politisch⸗religiöser Kampf? Ich bin auf allen Gebieten der Kirche und der Schule befriedigt, wenn der status quo ante wiederhergestellt wird. Die Beziehungen zwischen dem Ab⸗
eordnetenhause und dem Reichstage werden wir wahren, um o mehr, als ein Theil der konservativen Partei an den ent⸗ scheidenden Stellen schon jetzt klarzumachen bemüht ist, daß dieser Reichstag gar nicht zu brauchen sei und bald⸗ möglichst wieder nach Hause geschickt werden müsse. Uns kann es recht sein; wir werden dafür sorgen, daß wir die Wahlschlacht sofort von Neuem be⸗ ginnen können. Ich bin sehr bereit, morgen den Gang nochmals zu machen. Es ist ja klar, daß, wenn man in einer Versammlung nicht mehr ist, man alle Wege versucht, um wieder hineinzukommen. Die Bewohner der polnischen Landestheile sind deutsche Staatsbürger, die allerdings polnisch sprechen, aber sonst völlig gleich den Anderen sind. Wir haben ja noch andere Nationalitäten, Littauer, Tschechen, Wallonen. Auf den Schlachtfeldern haben sich die polnischen Regimenter sehr wohl bewährt. Wenn die Deutschen nicht für einen Polen stimmen dürfen, wird der Krieg zwischen Deutschen und Polen in Permanenz erklärt. Ich freue mich von ganzem Herzen über dieses erst⸗ malige Zusammengehen beider bei den Wahlen. In dem großen und ernsthaften Kampf gegen die Sozial⸗ demokratie müssen Alle, welche die bestehende Staats⸗ und Gesellschaftsordnung aufrecht erhalten wollen, zu⸗ sammentreten, um dem Ansturm der sozialistischen Ideen Widerstand zu leisten, besonders den anarchistischen Elementen, die sich bereits geltend machen. Es ist an der Zeit, alle anderen Streitigkeiten aufzuheben, der Kirche ihre Freiheit zu gewähren, die Nationalitäten zu berücksichtigen und nach allen Seiten Frieden zu predigen. Ich appellire an Ihren Patriotismus, machen wir Alle gemeinschaftlich Front gegen den gefährlichsten Feind. Dagegen kommen die Feinde von Außen nicht in Betracht. Ich blase zum Frieden, blasen Sie nicht zum Kriege!
Abg. von Puttkamer (Plauth): Der Abg. Rickert hat mit der Entrüstung, die ihm eigen ist, in Abrede gestellt, daß die freisinnige Partei in Westpreußen bei den Stichwahlen für die Polen gestimmt hat. Ich hebe nebenbei hervor, daß
der Abg. Windthorst es aber für erlaubt und im nationalen Interesse sogar für geboten erklärt hat, daß Deutsche mit n Polen stimmen. Der Abg. Rickert hat in Bezug auf Graudenz⸗ Strasburg nicht die Thatsache aus der Welt schaffen können, daß bei den Stichwahlen mehr polnische Stimmen abgegeben wur⸗ den wie deutsche, während bei der ersten Wahl das Umgekehrte der war. Nach dem Graudenzer „Geselligen“ fand in Graudenz zwischen der ersten Wahl und der Stichwahl eine eutschfreisinnige Versammlung statt, in welcher von den Frei⸗ innigen drei verschiedene Standpunkte den Polen gegenüber ingenommen wurden. Der Enragirteste, Justiz⸗Rath Mangels⸗ orf, erklärte ganz offen, man solle durchaus keine Direktive eben, etwa gegen den Polen Front zu machen. Man müsse es jedem deutschen Wähler überlassen, wie er stimmen wolle, das Kartell dürfe man durch⸗ aus nicht unterstützen. Ein anderer Redner forderte auf, geschlossen gegen den Polen zu stimmen, ein dritter wollte den Deutschen nur „empfehlen“, für das Kartell zu stimmen. Zwischen den drei Richtungen entbrannte ein heftiger Streit. Derjenige Redner, der für die Deutschen eintrat, verließ mit seinen Anhängern den Saal. Hr. Mangelsdorf blieb zunächst in der Majorität, endlich wurde eine Resolution des dritten Redners angenommen, welcher einen vermittelnden Standpunkt empfahl. Das Resultat konnte natürlich nur dasjenige sein, welches wir bei den Stichwahlen vor uns gehabt haben. Ich habe keiner Partei einen Vorwurf daraus gemacht, daß sie im ersten Wahlgange eine Kraftprobe veranstaltet hat. Es kommt nur darauf an, wie sie bei der Stichwahl gestimmt hat. 1881, als ich dort kandidirte, hat das ganze konservative Wahlcomité im „Geselligen“ alle Deutschen aufgefordert, einstimmig für den deutschen, liberalen Kandidaten einzutreten. Die Polen ließen aber am Morgen vor der Stichwahl rothe Zettel anschlagen, die nur die Unterschrift trugen „Das Wahl⸗ comite“ und in denen alle konservativen deutschen Wähler aufgefordert wurden, nunmehr für den Polen zu stimmen. Dieser Kniff hat allerdings viele ungebildete deutsche Wähler veranlaßt, für den Polen zu stimmen. Nun hat aber der Abg. Rickert es unterlassen, auf den Wahlkreis Rosenberg⸗Löbau hinzuweisen, über den er doch unterrichtet sein mußte. Es ist ganz unzweifelhaft, daß im stockdeutschen Rosenberger Kreise über 1000 kleine Instleute und Einlieger verführt worden sind, für den Polen zu stimmen, und zwar durch die Schnapsflasche, die man dort hat kreisen lassen. Die nationale Begeisterung des Abg. Rickert harmonirt wenig mit der Abstimmung seiner Partei. Die Sache war nicht etwa an Ort und Stelle, sondern von hig aus dirigirt worden, wofür ich die Beweise in Händen habe; ich will sie hier nicht vorbringen, um die Herren zu schonen. Der Abg. Rickert vergaloppirte sich am Schluß seiner Rede, wenn er sagte, man solle es doch auch den Freisinnigen nicht verwehren, mit den Polen 2 sammenzugehen. Da trat einmal der innere Mensch des Abg. Rickert zu Tage. Den polnischen Abgeordneten habe ich keineswegs Eidbruch vorgeworfen. Ich meine aber, da die Treue dieser wenigen Abgeordneten wenig helfen würde, wenn die übrigen vier Millionen Polen zur Insurrektion schreiten würden. Denken Sie doch an 1848 und 1863. Gewiß brauchen wir heute keine Angst zu haben; will aber der Abg. Rickert eine Garantie für die Zu⸗ kunft übernehmen? Dem Abg. Windthorst und den Han⸗ noveranern traue ich gewiß sehr viel Einsicht und Verständniß zu. Der hannoversche Volksstamm ist uns sehr tüchtig und lieb, sonst hätten wir ihn nicht annektirt, aber die altpreußischen und polnischen Verhältnisse kennt der Abg. Windt⸗ orst sehr wenig. Den Uebergang vom milden zum ttrengen Regiment haben die Polen selbst ver⸗ schuldet. Sie benutzten die Schwäche des preußischen Staats, um 1846, wie Hr. von Stablewski uns einmal verrieth, eine Verschwörung anzuz tteln, die 1848 in offene Rebellion über⸗ ging. Da es sich um die Losreißung dieser Landestheile handelte, kann man diese Revolution nicht mit der Berliner vergleicen. Was mit dem neuen HRieichstage ge⸗ schehen wird, wird von der Stellung abhängen, welche der Abg. Windthorst einnehmen wird. Weder die Bundesxegierungen, noch eine Partei wird so thöricht sein, schon in diesem Augenblick mit dem Plan einer Auf⸗ lösung des Reichstages vorzugehen. Das könnte dem Abg. Windthorst so recht passen, wenn er die Erregung der letzten Wahl auch für die nächste benutzen könnte. So dumm sind wir nicht. Wir werden vor allen Dingen erst einige Thor⸗ heiten abwarten, die von der jetzigen Majorität gemacht werden,
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400 Stimmen dort erhalten.
