1885 / 102 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 02 May 1885 18:00:01 GMT) scan diff

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Wunsch, verschiedene vom Unfallversicherungswesen noch nicht erfaßte Betriebszweige in die Unfallversicherung aufgenommen zu sehen, läßst mich darauf schließen, daß meine Ueberzeugung nicht grundlos ist. Wer von uns Beiden Recht behalten wird, wird ja die Zukunft lehren. Ich kann nach wie vor die Hoffnung nicht aufgeben, daß wir mit dem Unfallversicherungsgesetz ein gutes Werk geschaffen haben und daß es gute Früchte tragen wird. Wenn nun der Herr Vorredner zu §. 1 schon die Frage gestreift hat, ob es nicht zweckmäßig sei, die Beamten, welche auch außerhalb der versicherungspflichtigen Betriebe im öffentlichen Dienste beschäftigt sind, von der Unfallversicherung erfaßt zu sehen, so weise ich hier darauf hin, daß der Bundesrath gegenwärtig mit einem Gesetzentwurf beschäftigt ist, welcher die Versicherung dieser Beamten in Aussicht nimmt, und daß, wenn dieser Gesetzentwurf demnächst an das Haus

gelangen wird, es an der Zeit sein wird, diese Frage zu diskutiren.

Was die bisher von der Unfallversicherungspflicht ausgenommenen Betriebsbeamten anlongt, die im Reichs⸗, Staats⸗ und Kommunal⸗ dienst beschäftigt sind, so strebt der Hr. Abg. Schrader das Ziel an, daß schon in diesem Entwurfe, abweichend von der Vorschrift des Unfallversicherungsgesetzes, auch diese Beamten in ei der Unfallversicherung eingeschlossen werden. Er ganz Recht, wenn er sagt, daß diese Frage sich demnächst bet einem späteren Paragraphen, bei §. 4, zweckmäßiger zur Diskussion stellen lassen wird, und ich beschränke mich jetzt hier darauf, den Vorbehalt zu machen, daß ich dann die Gründe ent⸗ wickeln werde, welche die verbündeten Regierungen bestimmt haben, davon abzusehen, auf die Reichs⸗, Staats⸗ und Kommunalbeamten das Unfallversicherungsgesetz auszudehnen, soweit sie mit festem Gehalt und Pensionsberechtigung angestellt sind, und welche Gründe dafür sprechen, die Frage der Fürsorge für dieselben ausschließlich auf dienst⸗ pragmatischem Wege zu regeln.

8 Der Herr Vorredner hat sodann bezüglich der Nr. 1 des §. 1 den Zweifel wiederbolt aufgestellt, was unter dem „gesammten Be⸗ triebe der Post⸗, Telegraphen⸗ und Eisenbahnverwaltung“ zu ver⸗

stehen sei, und namentlich gemeint, es sei nicht klar, welcher Kreis

von Beamten von der Fürsorge nach Maßgabe dieser Vorschrift er⸗ faßt werde. Der Herr Vorredner ist der Meinung, daß zu dem „gesammten Betriebe der Eisenbahn⸗ und Postverwaltung“ der ganze Kreis der im Eisenbahn⸗ und Postdienste beschäftigten Beamten gehöre, twa mit Ausnahme wie er sich ausdrückt der in der Centralinstanz ungirenden Beamten. Meine Herren, ich habe bereits in der Kom⸗ mission zu dieser Frage die Erklärung abgegeben, daß die verbündeten Regierungen den Kreis der versicherten Beamten nicht so weit ziehen. wie der Herr Vorredner, daß vielmehr beispielsweise beim Postdienst er Kreis der versicherten Beamten sich auf diejenigen Beamten be⸗ chränkt, welche im Beförderungs⸗ und Bestellungsdienste beschäftigt werden, daß aber nicht darunter bhegriffen sind die Beamten, welche lediglich in den Bureaux der Postanstalten zu fungiren haben. Aehn⸗ ich liegt auch die Sache bei der Eisenbahnverwaltung, und, meine erren, jeder Eisenbahntechniker, den ich darüber gehört habe, hat nir gesagt, daß cs in casu gar nicht zweifelhaft sei, welche Beamten als solche anzuseben sind, die im Eisenbahnbetriebe beschäftigt sind. Der Begriff des Eisenbahnbetriebs ist ein ganz feststehender und darum werden auch im Einzelfalle entweder garnicht oder doch höchst selten Zweifel darüher entstehen, ob ein im Eisen⸗ bahndienst thätiger und dort verunglückter Beamter als ein im Betriebe beschäftigter anzusehen ist oder nicht.

Was nun, meine Herren, den Antrag des Hrn. Abg. Kayser an⸗ langt, so bedauere ich sehr, daß dieser Antrag, wozu Hr. Kayser ja als Mitglied der Kommission Gelegenheit gehabt hätte, nicht bereits in der Kommission von ihm vorgebracht worden ist. Ich habe überhaupt meinem Bedauern Ausdruck zu geben, daß die Herren, welche sich vorzugsweise als die Vertreten der Arbeiter bezeichnen, so wenig den jetzt der Unfallversicherungs⸗ Kommission vorliegenden Entwürfen ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben. Ich habe es namentlich beklagt, daß neulich bei der sehr wichtigen Frage der Vertretung der landwirth⸗ schaftlichen Arbeiter bei dem Unfallversicher angswesen das Mit⸗ glied der Kommission, welches der sozialdemokratischen Partei angehört, durch seine Abwesenheit glänzte. Was nun diesen Antrag anlangt, so würde ich in der Kommission sehr begierig gewesen sein, die näheren Gründe desselben kennen zu lernen, und so weit diese Gründe mich davon überzeugt hätten, daß der Antrag sich auf der Linie der Grundgedanken unserer Unfallversicherungs⸗ gesetzgebung bewegt, würde ich auch gar nicht abgeneigt gewesen sein, ihm das Wort zu reden. Nun scheint mir aber, daß dieser Antrag eine fundamentale Abweichung von jenem Grund⸗ gedanken der Unfallversicherungs⸗Gesetzgebung enthält, welche es ganz unmöglich macht, daß wir uns dafür entscheiden können. Bisher nämlich, meine Herren, sind wir davon ausgegangen, zu untersuchen, welche Industriezweige und welche Betriebe mit einer Unfall⸗ gefaör verknüpft sind, und danach haben nir diese Betriebe in das Unfallversicherungsgesetz eingereiht, in der Absicht, daß im weiteren Ausbau dieser Gesetzgebung alle diejenigen Betriebe, die wir noch nicht eingereiht haben, von denen wir aber gleichwohl später entdecken, daß sie ebenso würdig sind, unter die Unfallversicherung gebracht zu werden, demnächst auch noch von der Unfallversicherungs⸗ gesetzgebung erfaßt werden sollen.

