war.
Es handelt sich nicht um die Abhülfe gewisser technischer Mängel, sondern es handelt sich um einen wohl vorbereiteten, konzentrirten Angriff gegen die preußische Staatsregierung, und wie ich wohl hin⸗ zufügen darf, gegen meine geringe Person.
Nun hat der Hr. Abg. Rickert ein Wort gesagt, mit dem ich vollkommen übereinstimme, nämlich: wir werden uns über diese Dinge mit dem Herrn Minister im Abgeordnetenhause des preußischen Staats näher unterhalten, da wird er uns Rechenschaft geben müssen. Ja, meine Herren, das ist vollkommen richtig, darauf bin ich vorbereitet und freue mich darauf, dann mit dem Hrn. Abg. Rickert alles das zu diskutiren, was er gegen mich vorgebracht hat. Wir wer⸗ den bei dieser Gelegenheit dann auch in eine Untersuchung darüber einzutreten haben, ob diejenige Partei und die ihr benachbarte, welche der Herr Redner vertrat, so sehr dazu legitimirt ist, sich zum Richter über politische Moral aufzuwerfen. Nach all dem, meine Herren, werde ich heute aus der großen Reihe von Material, das ich vor mir habe, Ihnen nur weniges vorführen. Ich muß mich wahr⸗ lich wundern, daß jedesmal, wenn der Hr. Ag. Rickert mir die Ehre anthut, mit mir zu diskutiren, er das immer in einem überaus ge⸗ reizten und —22 Ton thut. (Widerspruch links.)
„Meine Herren! War der Ton nicht etwa nervös? (Rufe links: Nein! durchaus nicht!) Ja, wenn dies nicht der Fall ist, meine erren, dann bin ich allerdings der denkbar schlechteste Psychologe. 8 glaube, die Bemerkung nicht unterdrücken zu können, daß der r. Abg. Rickert im brenn sceen Abgeordnetenhause einige Male mit mir nicht ganz glückliche vschäne gemacht hat, und das ist vielleicht der Grund, daß ich bei dieser Gelegenheit von ihm angegriffen werde. ch betone es also nochmals, der Herr Abgeordnete wird mich im bgeordnetenhause des preußischen Staates, wo ich meine politische Verantwortung zu vertreten und einzusetzen habe, völlig bereit finden, mit ihm über Dasjenige, was ich heute von dem mir zu Gebote tehenden Material nicht weiter verfolge zu sprechen. Indeß kann ich unmöglich nach einer so gereizten Rede das Haus unter dem Eindrucke lassen, als wenn ich meinerscits nichts dagegen anzuführen hätte. Ich muß also aus dem Material, das ich besitze, doch einige Momente zur Klarstellung der Situation anzuführen mir erlauben, und da will ich vorweg zunächst auf die Vorwürfe kommen, welche der Hr. Abg. Rickert glaubt gegen die Redaktion der „Provinzial⸗Correspondenz richten“ zu können. Ich bin vollkommen von der Pflicht durchdrungen im — und Ganzen, ser jeden Ausdruck kann man mich nicht verantwortlich machen die Haltung der „Provinzial⸗Correspondenz“ zu vertreten, und werde es auch thun. Ich glaube aber denn doch, daß bei dieser Seite der Sache die Schärfe der Angriffe, welchen die preußische Re⸗ gierung während des Wahlkampfes ausgesetzt war, nicht unerwogen leiben sollen. Ja, es wird sich also blos um die Frage der Priorität handeln, wer angefangen hat.
Meine Herren, wollen Sie auf diesen Gesichtspunkt die Debatte stellen, so diskutiren wir doch ii der That nur über Kleinig⸗ keiten. Der Hr. Abg. Rickert aber glaubte den sittlichen Pathos für seine Partei völlig monopolisiren zu können.
Nun werde ich die Herren also bitten — ich wiederhole, ich könnte —, über dieses Thema reden, ich will aber nur einige ganz rappante Thatsachen anführen — ich werde Sie also bitten, mir ge⸗ neigtest Gehoͤr zu schenken bei der Darlegung einiger weniger besonders frappanter Fölle, in welchen sich die mündlich d sch llich gegen
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1 8 8. 8*
die Regierung gerichtete grenzen⸗ und schrankenlose Agitation so recht abspiegelt. Ich bedauere, dazu gezwungen zu sein, aber die Pflicht der Vertheidigung legt es mir auf und ich bedauere, daß ich mich dabei gegen ein Mitglied des Hauses richten muß, von dem ich an sich per⸗ sönlich die größte Hochachtung habe, nämlich gegen den Hrn. Abg. Dr. Mommsen, der ja bekanntlich jetzt wieder im Reichstag sitze. Hr. Dr. Mommsen hat nämlich für gut befunden, in einer Wahlversammlung, welche in Charlottenburg abgehalten wurde, fol⸗ gende Kritik der Politik der Regierung seinen Hörern vorzuführen und dabei kann ich gleich einschalten, daß das, worüber der Reichskanzler sich beklagt, daß ihm nämlich mit so überaus heftiger Animosität ent⸗ gegengetreten werde, auch hier in ganz besonders hohem, fast uner⸗ träglichem Maße zutrifft. (Rufe links: Wann war die Versammlung ?) Ich höre eben das Wort „wann“. Das ist geschehen im September dieses Jahres, da heißt es folgendermaßen:
Die Wirthschastspolitik der neuen Propheten — damit ist natürlich die Regierung gemeint —
nimmt wie alle zweifelhaften Gestalten zwar ein sauberes Mäntelchen
um, und nennt sich „Schutz der nationalen Arbeit“. In der That ist es
gemeinste Interessenpolitik — eine Interessenpolitik, die um so nichts⸗
würdiger ist, weil die Interessen mit einander eine Koalition schließen,
um diejenigen auszubeuten, die 1 ihr nicht anschließen können oder
nicht anschließen wollen. Es ist ferner nicht blos eine Politik der
gemeinsten Interessen, sondern — warum soll ich es nicht sagen?
— eine Politik des Schwindels. (Sehr richtig! links.)