dann werden wir mit Erfolg zur Auflösung schreiten können. Ich will mit dem Abg. Windthorst nicht streiten, ob er Recht daran gethan hat, die Polen gegen das Kartell für seine Zwecke zu benutzen, aber er wird von mir nicht erwarten, daß ich die polnische Frage von demselben Standpunkt ansehe. Für mich giebt es ein anderes Interesse, nämlich das eigenste Interesse des brandenburg⸗preußischen Staats und des hohenzollernschen Fürstenhauses. Der Abg. Windthorst hält dieses Gesetz für den Ausfluß einer barbarischen Staatsraison. Für mich ist die höchste Staatsraison die Integrität und Sicherheit meines Vaterlandes. Die Königlichen Versprechungen und Patente haben die Polen selbst durch ihre Haltung verwirkt, und es ist sehr naiv von dem Abg. Windthorst, wenn er glaubt, daß durch die Stimmabgabe der Freisinnigen für die Polen eine Verbrüderung der Nationalitäten erzielt werden könne. Er benutzt die Polen für seine kirchenpolitischen Zwecke und hält sie im Uebrigen für ungefährlich, weil er die polnischen Ver⸗ hältnisse, die Abschließung der Polen nicht kennt. Trotzdem er hier so sehr die polnische Fahne schwingt, würde er keine Gnade vor den Augen einer polnischen Dame finden. Nicht, als wenn ich die Polen nicht als liebenswürdige Menschen schätzte. Aber das Hemd ist mir näher als der Rock. Als politische Partei, die hier sogar ihre nationale Vertretung hat, muß ich sie bekämpfen. Ich halte das Gesetz für nothwendig und werde den Etat der Ansiedelungskommission bewilligen.
Abg. Rickert: Der Abg. von Tiedemann möchte in seinem Wahlkreise meine heutige Rede gedruckt verbreiten lassen; ich würde, meint er, dann nicht einmal mehr Ich will das Opfer bringen, meine Rede verbreiten zu lassen, bedinge mir aber aus, daß er für jede Stimme, die ich mehr erhalte, zu einem wohlthätigen Zweck eine Strafe zahle. Der Abg. von Puttkamer sagte, ich hätte mit Entrüstung gesprochen. Wie kanu das Jemand thun, der Sie vernichtet hat? Der Abg. von Puttkamer hat sich schließlich auf den Wahlkreis Rosenberg⸗Löbau zurückgezogen. Gestern sagte er, daß in den westpreußischen Wahlkreisen die freisinnige Partei fast überall offen oder versteckt den Polen zum Siege verholfen habe. Ich frage nun, ist es loyal von ihm gehandelt, zu sagen, daß die freisinnigen Wähler im Graudenzer Kreise für den Polen eingetreten sind, nach⸗ dem er selber aus dem Graudenzer „Geselligen“ hat be⸗ weisen müssen, wie die Wahlversammlungen mit großer Mehrheit sich dafür entschieden haben, für den deutschen Kan⸗ didaten zu stimmen. Der Abg. von Puttkamer sagte, es sei festgestellt, daß über 1000 Wähler für den Polen gestimmt hätten. Ich weiß nichts davon. Wenn er aber behauptet hat, daß die Abstimmung in Rosenberg von hier aus dirigirt worden ist, und wenn er weiter gesagt hat, er habe dafür die Beweise in Händen, wolle sie aber nicht mittheilen, so bitte ich ihn, ganz rückhaltlos und ohne Sorge darum, uns nicht zu kom⸗ promittiren, gegen uns mit seinen Beweisen herauszurücken. Ich sehe voraus, daß diese Direktive von der Berliner Central⸗ leitung und nicht von irgend einem X oder N ausgegangen sein soll. Die Centralleitung der freisinnigen Partei hat ausdrücklich einstimmig beschlossen, diesmal, wie auch schon früher, absolute Zurückhaltung allen Parteien gegenüber bei den Stichwahlen zu beobachten. Ich freue mich dieses Be⸗ schlusses, denn ich bin der entschiedenste Gegner einer Einwir⸗ kung der Parteileitung von hier aus auf die Stichwahlkreise. Nichts ist schlimmer, als wenn die Partei von einem Central⸗ punkt wie eine Puppe gezogen wird. Ich bitte also den Abg. von Puttkamer, in öffentlicher Sitzung die Belege für seine Behauptung beizubringen. Der Abg. von Puttkamer hat schließlich das Gebiet der hohen Politik betreten. Die Inte⸗ grität des preußischen Staats wollen wir auch, wie die Er⸗ haltung unseres glorreichen Fürstenhauses, aber wir wollen nicht, daß gleichberechtigte Staatsbürger so behandelt werden, wie die Polengesetze es thun.