Der Antrag des Hrn. Abg. Kayser bringt nun einen ganz neuen Gedanken herein; er sagt nicht: die in den gefährlichen Betrieben der Feuerwehrleute, der Straßenkehrer, der Gartenarbeiter beschäftigten Personen sollen unter das Unfallversicherungsgesetz fallen, sondern er sagt: alle im Gemeindedienst beschäftigten Personen sollen gegen die Folgen der Unfälle geschützt werden, also er stellt hier nicht die Gefährlichkeit des Betriebes, sondern die Qualität des Arbeitsgebers in den Vordergrund. Das, meine Herren, ist grundfalsch, und ist meines Erachtens nicht zu acceptiren, denn eben so gut wie ich sage „alle im Gemeinde⸗ dienst beschäftigten Straßenkehrer sollen unter das Unfallversicherungs⸗ gesetz fallen“, eben so gat kann ich sagen „alle Straßenkehrer sollen unter das Unfallversicherungsgesetz fallen“ und ich sehe nicht ab, wie zwischen dem Straßenkehrer, der im Gemeindedienst beschäftigt ist und dem Straßenkehrer, der im Privatdienst beschäftigt ist, rück⸗ sichtlich der Fürsorge, die ihm etwa durch das Gesetz zugewendet werden soll, irgend ein Unterschied gemacht werden kann.

Am meisten könnte ich mich noch interessiren für die Feuerwehr⸗ männer und ich würde gar nicht abgeneigt sein, bei ihnen mich dafür auszusprechen, daß ihre sehr gefährliche Beschäftigung mit einer Für⸗ sorge bedacht werde, soweit für sie eine solche nicht bereits besteht. Inzwischen glaube ich aber, daß gerade für die im Gemeindedienst beschäftigten Feuerwehrmänner wenigstens für Berlin ist mir das bekannt bereits gesorgt ist. Soweit sie Beamte sind, ist durch die Kommunalstatuten über die Pensionsverhältnisse der Gemeindebeam⸗ ten gesorgt; und soweit sie Arbeiter sind, so bestehen ich will nicht behaup⸗ ten überall aber doch an vielen Orten, in denen organisirte Gemeinde⸗ Feuerwehren bestehen, auch zur Fürsorge für diese Feuerwehrleute Kassen.

Ich glaube also, meine Herren, daß man unmöglich diesen An⸗ trag annehmen kann, der lediglich das Kriterium des Gemeindedienstes zu Grunde legt; denn Sie werden mir zugeben, in dieser Beziehung besteht kein zwingender Grund, alle diejenigen Thätigkeitszweige, welche sich auf derselten Linie bewegen, welche aber nicht unter der Autorität einer Gemeinde geübt werden, von der Unfallfürsorge aus⸗ zuschließen.

Weiter bemerke ich, daß die Frage, soweit es sich dabei um Ge⸗ meindebeamte handelt, im weiteren Ausbau der Unfallversicherungs⸗ gesetzgebung auch ihre Erledigung finden wird. Allerdings beziebt sich das Gesetz, von dem ich vorhin gesprochen habe, nur auf Reichs⸗ beamte; aber es besteht die gegründete Erwartung, daß, wenn man für die Beamten des Reichs einmal erst eine geregelte hefosg⸗ auf diesem Gebiete getroffen haben wird, daß dann die

inzelstaaten sowie die Kommunen genöthigt sein werden zu folgen.

Ich möchte also diesem Antrage nicht das Wort reden, bitte viel⸗ mehr, ihn abzulehnen, und werde im Uebrigen erwarten, was gegen den §. 1, der die Annahme Ihrer Kommission gefunden hat, aus

dem Hause noch weiter etwa für Einwendungen werden gemacht werden.

Der Abg. Kayser erklärte, der Minister habe ge⸗ glaubt, seiner Partei Vorwürfe machen zu können wegen ihrer Thätigkeit in der Kommission. Er sei erst später in die Kom⸗ mission eingetreten, nachdem schon der §. 1 berathen gewesen sei. Auch bei seiner Partei könne es vorkommen, daß sie einmal verhindert sei, in einer Kommission zu erscheinen, da die Sozialdemokraten in mehreren Kommissionen gleichzeitig und nicht Geheimräthe mit hohem Gehalt seien. Wegen der letztern komme es oft vor, daß eine Kommissionssitzung ver⸗ tagt werde, wenn sie am Erscheinen verhindert seien. Der Minister habe darauf hingewiesen, daß für die Leute, welche er (Redner) in die Unfallversicherung einbeziehen wolle, ja bereits Kassen vorhanden seien. Das habe ihn über⸗ rascht, denn das hätten ja sonst die Freisinnigen geltend gemacht. Es sei übrigens Thatsache, daß in einer ganzen Reihe von Städten, in Leipzig, in Dresden z. B., für die Personen, welche er jetzt unter die Unfallversicherung zu stellen beantrage, freie Kassen nicht existirten. Wie würden also namentlich bie Feuerwehrleute geschützt, deren Thätigkeit Niemand für gefahrlos halten werde? Sein Vorschlag ver⸗ stoße auch nicht gegen den Grundgedanken des Unfallversiche⸗ rungsgesetzes. Der Minister stelle sich mit dieser Be⸗ hauptung in Widerspruch mit den Grundsätzen des Reichs⸗ kanzlers. Es komme gar nicht darauf an, in wessen Diensten die betreffende Person stehe, sondern ob sie im Dienst gefähr⸗ det sei oder nicht. Wenn er jetzt der Gemeinde die Ver⸗ pflichtung auferlegen wolle, ihre Bediensteten gegen Unfälle zu versichern, so passe das durchaus in den Rahmen des Ge⸗ setzes. Weshalb sollte man mit diesem Schritte warten? Freilich, bei den Zöllen habe man größere Eile. Es fehle der Vorlage der große Zug, man wolle den Mißständen nur stück⸗ weise abhelfen. Er würde die Unfallversicherung gern auf alle Straßenkehrer ausdehnen, aber vorläufig wolle er nur die der Gemeinden versichern, um zu konstatiren, daß, wer im Dienste einer Gemeinde stehe, auch ein Recht auf ihre Unter⸗ stützung habe. Wer eine feste Anstellung besitze, wie das bei der Feuerwehr der Fall sei, der solle auch unter das Unfall⸗ versicherungsgesetz gestellt sein.

