1911 / 47 p. 9 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 23 Feb 1911 18:00:01 GMT) scan diff

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Leder war dies nicht der einzige Fall. Es sind auch in anderen Fällen Unschuldige auf Grund des Zeugnisses von Polizisten wegen Keineids verurteilt worden, in Mecklenburg, Magdeburg und aamburg. Die Majestät des Schutzmanns ist ein Unglück für das ericht und für die Angeklagten. Leider ist durch den Entwurf des neuen Strafgesetzbuchs das Wiederaufnahmeverfahren erheblich ver⸗ schlechtert worden, so daß das Wiederaufnahmeverfahren im Essener Prozeß unmöglich gewesen wäre. (Der Redner führt mehrere Fälle an, die ähnlich liegen sollen wie der Essener Fall.) Das Sträuben der Ge⸗ richte gegen das Wiederaufnahmeverfahren läßt sich in solchen Fällen nur aus politischer Abneigung gegen die Sozialdemokraten erklären. Säese rührt davon her, daß eine Anzahl infamer Halunken, von pitzeln, die vom Staate gespeist werden, Behauptungen wie die es früheren Staatsanwalts Romen, die Sozialdemokratie ver⸗ errliche den Meineid, in die Zeitungen bringen, und daß nun die armen Richter fortwährend solche Verhetzungen, namentlich in den konservativen Blättern, lesen. Andere tun solche Aeußerungen, um 8 nach oben bemerkbar zu machen. Die Straftaten der Bonner ttudenten hat der Abg. Varenhorst als unschuldigen Budenzauber und als harmlosen Spaß hingestellt, der in der Betrunken⸗ heit, dem Normalzustande der Studenten, in Szene gesetzt war. 8 kann ihm darauf nur erwidern, er irrt, wenn er uns für so dlutdürstig hält. Wir wollen gar nicht, daß die Studenten drakonisch bestraft werden, wir verlangen nur die. gleiche Milde den Arbeitern gegenüber. Was haben denn die Arbeiter in Moabit d hlimmeres getan als die Studenten in Bonn und auf anderen niversitäten? Die Arbeiter werden in solchen Fällen nicht wegen groben Unfugs angeklagt, sondern wegen Landfriedensbruchs. Gnade wollen wir gar nicht haben, wir wollen nur gleiches Recht für glle den Verteidigern auch nicht ein

Im Moabiter Prozeß ist von

Autra⸗ . ; 95 Di g gestellt, der sachlich ungerechtfertigt gewesen wäre. ie Herren edauern nur, äich nicht das geschehen ist, was den

Wünschen der Konservativen entsprach, nämlich eine Verkehrung der ahrheit in ihr Gegenteil. Der Mord an dem alten Arbeiter Herr⸗ mann schreit nach Sühne. Diejenigen müssen angeklagt werden, die 8 Mord begünstigen, und es begünstigen ihn die, die behaupten, 8a die Polizei in allen Fällen, also auch bei der Verübung dieses Kordes ihre Schuldigkeit getan habe. Warum wird nicht der Polizei⸗ präsident angeklagt, warum nicht der Minister des Innern? Haben Gen diese das Recht des Mordes oder des Schutzes der Mörder? Bleiches Recht für alle. Wenn ein Mordbube sonst einen Mord se so wird schon derjenige, der die Täterschaft verdeckt, zur Rechen⸗ Väst gezogen. Wenn aber die Behörden, die verpflichtet sind, 8 1e ein nachzugehen und Anklage zu erheben, die Mörder noch be⸗ ben, dann ist es gerechtfertigt, zu sagen, warum bringt man diese ““ vfren nicht auf die Anklagebank? Steht es denn so in Preußen, daß der 6 eiwlizeipräfident und die Staatsanwaltschaft nicht in der Lage. sind, nen Mörder zu finden? Wir haben ja in Preußen so häufig darüber

ju agen, daß Mörder und schwere Verbrecher nicht ausfindig gemacht werden; aber hier, wo die Täter so leicht zu finden sind, sollte da Preußen so ohnmächtig sein, den Mörder nicht heraus⸗ zufinden, sollte süc in Berlin wiederholen, was in Breslau ge⸗

schehen ist? azu ist das Staatssekretariat da, diese fort⸗ währenden Widergesetzlichkeiten, die sich häufenden Verbrechen zur Strafverfolgung zu bringen. Sollen jene Herren straflos sein?

