1889 / 46 p. 6 (Deutscher Reichsanzeiger, Wed, 20 Feb 1889 18:00:01 GMT) scan diff

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Schreien tobten, die 8 neugierig würden und 10

opferten. Werde dieses Schreien verboten, so rentire das Ge⸗ schäft nicht mehr und es würden nur dann Extrablätter ver⸗ kauft werden, wenn es absolut nothwendig sei. Jedenfalls sei diese Art des Vertriebs als grober Unfug anzusehen.

Minister des Innern, Herrfurth: Der Hr. Abg. Dr. Arendt und seine Freunde, welche seine An⸗ regung mit einem „Bravo“ begleiteten, haben sich doch wohl nicht ganz die bedenklichen Konsequenzen klar gemacht, zu welchen dieser Antrag führen würde Ich erkenne an, daß das Extrablatt⸗Wesen oder⸗Unwesen sich allerdings in der von ihm bezeichneten Weise hier zu einem vollständigen Schwindel ausgebildet hat, und daß es Pbr wünschenswerth sein würde, diesem Schwindel ein Ende zu machen.

Eingeschritten kann gegen diesen Extrablattschwindel werden auf zwei Wegen: einmal gegen den Herausgeber und Verleger, zweitens gegen den Verkäufer und Vertreiber der Extrablätter.

Soweit es sich um ein Einschreiten gegen den Verleger und Redacteur handelt und nach dieser Richtung hin ist von dem Herrn Vorredner ausdrücklich eine Anregung dahin gegeben worden, es solle geprüft werden, ob wirklich eine Neuheit in dem Blatt ent⸗ halten sei —, läuft der Antrag eigentlich hinaus auf die Einführung einer Censur für die Extrablätter, und das ist verfassungswidrig.

Insoweit das Stra gesetz durch ein Extrablatt der bezeichneten Art überschritten werden sollte, wird in jedem Falle Abhülfe ge⸗ schaffen werden. Es muß nach dem Preßgesetz von jedem Extrablatt ein Pflichtexemplar eingereicht werden. Findet sich in diesem Pflicht⸗ exemplar irgend etwas Strafwürdiges, dann bekommt der Staats⸗ anwalt das Blatt, und der schreitet ein; eine Censur durch die Polizei ist unthunlich.

Die zweite Art des Einschreitens ist möglich gegen die Verkäufer und Ausrufer. Meine Herren, in dieser Beziehung wird schon jetzt von der Polizeibehörde pflichtmäßig eingeschritten, und zwar nach zwei Richtungen hin: einmal wenn die Verkäufer durch die Art und Weise des Betriebs ihres Straßengewerbes denn das ist es den Ver⸗ kehr hemmen, auf den Trottoirs sich aufpflanzen und die Leute auf⸗ halten, dann wird unnachsichtlich gegen dieselben eingeschritten; ebenso wenn sie in der Art und Weise des Ausrufens soweit gehen, daß grober Unfug entsteht. Gegen jedes laute Ausrufen eines Straßen⸗ gewerbes einzuschreiten, ist nicht möglich. Wenn man soweit gehen wollte, würde ja kein Sandverkäufer in ganz Berlin mehr existiren. Aber, meine Herren, ich halte es wirklich für bedenklich, immer gleich nach der 2 zu rufen, wenn irgend eine Unbequemlichkeit oder Ungelegen⸗

eit vorkommt, bei der sich das Publikum sehr wohl selbst helfen kann; denn das Publikum hat hier die Abstellung jenes Uebelstandes vollständig in der Hand. Wer zweimal auf ein Extrablatt herein⸗ gefallen ist, der ist selber daran schuld, wenn er zum dritten Male wieder hereinfällt. Man möge die Extrablätter nicht mehr kaufen, dann werden sie auch nicht mehr verkauft. Allerdings gebe ich zu, es müßten das dann Alle thun, aber wenn das nicht geschieht, dann überlassen Sie wenigstens den Ankauf von Extrablättern Denen, „die nicht alle werden“.

Abg. Rickert: Er könne Alles unterschreiben, was der Minister des Innern gesagt habe, er freue sich, daß der Minister die Rede gehalten habe, die sonst von einem Vertreter des Volks hätte gehalten werden müssen, und daß der Minister einem Abgeordneten gesagt habe: „Rufen Sie doch nicht immer gleich nach der Polizei!“ Er wolle danach nur noch konstatiren, daß es Leute gebe, die diese Ansicht des Ministers theilten. Alle von dem Abg. Dr. Arndt vorgeschlagenen Mittel verfingen nicht. Seine Nerven seien durch das Geschrei der Ertrablattverkäufer nicht erschüttert. Er sei auch Anfangs hineingefallen und habe seinen Groschen bezahlt; nachdem er das dreimal gethan, sei es ihm nicht mehr passirt. Heute gehe das Publikum ruhig an den Verkäufern vorüber, und das sei die beste Abhülfemethode.

Abg. Dr. Windthorst: Er wolle sein Einverständniß mit dem Minister in allen Punkten dadurch manifestiren, daß er auf das Wort verzichte.

Die Ausgaben für die Polizeiverwaltung in Berlin wurden bewilligt.

Bei dem Kapitel „Polizeiverwaltungen in den Provinzen“ beschwerte sich der Abg. von Czarlinski darüber, daß der Re⸗ gierungs⸗Präsident von Massenbach in Marienwerder als Vorsitzender des Bezirksausschusses in einem bestimmten Falle die Kolportage von polnischen Gebetbüchern verboten habe. Der Kolportageparagraph der Gewerbeordnung gegen die Schand⸗ und Schundliteratur werde hier ausgebeutet zu politi⸗ schen smedeg. Da die in Rede stehenden Gebetbücher von der bischöflichen Behörde approbirt seien, so laufe die Maß⸗ regel schließlich auf einen Angriff auf die Religion hinaus: dem Volk sollten seine Gebetbücher genommen werden. Er halte es für seine Pflicht, auch auf dieses Symptom in der Polenfrage aufmerksam zu machen.