Der Abg. Frhr. von Maltzahn⸗Gültz bemerkte, der Abg. Kayser werfe seiner Partei vor, die allgemeine Regelung der Arbeiterunfallversicherung verzögert zu haben; aber auch der Antrag des Abg. Kayser beziehe sich nur auf einzelne Kategorien, auf die im Gemeindedienst stehenden Arbeiter. Derselbe behaupte, daß die Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion in der Kommission keine Gelegenheit zu sachlicher Diskussion gehabt, weil sie sich einer Koalition gegenüber be⸗ funden hätten; aber das Gegentheil davon sei die Wahrheit. Er konstatire, daß gerade bei den entscheidenden Berathungen über ein Gesetz, das so wie dieses im Interesse der arbeitenden Klassen liege, die Mitglieder der Partei, welche der Wahrheit entgegen für sich die Vertretung jener Klassen in Anspruch genommen, gefehlt hätten und daß sie, wenn sie zugegen gewesen seien, nicht an der Berathung theilgenommen hätten. Der Abg. Kayser sage, derselbe sei nicht Mitglied der Kommission ge⸗ wesen, als §. 1 berathen worden sei. Es sei richtig, daß die sozialdemokratischen Mitglieder dieser Kommission zweimal gewechselt hätten. Warum hätten das die Mitglieder der anderen Parteien nicht gethan? Die Sozialdemokraten hätten deutlich gezeigt, daß sie wohl reden, aber nicht handeln wollten. In einem unbewachten Augenblick, wo der Abg. Kayser seine Worte nicht sorgfältig überwacht habe, habe der⸗ selbe gesagt, er verhandle diese Dinge lieber im Plenum. Uebersetzt heiße das, die Sozialdemokraten wollten nicht arbeiten, sondern nur Lärm schlagen. Gründe, die die Sozialdemokraten für ihr Verhalten an⸗ geführt hätten. der Grund darin liege, weil die Sozialdemokraten keine Diäten erhielten. Seine Partei erhalte auch keine Diäten und arheite doch. Die sozialdemokratische Partei scheine nur arbeiten zu wollen, wenn sie bezahlt werde. Der Abg. Kaiser wende ein, daß gerade, als entscheidende Beschlüsse in der Kommission gefaßt worden seien, gleichzeitig andere Kommissionen getagt hätten, in denen die sozialdemokratischen Mitglieder der Unfall⸗ versicherungs⸗Kommission vertreten gewesen seien. Ahber als über die Bildung der Arbeiterausschüsse und über die Be⸗ theiligung der Arbeiter an den Schicdsgerichten berathen worden sei, habe eine andere Kommission überhaupt nicht getagt. Aber selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, so hätten die Fraktionsgenossen des Abg. Kaiser doch vor Allem die Pflicht gehabt, au der Berathung über die Unfallversicherung theilzunehmen. An einem Abend habe eine entscheidende Berathung der Kommission deshalb vertagt werden müssen; die nächste Sitzung habe am folgenden Tage nach der Plenarsitzung festgesetzt werden sollen. Aber auch diese Plenarsitzung sei von den Fraktionsgenossen nicht besucht. Seine Partei wolle fort⸗ arbeiten an einer weiteren Ausdehnung der Unfallversiche⸗ rung. Aber komme nun auch die sozialdemokratische Partei und betheilige sich an den Arbeiten der Kommission und thue nicht immer, als ob die sozialdemokratische Partei verhindert würde, mit seiner (des Redners) Partei zu arbeiten.

Der Abg. Kayser erwiderte, es könne wohl einmal vor⸗ kommen, daß ein Kommissionsmitglied abgehalten werde, einer Kommissionssitzung beizuwohnen. Das komme nicht nur bei seiner Partei, sondern auch auf der Rechten vor. Die Rechte zeichne sich gerade nicht durch zahlreichen Besuch der Plenar⸗ und Kommissionssitzungen aus, namentlich komme das Schwänzen der Plenarsitzung bei der Rechten sehr häufig vor. Es hänge auch sehr viel von dem Vorsitzenden einer Kom⸗ mission ab. Er habe beispielsweise beantragt, die Kommissions⸗ sitzungen zu einer anderen Zeit abzuhalten, um denselben bei⸗ wohnen zu können, es sei auf seine Anträge keine Rücksicht genommen. Den Vorwurf, daß seine Partei nicht arbeite, weise er entschieden zurück, ebenso, daß sie nicht den Mund aufgethan hätte. Arbeiterfreundlichkeit bestehe nicht darin, daß man bestimmte Vorschläge fertig bringe, sondern, daß die Vorschläge, die zu Stande gekommen seien, auch den Arbeitern nützen würden. Gerade seine Partei lasse sich lediglich daoon leiten, was den Interessen der Arbeiter zugute komme, während bei der Rechten zahlreiche andere Interessen mitgesprochen hätten. Bei der Berathung des Unfallgesetzes für landwirthschaftlich Arbeiter in der Kommission habe die Rechte so viel agrarische und kapitalistische Interessen hineingebracht, daß ihm ordentlich übel dabei geworden sei. Die deutschen Arbeiter, welche seiner Partei ihr Vertrauen schenkten, würden sich durch die Censur des Abg. von Maltzahn nicht beirren lassen. Die Interessen

Was seien das für

Der Abg. Kayser habe angedeutet, daß

der Arbeiter würden besser aufgehoben sein, wenn seine Partei die Mehrheit hätte, dann würden die Arbeiter Nutzen von der Gesetzgebung haben und nicht blos die Grundbesitzer und Kapitalisten.

Der Abg. Frhr. von Maltzahn⸗Gültz erklärte, der Vor⸗ wurf, daß seine Partei das Arbeiterinteresse hinter ihr eigenes zurückgesetzt hätte, sei durchaus unbegründet, und dieser Vor⸗ wurf beweise wieder, daß der Abg. Kayser den Kommissions⸗ berathungen nicht beigewohnt habe, denn sonst würde derselbe nicht gerade ihm (dem Redner) diese Vorwürfe machen. Er empfinde tiefe Trauer darüber, daß große und ehrenwerthe Schichten des deutschen Volks mit ihren heiligsten Interessen so leichtsinnig umgingen, sich dermaßen hätten bethören lassen, daß sie Abgeordnete hierher gesendet hätten, die nachher so verfahren wären wie die Sozialdemokraten.

