1914 / 19 p. 8 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 22 Jan 1914 18:00:01 GMT) scan diff

wir dann überhaupt noch Schutzzölles Demnach müßte doch auch der Genußmittelverbrauch zugenommen haben. Der ist aber überall zurück⸗ gegangen. Die Besserung der Lage der Arbeiter geschah nur durch Einschränkung der Geburtenziffer. Auch die Zunahme der erwerbenden Frauen ist kein Beweis für steigenden Wohlstand. Der Staats⸗ sekretär will keine Zolltarifnovelle einbringen. Er fürchtet Geister zu rufen, die er nicht wieder los wird. Der Abg. Weilnböck hat ja eine ganze Reihe von agrarischen Forderungen erhoben. So hat er den Schutz für Meerrettich verlangt. Er soll ja bekanntlich den Geist hell machen durch seine Schärfe. Davon werden ganze 403 Doppelzentner einge⸗ führt, also 1 der Ausfuhr an Rettich. Man sieht, was der Zoll⸗ gedanke alles anrichtet. Diesen hohen Standpunkt unserer Wirtschafts⸗ politik hat schon Treitschke vorausgesehen. Den Arbeitern und beson⸗ ders den Landarbeitern muß ein menschenwürdiges Dasein verschafft werden. Das aber ist nicht möglich, wenn die Gesindeordnung be⸗ stehen bleibt und ihnen das Koalitionsrecht versagt wird. Der Ab⸗ geordnete Dr. Böhme vollführte da eine Art Springprozession, aber nach rückwärts. Er will den Forstarbeitern das Koalitionsrecht geben. Er vergißt, daß viele Landarbeiter im Winter in den Forsten arbeiten. Er sollte die Rednerschule besuchen, die der Abg. von Graefe benutzt hat, dann würde er lernen, wie man so etwas mit der nötigen Entschieden⸗ heit und Unverfrorenheit vorbringt. Der Abg. von Graefe wollte allen Arbeitern das Koalitionsrecht zugestehen, nur nicht da, wo es in seine I äre schlä Wir wollen für die Arbeitgeber auch Ellen⸗ bogenfreiheit, aber diese muß doch auch dem Arbeiter zugebilligt wer⸗ den. Für eine verständige Sozialpolitik sind auch wir. Der Begriff „verständig“ ist jedoch schwer zu definieren. Jeder versteht das darunter, was er will. Auch wir sind damit einverstanden, daß die Antworten des Bundesrats auf die Beschlüsse des Reichstags der Busd⸗ getkommission zugehen. Den Beschluß über das Koalitionsrecht ha der Bundesrat dem Reichskanzler überwiesen. Der Reichskanzler von Bethmann hat ja nun im Herrenhause das Schicksal derartiger Reso⸗ lutionen und Anträge klargestellt. Unsere ganze innere Politik wird ja eben vom Abgeordnetenhause und vom Herrenhause gemacht, von Par⸗ lamenten, die allerdings nicht eine so gemischte Gesellschaft darstellen, wie der Deutsche Reichstag. Wir sind eine gewählte Gesellschaft, sogar eine sehr gewählte Gesellschaft. Und deshalb sind wir etwas mehr. Wir vertreten das, was das Volk verlangt. Es ist erstaunlich, was auf dem Preußentage alles vorgebracht worden ist, und wie diese Herren von und zu und mit hohen Titeln so ganz ihre Kinderstube vergessen zu haben scheinen. Dort waren nicht die Preußen, die das in sich fühlen, was das Volk in sich fühlt. Denen, die den preußischen Par⸗ tikularismus großziehen wollen, möchte ich entgegenhalten, was in der großen Zeit, als Preußen noch moralische Eroberungen machte, Wilhelm 1. Preußen als Programm mit auf den Weg gab. Wir haben einen Reichskanzler, der ein Kulturmensch ist. Wie ernst es hin damit ist, davon zeugt der Brief, den er an einen anderen Kultur⸗ nenschen, den Professor Lamprecht, gerichtet hat: Dafür sind jene Preußen noch nicht reif. Für diese Sorte Preußen möchte ich auf das hinweisen, das seinerzeit ein deutscher und preußischer Dichter

ig von Preußen zurief: Wag's um den höchsten Preis zu Volk zu gehen.