Minister des Innern, Herrfurth:

Der Hr. Abg. von Czarlinski hat die Güte gehabt, mich gestern davon in Kenntniß setzen zu lassen, daß er diesen Fall hier zur Sprache bringen würde. Meine Herren, wenn das nicht geschehen wäre, so würde ich allerdings haben sagen müssen: ich weiß absolut nichts von diesem Fall. Es scheint aber, als ob der Hr. Abg. von Czarlinski viel mehr auch nicht davon wisse, denn er bezieht sich nur auf eine Notiz in einer polnischen Thorner Zeitung. Ich habe übrigens sofort den Telegraphen spielen lassen und habe von dem Herrn Regierungs⸗Präsidenten in Marienwerder die Auskunft erhalten, daß ein Hausirer Wilamowski aus Schönsee durch den Bezirks⸗Ausschuß ein Verbot der Colportage von gewissen Schriften erhalten habe, und dieses Verbot sei gerecht⸗ fertigt wegen in religiöser und sittlicher Beziehung Aergerniß erregen⸗ den Mißbrauchs religiöser Form zur nationalen Verhetzung. Meine der betreffende Wilamowski hat gegen diesen Beschluß das

echt der Klage im Verwaltungsstreitverfahren, er hat das Recht der Revision an das Ober⸗Verwaltungsgericht, und er mag diesen Weg einschlagen: da wird dieser Spezialfall zur Erledigung kommen. In diesen Spezialfall meinerseits einzugreifen, bin ich nicht im Stande und werde ich nicht thun. Ich gehe aber auch weiter: wenn mir zu⸗ gemuthet werden sollte, eine Verfügung des Inhalts zu erlassen, daß lediglich der Charakter einer Schrift auf dem Titelblatt als Erbauungsschrift die Colportage recht⸗ fertigen sollte, so werde ich eine solche Verfügung nicht erlassen. Meines Erachtens kommt es immer auf den Inhalt, nicht auf das Titelblatt an, das der betreffenden Schrift vorgedruckt ist.

Abg. von Czarlinski glaubte, daß allein die bischöfliche Behörde befugt sei, zu entscheiden, ob in einem Gebetbuch etwas in religiöser oder sittlicher Beziehung dem Volk Nach⸗ theiliges sei. b Abg. Dr. Windthorst hielt den Weg der Beschwerde in jedem einzelnen Falle für zu kostspielig und zu beschwerlich. Der Minister könne wohl bei einem derartigen Vorkommniß dem Regierungs⸗Präsidenten eine Direktive geben. Wenn ein 8ics wirklich Aergerniß gebe, so müsse es konfiszirt werden, es dürfe aber doch nicht schwer fallen, zu prüfen, ob die bischöfliche Approbation eines Gebetbuchs wirklich echt sei. Es scheine hier ein zu großer Eifer gegen die polnische Bevölkerung obzuwalten. Je schärfere Maßregeln Zegen die Polen ergriffen würden, um so genauer müßten solche Spezialfälle geprüft

Ministers, dafür zu sorgen, daß derartige Fälle künftig nicht mehr vorlämen.

Minister des Innern, Herrfurth:

Meine Herren! Ich muß nochmals auf die formelle Lage der Sache aufmerksam machen. Zunächst weiß ich nicht, ob es sich bier um Gebetbücher handelt, welche die bischöfliche Approbation erhalten haben; davon steht in der Depesche, welche mir zugegangen ist, nichts. Aber selbst wenn es der Fall wäre, so handelt es sich hier um den Beschluß einer Selbstverwaltungsbehörde, in welche einzugreifen ich nicht zuständig bin und in welche einzugreifen ich niemals den Versuch machen werde.

Abg. von Czarlinski machte darauf aufmerksam, daß diese Gebetbücher längst in Gebrauch seien. Man wolle das Volk ohne Gebetbücher lassen. 1

Das Kapitel wurde genehmigt.

Bei dem Kapitel „Polizei⸗Distrikts⸗Kommissarien in der Provinz Posen“ wünschte der Abg. von Schalscha, daß die Distrikts⸗Kommissarien mehr im Centrum des Bezirks, wo⸗ möglich in der Nähe der Bahnhöfe ihren Wohnsitz hätten, damit das Publikum nicht meilenweite Reisen, und zwar oft ganz zwecklos, machen müsse.

Das Kapitel wurde bewilligt.

Bei dem Kapitel „Landgendarmerie“ sprach der Abg. von Meyer⸗Arnswalde seine Befriedigung darüber aus, daß seinen schon früher vielfach geäußerten Wünschen entsprechend eine Veemechung der Landgendarmerie eingetreten sei. Freilich sei man dabei noch nicht weit genug gegangen. Jedem Amts⸗ vorsteher müsg ein Gendarm überwiesen und zu diesem Zwecke müßten die Bezirke vergrößert werden, dann werde es auch erst möglich sein, daß der Amtsvorsteher genauere Nach⸗ forschungen über die Ursache der Brände anstellen könne, wie es im Interesse der öffentlichen Versicherungen wünschenswerth sei. Das Haus habe ihn (Redner) zum Mitglied der statistischen Centralkommission gewählt, es müsse sich also ge⸗ fallen lassen, wenn er mit Zahlen aufwarte. In Berlin blieben die Ursachen von Bränden nur in 12 Proz. un⸗ ermittelt, in den anderen größeren und kleinen Städten in 24 Proz., auf dem Lande dagegen in 60 Proz., in Ostpreußen in 60 Proz., im Rheinlande in 66,6 Proz. Diesem Uebel⸗ stande könne nur durch eine Vermehrung der Gendarmen und zwar der leistungsfähigeren Fußgendarmen abgeholfen werden.

Abg. von Liliencron bedauerte, daß das Gendarmen⸗ material sich so schnell erneuere; gerade auf die alten Gen⸗ darmen könne sich die Verwaltung am meisten verlassen. 15 Proz. der Gendarmerie gingen mit Pension ab, 17 ½ Proz. suchten jährlich andere, bessere Stellungen. Der Grund davon liege in einer zu geringen Besoldung; man habe an einen Servis gedacht; viel einfacher würde eine Vergrößerung des Gehalts sein, am wünschenswerthesten aber, wenn man, wie in Elsaß⸗Lothringen, den Gendarmen aus einem bestimmten Dispositionsfonds Alterszulagen bezw. Remunerationen be⸗ willige. Eigentlich solle die Gendarmerie ein Elitecorps sein. Man könne auch einmal, ohne Petitionen von dieser Seite abzuwarten, den Leuten helfen. Er habe die Hoffnung, daß die hierbei betheiligten Minister des Innern und der Militärverwaltung den Finanz⸗Minister vermögen würden, etwas tiefer in die Tasche zu greifen.

Minister des Innern, Herrfurth:

Meine Herren! Für den Minister des Innern kann es ja natür⸗ lich nur sehr erwünscht sein, wenn er hier aus dem Hause sowohl eine Anregung auf starke Vermehrung der Gendarmerie bekommt, als auch auf Erhöhung und Verbesserung der Gehaltsverhältnisse, und ich werde von dieser Anregung dankbar Gebrauch machen. Ich bemerke nur, was den letzteren Punkt anlangt: die Summen, um die es sich handelt, sind nicht so ganz unbedeutend. Wenn Sie den Gendarmen den Servis geben wollen oder das hat der Hr. Abg. Freiherr von Liliencron dahingestellt sein lassen eine Dispositionssumme, die ungefähr dem Servis entspricht, so handelt es sich nach einer oberflächlichen Berechnung um eine jährliche Mehrausgabe von 280 000 Ich bin überzeugt, daß der Herr Finanz⸗Minister den Wünschen, welche eine Aufbesserung dieser einzelnen Beamtenkategorie zum Gegenstande haben, möglichst willfährig entgegenkommen wird; ob es aber möglich sein wird, in diesem Umfang eine Aufbesserung eintreten zu lassen, das ist mir doch sehr zweifelhaft. Das, glaube ich, mit Bestimmtheit sagen zu können: in der Form des Servises ierß meines Erachtens die Aufbesserung nicht gewährt werden önnen.