Abg. Dr. Sattler: Der Abg. Rickert hat durch seine Zahlen nicht beweisen können, daß die Freisinnigen in Graudenz nüch für die Polen gestimmt haben; sie haben minsestens ihreé Pflicht nicht gethan, um die Wahl des Polen zu verhindern. Daß der Abg. Windthorst im neuen Reichstage ein Tausch⸗ geschäft eintreten zu lassen bereit sein werde, davon war ich auch ohne eine Erklärung von seiner Seite überzeugt. Wenn er aber auch die die Polen betreffenden Fragen in das Tauschgeschäft mit einziehen will, so wird er bald finden, daß der Träger der Krone, die deutschen Katholiken und die ganze Bevölkerung, die irgendwie ein historisches Ge⸗ fühl hat, ihm entgegentreten. Die Krone würde ich nicht er⸗ wähnt haben, wenn nicht der Abg. Windthorst in den letzten Tagen wiederholt versucht hätte, sich dem jetzigen Träger der Krone zu nähern. Er hat das Centrum stets als die haupt⸗ sächlichsten Gegner der Sozialdemokratie hingestellt. München I ist an die Sozialdemokraten verloren gegangen, weil die Centrumspartei sich der Abstimmung enthalten oder für den Sozialdemokraten gestimmt hat. In Hannover haben 1887 und 1890 die Deutsch⸗Hannoveraner, ebenso wie die Nationalliberalen im Jahre 1884 für Meister, zum Theil für den Sozialdemokraten gestimmt, zum Theil sich der Abstimmung enthalten. In Mannheim ist die Centrumspartei direkt angewiesen worden, für den Sozialdemokraten gegen den Nationalliberalen zu stimmen. In dem Wahlkreise des Abg. von Bennigsen ist es den einzelnen Wählern überlassen worden, für den Sozialdemokraten zu stimmen, aber angerathen, keinesfalls die Stimme Hrn. von Bennigsen zu geben. Im „Hanauer Anzeiger“ fand sich eine Annonce: „Centrumswähler! Parole ist Stimmenthaltung! So telegraphirt Windthorst!“ Das ist das thatsächliche Verhalten der Centrumspartei bei den Wahlen gegenüber den Sozialdemokraten. Wir sind bereit, mit dem Abg. Windthorst zusammenzustimmen Fegen die Sozial⸗ demokraten, wenn die Thaten den Worten entsprechen; sonst nicht.
Ein Antrag auf Schluß der Debatte wird abgelehnt.
Abg. Dr. Windthorst: Der Abg. von Puttkamer hat mich mit den Polinnen bedroht; er sollte diese Sorge mir überlassen. Die Herren legen mir hier alle möglichen Dinge bei; ich könnte danach wirklich glauben, daß ich ein gewaltiger Kerl wäre. Ich habe nichts, als einen festen Rechtsboden, von dem ich nicht weiche. Die Tanzkünste der National⸗ liberalen werde ich niemals lernen. In dem Wahl⸗ aufrufe der Centrumspartei im Wahlkreise von Ben⸗ nigsen's finde ich nicht die Aufforderung, für den Sozial⸗ demokraten zu stimmen. Es würde in der That in dem Reichstage etwas gefehlt haben, wenn der Abg. von Bennigsen auch durchgefallen wäre. Sollte ich mit dem Abg. von Bennigsen eine gemeinschaftliche Basis finden können, so bin ich bereit, darauf mit ihm zu operiren; es darf aber keine nationalliberale Basis sein. Interessant war das Zugeständniß
*
des Abg. Sattler, daß d Sozialdemokraten Meister gestimmt haben. In Hanau habe ich es für gut gehalten, Wahlenthaltung anzurathen, weil die Katholiken nicht einen Mann in der Stichwahl wählen konnten, den sie im ersten Wahlgang auf Tod und Leben bekämpft haben. Das Gegentheil zu verlangen, ist unerhört.
Abg. von Puttkamer (Plauth): Darüber, ob die frei⸗ sinnige Parteileitung bei der Wahl in Rosenberg ihre Hand im Spiel hatte, könnte ich mich einfach auf die „Freisinnige Zeitung“ beziehen. Ich könnte Ihnen auch einen Namen nennen, aber ich will es nicht thun, um den Mann nicht zu kompromittiren. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß der Beweis recht klingend in die Augen siel. Ich habe ferner nur gesagt, daß die Polen diejenigen Rechte verwirkt haben, die ihnen in Bezug auf ihre Sprache in der Schule, bei den Behörden u. s. w. versprochen worden sind; die allgemeinen Staatsbürgerrechte habe ich natürlich nicht gemeint.
Ein Antrag auf Schluß der Debatte wird angenommen.
Abg. Rickert (persönlich): Der Abg. von Puttkamer hat wiederum keinen Namen genannt, sondern nur dunkle An⸗ deutungen gemacht; er hat dadurch die Sache nur verschlimmert. Das Verfahren ist parlamentarisch nicht erlaubt und durchaus
Abg. von Puttkamer: Daß eine Parteileitung Geld
nach einem Wahlkreise schickt, halte ich nicht für so unehren⸗ haft und unerlaubt. Das thun alle Parteien. Ich habe mit meiner Bemerkung nur sagen wollen, daß die Parteileitung ihre Hand im Spiele hatte. Den Namen werde ich nicht nennen.
Der Etat der Ansiedlungskommission wird bewilligt, die Denkschrift für erledigt erklärt. 8
Schluß 4 Uhr.
— Dem Hausen der Abgeordneten ist der nach⸗ stehende Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Für⸗ sorge für die Waisen der Lehrer an öffentlichen Volksschulen, zugegangen:
§. 1. Die binterbliebenen ehelichen oder durch nachgefolgte Ehe legitimirten Kinder eines Lehrers, welcher zur Zeit seines Todes an einer öffentlichen Volksschule definitiv angestellt oder aus dem Dienst an derselben mit lebenslänglicher Pension in den Ruhestand versetzt war, erhalten aus der Staatskasse Waisengeld.
§. 2. Keinen Anspruch auf Waisengeld auf Grund dieses Gesetzes haben 1) diejenigen Waisen, welchen ein Anspruch auf Waisengeld auf Grund des Gesetzes vom 20. Mai 1882, betreffend die Fürsorge für die Wittwen und Waisen der unmittelbaren Staatsbeamten, (Gesetz⸗ Samml. S. 298) zusteht; 2) die Kinder derjenigen Lehrer, welche zur Zeit ihres Todes oder ihrer Versetzung in den Ruhe⸗ stand nur nebenamtlich im öffentlichen Volksschuldienst angestellt waren; 3) die Kinder aus der Ehe eines pensionirten Lehrers, welche derselbe erst nach seiner Versetzung in den Ruhestand geschlossen hat; 4) die Kinder eines mit Belassung eines Theils der gesetzlichen Pension aus dem Dienste entlassenen Lehrers.
§. 3. Das Waisengeld beträgt: 1) für Kinder, deren Mutter lebt und zum Bezug von Wittwengeld aus einer nach den Vor⸗ schriften der Gesetze vom 22. Dezember 1869 (Gesetz⸗Samml. 1870 S. 1) und vom 24. Februar 1881 (Gesetz⸗Samml. S. 41) ein⸗ gerichteten Wittwen⸗ und Waisenkasse für Elementarlehrer oder aus einer gemäß §. 11 des ersteren Gesetzes an Stelle einer solchen Kasse bestehenden anderweitigen Anstalt zur Versorgung von Lehrer⸗ wittwen berechtigt ist, jährlich fünfzig Mark für jedes Kind; 2) für Kinder, deren Mutter nicht mehr lebt oder zum Bezuge von Wittwengeld aus einer der unter Ziffer 1 bezeich⸗ neten Versorgungsanstalten nicht berechtigt ist, jährlich vierundachtzig Mark für jedes Kind. Auf letzteres Waisengeld werden diejenigen Bezüge bis zu einem Betrage derselben von zweihundertundfünfzig Mark jährlich angerechnet, welche den Kindern aus einer nach den Vorschriften der Gesetze vom 22. Dezember 18699 und vom 24. Fe⸗ bruar 1881 eingerichteten Wittwen⸗ und Waisenkasse für Elementar⸗ lehrer zustehen. 3
§. 4 Die Zahlung des Waisengeldes beginnt mit dem Ablauf der Gnadenzeit, die Zahlung des in dem §. 3 Ziffer 2 bestimmten Waisengeldes nicht vor dem Beginn desjeaigen Monats, welcher auf den Zeitpunkt des Eintritts der dort bezeichneten Vorausfetzung folgt. Das Waisengeld wird monatlich im Voraus gezahlt. An wen die Zahlung gültig zu leisten ist, bestimmt die Schulaufsichtsbehörde. Nicht abgehobene Theilbeträge des Waisengeldes verjähren binnen vier Jahren, vom Tage ihrer Fälligkeit an gerechnet, zu Gunsten der Staatskasse
§. 5. Das Waisengeld kann mit rechtlicher Wirkung weder ab⸗ getreten noch verpfändet oder sonst übertragen werden.