Der Abg. Schroeder bemerkte, eine Lehre würden vielleicht die Herren aus der Debatte entnehmen, daß nämlich diese ganze sozialpolitische Gesetzgebung nicht zur Versöh⸗ nung, sondern zur Verschärfung der Gegensätze führe. Was den Antrag Kayser betreffe, so ständen dem⸗ selben so große formale und materielle Schwierigkeiten entgegen, daß er dem Antrag nicht zustimmen könne.

Der Abg. Auer erklärte, wenn eine Partei wie die seinige, die aus nur 24 Mitgliedern bestehe, in fast allen 18 Kom⸗ missionen dieses Hauses vertreten sei, so könne es wohl vor⸗ kommen, daß dieses oder jenes Mitglied einmal in einer Kom⸗ missionssitzung fehle. Uebrigens habe seine Partei erst gestern einen Fraktionsbeschluß dahin gefaßt, daß ein solches Fehlen namentlich in mehreren Sitzungen hintereinander möglichst zu vermeiden sei. Die Behauptung des Abg. von Maltzahn, seine Partei arbeitete nur, wenn sie bezahlt werde, sei eine arge Verdrehung des Thatbestandes. Seine Partei arbeite hier trotz des himmelschreienden Zustandes, daß die Sozial⸗ demokraten, obwohl sie für ihren Unterhalt selbst zu sorgen hatten, ein halbes Jahr ohne Diäten in Berlin sein müßten. Die Herren der Rechten hätten ja auch keine Diäten, aber sie hätten ihr Hiersein zu einem Raubzuge am Volke benutzt. (Der Präsident ruft den Redner wegen der litzten Aeußerung zur Ordnung.)

Der Staats⸗Minister von Boetticher entgegnete, er möchte nur konstatiren, daß er diese Debatte nicht habe pro⸗ voziren wollen; seine Absicht sei nur gewesen, klar zu legen, wie die Sozialdemokraten nicht nur ihre Arbeiten in der Kom⸗ mission mangelhaft geleistet, sondern wie sie auch die Gesetze mangelhaft studirt hätten. Wenn sie mehr mit den anderen Mitgliedern des Reichstages arbeiten und die Gesetze besser studiren wollten, so würde das der Regierung eine werthvolle Unterstützung sein, die sie bisher habe entbehren müssen.

Der Abg. Kayser bemerkte, daß er gerade diese Art von Gesetzen recht gut kenne.

§. 1 wurde der ursprünglichen Fassung unverändert ar genommen, der Antrag Kagyser abgelehnt.

Die §§. 2 und 3 wurden ohne Debatte angenommen. §. 4 lautet:

„Die Erstreckung der Versicherungspflicht auf Betriebsbeamte mit einem zweitausend Mark übersteigenden Jahresarbeitsverdienst (§. 2 Absatz 1 des Unfallversicherungsgesetzes) kann durch die Aus⸗ führungsvorschriften erfolgen, soweit diese Beamten nicht nach §. 4 g. a. O. von der Anwendung des Gesetzes ausgeschlossen sind.

Die Kommission hat dem §. 4 folgenden Zusatz gegeben:

„Personen des Soldatenstandes sind von der Versicherung ausgeschlossen.“

Die Abgg. Schrader und Gen. beantragten: Im §. 4

der Vorlage die Worte „soweit diese Beamten nicht nach §. 4 gg. a. O. von der Anwendung des Gesetzes ausgeschlossen sind“ zu streichen und folgenden zweiten Absatz dem §. 4 hinzu⸗ zufügen:

„Auf Beamte, welche mit festem Gehalt und Pensionsberech⸗ tigung angestellt sind, findet dieses Gesetz mit der Maßgabe An⸗ wendung, daß denselben und ihren Hinterbliebenen die in den §§. 5 und 6 des Unfallversicherungs⸗Gesetzes bestimmten Renten und de in dem ersten Absatze des §. 5 a. a. O. festgesetzte Zuschuß zur Krankengelde erst vom Tage des Aufhörens der Gehaltszahlung an und nur in so weit zu gewähren sind, als dadurch die ihnen zu kommende Pension überschritten wird.“

Der Staats⸗Minister von Boetticher erwiderte, die Reichs regierung sei bereits mit der Ausarbeitung eines Gesetz entwurfs beschäftigt, welcher die Reichsbeamten der Unfall fürsorge unterwerfe. Darin seien zwar Staats⸗ und Kom munalbeamte noch nicht einbegriffen, indessen würden dieselben bald nachfolgen können. Den Antrag Schrader bitte er abe entschieden abzulehnen, es sei darin nicht auf die besonderern

Verhältnisse der Beamten Rücksicht genommen. Es müßte nach

dem Antrage beispielsweise ein Eisenbahnbeamter, wenn der selbe durch sein grobes Verschulden einen Eisenbahnunfall herbeigeführt habe und dabei verletzt worden sei, selbst dann die gesetzliche Unfallfürsorge erhalten, wenn demselben dis ziplinarisch die Pensionsberechtigung aberkannt sei. Der gleichen vertrage sich weder mit der Disziplinargesetzgebung noch mit den besonderen Anforderungen, welche mit der Ver⸗ antwortlichkeit der Beamten für ihre Dienstangelegenheiten verbunden sei.

Der Antrag Schrader wurde abgelehnt; §. 4 in der Kommissionsfassung unverändert angenommen, ebenso die folgenden Paragraphen bis §. 8.