Zunächst ist es mir sehr zweifelhaft, ob überhaupt lediglich durch den Etat die Einführung eines Servises möglich sein würde, denn in dem Gesetz von 1820 ist der Servis ausdrücklich ausgeschlossen, und ich glaube, es würde eines Spezialgesetzes bedürfen, um diesen Servis zu gewähren. Auch würde meines Erachtens diese Gewährung des Servises keineswegs ohne Weiteres die Folge haben, daß die Gendarmen kommunalsteuerfrei würden; denn es ist ich glaube sogar in einem Erkenntniß des Ober⸗Verwaltungsgerichts in den Gründen ausgesprochen daß die Gendarmen nicht nur des⸗ wegen kommunalsteuerpflichtig sind, weil sie nicht servisberechtigt, sondern auch weil sie nicht Militärpersonen sind im Sinne des Kommunalsteuergesetzes, nämlich nicht Militärpersonen in Reih und Glied. Aber ich will auch offen sagen, dies würde eher noch ein Bedenken für mich sein. Ich meine, wir müssen an der bestehenden kommunalsteuerfreien Stellung der Beamten festhalten, so lange sie bezüglich der Gehälter nicht so erheblich erhöht sind, daß sie Kommunalsteuer tragen können, aber für eine Vermehrung der be⸗ stehenden Kommunalsteuer⸗Exemtionen kann ich mich nicht erwärmen.

Im Uebrigen gebe ich zu, daß die Zahlen, die der Hr. Abg. Frei⸗ herr von Liliencron betreffs des Abganges und bezüglich der un⸗ besetzten Stellen angeführt hat, durchaus übereinstimmen mit einer mir vorgestern zugegangenen amtlichen Angabe, und ich werde daraus Veranlassung nehmen, mit dem Herrn Finanz⸗Minister hierüber in Verbindung zu treten; ob es im nächsten Etat möglich sein wird, erheblich höhere Summen für die Landgendarmerie einzustellen, ver⸗ mag ich heute noch nicht zu übersehen, ein bestimmtes Versprechen kann ich natürlich für mich allein nicht geben.

Abg. von Liliencron dankte dem Minister für diese Er⸗ klärung. 280 000 würden von der Landesvertretung mit derselben Freudigkeit für die Aufrechterhaltung der Zucht und Sitte im Innern bewilligt werden, mit der der Reichstag viel größere Summen für die Sicherheit nach Außen be⸗ willigt habe.

Abg. Dr. Sattler: Er könne seine volle Zustimmung dazu erklären, daß weitere Befreiungen der Beamten von Kommunal⸗ steuern nicht eintreten sollten. Er freue sich auch, daß der von ihm früher angeregte Gedanke, in die Gehälter der Unter⸗ beamten einen beweglichen Faktor einzuführen, jetzt auch von anderer Seite befürwortet werde.

Die Ausgaben wurden bewilligt.

Bei Kapitel 96 „Strafanstalts⸗Verwaltung“ bemerkte der Abg. Olzem: Die Besserungstheorie in unserem Strafanstalts⸗ wesen erreiche nicht, was doch unter allen Umständen erreicht werden müsse, die Verhinderung der Verschlechterung der Ge⸗ fangenen durch andere. Die Besserungstheorie wolle den Ge⸗ fangenen religiös, sittlich und wirthschaftlich heben, was aber in kurzer Zeit kaum möglich sei, besonders nicht in kleinen Gefängnissen, wo eine Trennung der Gefangenen nicht durch⸗

werden, um Gesetzesüberschreitungen zu verhüten. Abg. Dr. von Jazdzewski hielt es für Pflicht des

geführt werden könne, sondern die verschiedenartigsten Ele⸗

mente, junge, besserungsfähige Leute und alte Vagabunden in demselben Raume untergebracht werden müßten. Größere Gefängnisse mit hinreichenden Einzelzellen seien also sehr wünschenswerth. Ferner seien in unserem Eefängnißwesen die Unterschiede in den Strafen mit Unrecht zu sehr beseitigt. Nur wenn auch wirklich harte und schwere Strafen neben leichteren eingeführt würden, könne der Zweck erreicht werden. 82 scheine eine Reform des ganzen Strafsystems geboten zu sein. 6

Minister des Innern, Herrfurth:

Meine Herren! Ein großer Theil ich möchte sagen: der größte Theil der Ausführungen des Herrn Vorredners richtet sich an die falsche Adresse. In Betreff der Frage der Strafverhängung, des Ersatzes der Freiheitsstrafen durch Zwangsarbeit, durch Geldstrafen und in Betreff der Einrichtung der Mehrzahl der zur Vollstreckung kurzzeitiger Freiheitsstrafen bestimmten Gefängnisse bin ich überhaupt nicht kompetent, das gehört nicht zu meinem Ressort. Zu meinem Ressort gehören wesentlich die größeren Anstalten zur Verbüßung langzeitiger Strafen und außerdem allerdings eine Zahl kleiner Ge⸗ fängnisse, nämlich der Kantongefängnisse in der Rheinprovinz. So⸗ weit wie die Ausführungen des Herrn Vorredners sich auf letztere er⸗ strecken, kann ich mich mit denselben im Allgemeinen nur vollständig einverstanden erklären und namentlich damit, daß es dringend nöthig ist, in diesen kleinen Anstalten auch Einzelzellen einzurichten, um den Verderb der zum ersten Mal eingelieferten jugendlichen Uebelthäter durch gewerbsmäßige Verbrecher zu verhüten. Nach der Richtung ge⸗ schieht bei Neubauten jetzt Alles, was irgendwie gefordert werden kann; bei den bereits vorhandenen Gefängnissen müssen wir uns aber hach 8— Decke strecken, die wir haben, und die ist allerdings manchmal ehr kurz.