Freilich, wir leben ja nicht in einem Rechtsstaate, sondern in einem Polizeistaate, wo der Schutzmann die Majestät ist. Die Schande und Schmach, die sich auf den senkt, der sich zu den Mördern ge⸗ sellt, der den Mörder nicht verfolgt. . (Vizepräsident Schultz: Sie erheben diesen Vorwurf in direktem Zusammenhang mit den von Ighhnen erwähnten hohen Beamten Preußens, gegen den Minister des Innern und gegen den EET von Jagow. Das sind grobe Beleidigungen dieser Herren; ich ruse Sie dafür zur Ordnung! Beifall rechts; große Unruhe links.) Ich muß mich ja dem Ord⸗ nungsruf fügen; aber das ist gerade für unseren Rechtszustand kenn⸗ zeichnend. Ich habe hervorgehoben, daß alle Verbrechen nach dem Gesetz verfolgt werden müssen; wenn ich aber die Ausführung dieser Gesetzesvorschrift verlange auch gegenüber den höchsten Beamten, dann verstößt das gegen die Ordnung. Ich danke dem Herrn Präsidenten, daß er diesen Zustand so stark unterstrichen hat. Warum sind die Mörder noch nicht unter Anklage gestellt, und was glaubt der Staatssekretär, daß gegen die Begünstiger des Mordes geschehen müsse? Die Justiz soll die Grundlage der Königreiche sein, benfalls soll sie sein die Wahrerin der Gerechtigkeit ohne Ansehen er Person; darum mein letzter Appell an den Staatssekretär!

h Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Lisco: Mieine Herren! Nachdem der Herr Präsident den Herrn Vor⸗ redner wegen der Aeußerung, die er über hohe preußische Beamte gemacht, mit einem Ordnungsruf belegt hat, habe ich zu dieser An⸗ pelegenheit nichts mehr zu sagen. (Abg. Ledebour: Sehr bequem!) Die Worte und Ausführungen des Herrn Abg. Stadthagen richten sich vst. (Sehr gut! rechts. Lachen und Zurufe bei den Sozial⸗ kmokraten. Abg. Ledebour: Das ist keine sachliche Rechtfertigung, as ist Drückebergerei!)

Abg. Seyda (Pole): Ich kann mich der Anerkennung des Abg. für die deutsche Justizpflege leider nicht anschließen. Die die die Hüterin und Wahrerin des Rechts sein soll, wird ewe reußischen Osten vielfach zur Dienerin der Politik herab⸗ daßürdigt. Die erste Voraussetzung einer gedeihlichen Justiz ist, Dohrer Richter sich mit den Parteien direkt, ohne Vermittlung eines voremetschers verständigen kann. Zudem ist doch den Untertanen 3 ischer Zunge der Gebrauch ihrer Sprache vor Gericht durch die 15 1 en Könige garantiert. Von den Richtern im Osten aber ver⸗ Negt man die Kenntnis der Volkssprache nicht, während man den Kogern gogenüber diese Gerechtigkeit übt und in unsere fritäciscze ichter schickt, die die Suaheli⸗Sprache studiert haben müssen. vord Jahrzehnten sind polnische Richter nicht mehr angestellt werd in, und polnische Laienrichter, Schöffen und Geschworene versden nur in geringer Zahl zugelassen. Man müßte nun mindestens entrangen, daß die Dolmetscher den polnischsprechenden Landesteilen mmen werden. Statt dessen werden aus politischen Gründen junge Leute in Östpreußen als Dolmetscher heran⸗ d nach den polnischen Landesteilen geschickt. Da ist es daß eigentümliche Mißverständnisse vorkommen und eeugenaussagen und infolgedessen Meineidsprozesse gezüchtet Die Richter werden zu Germanisierungszwecken mißbraucht, en einisterialerlaß nimmt die Richter von der Agitation die Polen nicht aus. Wie soll ein Richter unparteiisch richten, der in einer öffentlichen Versammlung die Erbfeinde bezeichnet? Selbst der oberste Gerichtshof ist een Tendenzen gegen die Polen nicht freizusprechen, uglemmnamentlich von seiner Entscheidung in bezug auf

in der gang der Nobelle zum Ansiedlungsgesetz Nach diesem Gesetz den Zielen egierungspräsident eine Ansiedlung verbieten, wenn sie mit d thindern der Anstedkä skommission in Widerspruch steht. Um zu olen verf ein Deutscher eine Ansiedlung macht und sie an Agen auft, sind die Verwaltungsbehörden auf die geniale Idee

Zweite Beilage

zum Deutschen Reichsanzeiger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger.