§. 9 lautet:

Vorschriften der Ausführungsbehörden über das in den Be⸗

trieben von den Versicherten zur Verhütung von Unfällen zu beobachtende Verhalten sind, sofern sie Strafbestimmungen ent⸗

halten sollen, vor dem Erlaß mindestens drei Vertretern der Ar⸗

beiter zur Berathung und gutachtlichen Aeußerung vorzulegen. Die Berathung findet unter Leitung eines Beauftragten der Aus⸗

führungsbehörde statt. Die auf Grund solcher Vorschriften ver⸗

hängten Geldstrafen fließen in die Kraxkenkasse, welcher der zu ihrer Zahlung Verpflichtete zur Zeit der Zuwiderhandlung angehört. Der Abg. Schrader beantragte, die Worte „sofern die Strafbestimmungen“ bis zu Ende zu ersetzen durch folgende Worte:

„Den auf Grund des §. 5 des Gesetzes gewählten Vertretern der Arbeiter vor dem Erlaß zur Berathung und gutachtlichen Aeußerung durch Vermitteluang der Unter⸗Verwaltungsbehörde vor⸗ zulegen. Die Unter⸗Verwaltungsbehörde beruft die Vertretergruppe

zu einer Berathung über die Vorschriften und leitet die Verhand-

lungen. Das über die Verhandlungen aufzunehmende Peotokoll ist binnen 6 Wochen nach erfolgter Mittheilung an die Aufsichts⸗ behörde zurückzusenden. Die Protokolle sind, sofern sie rechtzeitig rictgeben, dem Antrage auf Genehmigung der Vorschriften beizu⸗ geben.“

Der Abg. Dr. Buhl beantragte, den Paragraphen dahin abzuändern, daß der mit der Leitung der Berathung Beauf⸗ tragte der Verwaltungsbehörde nicht der unmittelbare Vorge⸗ setzte der Arbeiter sein dürfe.

Der Abg. Schrader führte zur Begründung seines An⸗ trages aus, daß durch denselben eine größere Unabhängigkeit

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der Arbeiter ihren Arbeitgebern gegenüber geschaffen und zu⸗ gleich den Arbeitern die Mözlichkeit gegeben werde, ihre Mei⸗ nung unbefangen darzulegen. Auch das große Unfallver⸗ sicherungsgesetz enthalte eine ähnliche Bestimmung.

Der Abg. von Helldorff erklärte, er könne in dem An⸗ trag nur den Ausdruck des Mißtrauens gegen die höheren Verwaltungsbeamten erblicken. Die unteren Verwaltungs⸗ behörden mit der Leitung der Berathung zu befassen, sei nicht empfehlenswerth, weil dieselben nicht die nöthigen technischen Kenntnisse für derartige Verhandlungen besitzen würden.

Der Staats⸗Minister von Boetticher hob hervor, daß die vorjährige Vorlage der Regierung die Arbeiterausschüsse gleich⸗ falls enthalten habe, jedoch sei dieser Vorschlag vom Reichstag abgelehnt. Der Antrag Schrader befinde sich also in Harmonie mit dem früheren Vorschlag der Regierung, setze sich aber in Disharmonie mit den Beschüssen der Majorität des Reichstags. 1

Der Abg. Kayser erklärte sich für den Antrag Schrader.

Der Abg. Richter (Hagen) bemerkte, der Antrag stehe durchaus nicht in Disharmonie mit den früheren Beschlüssen. Es handele sich hier um einen Staatsbetrieb, während in den übrigen Ausschüssen sich Arbeiter und Arbeitgeber gegenüber⸗ ständen. Aber es seien nicht die eigenen Arbeitgeber, welche die Arbeiter sich gegenüber häatten, während das hier der Fall sein solle. Dazu komme noch, daß das Verhältniß der staatlichen Arbeiter gegenüber ihren Vorgesetzten ein viel strafferes sei. Wenn man die Sache so ließe, wie sie hier vorge⸗ schlagen sei, so werde die Zuziehung der Arbeiter nur eine dekorative sein. Auf Grund praktischer Erfahrungen und um wirklich die ungeschminkte Meinungsäußerung zu sichern, habe er den Abänderungsantrag eingebracht.

Der Abg. Dr. Windthorst empfahl den Antrag Buhl. Das Centrum habe sich früher gegen die Arbeiterausschüsse erklärt, nicht um die Arbeiter unter die Knute der Arbeit⸗ geber zu bringen, wie in sozialdemokratischen Versammlungen behauptet worden sei, sondern um durch die gemeinsame Arbeit ein friedliches Verhältniß zwischen Arbeitgebern und Arbeitern zu befördern.

Nachdem sich noch der Abg. Frhr. von Maltzahn⸗Gültz gegen den Antrag Schrader erklärt hatte, wurde derselbe ab⸗ gelehnt, und hierauf §. 9 mit dem Antrag Buhl mit großer Majorität angenommen, die §§. 10—12 wurden un⸗ verändert genehmigt.

Ueber den Vorschlag des Präsidenten, auf die morgende Tagesordnung die noch restirenden Paragraphen der Zoll⸗ tarifnovelle, außerdem die zweite Berathung des Zuckersteuer⸗ und des Unfoalbversicherungsgesetzes zu setzen, entstand eine längere Geschäftsordnungs⸗Debatte.

Der Bbg. Dr. Bamberger machte darauf aufmerksam, daß der Bericht der Kommission betreffs der Bestimmungen über das Inkrafttreten der Zolltarifnovelle noch nicht vorliege und daß zwischen der Vertheilung und der Berathung des⸗ selben geschästsordnungsmäßig eine Frist von zwei Tagen liegen müsse.

Der Präsident erwiderte, der Bericht sei im Druck und werde noch heute vertheilt werden. Es handele sich übrigens nicht um einen schriftlichen, sondern nur um einen münd⸗ lichen Bericht. Bei der Geschäftslage müsse es allseitig er⸗ wünscht sein, die zweite Lesung schon morgen vorzunehmen.

Der Abg. Dr. Bamberger erklärte, er sei von vornherein immer geneigt, den Vorschlägen des Präsidiums und anderer Paorteien entgegenzukommen, wenn es sich darum handele, die Geschäfte zu fördern. Da er aber den Inhalt des Berichts noch nicht kenne, so behalte er sich vor, wenn morgen die Tragweite der Kommissionsbeschlüsse nicht übersichtlich sein sollte, die Absetzung von der Tagesordnung zu beantragen, und hoffe in diesem Falle auf Berücksichtigung seines Antrages.