„Abg. von Hergenhahn: Die Klagen aus gewerblichen Kreisen über die Konkurrenz der Gefängnißarbeit seien auch in seiner Heimath vollständig berechtigt, und die Thatsache, daß das Gewerbe unter der Gefängnißarbeit leide, sei auch von der Regierung theilweise anerkannt. Es müsse für die Gefangenen eine Beschäftigung gefunden werden, die einmal dem Zweck der Strafrechtspflege entspreche, andererseits die freie Arbeit so wenig wie möglich berühre. Die berechtigten Wünsche der Handwerkerkreise gingen dahin, die Gefangenen vorzugsweise mit landwirthschaftlichen, mit Erd⸗ und Kultur⸗ arbeiten zu beschäftigen. Diese Arbeiten hätten auch, wenn sie schwer seien, eine bessernde Wirkung auf die Gefangenen. Man mache solche Erfahrungen vorzugsweise in den Arbeiter⸗ kolonien, woselbst heruntergekommene Gefangene durch die Arbeit moralisch gestärkt und mit mehr Energie erfüllt würden. Vor dem Gefängniß nähmen sich auch überall die Malefikanten weniger in Acht als vor dem Zuchthaus, wo sie arbeiten müßten. Die wiederholt ausgesprochene Absicht der Regierung, durch die Gefängnißarbeit keinerlei Konkurrenz für die freie Arbeit zu schaffen, werde in Wirklichkeit noch immer nicht genügend verwirklicht. Es würden oft großartige Gefängnißwerkstätten mit Maschinenbetrieb eingerichtet, mit denen die gewerblichen Arbeiter gar nicht konkurriren könnten. In Frankfurt habe ein Unternehmer sein Geschäft durch Annoncen und große Firmenplakate offen als Strafanstaltswerkstätte bezeichnet. Da dieses Verfahren der Absicht der Regierung geradezu zuwiderlaufe, dürften hier wohl Konventionalstrafen am Platze sein. Es würde auch wünschenswerth sein, zu erfahren, ob mit der in dem vorschriftsmäßigen Rahmen sich bewegenden Gefängnißarbeit günstige Resultate erzielt worden seien, und ob nicht weitere Gebiete, etwa bei der Staatseisenbahn⸗t Verwaltung für die Gefängnißarbeit zugänglich werden könnten.

Minister des Innern, Herrfurth:

Mit den letzten Worten des Herrn Vorredners kann ich mich

nur vollkommen einverstanden erklären, und ich kann erklären, daß Seitens des Ressorts des Ministeriums des Innern Alles geschieht, um nach dieser Richtung hin jede Beschwerde möglichst zu beseitigen.

Der Heir Vorredner hat eine ganze Reihe von Fragen berührt, welche sich auf die Verwaltung der Strafanstalten beziehen. Ich will auf die einzelnen Punkte der Reihe nach eingehen und nur kurz vorausschicken, daß die Beschäftigung der Gefangenen mit Arbeit, und zwar mit nutzbringender Arbeit, eine unbe⸗ dingte Nothwendigkeit ist, zunächst in ethischer Beziehung behufs sittlicher Besserung der Gefangenen, sodann in finanzieller Beziehung, um die Kosten, welche durch den Strafvollzug entstehen, nicht allzusehr auf den Schultern der Gesammtheit lasten zu lassen, sondern Diejenigen, für welche die Aufwendungen erfolgen, an der Auf⸗ bringung der Kosten mitzubetheiligen Endlich ist aber in wirth⸗ schaftlicher Beziehung daran festzuhalten, daß so viel als irgend möglich die Konkurrenz der Gefangenenarbeit mit der freien Arbeit vermieden wird. Dieses Ziel vollständig zu erreichen, ist allerdings nicht möglich, aber was irgendwie nach der Richtung hin geschehen kann, geschieht Seitens der Königlichen Staatsregierung, wie ich das in den einzelnen Punkten glaube nachweisen zu können.

Mieine Herren, zunächst hat der Hr. Abg. von Hergenhahn darauf hingewiesen, es sei dringend wünschenswerth, daß die Gefangenen mehr mit landwirthschaftlicher Arbeit, mit schwerer Arbeit im Freien be⸗ schäftigt werden, in ähnlicher Weise wie dies in Korrektionsanstalten geschehe. Er hat selbst die Einschränkung gemacht, daß das allerdings bei Zuchthausgefangenen sehr schwierig und nur zum geringsten Theil möglich sein wird. Aber, meine Herren, Neh bilden von denjenigen Gefangenen, die in zum Ressort des Ministers des Innern gehörigen Anstalten detinirt werden, mehr wie ¾; nur ¼ sind Haft⸗ und Gefängnißgefangene, und darum ist es sehr schwer, dieser Anregung Folge zu geben. Es geschieht aber bereits nach Möglichkeit. Wir haben bei einer ganzen Anzahl von Zuchthäusern erhebliche Flächen zum landwirthschaftlichen Betrieb und verwenden mit Vorliebe die Gefangenen dort zu den darin vorkommenden schweren Arbeiten, aber das ist immer nur ein verhältnißmäßig kleiner Bruchtheil. Im Winter sind diese Arbeiten auch häufig nicht ausführbar, und es muß deshalb auf andere Be⸗ schäftigungszweige Bedacht genommen werden.

Dann hat der Herr Abg. von Hergenhahn fernerhin auf die Möglichkeit einer Beschäftigung der Strafgefangenen bei den Kanal⸗ bauten hingewiesen. Ich glaube, er hatte dabei hauptsächlich den Nord⸗Ostseekanal im Auge. Meine Herren, ich habe mich mit dem Herrn Staatssekretär des Reichsamts des Innern darüber in Verbindung gesetzt, ob es nicht möglich sein würde, bei der Ausführung dieser Kanalbauten Strafgefangene zu beschäftigen. Es ist mir darauf mitgetheilt worden, daß es einer eingehenden Er⸗ wägung im Reich unterlegen hätte, ob man nicht diese Arbeiten wenigstens zum Theil in Regie ausführen könne, und ob sich dabei auch eine Beschäftigung von Strafgefangenen ermöglichen ließe, diese Frage sei aber verneint worden, hauptsächlich aus dem Grunde, weil bei diesen Kanalarbeiten sehr große und sehr kostspielige Maschinen, Exkavatoren u. dergl., zur Anwendung kommen müssen, deren Betrieb eine technische schwierige Beaufsichtigung erfordere, und weil es nicht wohl möglich sei, auf Kosten der Kanalverwaltung solche Maschinen anzuschaffen und deren Betrieb zu beaufsichtigen. Dazu kämen eventuell noch die Kosten des Barackenbaues und die Kosten der Bewachung, so daß bei dem Kanalbau von einer nutz⸗ bringenden Beschäftigung der Gefangenen nicht würde die Rede sein können.

Ferner hat der Hr. Abg. von Hergenhahn zur Sprache gebracht, es sei neuerdings eine schaäree Konkurrenz der freien Arbeit dadurch entstanden, daß Dampfmaschinen in größerem Umfange von Straf⸗ anstaltsunternehmern benutzt würden. Er hat insbesondere einen Fa in Halle angeführt, wo neuerdings eine solche Dampfmaschine an⸗

chafft worden sei. Meine Herren, diese Angabe ist unrichtig: diese Pscscgine ist nicht neuerdings angeschafft, sondern sie ist bereits länger im Gebrauch, und neuerdings ist lediglich die Ab schaffung dieser Maschine von mir in Anregung gebracht worden. Es ist überhaupt jetzt eine generelle Erörterung darüber im Gange, wie man da, wo Dampfmotoren in Strafanstalten vorhanden sind, sie wieder beseiigen und durch Menschenkraft ersetzen kann. Dabei muß allerdings mit einer gewissen Rücksicht gegen die Unter⸗ nehmer vorgegangen werden, welche solche Dampfmaschinen speziell für die Lokalität der Strafanstalten mit großen Kosten angeschafft haben, sodaß man dieselben heute nicht ohne Weiteres aus den Straf⸗ anstalten wieder beseitigen kann Es wird aber auf eine thunlichste Verminderung und allmähliche Beseitigung Bedacht genommen

Meine Herren, was die Reklame des Schusters in Frankfurt an⸗ langt, so weiß ich davon nichts, noch weniger als der Abg. von Hergen⸗ hahn, ich bin also nicht in der Lage, auf seine Ausführungen näher einzugehen Ich will nur gegenüber dem Umstande, daß er den dringenden Wunsch ausgesprochen hat, die Konkurrenz der Gefängnißarbeit der freien Arbeit gegenüber möglichst zu beschränken, darauf hinweisen, daß die Königliche Staatsregierung bemüht ist, diese Konkurrenz namentlich in denjenigen Arbeitszweigen zu beseitigen, in denen eine verhältnißmäßig geringe Zahl freier Arbeiter beschäftigt ist, wo also die Konkurrenz der Gefängnißarbeit sich besonders fühlbar macht.