Berlin, Donnerstag, den 23. Februar

gekommen, sich von dem Deutschen unter Konventionalstrafe die Zusiche⸗ rung geben zu lassen, daß er nicht an einen Polen verkaufen werde. Das Reichsgericht ist über den Einwand, daß jene Klausel gegen die guten Sitten verstoße, und daß die Ansiedlungsnovelle dem Frei⸗ zügigkeitsgesetz widerspreche, leicht hinweggegangen und hat dieses Gesetz so interpretiert, daß es sich nicht gegen die Polen als solche richte, sondern nur gegen diejenigen, die sich nicht rückhaltlos als Deutsche fühlen. Das wäre ungefähr so, als ob man als Katholiken nur diejenigen anerkennen wollte, die sich rückhaltlos als Protestanten fühlen. Diese Entscheidung bewegt sich in denselben Bahnen, wie andere seiner Urteile in

olitischen Fragen. Wo es sich um die Polizei handelt, ent⸗ scheidet das Reichsgericht immer zu Gunsten der Polizei, der Staatsgewalt. Nichts ist gefährlicher für einen Staat,

als wenn Rechtsfragen und politische Fragen vermischt werden. Das muß früher oder später zum Untergang des Staates führen. Das polnische Volk wird nach wie vor mit allen gesetzlichen Mitteln kämpfen, bis ihm Gerechtigkeit zu teil wird.

Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Lisco:

Meine Herren! Zu den letzten Worten des Herrn Vorredners nur wenige Worte der Erwiderung. Der Herr Vorredner hat aus⸗ geführt, daß das Reichsgericht stets zugunsten der Polizei, stets zu⸗ gunsten des Staates, stets zugunsten der Staatspolitik entscheide, wenn Fragen, die mit der Politik zusammenhängen, zur Entscheidung kommen, und, meine Herren, ich muß annehmen, daß der Herr Abg. Seyda (Wreschen) gemeint hat, daß das Reichsgericht das ab⸗

sichtlich tue.

Meine Herren, das ist ein schwerer Vorwurf gegen das Reichs⸗ gericht, dessen Unparteilichkeit vorhin von dem Herrn Abg. Dr. Junck in so hervorragendem Maße gelobt worden ist. Ich glaube, das Urteil über das Reichsgericht steht fest, und ich kann mich damit be⸗ gnügen, derartige Anschuldigungen gegen das Reichsgericht mit Ent⸗ schiedenheit zurückzuweisen. (Bravo )