Der Abg. Frhr. zu Franckenstein erklärte, daß er morgen beantragen werde, für Montag die zweite Berathung des

Börsensteuergesetzes (Antrag von Wedell⸗Malchow) auf die

Tagesordnung zu setzen. Es blieb beim Vorschlag des Präösidenten. f vertagte sich das Haus um 5 Uhr auf Sonnabend

Im weiteren Verlauf der gestrigen (62.) Sitzung des Hauses der Abgeordneten erklärte bei fortgesetzter (2.) Berathung des §. 2 des Antrages des Abg. Frhrn von Eehn vderre der landwirthschaftlichen Zölle, der Abg. Büchtemann, die Nationalliberalen hätten in der Kommission bis zum letzten

Augenblick die Ansicht vertreten, daß eine Ueberweisung an Reichs⸗ seine Abstimmung lediglich danach einzurichten, ob der Wahl⸗

einnahmen bei der gegenwärtigen Finanzlage unthunlich und

des Abg. Enneccerus übereinstimmten, müsse man dem Ur⸗ theil des Hauses überlassen. Die Rede des Abg. von Rauch⸗

haupt dürste ihrem sachlichen Inhalte nach und ab⸗

gesehen von dem Selbstbewußtsein, das den Führer der Konservativen auszeichne, selbst seine politischen Freunde enttäuscht haben. Auch aus den Reihen der Anhänger der neuen Wirthschaftspolitik werde jetzt zu⸗ gegeben, daß von den Getreide⸗ und Viehzöllen fast nur der Großgrundbesitz Vortheil habe, jüngst habe Prof. Schmoller in einer besonderen Schrift das nachgewiesen, und die von dem Abg. Wagner neulich angerufene Autorität des Hrn. Kühn dürfte damit wohl abgethan sein. Die Verwendung der an Preußen gelangenden Summen, wenn sie durch die Kreise er⸗ folge, bedeute also eine Ungerechtigkeit gegenüber allen Klassen der steuerzahlenden Bevölkerung, die nicht zu den Großgrund⸗ besitzern gehörten. Die Kreislasten seien nur sehr beschränkter Natur, sie hätten mit den Armen⸗ und Schullasten recht wenig Gemein⸗ sames und ihre Erleichterung bringe keine Erleichterung für Diejenigen, die ihrer am meisten bedürften. Die Kreise würden von neuen Ausgaben keineswegs durch den Umstand zurück⸗ geschreckt werden, daß die bestehenden Kreissteuern nicht ver⸗

mindert worden seien. Seine Partei hoffe von der nächsten

Zeit freilich eine Aenderung ebenso wenig auf diesem wie auf den übrigen Staatsverwaltungsgebieten; sie erhoffe eine Besserung erst dann, wenn die Begehr⸗ lichkeit, die sich heute leider überall hervordränge, wieder in den Hintergrund getreten sein und einer unbe⸗ fangenen Würdigung der Thatsachen Platz gemacht haben würde.

Der Abg. von Eynern polemisirte gegen die Deutsch⸗ freisinnigen und namentlich gegen die fortgesetzte unmotivirte Hereinziehung des Tabackmonopolprojekts in die Debatten; er könne nicht begreifen, wie ein Gegner der Getreide⸗ und Vieh⸗ zölle nicht mit Freuden auf das Verwendungsgeset eingehen wolle, welches doch die Erträge dieser Zölle, deren Bewilligung durch die Rechte und das Centrum nach der gestrigen Ab⸗

stimmung sicher erfolgen würde, den Steuerzahlern indirekt wieder zuführen wolle.

Der Abg. Dr. Enneccerus zog seinen Antrag als aus⸗ sichtslos zurück; nach Schluß der Diskussion wurde §. 2 der Kommissionsvorschläge mit großer Majorität genehmigt.

§. 3 bestimmt nach dem Kommissionsvorschlag, daß die Vertheilung der überwiesenen Summe auf die einzelnen Kreise zu nach dem Maßstab der in den einzelnen Kreisen auf⸗ kommenden Grund⸗ und Gebäudesteuer, zu nach der Civil⸗ bevölkerung erfolgen soll.

Der Abg. Dr. Wehr beantragte folgende Fassung:

„Den Stadtkreisen im Ganzen wird ein nach dem Maßstabe der Civilbevölkerung bemessener Betrag überwiesen und auf sie nach dem gleichen Maßstabe vertheilt.

Der Rest des Ueberweisungsbetrages wird auf die Kreise zu nach dem Maßstabe der Civilbevölkerung, zu ½ nach dem Maßstabe der Fläche vertheilt.“

Eventuell beantragte der Abg. Dr. Wehr im Verein mit dem Abg. Frhr. von Minnigerode, den Rest des Ueber⸗ weisungsbetrages auf die Kreise zu ½ nach dem Maßstabe der Grund⸗ und Gebäudesteuer, zu nach dem Maßstabe der Civilbevölkerung, zu nach dem Maßstabe der Fläche zu vertheilen.

Die Abgg. Frhr. von Huene und von Rauchhaupt bean⸗ tragten, im §. 3 hinter den Worten: „in den einzelnen Kreisen aufkommenden Grund⸗ und Gebäudesteuer“ hinzuzufügen die Worte: „unter Hinzurechnung der fingirten Grund⸗ und Ge⸗ bäudesteuer vom fiskalischen Besitz“.

Der Abg. von Meyer (Arnswalde) beharrte dabei, daß

das Gesetz unannehmbar sei. v Der Abg. Dr. Wehr führte aus, daß kein Maßstab ge⸗

eignet sei, den östlichen Provinzen gerecht zu werden und ihre

Bedürfnisse zu befriedigen. Der Osten sei ja stets das Stief⸗ kind der Regierung. Wenn das Haus seinen Antrag nicht annehmen wolle, dann bitte er, den eventuellen Antrag, den

er mit Frhrn. von Minnigerode gemeinsam gestellt habe, anzu⸗ nehmen. Sollte es bei der Vorlage bleiben, dann werde

hoffentlich das Herrenhaus eine Korrektur schaffen. Der Staats⸗Minister Dr. von Scholz bat, bei der Beur⸗

theilung des §. 3 nicht von Anschauungen auszugehen, welche zwischen den einzelnen Provinzen unterschieden und die Ost⸗

provinzen als die Stiefkinder der Regierung hinstellten, von einer Vergewaltigung des Ostens sprächen und dergleichen. Ein solcher Gebankengang sei durch und durch un⸗ berechtigt. Für die Regierung gebe es absolut keine

Stiefkinder unter den Provinzen; er weise das ganz

entschieden zurück. Wäre die Regierung, wie unter Umständen

Eltern gegen das jüngste Kind, zu nachsichtig gegen eine neue Provinz, so könnte das auch unter Umständen ein Gebot der