So ist z. B. die Plüschweberei in der Gefangenanstalt in Wer⸗ den vollständig eingestellt, obwohl dadurch ein Einnahmeausfall von jährlich 7000 entstanden ist, weil jetzt die früher in der Plüsch⸗ industrie beschäftigten Arbeiter weniger lohnenden Beschäftigungen überwiesen sind. In ähnlicher Weise ist auch die Anfertigung von Schuh⸗ obertheilen aus Webestoffen, den sogenannten Sergestiefeln eingestellt worden. Beschränkt ist auch die Zahl der Arbeiter, welche mit der Fabrikation künstlicher Blumen beschäftigt sind. Männliche Arbeiter werden in meinem Ressort überhaupt nicht mehr damit beschäftigt, und weibliche Personen nur in 4 Anstalten, im Ganzen 128. Davon entfallen 46 auf Rhein, 76 auf Fordon, je 3 auf Breslau und Aachen. Auch hier wird nach Ablauf der Kontrakte auf möglichste Verminderung Bedacht genommen werden.

Endlich hat der Abg. von Hergenhahn in Anregung gebracht, die Ge⸗ fängnißarbeit für die Militärverwaltung und andere Zwecke der Staatsver⸗ waltung nutzbar zu machen. Nun, meine Herren, was in dieser Beziehung möglich gewesen ist, das ist geschehen; und um Sie davon zu überzeugen, kann ich nicht umhin, Ihnen einige recht langweilige Zahlen mitzutheilen, die ich durch Weglassung von Zehnern und Einern abrunde. Im Rechnungsjahre 1887 sind für Militärzwecke in den Strafanstalten im Ressort des Innern angefertigt mehr als 14 500 m Hemdenkaliko, 6800 m Segelleinewand, 26 200 Paar leinene Hosen und Unterhosen, 19 300 leinene Jacken, 2300 leinene Röcke, 27 000 Paar Tuchhosen, 6200 Tuchjacken, 9300 Mäntel bezw. Ueberzieher, 4800 Mützen, 3800 Hemden, 335 Paar Stiefel, 3300 Paar Schuhe, 3600 Paar Handschuhe, 8300 Litewken, 5600 Brot⸗ und Tornisterbeutel und 868 Patronentaschen.

Meine Herren! Eine Ausdehnung dieser Arbeit ist leider nicht möglich; im Gegentheil wird voraussichtlich sogar eine Beschränkung eintreten, denn es ist von den Organen der Armeeverwaltung mitge⸗ theilt worden, daß fernerhin auf die Zuwendung von Schneider⸗ und Schusterarbeit Seitens der Bekleidungsämter für die Strafanstalten nicht zu rechnen sei.

Auch in Bezug auf die Webestoffe ist eine gewisse Schwierigkeit dadurch entstanden, daß dieselben an die Strafanstalts⸗Verwaltungen nicht freihändig vergeben werden, sondern daß die Strafanstalts⸗ Verwaltungen sich bei der Submission betheiligen müssen. Im Uebrigen wird aber darauf Bedacht genommen, daß alle Bedürfnisse für die Strafanstalten felbst in den Strafanstalten beschafft werden. Ich habe ferner für andere Verwaltungszweige, soweit dieselben zu meinem Ressort gehören, ähnliche Anregungen gegeben, z. B. in Betreff der Uniformstücke für die Polizeiverwaltungen, wo der Staat dieselben beschaffen muß. Ob es möglich sein wird für die Eisenbahnverwaltung, die Strafanstalten zu beschäftigen, das vermag ich heute noch nicht zu übersehen, da wird zunächst noch eine Kommunikation mit dem Herrn Minister der öffentlichen Arbeiten eintreten müssen.

Das aber werden die Herren aus meinen Darlegungen ersehen haben, daß Seitens des Ministeriums des Innern die maßgebenden Grundsätze, die der Abg. von Hergenhahn hier präzisirt hat, in ethischer, finanzieller und wirthschaftlicher Beziehung nicht nur voll gewürdigt werden, sondern daß ihnen auch in praxi Folge gegeben wird.

Abg. Pleß wies darauf hin, daß die Klagen über die Konkurrenz der Gefängnißarbeit nicht mehr von dem kleinen Handwerk allein, sondern, wie der Bericht der Handelskammer zu Mülheim a. R. zeige, auch von der Großindustrie und den Exporteuren ausgingen. In den Verträgen mit den Unternehmern werde allerdings unter Androhung einer Kon⸗ ventionalstrafe bestimmt, daß innerhalb eines Umkreises von 10 km der Verkauf der Gefangenenprodukte nicht erfolgen dürfe, thatsächlich würden aber vielfach, ohne daß die Strafanstalts⸗ Inspektion einschreite, in nächster Nähe der Anstalt ihre Waaren feilgeboten unter Hinweis darauf, daß sie in Folge ihrer Her⸗ stellung in den Gefängnissen besonders billig verkauft werden könnten. Menschlichkeit zu üben, sei christlich, aber man könne auch hier des Guten zu viel thun. Der Gefangene, der aus⸗ reichende Nahrung und Kleidung, den zehnstündigen Arbeits⸗ tag und die Sonntagsruhe habe, befinde sich in einer viel günstigeren Lage, als es durchschnittlich bei der ärmeren Klasse der Fall sei. Die Schwierigkeiten, welche die Lösung der Ge⸗ fängnißarbeitsfrage biete, seien nicht zu verkennen, aber sie müßten überwunden werden.