Müller: Der Abg.

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wverben und mit der Zeit, dem Direkior im Reichsamt des Innern Gothein hat ausgeführt, daß der Staatesekretär des Reichsamts des unern die Ergebnisse der Handelspolilik zu sehr in den Vorder⸗ grund gestellt hätte; auf die günstige wirtschaftliche Lage bätte auch Reihe ganz anderer Faktoren, beispielsweise die Errungen⸗ chaften der Naturwissenschaften, die Fortschritte der Technik, ein⸗ gewirkt. Der Staatssekretär hat gestern auch diese anderen Faktoren

ü Es ist ganz klar, daß die Handels⸗ und

nicht allein ausschlaggebend ist für die Be⸗

der Entwicklung wirtschaftlicher Ve hältnisse. Es

andelt sich doch bei dem Streit der Meinungen ledig⸗ lich darum, ob unsere derzeitige Zoll⸗ und Handelspolitik die

Grundlage mit abgegeben hat für die Entwicklung der Verhältnisse, wie sie sich bei uns gestoltet haben, ob sie den inneren Markt be⸗ festigt hat und ob darunter unsere Industrie auf dem Auslandsmarkt konkurrieren konnte. In diesem Punkte werde ich mich mit dem Abg. Gothein nicht verständigen. Er steht auf dem Standpunkt, daß unsere

oll⸗ und Handelspolittk, kurz gesagt der Bülow⸗Tarif, es sehr er⸗ schwert hätte, unsere industriellen Erzeugnisse auf dem ausländischen Markte unterzubring'n. Unsere Ausfuhr hat sich in der Periode, von er gestern der Staatssekretär gesprochen hat, um 31 % gesteigert, die von Frankreich bloß um 20 %, die der Schweiz um 18 %, die der Vereinigten Staaten um 17 %, die von Oesterreich um 11 %. Gewiß sind darunter auch Roh⸗ und Halbfabrikate, aber auch die Ausfuhr von Fertig'abrikaten hat sehr erheblich zugenommen. Die Frage, was esgentlich ein Fertigfabrikat ist, ist sehr umstritten. Nun ist ja zuzugsben, daß die Ausfuhr von Fertigfabrikaten bei ein⸗ zelnen Industriezweigen zurückgegangen ist. Bei einer ganzen Reihe großer Industriezweige ist aber die Ausfuhr sehr stark gestiegen. So haben wir zum Beisyiel bei den Seidenwaren seit 1909 eine erheb⸗ liche Zunahme der Ausfuhr zu verzeichnen; asselbe gilt von Baum⸗ wollenwaren, von der Maschinenindustrie, von feinen Lederwaren, von chemischen Erzeugnissen, von der keramischen Industrie, von Musik⸗ instrumenten usw. (Der Redner führt zum Beweise der Zunahme der Ausfuhr eine große Anzahl von statistischen Belegen an). Wenn diese Zunahme der Ausfuhr nicht eine so starke wäre, so würde man sich in österreichischen Blättern nicht so⸗ sehr beklagen über den Druck, den unsere Ausfuhr in Fertigfabrikaten nach Oester⸗ reich ausübt. Was die Frage der Umänderung der Warenwerte be⸗ trifft, so sind wir seit dem 1. Januar 1911 von dem früheren Schätzungsverfahren abgegangen. Wir steben auf dem Standpunkt, daß die Angabe unserer Interessenten über den Wert der Ausfuhr eine richtigere ist als das frühere Schätzungsverfahren. Daß die Interessenten zu hohe Angaben machen, ist nicht zu befülchten, weil dieses zolltechnische Nachteile für sie hätte. Das Statistische Amt at die Frage, oh das neue Verfahren cine allzustarke Steigerung der Werle berbeiführe, nach eingehender Prüfung verneint. Unter der jetzigen Zollpolitik hat sich auch die Bedeutung des inneren Marktes ggeboben. Unsere Ausfuhr ist in den Artikeln, die ich angeführt habe, nicht bloß hinsichtlich ihrer Werte, sondern auch der Menge gestiegen. Es ist auch nicht richtig, daß der Verbrauch der Genußmittel nicht zugenommen habe, wie der Abg. Gothein bebauptet hat. Daß die schlente Ernte von 1911 auf die Ergebnisse der Viehzählung von 1912 maßgebend eingewirkt hat, kann nicht bestritten werden.