.6. Das Recht auf den Bezug des Weaisengeldes erlischt:
1) mit dem Ablauf des Monats, in welchem die Waise das acht⸗ zehnte Lebensjahr vollendet; 2) mit dem Ablauf des Monats, in welchem sie sich verheirathet oder stirbt. Das Recht auf den Bezug des Waisengeldes raht, wenn die Waise die deutsche Staatsangehörig⸗ keit verliert, bis zur etwaigen Wiedererlangung derselben.
§ 7. Die Entscheidung darüber, ob und welches Waisengeld den Waisen eines Lehrers zusteht, erfolgt durch die Schulaufsichts⸗ behörde. Die Beschreitung des Rechtsweges gegen diese Entscheidung steht den Betheiligten offen, doch muß die Entscheidung des Ministers der geistlichen, Uaterrichts⸗ und Medizinal⸗Angelegenheiten der Klage vorhergehen und letztere sodann bei Verlust des Klagerechts inner⸗ halb sechs Monaten, nachdem den Betheiligten die Entscheidung des Ministers der geistlichen, Unterrichts⸗ und Medizinal⸗Angelegenheiten bekannt gemacht worden, erhoben werden. Der Verlust des Klage⸗ rechts tritt auch dann ein, wenn von den Betheiligten gegen die Ent⸗ scheidung der Schulaufsichtsbehörde über den Anspruch auf Waisen⸗ geld nicht binnen gleicher Frist die Beschwerde an den Minister der geistlichen, Unterrichts⸗ und Medizinal⸗Angelegenheiten erhoben ist.
§. 8. Für den Bereich der Wittwen⸗ und Waisenkasse im Regierungsbezirk Wiesbaden kann mit Königlicher Genehmigung von dem Minister der geistlichen, Unterrichts⸗ und Medizinal⸗Angelegenheiten angeordnet werden, daß die den Lehrerwaisen aus dieser Kasse zu⸗ stehenden Bezüge ganz oder theilweise um den Betrag der denselben nach diesem Gesetz aus der Staatskasse zu gewährenden Waisengelder gekürzt werden. Diese Kürzung ist jedoch nur soweit zulässig, als die aus der Kasse zahlbare Wittwen⸗ und Waisenpension nicht unter den Betrag von jährlich 250 ℳ herabsinkt, und nur unter der weiteren Vor⸗ aussetzung, daß die eintretende Ersparniß zur entsprechenden Ermäßi⸗ gung der Beiträge der zur Unterhaltung der Kasse verpflichteten Volks⸗ schullehrer und Schulverbände Verwendung findet.
§. 9 Dieses Gesetz tritt mit dem 1. Juli 1890 in Kraft. Mit dem gedachten Zeitpunkte treten die Bestimmungen der Dienst⸗ pragmatik für das vormalige Fürstenthum Hohenzollern⸗Hechingen vom 11 Oktober 1843 über die Gewährung von Erziehungsbeiträgen an Waisen von Volksschullehrern außer Kraft.
§. 10. Mit der Ausführung dieses Gesetzes werden der Minister der geistlichen, Unterrichts⸗ und Medizinal⸗Angelegenheiten und der Finanz⸗Minister beauftragt.
Die Begründung lautet:
Die Fürsorge für die Hinterbliebenen der Volksschullehrer hat sich vielfach in denjenigen Fällen als unzureichend erwiesen, in denen der verstorbene Lehrer eine zahlreiche Familie zurückgelassen hat, weil aus den zur Erfüllung jener Aufgabe in dem weitaus größten Theile des Staats bestimmten, nach den Vorschriften der Gesetze vom 22. Dezember 1869 (Gesetz⸗Samml. 1870 S. 1) und vom 24. Fe⸗ bruar 1881 (Gesetz⸗Samml. S. 41) eingerichteten Elementarlehrer⸗
Wittwen⸗ und Waisenkassen, abgesehen von seltenen Ausnahmen, jeder
ationalliberalen 1884 füͤr den
Familie ohne Rü zahl der zu derselben gehörigen
f Personen nur eine Pension von 250 ℳ jährlich gewährt wird.
8 Um der bedrängten Lage dieser Hinterbliebenen Abhülfe zu schaffen, sind die Mittel des zu Unterstützungen für Wittwen und
Waisen von Elementarlehrern bestimmten Fonds Kap. 121 Tit. 29 b
es Staatshaushalts⸗Etats im laufenden Etatsjahre von 70 000 ℳ uf 200 000 ℳ verstärkt worden. 8 Nach den vorliegenden Erfahrungen ist es indeß als dringend wünschenswerth zu erachten, außerdem durch eine allgemeine gesetzliche
Maßregel den vorbezeichneten organischen Mangel des Versorgungs⸗
wesens der Hinterbliebenen der Volksschullehrer zu beseitigen. In dem §. 1 des Gesetzentwurfs wird daher vorgeschlagen, den interbliebenen ehelichen oder durch nachgefolgte Ehe legitimirten Kindern eines Lehrers, welcher zur Zeit seines Todes an einer öffent⸗ lichen Volksschule definitiv angestellt oder aus dem Dienst an derselben it lebenslänglicher Pension in den Ruhestand versetzt war, einen echtsanspruch auf Waisengeld einzuräumen. Da Bedenken getragen werden muß, gegenwärtig den Schul⸗ erbänden die hiermit verbundene Belastung, welche sich auf ungefähr 300 000 ℳ jährlich belaufen wird, aufzuerlegen, und da die Elementar⸗ lehrer⸗Wittwen⸗ und Waiserkassen dieselbe nicht übernehmen können, nachdem die Beiträge der Mitglieder fast allgemein in Wegfall ge⸗
bracht sind, so bleibt nur übrig, die Waisengelder aus den all⸗
gemeinen Staatsfonds zu bestreiten. Dies darf in gleicher Weise wie die Uebernahme eines Theils der Pensionen der an den öffent⸗ lichen Volksschulen definitiv angestellten Lehrer auf die Staatskasse durch das Gesetz vom 6. Juli 1835 (Gesetz⸗Samml. S. 298) als gerechtfertigt erachtet werden.