Abg. Goldschmidt erklärte, keineswegs die schwierige Lage der Verwaltungen der Strafanstalten zu verkennen, die den Gefangenen eine passende Beschäftigung bieten sollten. Die Staatsregierung habe aber die Pflicht, bei der Vertheilung der Arbeiten in den Gefängnissen, bei den Abschlüssen mit den Unternehmern sich die Verhältnisse der einzelnen Industrie⸗ zweige, in welche die Gesängnißarbeit oft allzu störend ein⸗ greife, näher anzusehen, und sich die Frage vorzulegen, ob solche Störungen nicht vermieden werden könnten. Die Fabri⸗ kation künstlicher Blumen sei ein Gegenstand der Groß⸗ und Kleinindustrie, sowie der Hausindustrie, und sie bilde einen fruchtbaren Zweig in dem Erwerbsleben unversorgter Frauen und Mädchen. Schon um dieser sozialen Bedeutung willen solle man diesen Zweig des Erwerbslebens zu fördern suchen und ihn vor der Schädigung durch die eigenen Landesbehörden bewahren. In Deutschland habe man seit Jahrzehnten sich die allergrößte Mühe gegeben, die Fabrikation künstlicher Blumen auf die Höhe zu bringen, auf welcher sie sich seit Fahrhunderten in Frankreich befinde. Schon der verstorbene

räsident Lette habe diese zarte Beschäftigung den Töchtern gebildeter Stände, welche den Ernährer verloren hätten, empfohlen. Im Beginn der siebziger Jahre sei auch der Aufschwung dieser Industrie ein sehr großer gewesen. Seit 1880 sei sie aber in einem zunehmenden Niedergange begriffen. Die Berichte der Handelskammern stimmten darin überein, daß die reußische Gefängnißindustrie die freie Fabrikation künstlicher Blumen geradezu vernichte. Das sei namentlich in Berlin der Fall, wo die Herstellung künstlicher Blumen von männlichen Sträflingen betrieben werde. 1880 seien in Berlin in diesem Erwerbszweig noch 1000 Arbeite⸗ rinnen beschäftigt gewesen, 1887 nur noch 200 Arbeiterinnen und auch nur während sieben Monate des Jahres. Das Reich habe geglaubt, die deutsche Blu nenindustrie vor der entwickelten 8 8 8

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Industrie des Auslandes durch Zölle schützen zu müssen ohne Erfolg —, und im größten Bundesstaat bereite die

7 2 A 2 eigene Regierung dieser selben Industrie durch die Gefängniß⸗ arbeit die allerschwerste Schädigung. Es sei in ernste Erwä⸗ gung zu nehmen, wie die Gefängnißarbeit auf diesem Gebiet Kbäuschaffen und für die Gefangenen eine andere Arbeit zu inden sei.

Minister des Innern, Herrfurth: 1

Gegenüber der Philippika des Hrn. Abg. Goldschmidt gegen die Beschäftigung männlicher Gefangenen in der Fabrikation künstlicher Blumen beschränke ich mich darauf, die Erklärung zu wiederholen, die ich dem Hrn. Abg. von Hergenhahn gegeben habe: in den Straf⸗ und Gefangenen⸗Anstalten, welche zum Ressort des Ministeriums des In⸗ nern gehören, werden männliche Gefangene in der Fabrikation künstlicher Blumen, insbesondere hier in Berlin, nicht beschäftigt, sondern es werden lediglich in entfernten Provinzen, im Ganzen 128 weibliche Gefangene mit solchen Arbeiten beschäftigt.

Die Anregung des Herrn Vorredners, bei allen Vergebungen von Arbeiten an Gefangene die Handelskammer zuzuziehen, vermag ich in dieser allgemeinen Fassung nicht zu acceptiren, denn ich meine, eine derartige Zuziehung kann nur da Gewinn haben, wo es sich um die besonderen Verhältnisse eines besoaderen Bezirks handelt. Nun ist aber die weitaus größte Mehrzahl der Arbeiter in Betrieben beschäftigt: wie Schuhmacherei, Schneiderei. Tischlerei, Drechslerei, und ich glaube, da sind die Verhältnisse im Allgemeinen so gleichmäßig, daß es wirk⸗ lich nicht möglich und nützlich sein würde, für jeden einzelnen Vertrag mit der Handelskammer in Verbindung zu treten.

Die Antwort auf die Rede des zweiten Herrn Vorredners glaube ich bereits gegeben zu haben, ehe sie gehalten wurde, deng meines Erachtens sind alle die Punkte, die er seinerseits in Anregung brachte, bereits durch meine Anwort auf die Worte des Hrn. Abg. von Hergenhahn hier vollständig widerlegt. Ich verwahre mich nur dagegen, daß die Regierung, wie er be⸗ hauptet, der Schwierigkeit aus dem Wege ginge. Das ist nicht der Fall. In einem Punkt stehen wir allerdings auf verschiedenem Standpunkte. Er sagt, die Königliche Regierung müsse nicht nur Diejenigen schützen, welche durch die Konkurrenz der Gefangenenarbeit wirklich geschädigt werden, sondern auch Diejenigen, die nur ver⸗ meintlich geschädigt werden. Nein, meine Herren, ich will eine wirkliche Schädigung möglichst vermeiden, aber Diejenigen, die bloß über Konkurrenz schreien, ohne daß eine Konkurrenz vorhanden ist, die zu schützen habe ich keine Veranlassung.

Der Regierungskommissar, Geheime Ober⸗Justiz⸗Rath Starcke bemerkte, daß die Lage der Industrie künstlicher Blumen bei der Petition, die Seitens der betreffenden Fabri⸗ 1 eingegangen sei, noch zur näheren Erörterung kommen werde.

Abg. Knörcke beklagte, daß einem Lehrer der Strafanstalt in Gollnow bei seiner Pensionirung nicht auch die frühere

Dienstzeit in der Volksschule angerechnet worden sei, und bat

den Minister um Maßnahmen, damit den vom Gemeinde⸗ in den Staatsdienst übergetretenen Lehrern die Dienstzeit in der Gemeindeschule bei der Pensionirung mit angerechnet werde.

Minister des Innern, Herrfurth:

Meine Herren! Wenn das Pensionsgesetz vom Jahre 1872 in der Form angenommen worden wäre, wie es Seitens der Königlichen Staatsregierung damals diesem hohen Hause vorgelegt worden ist, so würde ich allerdings in der Lage sein, die Wünsche, die der Abg. Knörcke zu Gunsten der Lehrer ausgesprochen hat, zu berücksichtigen, und ich würde mich freuen, wenn ich nach Maßgabe des einzelnen Falles eine solche Berücksichtigung würde eintreten lassen können. Nun sind aber durch ein Amendement in diesem hohen Hause und zwar von dieser Seite aus (links) der Königlichen Staatsregierung die Hände gebunden. Jetzt liegen die Verhältnisse so, daß eine An⸗ rechnung der früheren Dienstzeit durch Allerhöchste Ordre nur statt⸗ finden kann bei denjenigen Lehrern, die bereits im Strafanstaltsdienst angestellt worden sind vor Erlaß des Gesetzes im Jahre 1872. Wo ein derartiger Fall eintritt, werde ich stets eine solche Berücksichtigung eintreten lassen. Für diejenigen Lehrer aber, welche erst nach dem Jahre 1872, nach Erlaß des Pensionsgesetzes, angestellt sind, und welchen damals nicht eine Allerhöchste ausdrückliche Zusicherung einer Anrechnung gegeben worden, ist die Anrechnung gesetzlich ausge⸗ schlossen, da darf ich sie nicht eintreten lassen, da habe ich kein Mittel. Ich erkenne an, es ist das ein großer Uebelstand, und ich kann dem nur begegnen und das geschieht jetzt dadurch, daß, wenn ein solcher Lehrer, der jetzt im Kommunaldienst angestellt ist, in den Strafanstaltsdienst übernommen werden soll, er aufmerksam gemacht wird auf diese gesetzliche Be⸗ stimmung und mit ihm verhandelt wird, ob und inwieweit eine solche Anrechnung zur Bedingung seiner Anstellung gemacht, und ob eine Allerhöchste Ordre wegen der Anrechnung extrahirt werden soll. Auf diese Weise ist pro futuro zu Gunsten der Lehrer vollständig Sorge getragen; in Betreff Derjenigen aber, für welche eine Zusicherung nicht stattgefunden hat, die Anstellung aber erfolgt ist nach dem Jahre 1872, ist die Zulässigkeit einer solchen Anrechnung nicht ge⸗ geben, eine Berücksichtigung ihrer Wünsche ist leider nicht möglich.