Ja, meine Herren, daß Sie auf jener Seite (links) „sehr richtig“ gesagt haben, finde ich sehr begreiflich, aber ich glaube doch, daß, wenn es sich hier um die Kritik einer Politik handelt, in welcher die über⸗ wiegende Majorität der Nationalvertretung sich mit den verbündeten Regierungen zusammengefunden hat, dann war es mehr wie kühn — ich will nicht weiter gehen — von dem Hrn. Abg. Mommsen, sich diese Kritik zu erlauben. Der geehrte Herr ist überhaupt sehr geneigt, im Lapidarstyl, wenn es sich um politische Dinge handelt, zu sprechen, und er hat see Vorbilder wohl aus dem klassischen Alterthum ent⸗ nommen, aber das muß ich doch sagen, wenn ich mir den Ton ver⸗ gegenwärtige, in dem diese Rede gehalten ist, dann erinnert sie mich mehr an Cleon als an Pericles. 8
Ich führe dieses nur an, um zu beweisen, wie ungemein schwer es den Regierungsorganen gemacht wird, solchen Angriffen gegenüber kaltes Blut zu bewahren, und dann wundern Sie sich, wenn wir der⸗ artigen Dingen gegenüberstehen, daß, wenn auf uns geschossen wird, wir wieder schießen.
Wir benutzen all' die Waffen, die uns das Gesetz und die Ver⸗ fassung in die Hand legen, um uns gegen solche Angriffe zu wehren.
Das war eine mündliche Aeußerung der Partei, nun komme ich aber auf eine schriftliche Manifestation, — ich wiederhole immer, meine Herren, das sind alles nur kärgliche Blumenlesen aus dem, was ich hier in großen aufgeschichteten Massen vor mir liegen habe, — aus dem Wahlkreis Hanau⸗Gelnhausen, der einzige Wahlkreis des Deutschen Reiches, in dem offiziell, d. h. urkundlich, also nicht blos auf Hörensagen hin, ein Wahlkompromiß zwischen der Fortchhh und der Sozialdemokratie geschlossen worden ist. Da handelte es sich um die engere Wahl zwischen einem Konserva⸗ tiven, der allerdings nebenbei noch das Unglück hatte, etwas christlich angehaucht zu sein, was in den Augen gewisser Parteien jetzt schon als ein Verbrechen angesehen wird, — um die engere Wahl zwischen einem konservativen Kandidaten und einem Sozialdemokraten, und da haben die Herren von der Fortschrittspartei ganz schlank etwa Folgen⸗ des erklärt — ich kann natürlich nicht den ganzen Wahlaufruf ver⸗ lesen, sondern nur den kritischen Theil — es wird also den Gesin⸗ nungsgenossen in Stadt und Land Folgendes vorgehalten:
Sehnt Ihr Euch vielleicht wieder zurück in jene Zeit der Frohnden und Zehnten, in jene Zeit der Leibeigenschaft und Hörigkeit, in der Hörigkeit, in der Bürger und Bauern von übermüthigen Junkern und unduldsamen Pfaffen gedrückt und ausgesogen wurden, dann wählet konservativ!
Wenn Ihr⸗ wollt, daß den Bürgern und Bauern die Freiheiten und Rechte wieder genommen werden, für deren Erlangung unsere Väter so schwer geduldet, gelitten, so muthig und treu gekämpft haben, dann wählt konservativ! 1 8⸗
Und dann heißt es am Schluß, bei solcher Sachlage kann natürlich für uns kein Zweifel sein, der Sozialdemokrat ist das kleinere Uebel. Deshalb fordern wir alle unsere Gesinnungsgenosse in Stadt und Land auf, den zu wählen. .
Meine Herren! Wenn man so etwas lesen muß, daß einem monarchischen Konservativen gegenüber, er mag ja sonst seine Mängel haben, welche er wolle, der Sozialdemokrat das kleinere Uebel ist, und zwar in solcher Sprache, die, glaube ich, an demagogischer Färbung nichts mehr zu wünschen übrig läßt, dann sage ich wieder, die Regie⸗ rung muß ihre Waffen so entschieden und energisch gebrauchen, wie irgend möglich, um sich gegen solche Angriffe zu vertheidigen. — Die Partei schlägt man, die Regierung meint man!
Nun komme ich aber auf den Gesichtspunkt trl den der Hr. Abg. Rickert ganz korrekt meiner Meinung nach hier zu Anfang aus⸗ sprach, ich werde verpflichtet und berechtigt sein, über alle diese Dinge im preußischen Abgeordnetenhaus mich noch näher aussprechen. Sie werden mich dazu vollkommen bereit finden.
Ich will zum Schluß — denn ich höre, es werden noch eine An⸗ zahl von Herren zum Worte kommen wollen, und ich möchte denselben nicht allzusehr die Zeit verschränken — ich will zum Schluß noch an⸗ führen, daß, wenn der Herr Abgeordnete im voraus ankündigte, es würde hier ein Fall aus dem Wahlkreise Lauenburg mit besonderem Nachdruck betont werden, so ist mir diese Angelegenheit sehr wohl bekannt, und ich bin der Mnaecs⸗ daß sie mit den Wahlen absolut nichts zu thun habe. Es handelt sich da um dienstliche Vorwürfe gegen einen Staatsbeamten, die genau untersucht werden, und nach deren Ausfall das Nöthige geschehen wird. Etwas Weiteres bin ich in diesem Augenblick zu sagen nicht berechtigt, denn ich verurtheile E“ eher, als ich von seiner Schuld ganz klar über⸗ zeugt bin.