8 Abg. Dr. Müller⸗Meiningen (fortschr. Volksp.): Auf die Frage einer neuen lex Heintze, wie sie der Kollege Belzer verlangte, gehe ich nicht weiter ein. Auch wir begrüßen die Erweiterung und Ver⸗ einheitlichung der internationalen Rechtsbeziehungen und bedauern sehr, daß England noch immer einer internationalen Regelung des Wechselrechts Schwierigkeiten macht. Den Staatssekretär möchte ich aufmerksam machen auf die Unzuträglichkeiten, die aus der Ein⸗ tragung von Contumacialurteilen von Schweizer und italienischen Gerichten für deutsche Staatsbürger entstehen. Den Be⸗ schwerden über unzweckmäßige Leitung von Meonsterprohzefsen stehen gerichtliche Glanzleistungen auf diesem Gebiete gegenüber, so daß wir diese Beschwerden nicht gegen den deutschen Richterstand ver⸗ allgemeinern dürfen. Tatsächtich gehen manche Gerichte nicht den Weg, den sie gehen müßten, um den Anschein zu vermeiden, daß sie in das politische Parteigetriebe sich hineinziehen lassen. Es wird ein Strafverfahren erhoben gegen Arbeiter, die am Sonntag ein Flugblatt verbreitet haben; der politische Gegner hatte seine Flugblätter zu Wagen und zu Fahrrad verbreitet, die Ver⸗ folgung seines Reates wurde aber vom Gericht abgelehnt, weil darin eine mit Anstrengung verknüpfte Tätigkeit nicht gefunden wurde. Das heißt doch tatsächlich mit zweierlei Maß messen. Politisch merkwürdig ist unzweifelhaft auch die Verurteilung wegen groben Unfugs unter Anwendung des dolus eventualis wegen der Hochrufe auf das Reichswahlrecht; das sieht doch so aus, als wenn die Gerichte auch mit Politik treiben wollten. Ebenso merkwürdig ist die allerneueste Nachricht, wonach als unpolitischer Verein beim Amts⸗ gericht Berlin⸗Mitte der „Bund der Landwirte“ eingetragen worden ist. Wer sieht den Bund der Landwirte und seinen Direktor Diederich Hahn nicht als Politiker an? Wie streng sind doch sonst die Ge⸗ richte bezüglich der Requisiten der sozialpolitischen oder politischen Vereinszwecke! Die Gewähr für eine gute Justiz liegt gewiß in einer Gewähr für die Persönlichkeit des Richters; aber das ist auch eine Frage der Erziehung. Die neue Bewegung verlangt, daß die zukünftigen Richter als Gegenwartsjuristen ausgebildet werden als praktische Männer mit gesundem Blick fürs Leben, ohne bloße Aktengelehrsamkeit. Da heißt es aber schon auf dem Gymnasium mit der Reform beginnen und auf der Universität tüchtig damit fort⸗ fahren. Die ganze Ausbildung der Juristen muß geändert werden, wenn wir der neuen von Jena ausgehenden Bewegung gerecht werden wollen. Die Anstellungsverhältnisse der deutschen Richter werden immer schlechter; am allerschlechtesten sind sie in Württemberg. Wenn der Staat nicht bald mit Reformen vorgeht, so werden unsere Juristen dahin gehen, wo sie besser fortkommen, in die Verwaltung oder in den Privatdienst. Wir müssen dem Richter ideal näher kommen, wie es Adickes vorschwebt. Die Ausmerzung der Hilfs⸗ richter muß durchgeführt werden. Die Ursache der Unzufriedenheit mit der heutigen Rechtspflege, die große Verstimmung zwischen Volk und Recht liegt zum Teil in der mangelnden Aufklärung über Fehl⸗ sprüche einzelner Gerichte, zum Teil auch in der Schwierigkeit, den durch die Rechtsprechung verle ten Individualismus b“ Oft ist es auch totes und nicht lebendiges Recht, welches die Richter angewendet haben. Endlich aber tritt hinzu das Odium einer in Deutschland unglaublich zurückgebliebenen Polizeistrafgesetzgebung. Wir dürfen nur an den bekannten Fall der galizischen Dienstmagd Ciaston erinnern, die acht Monate einer angeblichen Ueber⸗ tretung in Haft saßir Die Sache ist auch noch nicht vollständig auf⸗ geklärt. Der preußische Minister des Innern hat die ganze Schuld auf die ihm untergeordneten Behörden geschoben; ich verstehe das nicht. Aus den Akten, die mir zur Verfügung gestellt sind, geht hervor, daß der Rechtsanwalt, der die Sache geführt hat, das Ministerium bereits am 5. Juli darauf aufmerksam machte, daß die Dienstmagd schon ein halbes Jahr in Haft sei, und daß er vom Minister des Innern überhaupt keine Antwort erhalten hat. Hier tut Auf⸗ klärung dringend not. Erst am 28. Oktober 1910, also nach 11 Monaten, ist eine offizielle Kundgebung erfolgt. Man findet kein Wort der Entschuldigung für diese Verletzung des Rechts⸗ empfindens nicht allein des deutschen Volkes, sondern, wie aus den Verhandlungen der Oesterreichischen Delegation hervorgeht, ganz EFuropas. Die Presse hat in letzter Zeit gezeigt, daß dieser Fall nicht vereinzelt ist. Aus Holstein sind ganz ähnlich gelagerte Fälle gemeldet. Unser ganzes Rechtsleben leidet darunter; wir müssen dringend verlangen, daß die Reichsgesetzgebung gründlich Remedur schafft durch Aufräumung mit diesem ganzen Wust von Polizei⸗ strafgesetzbestimmungen. Ein weiteres beschämendes Kapitel ist die tendenziöse Behandlung der Zeugen und Angeklagten, wie ie im Schönebeck⸗ Prozeß zu Tage getreten ist. Der Fall Schönebeck ist ebenso wie der Fall Osterroht auf die mangelhafte deutsche Irrengesetzgebung zurück⸗ zuführen. Man muß unbedingt an eine Reform derselben herantreten. Ich erinnere daran, daß einer unserer Reichstagskollegen ebenso wie sein Sohn von einem erklärten Narren mit Schmähbriefen verfolgt und bedroht wird, und daß, wie wir hören, dieser Narr jetzt auch täglich das Reichstagspräsidium mit Schmähbriefen belästigt. Da muß man wirklich sagen: ist denn unsere Irrengesetzgebung stande, das Publikum gegen Narren zu schützen? Im Prozeß Becker haben alle Parteien das Ungeheuerliche des SteFfans anerkannt. Was kann 89 sonst jemand für ein Jahr Gefängnis leisten? Nach