Abg. Olzem wünschte, daß nicht nur bei Neubauten von Gefängnissen Einzelzellen eingerichtet, sondern auch die vor⸗ handenen Anstalten entsprechend geändert würden.

Abg. Metzner: Er sei über die wohlwollende Erklärung des Ministers bezüglich der Konkurrenz der Gefangenenarbeit erfreut. Die Handwerker seien schon resignirt und hätten ihre früheren Petitionen nicht wiederholt, weil doch nichts geschehe. Reach der Erklärung des Ministers sei eine Besserung zu er⸗ hoffen. 1“ 1

Abg. Goldschmidt erwiderte dem Geheimen Ober⸗Justiz⸗ Rath Starcke, daß er nicht aus der a der Berliner Blumenfabrikanten, sondern aus dem Bericht der Aeltesten der Berliner Kaufmannschaft zitirt habe. Von diesen seien die Verhältnisse genau geprüft, und der Minister scheine falsch in⸗ formirt zu sein. 3 8

Minister des Innern, Herrfurth:

Es ist unrichtig, daß ich die Frage der künstlichen Blumen fabrikation hier zuerst zur Sprache gebracht hätte. Dies ist vom Abg. von Hergenhahn geschehen, ich habe dann lediglich darauf erwidert. In dieser Erwiderung habe ich gesagt, in den zu meinem Ressort gehörigen Straf⸗ und Gefangenen⸗Anstalten werden dazu männ⸗ liche Arbeiter nicht beschäftigt. Der Abg. Goldschmidt sagt, ich wäre falsch informirt; ich sage, er ist falsch informirt.

Abg. Fuchs machte auf die Konkurrenz der Gefangenen⸗ arbeit in der Korrektionsanstalt in Brauweiler aufmerksam; dort werde an Arbeitslohn für eine Matratze 3,50 gezahlt, im fügen Handwerk dagegen 12—15 Eine genügende Be⸗ schäftigung der Gefangenen werde erreicht, wenn dieselben lediglich für die Bedürfnisse des Militärs arbeiteten.

Minister des Innern, Herrfurth:

Meine Herren! Ich habe bei Beginn dieser Etatsberathung aus⸗ drücklich erklärt, daß ich gern bereit wäre, auf die Erörterung jeder das Ressort des Ministeriums des Innern betreffenden Angelegenheit einzugehen. Ich muß aber hinzufüzen: ich kann mich nicht bereit erklären, auf die Erörterung jeder das Ministerium des Innern nicht angehenden Angelegenheit hier einzugehen. Ich habe es deshalb abgelehnt, auf die Beschäftigung männlicher Arbeiter in den Gefangenen⸗Anstalten einzugehen, welche zum Ressort des Justiz⸗ Mivisteriums gehören, und ebenso lehne ich ab, einzugehen auf die Art und Weise der Beschäftigung in der Korrektionsanstalt in Brau⸗ weiler, über welche lediglich die Provinzial⸗Verwaltung zu beschließen hat, und in Bezug auf welche ich dem Herrn Vorredner anheim

tellen möchte, sich an den Provinzial⸗Landtag zu wenden.

Abg. Dr. Kropatscheck: Der Abg. Knörcke sollte wissen, daß die Unterrichtskommission die Frage erörtert und eine darauf bezügliche Petition sehr wohlwollend behandelt habe. Nach Lage der Gesetzgebung habe der Minister des Innern allerdings nicht anders handeln können, als die Lehrer beim Uebergang von der Volksschule in die Schule der Strafanstalt auf das Eigenartige ihrer Stellung aufmerksam zu machen. Der Petent beschwere sich aber gerade, daß dies in seinem Falle nicht geschehen sei. Die Billigkeit der Ansprüche dieser Anstaltslehrer könne auch vom Minister nicht in Abrede ge⸗ stellt werden. 1 Abg. Bachem meinte, er könne ziffermäßig nachweisen, daß die Strafanstaltslehrer im Vergleich zu den Volksschul⸗ lehrern benachtheiligt seien, daß sie viel schwerer in die höchsten Gehaltsstufen einrückten, weil es nur eine geringe Zahl von Strafanstalten gebe. Der Beruf dieser Lehrer sei ein so daß sie eine Gehaltsaufbesserung wohl ver⸗ ienten.

Abg. Lückhoff bat die Regierung, die Petition der Blumenfabrikanten wohlwollend zu erwägen. Schuld des Hauses sei es nicht gewesen, daß die Petition in der vorigen Session nicht zur Berathung gekommen sei.

Abg. Cremer hielt aus diesem Grunde die heutige An⸗ regung für um so dankenswerther.

Das Kapitel wurde bewilligt, ebenso die übrigen laufenden Ausgaben und die einmaligen Ausgaben des Etats des Ministeriums des Innern.

Schluß ½ 4 Uhr. Nächste Sitzung Mittwoch 11 Uhr.

Statistische Nachrichten.