Abg. Dr. Arendt (Rp.): Auch die heutige Rede des Abg. Gothein hat trotz ihrer Länge nichts Neues gebracht; es war im wesentlichen die schöne, alte Rede, die er uns recht oft schon gehalten bat. Ich verstehe es ja vollkommen, daß er, die letzte Säule der einstigen so stolzen Freihandelspartei, noch immer das Bedürfnis fühlt, deren Standpunkt zu vertreten; die letzte Säule, denn auch in seiner Partei fängt die Erkenntnis zu dämmern an, daß es mit dem Schutzzoll nicht so schlimm ist. Einer der Kandidaten dieser Partei hat in einem württembergischen Wahlkreise nicht mehr von Abbau, sondern von Aufrechterhaltung der Zölle gesprochen; vielleicht könnte also das Abbröckeln der Zölle später eintreten als das Abbröckeln der Fortschrittler zum Schutzzoll. Ich hatte neben dem Abg. Gothein in der Zolltarifkommission von 1902 zu sitzen den Vorzug; damals hat der Abg. Gothein wahre Schreckbilder vorgeführt von der Zu⸗ kunft, wenn dieser Zolltarif zustande käme, kein Handelsvertrag würde auf solcher Basis zustande kommen. Heute sprach der Abg. Gothein von dem großen Aufschwung unserer Ausfuhr seit 1907. Früher prophezeite man unserer Industrie den Ruin durch den, Schutzzoll: welche Widerlegung hat diese Vorhersage durch die gestrige Rede des Staatssekretärs erfahren! Als Fürst Bismarck 50 Gerreidezoll

beantragte und der Reichstag 1 beschloß, wurde von den freihändlerischen Bamberger, Rickert, Richter „usw. be⸗ hauptet, das Volk würde dann verhungern müssen. Die

Tatsachen haben die Entscheidung gebracht und überzeugend gebracht. Sie (links) wagen es ja auch gar nicht mehr, die Beseitigung der Schutzzölle zu sordern, nur die Sozialdemokraten wollen das noch, die Fortschrittler wollen nur abbauen. Das Festhalten an unserer Zoll⸗ volitik wird von der öffentlichen Meinung gefordert, weil diese Politik sich bewährt hat! Wenn sich die Abbaufläche des Getreides stark