Aber nun noch ein Wort, meine Herren, die Regierung Sr. Majestät des Königs von Preußen ist keine Parteiregierung, sie kann sich mit keiner Partei identifiziren, sie kann sich auf keine Partei aus⸗ schließlich stützen und kann auch nicht ausschließlich die Politik einer bestimmten Partei treiben. Sie stützt sich auf ihre Pflicht, für das allgemeine Wohl zu sorgen, von diesem Gesichtspunkt die Vorlagen hs die Landesvertretung zu machen und zu erwarten, wie diese Vor⸗ agen werden von der Vertretung aufgenommen werden. Die Re⸗ gierung ist daher bei den Wahlen in einer sehr — wie soll ich sagen — sebr hülflosen Lage, denn sie hat keine direkten Organe, durch welche sie auf die öffentliche Meinung einwirken, dieselbe aufklären kann, und die Presse ist ja bekanntlich zu sieben Achtel in den Händen der Oppositionsparteien. Also muß die Regierung erwarten, daß diejenigen Beamten, in deren Händen wesentlich die politische Vertretung der Staatsgewalt liegt, wenn und insoweit sie überhaupt ihre Rechte als Wähler und Staatsbürger ausüben, die Regierung unterstützen. Sie erwartet das ganz zuversichtlich von den Beamten, und davon ist sehr wohl zu unterscheiden die unerlaubte Wahlbeein⸗ flussung, die die Regierung ebenso wenig wünscht wie Sie, d. h. eine Wahlbeeinflussung, die sich darin dokumentirt, daß das unmittelbare Gewicht des Amtes mit in den Wahlkampf hineingeführt wird; davon wird natürlich keine Rede sein. Aber, meine Herren, das wiederhole ich jedoch mit großer Bestimmtheit, und damit will ich 18: die Regierung wümscht, daß innerhalb der Schranken des Gesetzes ihre Beamten sie bei der hl nachdrücklich unterstützen und ich kann hinzufügen, daß diejenigen Beamten, welche das in treuer Hingebung bei den letzten Wahlen gethan haben, des Dankes und der Anerken⸗ nung der Regierung sicher sind, und, meine Herren, was mehr werth ist, daß sie auch des Dankes ihres Kaiserlichen Herrn sicher sind.
Der Abg. von 2—* erklärte, er habe geglaubt, daß dieser Antrag der erste Schritt zu einer Aenderung und Ver⸗ besserung des Wahlverfahrens sein solle. Aber weder von dem Abg. Payer, noch von dem Abg. Rickert sei ein Punkt berührt
worden, der auf eine derartige Reform bezöge. Zur Be⸗
gründung des Antrags sei gar nichts herbeigebracht, er habe nur Angriffe auf die amtliche Presse und Klagen über amtliche Wahlbeeinflussungen gehört, ein Gebitt, auf welches er den Herren nicht folgen werde. Denn die Beschuldigungen, welche der Abg. Rickert gegen die Regierung und Beamten erhoben, habe schon jetzt eine genügende Beantwortung durch den Staats⸗Minister von Puttkamer erfahren. Es sei eigenthümlich, daß die Herren auf der Linken, die immer auf das Wohl des Volkes und die Abstellung von Uebelständen bedacht sein wollten, auch mit diesem Antrag wieder bewiesen, daß es ihnen nur um Inter⸗ essen der Partei und Parteipolitik zu thun sei. Denn der⸗ selbe berühre die Schäden, die dem jetzigen Wahlverfahren anhafteten, nicht. Vor Allem sei die Führung der Wähler⸗ listen eine äußerst mangelhafte. (Redner führte zum Beweise dieser Behauptung mehrere Beispiele an, die in früheren Reichstagssessionen zur Sprache gekommen seien.) Eine Remedur in dieser Beziehung zu treffen möge schwierig sein, besonders in den ländlichen Wahlbezirken, aber sie sei dringend nöthig und ebenso eine Vereinfachung der Geschäfte der in Wahlsachen unerfahrenen ländlichen Behörden. Ein zweiter Uebelstand bestehe darin, daß die Wahlvorstände oft nicht ordnungsmäßig gebildet worden seien und die Mitglieder des⸗ selben das Wahllokal während des Wahlgeschäfts selbst ver⸗ lassen hätten. Auch hier könne eine Besserung leicht erzielt werden, wenn man von der Bestimmung lasse, derzufolge die Wahlen innerhalb der Zeit von 10 bis 6 Uhr stattzufinden hätten. Für die Stimmabgabe genügten ein bis zwei Stunden und eine solche kürzere Wahlzeit würde auch den ländlichen Verhältnissen vollkommen entsprechen. Bei der Bestimmung des Wahltermins hätte mehr, als das dieses Mal geschehen, auf den Umzugstermin Rücksicht genommen werden sollen. Der Forderung, daß bei den Wahlen auf die Geheimhaltung und Unabhängigkeit Rücksicht genommen werden müsse, stimme auch er bei. Ob sich die Abgabe couvertirter Stimmzettel in dieser Richtung empfehle, erscheine ihm zweifelhaft. Gegen Wahlbeeinflussungen von Seiten der Beamten sei auch er. Nur sollte man nicht jede Thätigkeit eines Beamten als eine Wahlagitation ansehen. Uebrigens habe sich der Einfluß der Beamten auch zu Gunsten Liberaler geltend gemacht. Für die Wahl des Abg. Rickert seien z. B. auch zwei Marine⸗Ingenieure thätig gewesen. Die Ver⸗ weisung des Antrages an eine Kommission werde nicht viel Nutzen bringen, da auch die Antragsteller keine Materialien beigebracht hätten. Hülfe habe man in dieser Angelegenheit eher von der Regierung zu erwarten.
„Demnächst nahm der Staats⸗Minister von Boetticher wie folgt das Wort. (Wir werden die Rede morgen im Wort⸗ laut bringen.)
Ein Antrag auf Vertagung wurde angenommen.
Persönlich bemerkte der Abg. Rickert: Der Minister des Innern habe geglaubt, ihn dadurch widerlegen zu können, daß er gesagt habe, er hätte in nervösem und gereiztem Tone ge⸗ sprochen. Er hätte gewünscht, der Minister hätte seine Gründe widerlegt, davon habe er aber leider nichts bemerkt. Weiter habe der Minister bemerkt, jeine (des Redners) Ausführungen seien wohl darauf zurückzuführen, daß er im Abgeordneten⸗ hause einige nicht ganz glückliche Geschäfte mit dem Minister gemacht habe. Er habe mit dem Minister überhaupt keine Geschäfte gemacht. Er erinnere sich nur eines Falles, wo der⸗ selbe gesagt habe, was der Abg. Rickert gesagt habe, sei ihm ganz gleichgültig, und gleich darauf sei ein von ihm vertretener Antrag mit einer Stimme Majorität gegen den Minister von Puttkamer angenommen worden. Der Staatssekretär von Boetticher habe ihn mißverstanden. Er habe seine Sta⸗ tistik nicht als amtliche hingestellt; er habe nur gesagt, die Statistik des Reichskanzlers sei keine unantastbare und die Rede des Staatssekretärs habe dies lediglich bestätigt.