Der Bericht über die Ergebnisse des Betriebes der Rechnung des preußischen Staats verwalteten Eisenbahnen im Betriebsjahre 188788 giebt die für Rech⸗ nung des preußischen Staats im Betrieb befindlichen, dem öffentlichen Verkehr dienenden Eisenbahnen mit vormaler Spurweite, einschließlich der Wilhelmshaven⸗Oldenburger und des preußischen Antheils an der Main⸗Neckar⸗Eisenbahn, am Schlusse des Betriebsjahres 1886/87 auf eine Gesammtlänge von 21 338,05 km an. Hierzu traten im Berichts⸗ jahre 1) die durch Gesetz vom 28. März 1887 (Gesetz⸗Samml. S. 21) in den Besitz des Staats übergegangenen Strecken der Angermünde⸗Schwedter, Oberlausitzer, Berlin⸗Dresdener, Nordhausen⸗ Erfurter und Aachen⸗Jülicher Eisenbahn⸗Unternehmungen mit zusammen 525,48 km; 2) 606,06 km im Laufe des Betriebsjahres neu eröffneter Strecken nach Abzug von 3,37 km außer Betrieb gesetzter Strecken mit 602,69 km Die Gesammtbahnlänge der für Rechnung des preußi⸗ schen Staats verwalteten, dem öffentlichen Verkehr dienenden Eisen⸗ bahnen mit normaler Spurweite betrug demnach am Schlusse des Betriebsjahres 1887/88 22 466,22 km. Außerdem befand sich noch im Besitz des Staates ein Netz von schmalspurigen, dem öffentlichen Verkehr dienenden Zweigbahnen im oberschlesischen Bergwerks⸗ und Hüttenrevier mit einer Gesammtlänge von 107,37 km, welche hier nicht mit aufgenommen sind, sowie eine Anzahl von Bahnstrecken für nicht öffentlichen Verkehr, deren Gesammtlänge sich auf 290,06 km beläuft. Die Zusammensetzung der einzelnen Direktionsbezirke hat, abgesehen von den neuerworbenen sowie neu eröffneten Bahnen, im Berichtsjahre Aenderungen nicht erfahren. Die für Rechnung des preußischen Staates verwalteten Strecken sämmtlicher Direktions⸗ bezirke hatten am Schluß des Berichtsjahres eine Gesammtlängge von 22 405,61 km. Werden hierzu als im Eigenthum des preußischen Staates stehend noch hinzugerechnet: 1) der von der Direktion der Main⸗Neckar⸗Eisenbahn in Darmstadt verwaltete, auf preußischem Gebiete belegene Theil dieser Bahn 8,24 km; 2) die von der Großher⸗ zoglich oldenburgischen Eisenbahn⸗Direktion verwaltete Eisenbahn von Wilhelmshaven nach Oldenburg mit einer Länge von 52,37 km, so ergiebt sich die oben nachgewiesene Gesammtlänge der Bahnen für den öffentlichen Verkehr mit normaler Spurweite von insgesammt 22 466,22 km. Gegen die gleiche Länge von 21 338,60 km im Vor⸗ jahre ist hiernach eine Vermehrung um 1127,62 km eingetreten. Von diesen Längen entfallen in Preußen auf die Provinzen Ostpreußen im Jahre 1887/88 1128,10 km (im Jahre 1886/87 1085,59 km), West⸗ preußen 1170,76 km (1132,90 km), Pommern 1161,08 km (1161,08 km), Posen 1131,76 km (1124,39 km), Schlesien 3046,73 km (2865,71 km), Brandenburg einschl. Berlin 2381,61 km (2164,54 km), Sachsen 1991,43 km (1859,07 km), Hannover 1886,61 km. (1884,56 km), Westfalen 1945,63 km (1888,02 km), Hessen⸗Nassau 1196.76 km (1192,19 km), Rheinprovinz 2961,69 km (2854,71 km), Schleswig⸗Holstein 597,70 km (561,53 km), zusammen 20 799,86 km (19 774,29 km). Die Betriebslänge der dem öffentlichen Verkehr dienenden Eisenbahnen mit normaler Spurweite, welche unter preußischer Staatsverwaltung für Rechnung des Staates betrieben wurden, betrug am Schlusse des Berichtsjahres 1887/88 = 22 681,34 km, hat demnach gegen die gleiche Länge des Vorjahres um 946,53 km zugenommen. Als Hauptbahnen wurden 18024,70 km, und als Nebenbahnen 4656,64 km betrieben. Für die am Schlusse des Betriebsjahres 1887/88 Seitens des preußischen Staats für eigene Rechnung betriebenen normalspurigen Eisenbahnen, mit Ausschluß der durch Gesetz vom 28. März 1887 in den Besitz des Staats übergegangenen Eisenbahn⸗Unternehmungen betrug das verwendete (statistische) Anlagekapital 5 924 166 134 ℳ, d. i. für ein Kilometer 270 756 Das für den Erwerb der Angermünder⸗Schwedter, Oberlausitzer, Berlin⸗Dresdener, Nordhausen⸗Erfarter und Aachen⸗ Jülicher Eisenbahn⸗Unternehmungen vom Staat verwendete Anlage⸗ kapital beträgt 67 897 775 ℳ, mithin für ein Kilometer 129 211 ℳ, zufammen 5 992 063 909 Hierzu tritt das Anlagekapital für die Wilhelmshaven⸗Oldenburger und für den preußischen Antheil an der Main⸗Neckar⸗Eisenbahn mit zusammen 12 721 692 ℳ, sodaß sich für die Gesammtbahnlänge von 22 466,22 km ein Anlagekapital von 6 004 785 601 ℳ, d. i. für 1 km Bahnlänge von 267 281 ℳ, ergiebt. Werden von der ersteren Summe die auf die Herstellung der Bahnen für nicht öffentlichen Verkehr aufge⸗ wendeten Baukosten von 11 757 233 in Abzug gebracht, so ver⸗ bleibt für die Seitens des preußischen Staates für eigene Rechnung betriebenen normalspurigen Bahnen ein Anlagekapital von 5 980 306 676 oder für 1 km von 266 911 8 Bei den inneren Einrichtungen finden die Sparkassen, welche unter Benutzung des sogenannten Sparmarkensystems eingerichtet sind, und dann die Krankenkassen Erwähnung, letzteren ist je eine Kranken⸗ kasse mit dem Erwerb der Aachen⸗Jülicher und Nordhausen⸗Erfurter Bahn hinzugetreten. Es waren deshalb im Jahre 1887 überhaupt 79 Betriebskrankenkassen und 57 Werkstättenkrankenkassen in Wirksamkeit. Von den 33 Baukrankenkassen, welche am 1. Januar 1887 für die Eisenbahnbauausführungen errichtet waren, wurden 11 in Folge Vollendung der betreffenden Bauausführungen im Laufe des Jahres aufgelöst; 16 neue Kassen traten in Folge der Inangriffnahme neuer Bauausführungen hinzu, so daß im Laufe des Jahres 49 und am Schlusse des Jahres 38 Baukrankenkassen in Wirksamkeit waren. Die Gesammtbetheiligung bei allen Krankenkassen belief sich nach der Anlage 27 auf 269 206 Personen, wovon 1803 nicht versicherungspflichtig waren. Die Zahl der betheiligt gewesenen versicherungspflichtigen Kassenmitglieder entspricht fast genau der Ge⸗ sammtzahl der überhaupt beschäftigt gewesenen krankenversicherungs⸗ pflichtigen Personen, so daß von denselben von der Berechtigung, auf Grund der Angehörigkeit zu freien Hülfskassen die Freilassung von der Theilnahme an den Eisenbahn⸗Krankenkassen zu beantragen, im Allgemeinen kein Gebrauch gemacht ist. Nach den in derselben An lage mitgetheilten Uebersichten über die Zahl der Sterbefälle, sowi der Erkrankungsfälle und Krankheitstage bei den Betriebs⸗ und Werk

stätten⸗Krankenkassen haben sich, nachdem die Krankenversicherung 8 6“