vermehrt und außerdem die Intensität, die Produktivität der Land⸗ wirtschaft außerordentlich gestiegen ist, ist auch eine Steigerung der Güterpreise naturnotwendig. Wenn der Ertrag eines Gutes um 100 % gestiegen ist, ist es doch mehr wert geworden. (Abg. Gothei: Dann brauchen Sie doch keine Zölle!) über Herr Gothein, dann wäre doch die Produktivität nicht gestiegen! Ihre Weisheit kommt mir immer so vor, als ob man eine melkende Kuh tötet in der Hoff⸗ nung, daß man dann umsonst dauernd Milch kriegt. Es gilt hier auch das Wort: hat der Bauer kein Geld, dann hat auch niemand im Lande Geld. Wenn die Bauern ihre Verkäufe einschränken müssen, weil sie nicht angemessene Preise erhalten, dann muß die gesamte Volkswirtschaft darunter leiden und für die Arbeiter gibt es daan nicht nur kein billiges Brot, sondern gar kein Brot, weil sie auch das billigste Brot nicht kaufen können. Die Lehre vom angemessenen Preise wird sich durchseten; der angemessene Preis ist aber nicht bloß nötig für den Mittelstand, sondern auch für den Landwirt und für jede industrielle Produktion. Wollen die Arbeiter ihren angemessenen Lohn finden, dann müssen sie auch bereit sein, angemessene Preise für die Arbeit anderer zu zahlen. Unscre Volkswirtschaft ist einheitlich, und es ist nicht möglich, daß ein Teil von ihr Opfer von dem anderen fordert; das Wohlergehen der Landwirt⸗ schaft ist also keine einseitige, sondern eine nationale Forderung. Das wichtigste Ergebnis der bisherigen Etatsberatung war die Er⸗ klärung des Staatssekretärs über unsere Handelsvertragspolitik. Der Abg. Gothein hat diese in seiner langen Rede sehr stiefmütterlich behandelt. Die Handelsverträge sind eine eigentümliche Sache Sie werden dadurch nicht günstig vorbereitct, wenn man den Schaden der Kornzölle für Deutschland behauptet und nachweist, daß man zu der Capriwvischen Zeit besser daran war. Diese „rettende Tat“ hat aber die Interessen der deutschen Landwirtschaft nicht genügend wahr⸗ genommen, sie war einseitig. Sie hat die schwere und verhängnisvolle Notlage der Landwirtscha t verschuldet. Wenn sie nicht ganz zu⸗ grunde ging, so lag das daran, weil die Schutzzollpolitik des Fürsten Bismarck einen derxartigen Aufschwung geschaffen hatte, den die Caprivische Handelspolitik nicht ganz abtöten konnte. Gegen⸗ über der Erklärung des Staatssekretärs meinen wir nur, ob es nötig war, daß wir das Ausland jetzt schon in unsere Karten sehen lassen. Bei den neuen Handeleverträgen sind auch Wünsche der Industrie zu erfülln. Schon 1902 wurden in der Kommission Aenderungen am Zolltarif vorgeseben, die aber für das Plenum nicht mehr in Betracht kamen, weil der Zelltarif en bloc angenommen wurde. (Zuruf des Abg. Dr. Müller⸗Meiningen.) Wir waren dazu durch den Wider⸗ stand der Linken gezwungen. Zu begrüßen ist es, daß der Staats⸗ sekretär nachdrücklich den Skandpunkt betont, unsere Wirtschafts⸗ politik müsse erhalten bleiben. Ebenso stimmen wir ihm zu, daß nach den großen sozialen Gesetzen der letzten Zeit jetzt eine Ruhepause eintreten muß. Es muß bei der Sozialpolitik auch die Leistungs⸗ fähigkeit der Unternehmer berücksichtigt werden. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden. Die Sozialdemokratie will hier aber einen Gegensatz schaffen und ihn immer mehr verschärfen. Daß man das in Arbeiterkreisen erkennt, zeigt das Anwachsen der wirtschaftsfriedlichen Arbeiterbewegung. Sie stellt sich auf den allein richtigen Standpunkt, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam das gemeinsame Unternehmen zu fördern kaben. Ich möchte nur wünschen, daß zwischen den christlichen Ge⸗ werkschaften und den wirtschaftsfriedlichen Arbeitern bessere Beziehungen eintreten, als es jetzt der Fall ist. (Zuruf des Abg. Giesberts.) Seie winken zwar ab; Sie vergessen aber, daß beide gemeinschaft⸗ liche Gegner und gemeinschaftliche Grundlagen haben. Die R ichs⸗ versicherungsordnung ist das größte soziale Werk, dem das Aussand nichts an die Seite stellen kann. Es haben bei der B⸗ratung eine Reihe von Kompromissen stattsinden müssen, die wir lieber vermieden hätten. So ist es vielleicht bald möglich, die Alters⸗ grenze auf 65 Jahre herabzusetzen. Der Abg. Gothein hat die Land⸗ krankenkassen besonders heftig angegriffen und die Ortskrankenkassen gelobt. Aber gerade über diese sind in der letzten Zeit die schwersten Klagen erhoben worden. Ich erinnere nur an Schöneberg. Die Rechte hatte gewünscht, die Dienstboten außerhalb der Krankenkassen zu versichern, weil sie ein nicht so großes Risiko wie die gewerblichen Arbeiter haben. Wir haben uns nur ungern dem Kompromiß gefügt. Wir meinten, daß die Gemeinden seibst erkennen, die Landkrankenkassen seien das beste für die Dienstboten. Das geschah bis auf die Reichs⸗ hauptstadt. Es ist für die Gesetzgebung wesentlich, daß die Leistungen des Gesetzes erfüllt werden, aber nicht das Wie. Man sollte da vielleicht durch genyssenschaftliche Bildung den im Lebenskampf stehenden mittleren Klassen die Möglichkeit einer Erleichterung gewähren. Die Errichtung von Landkrankenkassen war schon deshalb vielfach außerordentli