müsse. Alles, was zur Entlastung des Angeklagten dienen konnte, wurde

1911.

einer Statistik über die Tätigkeit einer Strafkammer sind folgende Strafen verhängt: Urkundenfälschung und Betrug 3 Monate, Diebstahl im Rückfall 3 Monate, Sittlichkeitsverbrechen 7 Monate, Kuppelei und Entführung 3 Monate, Zuhälterei 10 Monate usw. Also der Zuhälter, der Auswurf der menschlichen Gesellschaft, kommt mit 10 Monaten Gefängnis davon; der rückgratfeste Mann, der nur aus politischer Ueberzeugung in einen ihm aufgedrängten Kampf ein⸗ etreten ist, erhält 1 Jahr Gefängnis, weil er sich gegen Seine

ajestät den preußischen Landrat aufgelehnt hat. Die Prozeß⸗ führung war geradezu unbegreiflich. Jedesmal, wenn die Sache für den Landrat heikel wird, springt sofort der Regierungspräsident Blomeyer mit dem Amtsgeheimnis dazwischen, oder es wird dafür gesorgt, daß die Frage von seiten des Gerichts 1“ wird. Das stärkste Stück in dem Prozeß erblicke ich in der Vorenthaltung der Akten über den liberalen Verein. Merkwürdig war auch die Drohung, daß, wenn eine Erklärung des Rechtsanwalts Schücking aufrecht erhalten würde, das Gericht seine Schlüsse aus dieser Aufrechterhaltung ziehen

bei der Beweisführung abgeschnitten. Er konnte und wollte beweisen, daß er vom Freiherrn von Maltzahn aufs stärkste beleidigt war. Darauf kam es doch bezüglich der Straffrage wie der Schuldfrage wesentlich an. Aber der Etantsanwalt sprang dazwischen und griff mit der eigentümlichen Motivierung ein, daß es sich, und zwar nach den Angaben des Landrats selbst, um einen Vertrauensbruch handle. Ich möchte wissen, was geschehen wäre, wenn es sich um eine Beleidigung gegen den Freiherrn von Maltzahn gehandelt hätte. Der Mangel an Objektivität des Vorsitzenden wird durch die Be⸗ handlung der Zeugen bewiesen. Er genießt ja solche Popularität, daß er nur die „eiserne Jungfrau“ genannt wird. Maltzahn hat häufig seine Aussagen mit den Händen in der Hosentasche gemacht, der Lehrer Schacht dagegen wurde vom Vorsitzenden wie ein Schuljunge zurechtgewiesen. Aehnlich war die Art der Behandlung der Verteidigung. Der Vorsitzende hat behauptet, der Landgerichtsdirektor sei kein Parteigänger der Konservativen, trotz⸗ dem der Landgerichtsdirektor selbst einen konservativen Verein ge⸗ ründet hatte. Es war ein großer Fehler, eine parteipolitisch 8 exponierte Persönlichkeit an die Spitze eines ausgesprochen politischen Prozesses zu stellen. Der Greifswalder Prozeß zeigt, wie ein Fachjuristentum ohne Weltkenntnis, ein bureaukratisches System und eine gesellschaftliche 9 unsere ganze Justiz schädigen kann. ir wollen im Wege der Gesetzgebung alles tun, um derartige Prozesse in Zukunft zu vermeiden, im Interesse des deutschen Richterstandes und im Interesse des Vertrauens des deutschen Volkes zu ihm, des Vertrauens, ohne das der Staat auf die Dauer ohne Erschütterung seiner Grundlagen nicht bestehen kann.