— Hieraus folgt, daß die Maßregel auf den Kreis der unter letzteres Gesetz fallenden Lehrer zu beschränken ist. Andererseits wird dieselbe auf die Waisen der Volksschullehrer in dem gesammten Staats⸗ gebiete, mithin auch auf die Waisen derjenigen Lehrer zu erstrecken sein, welche Mitglieder einer auf Grund des §. 11 des Gesetzes vom 22. Dezember 1869 in Wirksamkeit gebliebenen Kasse sind, um so mehr als auch für diese Waisen mehrfach bisher nicht in genügendem Maße gesorgt ist. b
Mit Rücksicht darauf, daß es sich im Uebrigen wesentlich um eine Ergänzung der Aufgaben der Eingangs gedachten Elementar⸗ lehrerwittwen⸗ und Waisenkassen handelt, und das gegenwärtige drin⸗ gende Bedürfniß der Gewährung der Waisengelder ein sehr weit verbreitetes ist, wird es als zulässig und durch die besondere Sachlage geboten zu erachten sein, in Uebereinstimmung mit dem Vorgange des Gesetzes vom 24. Februar 1881 Art. I. auch den zur Zeit des In⸗ krafttretens des im Entwurfe vorliegenden Gesetzes bereits vorhandenen Waisen die Vortheile desselben zu Theil werden zu lassen.
Die in dem §. 2 des Entwurfs in Aussicht genommene nähere Begrenzung des Kreises der zum Bezuge von Waisengeld Berechtigten schließt unter Ziffer 1 die Erlangung doppelter Pensionen aus der Staatskasse aus und entspricht im Uebrigen den Vorschriften des Ge⸗ setzes vom 20. Mai 1882, betreffend die Fürsorge für die Wittwen und Waisen der unmittelbaren Staatsbeamten.
Die in §. 3 im Anschluß an die Vorschriften des §. 9 des letzt⸗ genannten Gesetzes unter Abrundung der Pension der Ganzwaisen auf volle Mark veorgeschlagene Bestimmung der Höhe des Waisengeldes entspricht dem Bedürfniß.
Wenn und insoweit den zu einer Familie gehörenden Ganzwaisen schon ein Anspruch auf Pension in der im §. 3 Ziffer 2 Absatz 1 bestimmten Höhe aus einer in Gemäßheit der Gesetze vom 22. De⸗ zember 1869 und 24. Februar 1881 eingerichteten Kasse zusteht, liegt im Allgemeinen keine Veranlassung vor, denselben Waisengeld aus der Staatskasse zu gewähren. Hierauf beruht die Vorschrift in dem letzten Absatz dieses Paragraphen über die dort näher bestimmte An⸗ rechnung jener Pensionen auf das Waisengeld. 1
Dagegen wird von einer Anrechnung derjenigen Waisenpensionen abzusehen sein, zu deren Bezuge Kinder von Lehrern nach den Sta⸗ tuten einzelner derjenigen Kassen berechtigt sind, welche gemäß §. 11. des Gesetzes von 22. Dezember 1869 an Stelle einer der vorgenann⸗ ten Kassen bestehen. Denn diese ohne Inanspruchnahme der all⸗ gemeinen Staatsfonds auf Leistungen der Lehrer und Schulverbände fun⸗ dirten Kassen sind aufrecht erhalten worden, weil durch dieselben in aus⸗ kömmlicherer Weise als durch die dem Gesetze gemäß eingerichteten Kassen für die Hinterbliebenen der Lehrer gesorgt wird. Diese auskömmlichere Fürsorge besteht bei einigen Kassen in der Gewährung besonderer Waisenpensionen neben den Wittwenpensionen, bei anderen in einer verhältnißmäßig hohen Bemessung des Betrages der letzteren. Eine Anrechnung der aus den Kassen zahlbaren Wittwenpensionen auf das staatliche Waisengeld ist in angemessener Weise nicht wohl ausführbar. Die Anordnung einer Anrechnung der Waisen⸗ pensionen würde danach ohne zureichende innere Begrün⸗ dung eine ungleichmäßige Wirkung des Gesetzes auf die Lage der Hinterbliebenen der Lehrer in den verschiedenen Octen herbeiführen. Es empfiehlt sich um so mehr, eine solche Maß⸗ regel, welche von den Betheiligten als unbillig würde empfunden werden, zu vermeiden, als sonst die Aufrechthaltung der durch beson⸗ dere Leistungen der Lehrer und Schulverbände ermöglichten günstigeren Gestaltuns der Lage der Hinterbliebenen der Lehrer in den hier in Frage kommenden Orten, welche dem Sinne des §. 11 des Gesetzes vom 22. Dezember 1869 entsprechen dürfte, in Frage gestellt werden würde. Auch ist die Abstandnahme von der Anrechnung für die Staats⸗ kasse nicht von erheblicher Bedeutung.
Aehnliche Erwägungen lassen es als gerechtfertigt erscheinen, eine Anrechnung des in nachgenannten seltenen Ausnahmefällen die Summe von 250 ℳ jährlich übersteigenden Betrages von Pensionen aus solchen Kassen, welche nach den Vorschriften der Gesetze vom 22. De⸗ zember 1869 und vom 24 Februar 1881 eingerichtet sind, auszuschließen, da die Gewährung des Mehrbetrages durch entsprechend höhere Beiträge der Lehrer und Schulverbände ermöglicht ist. Anwendung findet diese in dem letzten Absatz des §. 4 vorgesehene Einschränkung der An⸗ rechnung auf die Hinterbliebenen der Mitglieder det Wittwen⸗ und Waifenkassen für Schleswig und Holstein — Lauenburg, bei denen be⸗ sondere Fonds vorhanden sind, aus welchen den Waisen Unter⸗ stützungen von 15 ℳ jährlich gewährt werden. Ferner besteht für den alten Konsistorialbezirk Hannover eine besondere Kasse, aus welcher jedes elternlose Kind bis zum 18. Lebensjahr 18 ℳ jährlich erhält. Ins⸗ besondere aber werden aus der Wittwen⸗ und Waisenkasse für den Regie⸗ rungsbezirk Wiesbaden Pensionen in Höhe von je einem Sechstel der Pension, welche dem Vater bei Eintritt des Todes zugestanden hat oder zugestanden hätte, an Waisen, deren Mutter noch lebt, von je einem Viertel dieser Pension an elternlose Waisen, und zwar im ersteren Falle neben einer Pension der Wittwe in Höhe von einem Drittel der Pension ihres verstorbenen Mannes gezahlt. Die Wittwen⸗ und Waisenpensionen zusammen müssen aber mindestens 250 ℳ betragen.