nützlich, um die Bureaukratie' der Ortskrankenkassen einzuschränken, Es handelt sich hier auch um eine Mittelstandsfrage. Die Aufrecht⸗ erhaltung eines lebenskräftigen Mittelstandes ist eine Forderung, die im Gesamtinteresse der anderen liegt. Der städtische Hausbesitz

gehört auch zum Mittelstande; für ihn ist gesetzgeberisch nichts gescheben, man hat ihm nur neue Stenern auferlegt. Die Beseitigung

der Wertzuwachssteuer, soweit das Reich in Betracht kam, war durch⸗ aus richtig. Leider wollen Bayern und Württemberg die Steuer weiter erheben. Es ist zu hoffen, daß die dortigen Volksvertretungen diesen Fiskalismus nicht mitmachen werden. Die wirtschaftliche Krise ist viel weniger scharf hervorgetreten als sonst. Ich führe das zurück auf unsere Wirtschaftspolitik und auf unsere gute Ernte. Die Steigerung des Zinsfußes ist ein typisches Beispiel für den Auf⸗ schwung unserer wirtschaftlichen Unternehmun, en. Man braucht dazu Kapital, wendet sich an die Banken und der Diskont steigt. Das Sinken der Kurse der Staats⸗ und Reichsanleihen war eine natür⸗

Zinssteigerung. Wenn jetzt die

liche Folge der internationalen Unternehmungslust nachläßt, so hört damit auch die Ursache der Zinssteigerung auf und es ist zu hoffen, daß wir in dieser Beziehung eine Besserung ecleben. Die Reichsbank hat eine doppelte Aufgabe: unsere Valuta zu schützen und unsere Kreditverhältnisse zu ordnen. Es ist mir eine besondere Frende, festzustellen, daß wir heute den Reichsbankpräsidenten von Havenstein genesen vor uns sehen. Er

hat sich große Verdienste darum erworben, daß die Ver⸗ hältnisse der Reichsbank sich verbessert haben. Ganz so glänzend ist allerdings das Bild nicht, wie es gestern der Staats⸗

sekretär entrollte. Die Steigerung des Goldvorrats der R. ichs⸗ bank ist mitbewirkt durch die Vermehrung der kleinen Noten. Wir haben allen Grund, uns über den günstigen Stand der Reichs⸗ bank zu freuen. Hat man doch während der Zeit der kriegerischen Verwicklungen im Auslande auf einen Zusammenbruch der deutschen Finanzpolitik gerechnet. Diese Hoffnung ist zuschanden geworden. Allerdings, ein Diskont von 6 % beinahe ein Jahr lang ist etwas was man kaum ertragen kann. Deshalb hätte die Reichsbank diese 6 % schon etwas früher aufheben sollen; es wäre vielleicht auch ge⸗ schehen, wenn der Reichsbankpräsident von Havenstein nicht krank ge⸗ wesen wäre. Es hätte im August geschehen sollen. Wir sind jetzt stark genug, um uns nicht mehr in dieser Beziehung in das Schlepp⸗ tau Englands nehmen zu lassen. Ich hoffe, daß der Diskont in der nächsten Zeit noch weiter ermäßigt wird. Die Notensteuer ist eine lästige Fessel, sie muß beseitigt werden. Auch das Depositenwesen muß gründlich untersucht und gesetz'ich geregelt werden. Erfreulich ist die Art, wie die preußische Staats⸗ regierung jetzt eine Anleihe aufzunehmen im Begriff ist. Wir

der jetzigen

haben wiederholt darauf hingewiesen, daß gerade in

Zeit die Konsolform sich für Anleihen hicht empfiehlt, und daß man dem Publikum die Gewähr gebden muß, daß es an den Konsols nichts verliert. Das ist nur möalich durch amortifable Papiere Deshalb ist der Schritt der preußischen Regierung zu begrüßen. An⸗ gesichts der wirtschaftlichen Erschemungen der Gegenwart sind wir iu der Hoffnung, ja zu der Zuversicht berechtigt, daß unsere wiri va. lichen und sozialen Zustände sich nicht im Rückaange befinden, sondern daß wir auf eine Besserung rechnen können. Die Voraussetzung dafür aber ist das Festhalten an unserer Wirtschafts⸗ und Handelspolitik an der nicht gerührt werden darf, wenn nicht der beisoiellose Auf⸗ schwung, den Deutschland seit dem Beginn der Bismarckschen Politik des Schutzes der nasonalen Arbeit genommen hat, aufs schwerste⸗ beeinträchtigt werden soll. 8

Nach 6 ½¼ Uhr wird die Fortsetzung der Donnerstag 1 Uhr vertagt. 1

Preußzischer Landtag. Haus der Abgeordneten.