Es entspann sich nunmehr eine nahezu einstündige Ge⸗ schäftsordnungsdebatte über die Frage, ob in der nächsten (vom Präsidenten für Freitag in Aussicht genommenen) Sitzung zuerst der Etat erledigt und dann die abgebrochene Berathung fortgesetzt werden solle oder umgekehrt. Die Abgg. Freiherr von Minnigerode und Freiherr von Maltzahn⸗Gültz hielten die Etatsberathung für dringender.
Der Abg. Richter (Hagen) erklärte, wenn der Reichstag blos eine Geldbewilligungsmaschine sei, so möge der Etat wohl das Wichtigste sein; aber die Debatte habe heute eine so unerwartete Wendung erhalten, daß der Reichstag dazu Stellung nehmen müsse. Die Erklärung des Ministers von Puttkamer degradire die Beamten zu Wahlagenten des je⸗ weiligen Ministers. Es stehe die Wahlfreiheit in Frage, und auf der Wahlfreiheit beruhe das Ansehen des Reichtags, des⸗ halb müsse der Reichstag dieselbe schützen. 1
Der Abg. Dr. Lasker hielt es ebenfalls für nothwendig, daß der Reichstag nicht eher in die Ferien gehe, als bis er über die Erklärung des Ministers ein Urtheil gefällt habe; licher könne man noch in der nächsten Woche eine Sitzung alten.
Der Abg. Schröder (Lippstadt) protestirte dagegen, daß der Reichstag noch in der Weihnachtswoche sitzen solle, man sei doch nicht blos Reichstagsabgeordneter, sondern auch Mensch; überhaupt habe sich herausgestellt, daß die ganze Debatte verfrüht sei, man solle deshalb nur den Etat zuerst erledigen. 1
Der Abg. Dr. Windthorst hielt es ebenfalls für wichtig, die Wahlfreiheit zu wahren; der Etat sei aber nicht minder wichtig. Er möchte deshalb vorschlagen, die abgebrochene De⸗ batte heute Abend zu beendigen. 8
egen diesen Vorschlag, den sich der Präsident von Le⸗ vetzow aneignete, erhob sich auf der linken Seite des Hauses ein lebhaster Widerspruch; nach einer so langen Tagesordnung bedeute eine Abendsitzung ein Todtmachen der Sache. Da die Abstimmung durch Aufstehen und Sitzenbleiben wweifelhaft blieb, so wurde zur Zählung geschritten, welche ergab, daß 136 Abgeordnete für und 134 Abgeordnete gegen eine Abend⸗ sätung stimmten. Die abgebrochene Debatte wird also heute Abend fortgesetzt werden. Hierauf vertagte sich das Haus um 4 ¾ Uhr auf Abends 8 Uhr.
— In der gestrigen Feenssigang des Reichs⸗ tags, welcher die Staats⸗Minister von Puttkamer und von Boettscher, sowie mehrere Bevollmächtigte zum Zundesrath und Kommissarien desselben beiwohnten, setzte das Haus die heute abgebrochene Berathung des Antragen, der Abgg. Dr. Hänel und Gen. fort. Der Abg. von Komierowski brachte die in den Wahlkreisen mit vorwiegeny, polnischer Be⸗ völkerung zu Tage getretenen Unregelmäßigke iten zur Sprache, deren Tendenz dahin gehe, das versassungs mäßige Wahlrecht
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seiner Landsleute illusorisch zu machen. Dem Antrage der 1 11 2 16
Wort:
8 sie in der That nicht genau gehört haben
hitch darauf wenig Werth lege, wer
8 das Maß der Bitterkeit in der Polemik.
FFtene L-.;2ö wesentlich wirthschaftlicher Natur; sie erklärt:
wir wünschen ein Festhalten an der vom
von
geeignet sei, diesen Uebelständen ein Ende zu machen, stimme er bei.
Der Abg. Frhr. von Wöllwarth⸗Lauterburg bemerkte, seine Fraktion stehe dem Antrage kalt gegenüber, da derselbe nur dazu diene, von Neuem all die Unruhe des Wahlkampfes in die Weihnachtszeit zu tragen und das Volk wieder aufzuregen. Die Regierung habe völlig Recht daran gethan, sich gegen die schmach⸗ vollen Angriffe, die sie zu erleiden gehabt, in energischer Weise zu wehren. Es mache einen tieftraurigen Eindruck auf die national gesinnten Männer dieses Hauses, so heftige Angriffe gegen den Stifter der deutschen Einheit erhoben zu sehen, wie dies Seitens der Abgg. Rickert und Richter geschehe. Unter diesen Umständen sei es wahrhaftig keine Ehre, Mitglied des Deutschen Reichstages zu sein.