Politik sein, aber von einer gewollten bewußten Zurücksetzung der östlichen Provinzen bei der Regierung zu reden,

davon bitte er, sich nicht leiten zu lassen. Er wiederhole, daß

am besten die Vertheilung im Sinne des nationalliberalen

Antrags vorzunehmen gewesen wäre; es sei ja Absicht und Ziel der Regierung, die ganze Grund⸗ und Gebäudesteuer

an die Gemeinden und Kreise zu überweisen, und man müsse im Uebrigen dahin kommen, dem Druck der Armen⸗ und Schullasten durch direkte antheilige Uebernahme auf die

Staatskasse abzuhelfen. Er habe sich schon vor einiger Zeit für die Uebernahme der Hälfte der Schullast ausgesprochen, er würde selbst auch gar kein Bedenken tragen, dasselbe

Verhältniß auch für die Armenluͤsten einzuführen. Dann würde man in natürlicher Weise dahin gelangen, den Gemeinden erstens die Steuern zu überweisen, welche ihnen von Natur gebührten, und im Uebrigen an den großen

Lasten, von denen der Druck hauptsäch herrühre, sich quoten-

weise von Staatswegen betheiligen. Wer in dieser Weise ernstlich die Erleichterung wolle, könne es hier, wo erst ein kleiner Anfang zu diesen Neuordnungen gemacht würde, nicht schwierig finden, zu einem angemessenen Vertheilungsmaßstab zu kommen, wenn nur die Grund⸗ und Gebäudesteuer aus dem Maßstabe nicht ganz hinausfalle.

Der Abg. von Tiedemann (Bomst) konstatirte, daß die

speziell ländlichen Kreise bei allen Vertheilungsmaßstäben zu

kurz kämen; einen Masßstab, der allen gerecht werde, gebe es nicht. Wolle man die Kommunen entlasten, dann müsse man nicht ihre Leistungssähigkeit, sondern ihre Belastung zur Grund⸗

lage der Vertheilung nehmen. Die besten Kriterien seien die Bevölkerung und die Fläche. Die Einnahmen aus den Kornzöllen, welche doch wesentlich als Kornsteuern wirkten, müßten nach der Kopfzahl vertheilt werden, schon um einer Agitation gegen

die Kornzölle entgegenzuarbeiten. Man scheine allerdings

kreis bei dem einen oder anderen Modus recht viel erhalte.

zweckwidrig, ja verhängnißvoll sei; ob damit die Ausführungen Bei dieser Frage müsse die Staatsregierung ein „bis hierher und nicht weiter“ sprechen.

Der Abg. Freiherr von Minnigerode gestand zu, daß es

sich hier um einen Interessenkampf handle. Bei dem Dotations⸗ gesetz habe man die Fläche in Betracht gezogen, das sollte man im Interesse der armen Kreise mit dünn gesäter Bevölkerung auch diesmal thun. Da aber dabei die Städte benachtheiligt würden, so möge man die Städte nach der Bevölkerung vorab berücksichtigen. 8 Der Abg. Dr. Meyer (Breslau) erklärte, seine Partei stehe mit ihren Grundanschauungen doch nicht so isolitt, wie der Abg. von Tiedemann (Bomst) glauben machen wolle. Jetzt stehe man vor der schwierigsten Frage: wie soll vertheilt werden? Den eigentlichen Vertheilungsmodus, den man gern haben möchte, habe man verkramt. Man wolle gerecht vertheilen, das wolle seine Partei auch. Im gemeinen Leben kümmere man sich gar nicht um die Definition der Philosophen, sondern jeder finde das gerecht, wobei er am meisten bekomme; es sei unmöglich, eine Alle befrie⸗ digende Vertheilungsweise zu finden. Die Kalkulatur des Reichstagsbureaus könne sich der Aufgabe unter⸗ ziehen, zu untersuchen, bei welchem Modus die Allge⸗ meinbeit am besten fahre. Wenn er in seine heimath⸗ liche Tabelle blicke, so sei er hier für jede Moral einer ge⸗ rechten Vertheilung unrettbar verloren. Wenn der Finanz⸗ Minister sage, er wolle die Hälfte der Armenlasten auf den Staat übernehmen, so könne die Armenpflege nicht schlimmer bestellt sein, als wenn dies geschähe. Es handele sich hier nicht darum, die Nothlage der Gemeinden zu beseitigen, sondern ihre Selbständigkeit zu vernich⸗ ten. Man wolle die Gemeinden zu Päppelkindern des Staates herabwürdigen; man solle lieber erst den Gemein⸗ den das Recht auf Almosen zusprechen, dann werde man es dem Einzelnen nicht lange mehr vorenthalten können. Was eine Grundsteuer im Allgemeinen betreffe, so sei er der Ansicht, daß sie einerseits unentbehrlich sei und andere rseits den

Gemeinden gehöre. Gebe es nicht Leistungen der Ein zelnen, die niet⸗ und nagelfest in ein Grundstück eingesteckt seien? Deshalb würde eine sogenannte Immobiliarsteuer höchst ungerecht sein. Was sei nun eine fingirte Grundsteuer, von welcher der Abg. von Rauchhaupt spreche. Es würden hier Steuern aufgestellt, nicht um erhoben zu werden, sondern um als Grundlage für andere künstliche Steuern und Erhebun⸗ gen zu dienen. Das Ganze sei ein so gekünsteltes, geschnör⸗ keltes Gebäude, daß es bald zu Falle kommen werde.