Damit schließt die Diskussion.

. Der Etat für die Reichsjustizverwaltung wird ohne weitere Debatte nach den Anträgen der Budgetkommission angenommen, ebenso die von der Kommission vorgeschlagene Resolution wegen der Berufung von drei Rechtsanwälten in die Kommission sür die Ausarbeitung des neuen Strafgesegbuches nachdem der Referent Abg. Dr. Heckscher (fortsch. Volksp.) noch erwähnt hat, daß die Kommission dem Staatssekretär den Wunsch zu erkennen gegeben habe, daß der als Sachverständiger⸗ zu hörende Vertreter der Presse von den berufenen Presse⸗ organisationen zu präsentieren sei, und der Abg. Kirsch. fih noch den Gedanken zur Erwäͤgung gestellt hat, ob nicht au

ein Sachverständiger auf dem Gebiete der Sozialwissenschaften

in die Kommission genommen werden solle. . Schluß gegen 6 Uhr. Nächste Sitzung Donnerstag 1 Uhr (Heeresvorlage und Militäretat).

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Preußischer Landtag.

Herrenhaus.

4. Sitzung vom 22. Februar 1911, Nachmittags 2 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)

Die neu berufenen Mitglieder Generaloberst von Lindequist und Obermeister Plate, die bisher den Eid auf die Verfassung noch nicht geleistet haben, werden in der üblichen feierlichen Weise vereidigt.

Die Abstimmung über den Antrag Schlenther zur Wegeordnung für Ostpreußen wird wiederholt, da er gestern noch nicht gedruckt vorlag. In dem Antrage werden Drainagen, deren Anlage im Landeskulturinteresse erwünscht ist, soweit nicht überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen, anderen Anlagen wie Brücken, Durchlässen usw. gleichgestellt. Der Antrag wird angenommen.

Es folgt die Beratung des Entwurfs eines Gesetzes, betreffend Abänderung der Gemeinde nung für die Rheinprovinz.

Minister des Innern von Dallwitz:

Meine Herren! Gestatten Sie mir, in aller Kürze die Er⸗ wägungen darzulegen, welche die Königliche Staatsregierung veranlaßt haben, dem seit längerer Zeit hervorgetretenen Wunsche nach einer Revision der rheinischen Gemeindeordnung stattzugeben. Entscheidend war die ungünstige Entwicklung, welche das Institut der Meist⸗ begüterten im Laufe der Jahre in vielen Gemeinden genommen hat. Sie ist im wesentlichen zurückzuführen auf zwei Momente: einmal auf die Mitberücksichtigung der Gebäudesteuer und neben Grund⸗ steuer, wodurch das bodenständige Element, welches ein wesentliches Interesse an dem dauernden Gedeihen der Gemeinde besitzt, und dem daher ein angemessener Einfluß im Gemeindeleben zu sichern ist, beeinträchtigt wurde, denn durch die Berücksichtigung der Gebäude⸗ steuer wird den Hausbesitzern, die 150 nur an Gebäudesteuern ent⸗ richten, ein Virilstimmrecht eingeräumt; sodann auf das Ein⸗ dringen der Industrie in das platte Land und die hierdurch bedingte Errichtung zahlreicher Wohnhäuser, deren Eigentümer den meistbegüterten Grundeigentümern hinzugetreten sind. So ist es gekommen, daß in vielen Gemeinden heutzutage das Verhältnis zwischen den Meistbegüterten und den gewählten Gemeindeverordneten in ganz unangemessener Weise sich verschoben hat, ja, daß vielfach die Gesamtzahl der Mitglieder der Gemeinderäte und Bürgermeisterei⸗ versammlungen eine ganz unzulässige Höhe erreicht hat. Diesen Miß ständen soll dadurch abgeholfen werden, daß eine Vorschrift vorgesehen ist, nach welcher von dem Mindeststeuerbetrag wenigstens die Hälfte auf die Grundsteuer entfallen muß, und daß die Zahl der Meist⸗ begüterten nicht mehr als die Hälfte der Zahl der gewählten Ge⸗ meindevertreter betragen darfk. Zugleich ist dem Wunsche, den der