Der Abg. von Bennigsen erklärte, er werde für den An⸗ trag stimmen. Keine Wahlen in früherer Zeit seien so un⸗ ruhig verlaufen, wie die letzten. Die Einführung des all⸗ gemeinen Wahlrechts fei ja ein großes Wagniß gewesen; ein noch größeres sei aber dessen Abschaffung. Wenn es indessen nicht gelinge, künftig eine größere Mäßigung zu erzielen, dann müsse er mit Sorge in die Zukunft blicken. Man habe sich dazu hinreißen lassen, die Gegner persönlich zu verunglimpfen. Die Fortsetzung solcher Kämpfe sei gerade bei dem deutschen Volkscharakter besonders gefährlich. Wenn demnach die Parteien eine so große Verantwortlichkeit treffe, so sei doch die der Regierung noch größer, und er behaupte, wenn die Regierungsorgane weniger heftig agirt hätten, so wäre auch der Ton der Parteien ein mäßigerer gewesen. Die Pläne und Ideen des Kanzlers hätten sich wohl auch ohne solche Mittel durchsetzen lassen. Der Ausfall der Wahlen sei wohl von Niemand vorausgesehen. Gerade die Taktik der Regierungspresse habe nicht wenig dazu beigetragen, von Tag zu Tag einen größeren Gegensatz gegen die Regie⸗ rung zu erzeugen. Der Minister sei bei seiner heutigen Rede in der Auswahl feiner Argumente nicht sehr glücklich gewesen. Keineswegs würden dieselben doch das Vorgehen rechtfertigen können, ganze liberale Parteien des Landes in dieser heftigen Weise zu befehden. Auch er halte es für ein Recht der Regie⸗ rung, ihre Ideen in der Oeffentlichkeit zu vertreten, aber in der gehörigen Form. Sie solle die Gegensätze mildern, nicht sie schärfen. Was ihn aber bewogen habe, zu sprechen, seien die letzten Sätze in der Rede des Ministers. Man könne aller⸗ dings dem Minister des Innern nicht die Möglichkeit ver⸗ schränken, seine ihm nachgesetzten Beamten zu hindern, in politisch tendenziöser Weise zu wirken. Der Minister sei aber weiter gegangen; der Kern der Ausführungen des Ministers erinnere zu lebhaft an das französische System. Und dieses auf deutschen Boden zu verpflanzen, davor möchte er warnen. Aber auch die Person des Kaisers habe der Minister mit seinen Aeußerungen verflochten. Er bedauere es auf das Leb⸗ hafteste, daß ein preußischer Minister es gewagt habe, den Schild der Person des Monarchen für sich in Anspruch zu nehmen und ein angegriffenes Regierungssystem, anstatt die⸗ selbe lieber, soweit es in seinen Kräften stehe, zu schützen. Er lege Namens vieler Personen auch außerhalb dieses Hauses
egen ein solches, völlig neues Verfahren Verwahrung ein. Hierauf ergriff der Staats⸗Minister von Puttkamer das
Meine Herren, wenn ich Grund hätte, die Schlußsätze meiner Rede vom heutigen Vormittag zu modifiziren, so würde ich das un⸗ bedenklich — ich hätte mich ja möglicherweise übereilt haben können — mit derjenigen Offenheit und Loyalität jetzt thun, die, wie ich glaube, die Herren, welche mich länger kennen, an mir gewohnt sind. Ich habe die Worte, welche zu den Schlußäußerungen des Hrn. Abg. v. Bennigsen Anlaß gaben, noch einmal nach dem völlig unper⸗ änderten Stenogramm durchgelesen und muß darnach pflichtmäßig erklären, daß ich nichts daran zurückzunehmen habe. 1“
Was den be Satz betrifft, den ich geäußert habe, so beschränke ich mich darauf, hier zu erklären, daß ich gam genau weiß, wie weit ich in dieser Beziehung gehen darf, und daß ich ebenso genau weiß, nicht zu weit gegangen zu sein. Wenn der Hr. Abg. v. Bennigsen
iesen meinen Schlußsatz mit den schon öfter gehörten Argumenten bekämpfen zu können geglaubt hat, daß ich damit die Absicht verbunden hätte, ein Seea h. Regierungssystem mit der Person des Monarchen zu decken, so weise ich das mit vollster Entschiedenheit zurück. Ich habe eine einfache Thatsache erklärt, und diese Thatsache nehme ich nicht zurück.
Nun aber glaube ich doch, daß der Hr. Abg. von Bennigsen auch Veranlassung gehfant hütten sic etwas zurückbotender auszudrücken c .— f den übrigen Theil meiner letzten Ausführungen, er mu Heeas an 3 ei dem Febeblisgen Serensc,
as sich im Hause währenddessen verbreitete. will sie deshal hier de n, unesen und dabei richtig stellen, was etwa an Miß⸗ erständnissen seitens des Hrn. v. Bennigsen mir gegenüber unter⸗ elaufen da ich habe gesagt: ng. Die Regierung ist bei den Wahlen, wie soll ich sagen? in einer hülflosen Lage, sie hat keine direkte Organisation, durch welche sie auf die öffentliche Meinung einwirken kann, also die Regierung erwartet, daß diejenigen Beamten, in deren Händen wesentlich die politische Vertretung der Staatsgewalt liegt, wenn und insoweit sie überhaupt ihre Rechte als Wähler und Staatsbürger ausüben, die Regierung unterstützen; sie erwartet das ganz zuverlässig von ihren Beamten, und dabei ist sehr wohl zu unterscheiden die unerlaubte Wahlbeeinflussung, die die Regierung ebenso wenig wünscht wie Sie, meine Herren, d. h., eine Wahlbeeinflussung, die sich darin doku⸗ mentirt, daß das unmittelbare Gewicht des Amts mit in den Wahl⸗ kampf hineingeführt wird. Davon wird natürlich keine Rede sein können; aber, meine Herren, das wiederhole ich mit großer Bestimmt⸗ heit und damit will ich schließen, die —— wünscht, daß innerhalb der Schranken des Gesetzes ihre Beamten sie bei der Wahl nachdrücklich unterstützen, und ich kann hinzufügen, daß die⸗ jenigen Beamten, welche dies in treuer Hingebung bei den letzten Wahlen gethan haben, sich die Anerkennung der Regierung sichern, und, meine Herren, was mehr werth ist, daß sie auch des Dankes ihres Kaiserlichen Herrn sicher sind. ⸗ 82 “ 1 Nun, meine Herren, verlangt Hr. v. Bennigsen von mir eine Erläuterung des Sinnes dieser Worte, ich will sie gern geben. 8 Die preußische Staatsregierung — ich weiß nicht, wie es den