Da hiernach die Bezüge der Hinterbliebenen der nassauischen Volksschullehrer bereits jetzt in besonders günstiger Weise geregelt sind, so wird es demnächstiger näherer Prüfung bedürfen, ob nicht einer weiteren Erhöhung dieser Bezüge eine Ermäßigung der zur Be⸗ streitung der Ausgaben der Kasse zu leistenden Beiträge ihrer Mit⸗ glieder oder der Schulvexbände vorzuziehen sein möchte. Hierauf beruht die in dem §. 8 des Entwurfs vorgeschlagene Bestimmung.
Die in §§ 4 bis 7 aufgenommenen Vorschriften entsprechen im Wesentlichen denjenigen der §§. 15 bis 20 des Gesetzes vom 20. Mai 1882, betreffend die Fürsorge für die Wittwen und Waisen der un⸗ mittelbaren Staatsbeamten. 8
Einen günstigen Einfluß auf die Gestaltung der Lage der Hinter⸗ bliebenen der Lehrer wird insbesondere die Vorschrift des §. 6 Abs. 1 herbeiführen, nach welcher das Recht auf den 86 des Waisengeldes erst mit dem Ablauf des Monats erlöschen soll, in welchem die Waise das Sögarocgte Lebensjahr vollendet, während die Kassen⸗ pensionen der Regel nach nur bis zu einem niedrigeren Lebensalter der Waisen gezahlt werden. 3 8
Nach §. 26 der Dienstpragmatik für das vormalige Fürstenthum Hohenzollern⸗Hechingen vom 11. Oktober 1843 in Verbindung mit dem Anhang zu diesem Paragraphen und dem §. 24 erhalten die Vollwaisen der dortigen Schullehrer einen Erziehungsbeitrag von je
25 Gulden und diejenigen Kinder, deren
ebt, einen Er⸗ ziehungsbeitrag von je 10 Gulden jährlich aus der Staatskasse, so lange sie die Elementarschule besuchen. Es empfiehlt sich, diese Vor⸗ für die Hinterbliebenen der Vol
Statistik und Volkswirthschaft.
Zur Arbeiterbewegung.
In Herne fand am letzten Sonntag eine von ca. 250 Berg⸗ leuten besuchte Versammlung der Zahlstellen Herne und Baukau des bergmännischen Verbandes statt, in welcher die am vorhergehenden Sonntage beschlossene Sammlung von Unter⸗ schriften für die den Zechen einzureichende Forderung besprochen wurde. Es wurde, wie wir der „Rh. Westf. Ztg.“ entnehmen, bedauert, daß die Theilnahme, namentlich von Zeche „Sham⸗ rock“, eine so geringe sei. Unter den Umständen könne man es den Delegirten nicht verdenken, wenn ihnen die Sache leid würde. Es brauche sich Niemand zu fürchten, seinen Namen herzugeben; das Schriftstück würde nicht eher vorgelegt, als bis die Mehrheit da sei, auch enthalte dasselbe nicht die Kündigung selbst, sondern nur die Erklärung, daß die Unterzeichner mit dem Vorgehen der Dele⸗ girten einverstanden seien
In Essen wurden, wie die „Frkf. Ztg.“ mittheilt, am Sonntag Belegschafts⸗Versammlungen der Zechen „Gustav“ und „Helena“, sowie der „Hoffnung“ abgehalten. Es wurde beschlossen, an den Verbandsforderungen festzuhalten, eine proportionelle Lohn⸗ erhöhung bis zu 50 % zu verlangen, in erster Linie aber eine Schichtdauer von acht Stunden einschließlich Ein⸗ und Ausfahrt. Diese letztere Forderung sei noch wichtiger als diejenige einer Lohn⸗ erhöhung. Ferner wurde beschlossen, da aus baupolizeilichen Gründen die Behörde in Essen Massenversammlungen der Bergleute nicht mehr gestattet, eine jede Belegschaft im Essener Revier zur Wahl be⸗ sonderer Delegirten einzuladen und die gemeinsamen Interessen der verschiedenen Belegschaften dann durch diese Vertrauensmänner wahr⸗ nehmen zu lassen, bis wieder allgemeine Versammlungen möglich sind. Der Verbandsvorstand hat den Essener Bergleuten die Herstellung eines eigenen neuen Vereinslokals empfohlen
Ueber den Riemendreherausstand in Barmen theilt die „Barmer Ztg.“ weiter mit, daß in den Betrieben von H. G. Grote, Gebr. Rittershaus, Herm. Schröder, Fr. Tillmanns u. Co., Karl vom Scheidt, Rob. Weppler und P. F. Böhmer die Arbeit be⸗ dingungslos wieder aufgenommen worden ist. Ferner wurde in der Versammlung der Strikenden gestern mitgetheilt, daß auch bei der Firma Kaiser u. Dicke die Meister und einzelne Arbeiter die Arbeit wieder aufgenommen haben. Die angedrohte Verfügung der Betriebssperre hat also ge⸗ holfen. — Auswärtige Arbeitskräfte, namentlich Weber, haben sich der „Westd. Ztg.“ zufolge in großer Zahl gemeldet. — Wie „W. T. B.“ heute meldet, haben die vorgestern und gestern abgehaltenen Versammlungen der strikenden Riemendrehergesellen beschlossen, vor⸗ läufig an dem Ausstand festzuhalten. Inzwischen haben jedoch die Arbeiter einer weiteren Fabrik die Arbeit bedingungslos wieder aufgenommen.
Die Münchener „Allg. Ztg.“ berichtet aus Nürnberg unter dem 9. d. M.: Eine heute Vormittag im Beckengarten abgehaltene Versammlung, die von Tausenden von Arbeitern aller
Gewerbszweige besucht war, beschloß einstimmig, den 1. Mai
als Arbeiterfeiertag zu begehen. Die Einzigen, welche an diesem Tage nicht feiern, werden dem Anscheine nach nur die Arbeiter der Königlichen Centralwerkstätte und die Setzer ꝛc. der Buch⸗ druckereien sein.
„In Leipzig hielten die Bauhandarbeiter am Sonntag die erste von 7 angekündigten öffentlichen Versammlungen ab, in welcher ein Mitglied der Agitationskommission der Bauarbeiter Deutschlands, ein gewisser Tesch aus Hamburg, referirte. Demselben wurde auf Grund des Vereinsgesetzs vom überwachenden Polizei⸗ beamten das Wort entzogen. Die Versammelten beschlossen, vom 1. April d. J. ab 40 ₰ Stundenlohn bei zehn⸗ stündiger Arbeitszeit und für Ueberstunden 156 ₰ pro Stunde Zu⸗ schlag zu fordern, welche Forderungen zur Zeit noch von den Meistern abgelehnt werden. — In mehreren anderen in Leipzig abgehaltenen öffentlichen Arbeiter⸗Versammlungen wurde, dem „Chemn. Tagbl.“ zufolge, beschlossen, am 1. Mai d J. die Arbeit ruhen zu lassen. In Köln fand, wie die „Rh.⸗W. Ztg.“ mittheilt, vorgestern eine öffentliche Schneider⸗Versammlung statt, welche den Verband der Schneider Deutschlands als das alleinige Mittel, die Lage der Schneider zu verbessern, erklärte und versprach für den Ver⸗ band nach Kräften einzutreten. Ferner verpflichteten sich die ver⸗ sammelten Arbeiter und Arbeiterinnen der Bekleidungs⸗Industrie in einer Resolution, am 1. Mai alle gewerblichen Arbeiten ruhen zu lassen, Falls nicht eine große öffentliche Arbeiterversamm⸗ lung beschließt, anderweitig zu demonstriren.