8. Sitzung vom 21. Januar 1914, Vormittags 11 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)

„Ueber den Beginn der Sitzung ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden.

Das Haus setzt die zweite Beratung des Etats der landwirtschaftlichen Verwaltung bei dem Kapitel der landwirtschaftlichen Lehranstalten fort. .

Zu diesem Kapitel liegt der Antrag der Abgg. Dr. Faß⸗ bender (Zentr.), Johanssen (freikons.), von Kessel (kons.) und Westermann (nl.) vor:

die Regierung zu ersuchen, bei wirken, daß entsprechend der vom Reich⸗tage angenommenen Reso⸗ lution vom 26. April 1913 möglichst bald dem Reichstage ein dem Grundgedanken des Nahrungsmittelgesetz es sinngemäß nachgebildeter Gesetzentwarf vorgelegt werde, welcher, dem Schutze der Landwirt schaft ebenso wie demjenigen des reellen Handels Rechnung tragend, geeignet erscheint zur Beseitigung der auf dem Gebiete des Handels mit uttermitteln, Düngemitteln un Sämereien herrschenden Mißstände.

Die Abgg. Dr. Porsch (Zentr.) und Genossen beantragen, die Regierung zu ersuchen, möglichst bald ein großes umfassendes Institut zur wissenschaftlichen Erforschung sämtlicher auf milchwirtschaftlichem Gebiete auftretenden Fragen zu errichten.

dem Reichskanzler dahin zu

Minister für Landwirtschaft, Freiherr von Schorlemer: 1 Meine Verwaltung hat die Mißstände auf dem Gebiete des Handels mit Dünge⸗ und Futtermitteln und mit Sämereien schon seit Jahren anerkannt und ebenso auch das Bedürfnis, diesen Miß⸗ 2* ständen abzuhelsen. Es hatten sich aber bei den bisherigen Ver⸗ handlungen Schwierigkeiten dadurch ergeben, daß seitens des Handels bezüglich der in Aussicht genommenen gesetzlichen Regelung Be⸗ denken erhoben wurden, deren Beseitigung zunächst noch nicht gelang⸗ Inzwischen ist sowohl in Kreisen des Handels wie auch in der Oeffentlichkeit, ich möchte sagen, ein Umschwung der Meinungen ein⸗ getreten; denn auch die Erfahrungen, die man inzwischen mit dem Nahrungsmittelgesetz gemacht hat, lassen es erwünscht erschelnen, auch

in diesem Gesetze schärfere Bestimmungen aufzunehmen und durch eine Ergänzung des Gesetzes auch bezüglich der Nahrungsmittel be⸗ stimmte Eigenschaften festzulegen, ohne deren Vorhandensein der Verkauf unzulässig und strafbar ist. (Sehr richtig! rechts.) Damit würde in dem Nahrungsmittelgesetz, um zunächst dabei zu bleiben⸗ auch der jetzt erforderliche Tatbestand des Betruges, der Uebervor⸗ teilung, der Verfälschung und der Nachahmung nicht immer aus⸗

Domänen und Forsten

Dr.

schlaggebend bleiben, und es würde möglich sein, auch den⸗ jeaigen zu bestrafen, welcher Nahrungsmittel in den Verkauf bringt, welche die gesetzlich vorgeschriebenen Eigenschaften nicht

besitzen. In gleicher Weise haben der Herr Handelsminister und mein Ressort sich darüber geeinigt, dem Reichsamt des Innern Vor⸗ schläge dahin zu machen, daß durch eine besondere Gesetzgebung vr2s Handel mit Dünger, mit Sämereien und mit Futtermltteln in der Weise geregelt werde, daß objektiv die notwendigen und erforderlichen Eigenschaften für die einzelnen Verkaufsartikel im Gesetze festgelegt werden und der Verkauf derjenigen Artikel, welche diesen Eigenschaften nicht entsprechen, an sich verboten und strafbar ist. Ich nehme an, daß seitens der Reichsinstanzen keine weiteren Bedenken erhoben werden, und ich glaube deswegen die Hoffnung aussprechen zu können, daß den Wünschen der Antragsteller auf eine gesetzliche Regelung des in Frage stehenden Handels stattgegeben werden kann. (Bravo! rechts und im Zentrum.)