3 anderen Bundesregierungen ergangen - im Wahlkampf — die preu⸗
ßische Staatsregierung ist in der That in den letzten Monaten in viellosen Lage gewesen. Ich will hinzufügen, daß E5 ier der Zeit nach 9 wirkliche darauf kommt es nicht an, meiner
einer geradezu
riorität in den Angriffen hat, auf die Schärfe in Ton und Ausdruck, auf einung nach, sondern auf die f aan r Feecin zuf ihres Programms für die Wahlen zum
2 Reichstage beschlossenen Wirthschaftspolitik. Darauf ist die Antwort in einer großen e 1 isen: litik ist eine nichtswürdige Interessenpolitik, ahlkreisen: diese Politik ist e Aeree
Meine Herren! Das nenne ich eben Entstellung der Wahrheit. Dieser Entstellung der Wahrheit entgegenzutreten mit allen gesetzlichen
itteln, ist Recht und Pflicht der Regierung. 8 e 1 heißt es: x Regierung wünscht die Einführung des Tabaksmonopols. Damit sind ja viele Herren nicht einverstanden;
die läuft darauf hinaus, den Armen auszubeuten,
b grundbesitz bevorzugen u. s. w
Ich glaube auch nicht, daß wir in der n chsten Zeit Aussicht haben,
1
es zu I“ Aber es ist doch schließlich eine einfache finanzpoli⸗ tische Maßregel, über die man diskutiren kann. Darauf ist geant⸗ wortet: die Regierung will also Verstaatlichung des ganzen wirth⸗ schaftlichen Lebens. Der Hr. Abg. Richter z. B., — ich glaube, keiner hat auf dem Gebiet so gesündigt, wie er — hat in einer Wahl⸗ versammlung hier in Berlin erklärt: jetzt wird das Tabaksmonopol, diese eine Verstaatlichung, eingeführt, daran wird sich schließen die Verstaatlichung des Getreidehandels, der Müllerei, der Bäckerei und schließlich der gesammten Konsumtion. Meine Herren! Das ist auch so eine Aeußerung, die sich sehr schwer qualifiziren läßt. Ich will hier einen im Hause befindlichen Abgeordneten gegenüber keinen Ausdruck gebrauchen, der mich mit dem Herrn Präsidenten vielleicht in unangenehme Berührung bringen könnte, aber ich sage:
Objektiv betrachtet, ist das eine tendenziöse Entstellung der Wahrheit.
Meine Herren! Das sind so kleine Blumenlesen aus allen den Angriffen, die die Regierung sich hat Monate lang gefallen, über sich ergehen lassen müssen. Nun frage ich, meine Herren, wenn dem so ist und wenn, nicht etwa hier in Berlin allein, wo die geistige Elite der Nation sich über diese Fragen unterhält, sondern wenn dies bis in den kleinsten ländlichen Wahlkreis toto die geschieht, wenn die Re⸗ gierung niemanden hat, der sie direkt vertheidigt, — daß die Parteien es thun, die ihr wohlgesinnt sind, weiß ich wohl, aber sie hat kein direktes Organ — also da sage ich: gegenüber solchen Entstellungen und tendenziösen Verdrehungen des wahren Sachverhaltes in Bezug auf ihre wirkliche Meinung hat die Regierung das Recht, sich an die Beamten zu wenden und deren wirksame Unterstützung zur Abwehr von Verdächtigungen und zur Aufklärung der Wähler in Anspruch zu nehmen.
Meine Herren! Ich habe mich gefreut, daß der Hr. Abg.
v. Bennigsen wenigstens so weit gegangen ist, anzuerkennen, daß es einem Beamten nicht wohl ansteht, direkte tendenziöse Opposition gegen die Regierung zu machen. Er ist aber hierbei stehen geblieben, er hat hier die Grenze gezogen und mit großem Nachdruck betont, ein Weiteres könne die Regierung auch von den in der politischen Verwaltung stehenden Beamten nicht verlangen. Meine Herren! Ich kann diesen Satz nicht unterschreiben. Nein; meiner Ansicht ge⸗ hört es zum Wesen einer monarchischen Staatsordnung, daß das Beamtenthum einen einheitlichen Gesammtorganismus bildet auch in politischen Dingen. Wenn da die Rede ist von Unterstützung eines bestimmten Systems, die Rede von der Unterstützung der jeweiligen Regierung, so antworte ich darauf einfach: die Regierung hat diejenigen Interessen zu vertheidigen, zu deren Vertretung die Krone sie beauftragt, und von diesem Gesichts⸗ punkte bin ich allerdings der Meinung, daß es wohlgethan ist, wenn ein preußischer Beamter die Regierung bei Erläuterung der näheren Entwickelung und Verwirklichung ihres politischen Programms unter⸗ stützt. Ich finde darin keineswegs etwas Auffallendes oder Anstößiges; ich erblicke darin durchaus keine Velleitäten, die Herr von Bennigsen als aus der Bonapartistischen Tradition herrührend glaubte bezeichnen zu können; ich finde darin einfach den Ausdruck des monarchischen Prinzips. p S habe hiernach keinerlei Veranlassung, von dem, was ich heute Vormittag gesagt habe, irgend etwas zu modifiziren. Ich werde er⸗ warten, ob auf diesem selben Gebiet noch weitere Angriffe aus dem Hausa gegen mich gerichtet werden und werde je nach der Wahl ant⸗ worten.