Der Abg. Frhr. von Huene entgegnete, alle grundsteuer⸗ freien Grundstücke seien sämmtlich zum Grundsteuerreinertrag veranlagt, daher komme der Ausdruck „fingirte“ Grundsteuer. Dem Abg. Dr. Wehr erwidere er: Der §. 4 sei kein Raff⸗ paragraph, sondern sein (des Abg. Wehr) Antrag sei ein Raff⸗ antrag. Man dürfe nicht, wenn man nach einem Vertheilungsmaßstabe suche, nur einsach die Tabelle sprechen lassen. Man müsse das Bedürfniß in Rechnung ziehen und dieses scheine ihm durch die Bevölke rung repräsentirt zu werden. Sein Antrag fasse ins Auge die demnächstige Ueberweisung der Grund⸗ und Gebäudesteuer an die Gemeinden, sobald dies möglich sein werde; darauf könne man die Leute heute nicht vertrösten, daß der Staat die Hälfte der Armenlasten übernehmen werde. Es würden durch seinen Antrag die ärmeren und industriellen Bezirke, sowie die kleineren Städte einen größeren Zu schuß bekommen, wie die reicheren landwirthschaftlichen Bezirke und größeren Städte. Man wolle doch hier kein Almosen⸗ gesetz schaffen. Der Antrag Minnigerode nehme die Stadt⸗ kreise auf, damit werde doch aber nicht das Mißverhältniß be seitigt. Seine Freunde vom Rhein würden ihm sagen: wenn es nicht gelingt, einen relativ vernünftigen Vertheilungsmaß stab zu finden, wie die Kommission vorschlägt, so ist für uns das ganze Gesetz unannehmbar. Wenn man an diesen Nebensachen das ganze Gesetz scheitern lassen wolle, dann möge man das vor den Wählern ver antworten. Der Abg. Rickert habe im Reichstage gesagt, man gehe jetzt damit um, immer neue Zölle zu schaffen und einen großen Theil des Ertrages an die Kommunen zu überweisen, und zwar in der Art und Weise, daß der arme Mann noch dop⸗ pelt dadurch geschädigt werde. Da scheine er ihm (dem Redner) doch die Statistik völlig außer Acht zu lassen. (Redner verlas in ausführliches Material über die Verwendung der Erträge aus den landwirthschaftlichen Zöllen.) Er bitte also, den An trag der Kommission anzunehmen.

Darauf wurde die Diskussion geschlossen.

Persönlich verwahrte sich der Abg. Dr. Wehr gegen die Behauptung des Abg. Frhrn. von Huene, daß er gegen das ganze Gesetz stimmen wolle, er habe durch seinen Antrag nur das Gesetz so rationell wie möglich gestalten wollen. Sodann zog er seinen speziellen Antrag zurück, hielt dagegen seinen Antrag in Gemeinschaft mit dem des Abg. Frhrn. von Minnigerode aufrecht. Dieser, sowie der Antrag des Abg. Frhrn. von Zedlitz wurden abgelehnt und die Kommissionsfassung nebst Amen⸗ dement Huene⸗Rauchhaupt angenommen.

Darauf vertagte sich das Haus um 3 ¾ Uhr auf Sonn⸗

abend 11 Uhr.

Literarische Neuigkeiten und periodische Schriften.

1 Preußisches Verwaltungs⸗Blatt. Nr. 30 IJnhalt: Kriterien der „Schulen, welche der allgemeinen Schulpflicht dienen“ der „Elementar⸗ (Volks⸗) Schulen“. Kommunalsteuerexemtion der „Elementarschullehrer“. Kommunalsteuerpflicht der (Elementar⸗) Lehrer an Mittelschulen, Mädchenbürgerschulen, Gymnasial⸗Vor⸗ schulen ꝛc. Pensionsverhältnisse der (Elementar⸗) Lehrer an Mittel⸗ schulen ꝛc. Bürgerrechtsgeld. Inanspruchnahme eines Weges für den öffentlichen Verkehr. Das Beweisthema für den Kläger. Behandlung des Falles, wenn die Erledigung eines Amtsgeschäfts (Wegepolizeisache) zu Unrecht einer anderen als der an sich zuständigen Behörde (Amtsvorsteher) übertragen worden ist. Persönliche Be⸗ theiligung des Amtsvorstehers bei Erledigung eines Amtsgeschäfts, speziell bei wegepolizeilichen Anordnungen. Beantwortung von Anfragen.

Beiheft zum Militär⸗Wochenblatt. 4. Heft. Inhalt: Der russische Kriegsschauplatz in seinem Einflusse auf die dort operirenden Armeen im Feldzuge 1812 und dem Polnischen Insurrektionskriege 1830/‚31. Eine Studie von Krahmer, Major im Großen Generalstabe, kommandirt zur Kommandantur von Königs⸗ berg i. Pr.

Deutsche Landwirthschaftliche Presse. Nr. 34. In⸗ halt: Konferenz der Direktoren und ordentlichen Lehrer der deutschen Ackerbau⸗ und landwirthschaftlichen Winterschulen. Schau⸗ fragen. III. Von H. von Nathusius⸗Althaldensleben. Feuilleton. Lebensdauer der Bevölkerung. I. Wirthschaftsplaudereien für Landwirthsfrauen. Anbauversuche mit schwedischem Saatgut V. Von Prof. Dr. Alex. Müller. Correspondenzen. Literatur. Miscellen. Patentliste. Landwirthschaftliche Lehranstalten. Deutscher Reichstag und preußischer Landtag. Sprechsaal. Handel und Verkehr.

Blätter für höheres Schulwesen. Nr. 5. Inhalt: Dr. Aly, Unsere Petitionen im Abgeordnetenhause. Gilles (Essen), Was kann der höhere Lehterstand selbst zur Hebung seiner Interessen thun? (Schluß folgt.) Dr. Hilmer (Goslar), Berechtigungen des Realgymnasiums. (Schluf.) Dr. Bauder (Homburg), Gedanken und Vorschläge, betreffend den Arbeitstag. Vogrinz (Brünn), Die wissenschaftliche Bethätigung der Gymnasiallehrer und die Lehrer⸗ bhibliorheken. Dr. Aly, Ein neuer Angriff auf das humanistische Gymnasium. Schlesische Waisenkafse. Kleine Mittheilungen. Bücherschau: Sander (Magadeburg), Deutsch und philos. Propädeutik. Personalia (vom 16. März bis 10. April 1885). (Schluß folgt.)

Illustrirte Berliner Wochenschrift „Der Bär.“ Nr. 30. Inhalt: Gedenktage. Ideale. Novelle von K. Rinhart. Handel und Gewerbe unter Friedrich I. Die Memeoiren eines Kaisers von Madagaskar, herausgegeben von Oskar Schwebel. Feuilletoen: Aus der Entwickelung Berlins in den letzten fünfund⸗ zwanzig Jahren. Miscellen: Erinnerung an Louis Schneider (von Dr. Beringuier). Das Knobelsdorffsche Haus in der Leipzigerstraße. Gehalt der Brandenburgischen Militärärzte im 17. Jahrhundert. Edikt wegen Adschaffung des Maiensetzens. Der schwarze Graben. Juhiläums⸗Ausstellung. Korrespondenzblatt der Geschichtsvereine. Kleine Chronik. Das Kriegs⸗Ministerium (Abbildung, Geheimer Medizinal⸗Rath Barez (Portrait). Theaterfriseur Warnecke (Abbil⸗ dung). Ehreahumpen in Silber (Abbildung).