Abg. Brors (Zentr.) bemerkt zu dem Antrag Faßbender dem in Frage kommenden Gebiete stehen Interessen des ganzen Deutschen Reiches in Frage, namentlich unsere Landwirtschaft im Rheinlande ist durch die Verfälschung in ganz enormer Weise geschädigt. Aus einer Uebersicht über die Jahre 1906 bis 1912 ergibt sich, daß von den zur Untersuchung der Versuchs⸗ station eingesandten Proben nicht weniger als der siebente Teil durch Derfälschung als zu Futtermittelzwecken ungeeignet bezeichnet wurde. Hauptsächlich wird der Kruziferensamen zur Verfälschung benutzt, der mamentlich füx das Kleinvieh schädlich ist. Die Vermischung und Ver⸗ 8b cung der Futtermittel schreitet im Rheinlande beständig fort. Ber EE“ ihat sich über die Hälfte aller eingesandten Proben als befhalscht Erwiesen. Um die Feststellung dieser Verfälschungen hat sich esonders Dr. Haberkorn, der Winterschuldirektor in Erefeld, verdien gemacht, der sich die Proben verschafft und der Versuchsstation in Bonn⸗ eingesandt hat. Eine Genossenschaft im Landkreise Crefeld bezog von Einer Firma „prima reines Leinmehl“, erhielt dafür aber Leinmehl mit vermischt. Ein von dem Geschädigten angestrengter Prozes S bwebt beim Amtsgericht in Uerdingen schon seit 1910 bis auf de beutigen Tag, da die Firma jede Entschädigung abgelehnt hat. M. ennem anderen Falle war „prima reines Leinmehl“ mit 21 Kruß ferensamen gemischt. Dieses Maß der Verfälschungen ist nur dadufa⸗ moglich geworden, daß die Konsumenten gegenüber solchen Manipula⸗ tionen ganz wehrlos sind. Wenn die Gesetzgebung in dieser Beziehung nicht bald reformiert wird, werden diese Fälschungen noch weiter n sich greifen zum Schaden der Landwirtschaft. Die Staatsandhalt schaften lehnen heute alle Anträge auf Strafverfolgung von Händlern, die verfälschte oder verdorbene Futtermittel liefern, ab. Auch in zibil rechtlicher Beziehung versagt unsere Gesetzgebung. Die Vermehrung des Viehstandes und die Fleischversorgung erfordern gleichmäßig denr Erlaß eines Reichsfuttermittelgesetzes.

Abg. Dr. Becker (Zentr.): Der bestehende Rechtszustand genüg⸗ nicht, um die deutsche Landwirtschaft vor Nachteil zu beschützen. Sb ist eine empfindliche Lücke in unserer Gesetzgebung. Bei dem heutigen Aufschwung der Landwirtschaft gehen die Aufwendungen für die Futier⸗

Auf

des

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mittel in die Millionen, und dementsprechend groß sind die Verluste durch den Kauf schlechter Mittel. Die Zustände auf diesem Gebiet

sind vielfach geredezu standalös. Die Abwehr dieser Manipulationen ist sehr schwer; denn es muß der Nachweis geliefert werden, daß. 98 Verkäufer bewußt minderwertige Futtermittel geliefert hat, und Hiesge Nachweis ist meist nicht zu liefern. Deshalb muß auch die Fahrlässig keit unter Strafe gestellt werden. Nur so kann auch der kleine Land⸗ wirt vor Schaden bewahrt werden. Wenn heutzutage der Händler 82 moglichst wenig um die Qualität seiner Waren kümmert, so kann. 2 hanz ungestört seinen Schwindelbetrieb fortführen. Die preushn epierung sollte möglichst bald im Bundesrat einen darauf bezügliche Gesetzentwurf einbringen. 4

(Forlsetzung i