Der Abg. Richter (Hagen) meinte, das Hinein⸗ ziehen des Monarchen in die Debatte sei ein Vor⸗ gang, welcher das Ansehen der Krone schädigen müsse. Wohin würde es führen, wenn die Parteien, dem Beispiele des Ministers folgend, die Person des Monarchen als Schild be⸗ nutzen würden? Zu dem vorliegenden Antrage übergehend, müsse er hervorheben, daß eine schleunige Erledigung dieser Sache im allgemeinen Interesse liege. Sollte dem Centrum viel⸗ leicht weniger daran liegen? Nun, es könne eine Zeit kommen, wo dasselbe nicht als das kleinere Uebel erscheine. Dies habe das Beispiel des Abg. Windthorst in den letzten 14 Tagen gezeigt. Warum solle den Hanauern verboten werden, daß auch sie die Sozialdemokraten für das kleinere Uebel gehalten hätten. Uebrigens sei gerade das Auftreten des Pastor emerit. Dietze in Hanau geeignet gewesen, demagogisch zu wirken. Das Treiben der Hetzpastoren sei viel schlimmer, als die Agitation der Sozialdemokraten. Auch gegen das Vorgehen der „Pro⸗ vinzial⸗Correspondenz“ müsse er sich wenden, welche die öffent⸗ liche Meinung vergifte, und gegen die Wahlagitation der Landräthe, welche Redner durch die Beispiele aus dem Wahlkreise Zauch⸗Belzig und Lauenburg beleuchtete. Cha⸗ rakteristisch für den Wahlkampf sei auch die Entziehung der Lokale. Die Selbständigkeit der Wähler liege sowohl im Interesse der Regierung als auch im Interesse der Parteien. Gleiches Recht müsse für Alle sein, damit das Volk sich ein selbständiges Urtheil über die Regierung bilden könne. Niemand habe etwas dagegen, wenn der Reichskanzler alle Tage Briefe an Versammlungen, Vereine und auch an Stu⸗ denten schreibe, nur solle sich der Minister dann nicht beklagen über die hülflose Regierung und nicht vom Reichskanzler sprechen als von einem Greis, der sich nicht zu helfen wisse. Der Minister habe Vormittag des Falles aus Hanau Erwähnung gethan und habe von der demagogischen Sprache der Fortschrittler Die „Schlesische Zeitung“ habe nun umgekehrt dazu aufgefordert, in Breslau für die Sozialdemokratie zu stimmen, das seien ja ganz harmlose Leute. Den Konserva⸗ tiven solle also erlaubt werden, was man den Fortschrittlern verbieten wolle. Die Agitation für die Liberalen werde untersagt, die für die Konservativen empfohlen. Zu Agi⸗ tationszwecken seien sogar Beamtenoereine egründet worden. Auch an der Spitze der hiesigen konservativen Agitation ständen ebenfalls Lehrer. Diese Erklärungen erschie⸗ nen heute nach den Erklärungen des Ministers nicht mehr als Ausschreitungen, sondern als ein in den Augen der Re⸗ gierung berechtigtes System. Unter diesen Umständen höre jedes selbständige Urtheil und der Parlamentarismus über⸗ haupt auf. Dieses Gebahren des Ministers schade aber auch der Regierung selbst und den Behörden. Diese hätten nicht die Wahlen zu leiten, sondern die Gesetze aus uführen. Fahre man auf diesem Wege fort, so laufe man Ge ahr, daß die Behörden die Gesetze parteiisch ausführen würden. Dies System schade aber vor Allem den Beamten selbst, welche durch Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit zu Bürgern zweiter Klasse degradirt würden. Was sei denn ü erhaupt Regierung? Heute sollten die Beamten für dieses, morgen für jenes System stimmen. Heute Falk, morgen Puttkamer. Eigentlich müßte mit jedem Regierungswechsel eine Entlassung der Beamten eintreten. Wer für Falk tauglich sei, sei es nicht für Putt⸗ kamer. Dies System von Zuckerbrot und Peitsche sei das Gefährlichste, was es gebe, es befördere die Gesinnungslosig⸗ keit, die Mantelträgerei des Beamtenthums. Nach den Erklä⸗ rungen des Ministers sei es nunmehr klar: jede Vermehrung der Beamten bedeute eine Vermehrung der Wahlagitations⸗ mittel der Regierung. Der Dispositionsfonds, die Remunerationen für Beamten, die früher so harmlos betrachtet worden seien, würden jetzt in einem ganz anderen Lichte erscheinen. Wollten die Mitglieder der Rechten Konseroative im enehscen Sinne sein, so müßten auch sie Front machen gegen diese Bestrebun⸗
en. Die Rechte solle sagen, sie sei zu gut, als daß sie solcher Agüationsmittel edüͤrfe. Statt dessen rufe die Rechte dem
gesprochen.
Minister Beifall zu und benutze sogar die Kaiserliche Bot⸗ schaft zur Agitation. Dieses System würde schließlich zur An⸗ fechtung der Grundlagen der deutschen Verfassung, zur Be⸗ kämpfung des Parlamentarismus, zur Aufrichtung des launen⸗ haften Kanzlerdespotismus, zu einer Vergewaltigung des Volks⸗ willens führen.
Der Abg. Stöcker betonte, der Abg. Rickert habe ihm einen Erlaß des Ober⸗Kirchenraths entgegengehalten. Anstatt ihm, dem Redner, einen Rath zu geben, von dem er keinen Gebrauch machen könne, hätte sich derfelbe an den dem Abg⸗ Rickert politisch fo nahe stehenden Prediger Neßler wenden sollen. Die Bezugnahme Nickerts auf obrigkeitliche Erlasse nähmen sich gegenüber seinen sonstigen Angriffen gegen die Behörden sehr sonderbar aus. Die Waffen der Negierungen müßten sich völlig nach den Angriffen richten, die Seitens der Parteien gegen sie erhoben würden. Wie könne man also in dieser Beziehung Vorwürse laut werden laffen? Der Abg. Richter habe zwar in einer seiner Reden behauptet, er (der Abg. Richter) verachte schlechte Juden ebenso wie schlechte Christen. Er (Redner) fordere ihn aber hiermit öffentlich auf, einmal eine Rede gegen schlechte Juden zu halten. Wie seien die evangelischen Pastoren Seitens der linken Seite dieses Hauses gekennzeichnet worden? Man habe sich nicht gescheut, sie als Erbschleicher zu bezeichnen. Er verlange vom Abg. Richter, der diesen schweren Vorwurf erhoben, den Beweis dafür: sonst werde dies ein Beispiel für die maßlose Agitation bleiben, die man dort getrieben. Man werfe ihm — dem Redner — Maßlosigkeit vor. Dieser Vorwurf gründe sich nur auf die falschen Berichte einer schlechten Presse. Gerade sein maßvolles Auftreten habe ihm die Stimmen vieler Tau⸗ sender bisheriger Gegner verschaft. Als er s. Z. in Berlin zuerst aufgetreten sei, habe er Hunderttausende in unbeschreiblicher materieller und geistiger Noth gefunden. Diese habe es da⸗ mals gegolten zu erretten und er sei stolz darauf, daß ihm ein gut Theil dieser Aufgabe gelungen sei. Wenn die ma⸗ teriellen Umstände sich noch nicht in der wünschenswerthen Weise gebessert hätten, so trügen die liberalen Parteien die Schuld daran, die die Wirthschaftspolitik des Kanzlers in der unerhörtesten Weise verunglimpft und gehemmt hätten. Wenn die Regierung die Frage der Reform des deutschen Wirth⸗ schaftslebens auf ihre Fahne schreibe, so sei es Pflicht sicher⸗ lich auch jedes wahrhaft Liberalen, ihr darin entgegen zu kommen. Die soziale Frage sei eben eine brennende und akute geworden, daß ihre Lösung unternommen werden müsse. Es sei so viel von staatlichen Wahlbeeinflussungen die Rede gewesen, dem ständen aber in hinreichender Anzahl Beeinflussungen Seitens der städtischen Behörden gegenüber. Zudem ergäben die Wahlakten, daß viele Leute, namentlich jüdischer Konfession, gewählt hätten, obwohl sie nicht im Be⸗ sitze des deutschen Indigenats gewesen seien. Man sehe, daß nicht blos die Liberalen Veranlassung hätten, über Wahl⸗- beeinflussungen sich zu beklagen. Leider hätten jetzt noch die gegnerischen Parteien viele Sitze in diesem Hause erlangt. Er sei aber der festen Ueberzeugung, daß die Zeit nicht fern sei, wo vor dem Hauch der jetzt inaugurirten Sozialreform alle Hindernisse verschwinden würden.