In Kiel haben der „Kiel. Ztg.“ zufolge die Malergehülfen die Arbeit eingestellt. Die Arbeitgeber wollten gestern eine Versamm⸗ lung abhalten. In Apenrade haben die Maurergesellen die Arbeit wegen unbewilligter höherer Lohnforderung niedergelegt.
Hier, in Berlin, fand am Sonntag eine Versammlung der Kupferschmiede von Berlin und Umgegend statt. Es wurde eine Kommission gewählt, welche mit einer Kommission der Meister wegen der Regelung streitiger Lohn⸗ und Arbeitsfragen unterhandeln soll. Die Gesellenkommission stellt u. a. folgende Bedin⸗ gungen: die tägliche Arbeitszeit währt neun Stunden und beginnt Morgens 7 Uhr; der Stundenlohn soll möglichst auf 60 ₰ erhöht werden; für Ueberstunden sind zu dem endgültig festgesetzten Stunden⸗ lohn 25 %, für Sonntagsarbeit bis Nachmittags 4 Uhr 50 %, nach 4 Uhr 100 % Zuschlag zu zahlen; für Nachtarbeit sind 100 %. Zu⸗ schlag zu zahlen. — In einer Versammlung der Berliner Militärschneider, welche am Sonnabend stattfand, wurde von allen Rednern betont und lebhaft beklagt, daß die Anfangshoffnung auf den Sieg der Strikenden zunichte geworden sei. Die während einer fünfwöchigen Arbeits⸗ und Verdienstlosigkeit eingetretene Noth hat ganze Schaaren von Militärschneidern zu Strikebrechern gemacht. Namentlich haben die Lüttmann'schen Arbeiter den ihnen von der Firma vorgeschriebenen Tarif angenommen. Die Führer des Strikes sind bei den an alle Arbeiter von Seiten der gesperrten Firmen versandten Einladungen zur Aufnahme der Arbeit nicht bedacht worden. Es wurde beschlossen, für dieselben zu sorgen. „UMeber Arbeiter⸗Ausstände in England entnehmen wir einer Londoner Correspondenz der „Köln. Ztg.“ vom 8. d. M. Folgendes: Noch eine Woche und die Frist für den angedrohten Kohlenarbeiterausstand läuft ab. Falls bis zum 15. d. die Kohlengrubenbesitzer richt den Lohnzuschlag von 10 % be⸗ willigt haben, sollen an 350 000 Arbeiter ausstehen. Was die dadurch erzeugte Kohlennoth für London bedeuten würde, läßt ich leicht denken. Die Grubenbesitzer, die gestern in Westminster
alace Hotel zu Rathe saßen, sind bereit, auf einen Schieds⸗ spruch zwischen beiden Theilen einzugehen. Der Schiedsspruch soll am 1. Mai verkündet und alle etwaigen Lohnerhöhungen vom 15. März ab nachgezahlt werden. Einstweilen scheint es nicht, als wenn das Argester⸗parlamenismitglied Pichard, der sein Leben als Kohlenarbeiter begann und jetzt im Namen der Bergleute spricht, darauf eingehen werde. — Von anderen Aus⸗ ständen hat der der Maschinenbauer am Tyne an Umfang zugenommen. Die Feiernden zählen 20 000 Mann und verlangen jetzt einen Schilling Zuschlag zum Wochenlohn sowie die Verlänge⸗ rung des halben Feiertags am Samstag um eine Stunde. Letztere soll zugestanden werden, falls die Arbeiter sie in der Woche nachholen wollen. — In Liverpool wiederholen sich im kleineren Maß⸗ stabe die Vorgänge bei den Londoner Docks. Lange Züge von aus⸗ ständischen Dockarbeitern marschirten gestern durch die Stadt, hielten
beträge 19 653 ℳ
Versammlungen ab und ermuthigten sich gegenseitig zum Zusammen⸗ halten. Sie wissen, daß die Docks an Waaren fast bersten und daß die Zahl der Arbeiter, welche durch den Arbeitgeberverein von draußen gedungen werden, immerhin klein ist. Bis jetzt sollen von Birming⸗ bam, West Bromwich und Wolverhampton ungefähr 6000 Mann in Liverpool angelangt und auf die verschiedenen Docks vertheilt worden sein. Einzelne Firmen, wie D. u. C. Mac Jver, S. Hough, J. Marmon u. Sons, sind auf die Forderungen der Union eingegangen, worauf denn der Ein⸗ und Ausladung ihrer Schiffe nichts mehr im Wege steht. Andere Firmen wünschen sich von der Union vorerst ihr Recht, Unionsleute wie Blacklegs anzustellen, ge⸗ währleisten zu lassen.
Zur wirthschaftlichen Lage.
Aus dem Regierungsbezirk Arnsberg wird geschrieben: Der Woblstand der Bevölkerung war im vierten Quartal im Allgemeinen ein befriedigender. Aus dem Aufschwung fast aller wirthschaft⸗ lichen Produktionszweige ergab sich für die Arbeitgeber und Besitzenden naturgemäß ein günstiger Ertrag ihrer Unternehmungen. Aber auch die Arbeiter hatten ihren Antheil daran, indem überall die Löhne noch weiter stiegen. Es gilt dies hauptsächlich von den Kohlenarbeitern; doch wurde auch den sonstigen Berg⸗ und industriellen Arbeitern eine nicht unbeträchtliche Lohnerhöhung zu theil und auf allen Produktionsgebieten, die Landwirthschaft nicht ausgeschlossen stiegen die Löhne. 1b 88
Zur hauswirthschaftlichen Ausbildung von Fabrik⸗ arbeiterinnen.