Der Abg. Richter (Hagen) bezeichnete die vom Vorredner erwähnten Details über Wahlbeeinflussungen als haltlos und bereits authentisch widerlegt. 1
Um 11 Uhr wurde ein Schlußantrag abgelehnt.
Der Abg. Westphal machte auf die beamtlichen Wahlbe⸗ einflussungen in Lauenburg aufmerksam, welche nicht nur von liberaler, sondern auch von konservativer Seite mißbilligt worden seien. Besonders beklagenswerth sei das Auftreten des Lauenburger Landraths gewesen, der in öffentlichen Ver⸗ sammlungen die Wahl des konservativen Kandidaten empfohlen habe. Redner citirte verschiedene Aeußernngen dieses Land⸗ raths, wobei derselbe durch den Abg. Struve durch den Ruf unterbrochen wurde: „Das hat ein Landrath des Ministers von Puttkamer gesagt.
Hierauf nahm der Staats⸗Minister von Puttkamer wie folgt das Wort: 1 1
Meine Herren! Ich habe schon heute Vormittag erklärt, daß ich die schweren Anklagen gegen den Landrath des Kreises Herzogthum Lauen⸗ burg als zur Erörterung gekommen anerkennen müsse, daß ich aber ohne ganz sorgfältige causae cognitio mich niemals dazu entschließen werde, diesen Landrath zu verurtheilen. Die Ausführungen des Hrn. Vorredners, von denen er jedenfalls die Meinung hat. daß sie nur wirklich die beglaubigten Thatsachen enthalten, muß ich doch in den wesentlichsten Punkten bis zum Beweise des Gegentheils als Be⸗ hauptungen, die beweislos dastehen, bezeichnen. Ich werde dazu umsomehr veranlaßt, als ich von zweien seiner Behauptungen mit Bestimmtheit sagen kann, daß sie unrichtig sind. Zunächst die Ab⸗- grenzung desjenigen Bezirts des Kreises Herzogthum Lauen⸗ burg, welcher in die Maßregel der Verhängung des so⸗ genannten kleinen EE19888 einbezogen ist. Dieser Bezirk umfaßt den südlichen unmittelbar an die Stadt Hamburg angren- zenden Theil des Kreises, und es ist bei der über ihn verfügten Maß- regel selbstverständlich kein anderer Gesichtspunkt maßgebend gewesen als derjenige der nahen Nschbarschaft von Hamburg. Alle die Folge- rungen, welche der Hr. Abg. Westphal aus dieser Thatsache zieher wollte, daß man Hintergedanken dabei habe, die liberale Partei habe maßregeln wollen, weise ich als völlig unbegründet zurück.
Sodann sagte er, daß die landständische Verwaltung des Kreises Herzogthum Lauenburg einer unbilligen Verfolgung und - nschwärzung unterlegen habe, aus der sie glänzend gerechtfertigt bervorgegangen sei- Meine Herren! Ich kann zu meinem Bedauern dies nicht bestätigen. Es ist richtig, daß eine ganze Anzahl von Beschwerdepunkten gegen diese landständische Verwaltung zur Sprache gekommen sind, daß din Königliche Regierung zu Schleswig diesen Beschwerden näher getreter : ist, und die angestellte Untersuchung diese Beschwerden als in hoben a Maße begründet herausgestellt bat. Ich will diesem Inzidenzpunf te an sich kein entscheidendes Gewicht auf die heutige Debatte beileg en, muß aber doch wiederholt betonen, daß ich nicht ohne Weiteres den K.-NR. des Hrn. Abgeordneten Glauben schenken kann. Im Uebrigen werden diese Dinge ja durch die schwebenden gericht! ichen Verhandlungen aufgeklärt werden, und wenn sich, was ich nicht hoffe, eine Schuld des Landvaths herausstellen sollte, dann wird er seiner Rüge nicht entgehen.
Ein Schlußantrag wurde um 11 ½ Uhr abery als ab⸗
elehnt. .
G 82 Abg. Dr. Nommsen bemerkte dem Minister gegenüber, daß er mit dem Ausdruck Interessenkoalition nicht die Koalition mit der Regierurg, sondern die zwischen Kornzoll und Eisen⸗ zoll gemeint hobve. Schließlich wösse er beme rken, daß er (Redner) seit 30 Jahren preußischer Beamter sei. Wenn er jetzt ungern dem Ministerium Opposition mo che so — er dies, weil er glaube, daß der von der Regierur, ingesch agene Weg nicht zum Heile des Volkes führe. Diese Opposition mache er als königstceuer Beamter.
Die Diskussion wurde geschlossen.
Der Abg. Dr. Virwow wandte sich in seinem Schlußwort egen den dbg. Stöcker, dem er peschmacklose Selbstüber⸗ I schaätzung vorwerfen musse. (Der Peasident rügte diesen Aus⸗