Am 7. und 8. März d. J. hat in der großen Steingutfabrik von Villeroy u. Boch in Dresden, die etwa 800 männliche und 400 weibliche Arbeiter beschäftigt, eine Ausstellung von Handarbeiten statt⸗ gefunden, die ein beredtes Zeugniß von den Fortschritten des in dieser Fabrik ertheilten Handfertigkeitsunterrichts ablegte. Alle Wochentage werden in dieser Fabrik Abends von 6 bis 8 Uhr im unmittelbaren Anschluß an die um 6 Uhr endende Fabrikarbeit Unterrichtsstunden für Fabrikarbeiterinnen unentgeltlich ertheilt. Es bestehen 3 Kurse: 1) im Häkeln, Stricken und Flicken, 2) im Weiß⸗ nähen, 3) im Schneidern, mit je 3 Abtheilungen, von denen jede an 2 Abenden der Woche beschäftigt wird. Es sind 3 Lehrerinnen an⸗ gestellt, denen zur Unterweisung von je 12 —15 Schülerinnen einer Abtheilung 12 Nähmaschinen zur Verfügung stehen. Die Einrichtung besteht nunmehr 3 Jahre unter großem Zudrang von Theilnehmerinnen, die nur nach und nach in der Zahl von etwa 117 jährlich an die Reihe kommen. Von großem Nutzen erweist sich die Erleichterung des Erwerbs von Nähmaschinen, welche die Fabrik in großer Anzahl billig angeschafft hat und den Arbeiterinnen gegen kleine monatliche Ratenabzahlungen überläßt. Im vorigen Jahre wurden 44 Näh⸗ maschinen von den Arbeiterinnen dieser Fabrik bezogen. Das Stricken und Flicken, Häkeln, Nähen und Schneidern bildet die Grundlage des hauswirthschaftlichen Unterrichts, den man dem weiblichen Geschlecht jetzt überall zu erleichtern sucht. Da, wo zu diesem Unterricht noch die Unterweisung im Kochen hinzutritt, wird man auch die Erziehung tüchtiger Hausfrauen immer mehr fördern. Diese werden dann den Männern ein besseres häusliches und Familienleben bereiten können, als die ungenügend für den Hausfrauenberuf vorbereiteten Fabrik⸗ arbeiterinnen. 6
Handel und Industrie. 8 Aus Oppeln wird geschrieben: Der erfreuliche Aufschwung, welchen Handel und Industrie genommen, hat auch im vergangenen Quartal im Allgemeinen angehalten. Die Werke sind saͤmmtlich derartig beschäftigt, daß sie die Aufträge kaum zu bewältigen im Stande sind. Eine Gefahr für den Fortbestand dieses Aufschwunges wird vielfach in der ganz unnatürlichen Steigerung der Kohlenpreise erblickt, welche namentlich auf die Eisenindustrie einen schädlichen Einfluß auszuüben droht. Die Lage der Spiritusbrennereien, welche gegenwärtig namentlich auch durch die geringe Ausbeute beeinträchtigt wird, ist fortdauernd eine ungünstige. Die Nachfrage nach Arbeitskräften ist ebenso wie im Vorquartal eine starke gewesen, so daß sich vielfach Arbeitermangel fühlbar machte.
Zur Lage der Textilindustrie im Regierungsbezirk Minden wird geschrieben:
Die Geschäftslage der Leinenfabrikation ist auch im letzten Vierteljlahr eine im Allgemeinen wohlbefriedigende gewesen. Ver⸗ brauch und Absatz waren lebhaft und alle Arbeiter fanden zu guten Löhnen reichliche Beschäftigung. Bei sehr reduzirten Lägern zeigte sich für gewisse Sorte Handleinen und Taschentücher eine vermehrte Nachfrage, welcher kaum zu genügen war. In Folge dessen waren Handweber sehr gesucht, es mußten höhere Löhne bewilligt werden, ohne daß dadurch der Nachfrage genügt worden wäre. In der Wäsche⸗ branche ist eine Aenderung nicht eingetreten. — Die Seiden⸗ fabrikationsgeschäfte zeigten in Folge der gestiegenen und noch weiter steigenden Seiden⸗und Baumwollpreise mehr Leben, als gewöhn⸗ lich das letzte Vierteljahr bietet. Namentlich war das Geschäft in ganzseidenen Marcilleux belebt, auch halbseidene gerippte Stoffe gingen einigermaßen. — In der Plüschweberei fing das haupt⸗ saächlichste Rohmaterial, Mohair, im Oktober an zu steigen und erreichte im November einen Preis, der rund 25 % höher war, als der im September geforderte. Obschon trotz dieser Steigerung des Materialpreises ein höherer Preis für Plüsche noch nicht zu erreichen war, belebte dieselbe das Geschäft doch bedeutend. Aufträge gingen reichlich ein; besonders war die Nachfrage in gemusterten gewebten Plüschen lebhaft. Das Angebot in Arbeits⸗ kräften ist sehr schwach und eine Vermehrung der Produktion nur in ganz geringem Umfange möglich.
Förderung und Absatz von Kohlen.
Die Förderung von Steinkohlen im Regierungsbezirk Oppeln im IV. Quartal 1889 übersteigt, wie von dort berichtet wird, mit 4 317 472 t diejenige des III. Quartals 1889 um 6,9 % und die⸗ jenige des IV. Quartals 1888 um 9,2 %. Der Absatz erreichte 4 037 338 t und zeigt mithin eine Zunahme gegen das Vorquartal um 5,5 %, gegen das IV. 1888 um 5,1 %.
Land⸗ und 11“ Unfallversicherung in
achsen.
Aus dem Geschäftsbericht der land⸗ und forstwirthschaft⸗ lichen Berufsgenossenschaft für das Königreich Sachsen theilt das „Dresdner Journal“ mit, daß der Berufsgenossenschaft am 1. Januar 1889 186 798 land⸗ und forstwirthschaftliche Betriebe (darunter 1382 Kunst⸗ und Handelsgärtnereibetriebe) mit insgesammt nahezu 35 Millionen beitragspflichtigen Steuereinheiten angehörten. 29,4 Millionen Einheiten fielen auf vom Eigenthümer selbst bewirth⸗ schaftete, 4,2 Millionen auf verpachtete Grundstücke. Bei 49 323 Unternehmern (26,4 % der Gesammtzahl) ergab der Betrieb des einzelnen nicht mehr als 10 beitragspflichtige Ein⸗ heiten; insgesammt hatten diese kleinsten Unternehmer 237 000, d. i. 0,68 % der Gesammteinheiten aufzuweisen. Im Jahre 1889 sind 1666 Unfallanzeigen erstattet worden, davon erledigten sich 716 vor Ablauf der 13 wöchigen Wartezeit. In 326 Fällen ist Entschädigung zugebilligt worden, 312 Anzeigen waren am Jahresschluß noch un⸗ erledigt. Unter den 1666 gemeldeten Unfällen hatten 101 den Tod zur Folge. Die Kosten der ersten Einrichtung betrugen 65 450 ℳ, die Verwaltungskosten in der Zeit vom 5. Juli 1888 bis 31. Dezem⸗ ber 1889 46 024 ℳ, die im Jahre 1889 gezahlten Entschädigungs⸗
AKunst und Wissenscht. Festsitzung, welche die „Deutsche C i Ge⸗ sellschaft“ zu Ehren und in Anwesenheit des Gehehem Ace I. Raths und Direktors des Chemischen Instituts zu Bonn, Prof. Dr. August Kekuls, aus Anlaß des 25jährigen Jubiläums der Aufstellung der Benzoltheorie gestern im großen Saale