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den Worten an: „Du Lümmel, kannst Du nicht anständig stehen?“ Ein anderer Redacteur mußte in Bamberg Weiberröcke nähen. Der Redacteur der „Elberfelder Freien Presse“, Bölger, wurde in Herford glatt rasirt und ges horen und trug Gefängnißkleider, während andere wegen Körper⸗ verletzung bestrafte Gefangene Bart und eigene Kleidung trugen. Politische Gefangene werden zum Theil viel härter behandelt, als die wegen gemeiner Vergehen Inhaftirten. Ein wegen Betrugs gleichfalls in Herford inhaftirter Herr von Born durfte eigene Wäsche tragen, konnte sich selbst be⸗ köstigen und Zeitungen lesen. Ein Sozialdemokrat Zuchalski wurde auf seinem Krankenlager in Berlin verhaftet und krank nach Posen ins Gefängniß transportirt; die Eltern durften ihn erst nach 8 Wochen besuchen. Er wurde, gestützt auf wei Aufseher, vorgeführt, seine Mutter fiel bei diesem Anblick in Ohnmacht. Er bat seine Mutter, die Gerichte um seine vorläufige Ent⸗ lassung zu ersuchen, da er Wunden am Körper habe, die auf den harten Brettern, auf denen er liegen müsse, sich ver⸗ schlimmerten. Diese Bitten blieben aber von einem hohen Gericht und dem Staatsanwalt unberücksichtigt. Schließlich wurde er nach 14 Wochen nach dem Franziskanerkloster in Breslau gebracht, wo er bald darauf von seinen schweren Leiden durch den Tod erlöst wurde. Den politischen Gefangenen muß endlich eine bessere Behandlung zu Theil werden, und es muß zunächst festgestellt werden, was man unter einem politischen Gefangenen versteht. In Frankreich wird denselben eine bessere Behandlung zu Theil. Professor von Holtzendorff schrieb einmal an die „Vossische Zei⸗ tung“, die heidnische, römische Republik habe die Gefangenen besser behandelt, als es von der christlichen Gelebenung des 19. Jahrhunderts geschieht; ein römischer Dichter habe sogar in den Gefängnissen Lustspiele verfassen können. Mir wurde in Zwickau auch die Selbstbeköstigung und Selbstbeschäftigung verweigert. Der Direktor fragte mich: „Wie heißt Du? was ist Dein Vater? was ist Deine Mutter?“ Als ich diese Fragen bereitwillig beantwortet hatte, fragte mich der Herr: „Und die Brut?“ Damit meinte er meine Ge⸗ schwister. Was sollen dann erst die unteren Beamten thun, die sich nach ihren Vorgesetzten richten? Solche bösen Beispiele verderben gute Sitten. Giebt die Regierung ein Strafvollzugsgesetz nicht, das den Geboten der Humanität entspricht und eine würdige Behandlung der Gefangenen sichert, dann wird sie in weitesten Volkskreisen den Glauben nicht verwischen können, daß sie politische Gefangene mal⸗ trätiren will. 3 Abg. Dr. Windthorst: In der Kulturkampfszeit haben die Geistlichen und Redacteure unserer Partei die lebhaftesten Klagen über ihre Behandlung in den Gefängnissen zu führen gehabt. Damals fanden ihre Klagen nicht dieselbe Theil⸗ nahme, von der ich glaube, daß sie jetzt eintreten wird. Ich weiß nicht, ob wir jetzt mit der dankenswerthen Anregung des Abg. Bamberger sehr viel weiterkommen werden, als daß durch reglementäre Vorschriften Abhülfe geschaffen wird. Das wirksamste Mittel wird es immer sein, wenn jeder einzelne Fall, der zur Kenntniß kommt, der Oeffentlichkeit übergeben wird, entweder in den Landtagen oder im Reichstage. Ob diese Gelegenheit zur Revision des Strafgesetzbuchs besonders günstig, ist mir sehr zweifelhaft, man könnte damit gar leicht bittere Er⸗ fahrungen machen. Es ist auch zu bedenken, daß die Schaffung eines einheitlichen Strafvollzuges bedeutende Mittel für Ge⸗ fängnißbauten in Anspruch nehmen würde. Die Hauptsache ist, daß die unteren Beamten nicht Ausschreitungen begehen; die höheren Beamten gehen ihnen meist mit gutem Beispiel voran. Abg. von Marquardsen: Man sollte das Eine thun und das Andere nicht lassen. Ich bin dem Abg. Bamberger für seine Anregung und Förderung eines deutschen Straf⸗ vollzugsgesetzes um so dankbarer, als wir in früherer Zeit gerade im Schooße unserer gemeinsamen Partei ein Straf⸗ vollzugsgesetz als Ergänzung des Strafgesetzbuchs ins Leben rufen wollten. Bei allen guten Vorschriften in Bezug auf die Behandlung der Gefangenen liegt die Gefahr vor, daß den Gefangenen Unrecht kann. Denn es werden den vollziehenden Beamten immer weitgehende Vollmachten gegeben werden müssen. Um so mehr sollte man sich be⸗ mühen, durch eine feste gesetzliche Schranke die Willkür ein⸗ zuengen. Ich hoffe, daß nach den Aeußerungen des Herrn Staatssekrelärs bei gegenseitigem guten Willen alle Hinder⸗ nühe beseitigt werden, welche zur Zeit diesem Ziele entgegen⸗ ehen. 8 Die Diskussion wird geschlossen. merkung verwahrt sich Abg. Dr. Bamberger dagegen, daß die freisinnige Partei erst durch das Vorgehen gegen einen freisinnigen Redacteur zu Beschwerden über die Behörden veranlaßt sei. Damit ist die Interpellation erledi 1. Die Interpellation, betreffend den
In persönlicher Be⸗
“ 129 deutsch⸗ schweizerischen Niederlassungsvertrag, wird auf An⸗ trag des Interpellanten, Abg. Baumbach, von der Tages⸗ ordnung abgesetzt. Es folgt der Antrag Rintelen, betreffend das gericht⸗ liche Zustellungswesen.
Der Antragsteller weist darauf hin, daß sein Antrag bereits in der vorigen Session berathen worden sei und die Zustimmung der praktischen Juristen gefunden habe. Das jetzige Zustellungsverfahren sei viel zu formalistisch, weitläufig und kostspielig. Die Regelung des Zustellun sver fahrens sei gar nicht abhängig von einer generellen Revision der Prozeß⸗
sondern könne abgesondert
Das Haus beschließt demgemäß. Es folgt die Berathung des Antrages Rickert auf Ab⸗ änderung des §. 5 der Geschäftsordnung, Wahlprüfungen betreffend. — Der Antragsteller weist darauf hin, daß von 1874 — 76 ediglich den Abtheilungen das Wahlprüfungsgeschäft obgelegen habe. Auf Antrag der Abgg. von Bernuth und Genossen sei eine besondere Re prafungakammesston beschlossen worden. Eine schnellere Erledigung der Wah prüfungsarbeit und eine festere sichere Grundlage für die Entscheidung, wie man ge⸗ hofft, sei aber trotzdem nicht eingetreten. Daraus solle den früheren Wahlprüfungskommissionen kein Vorwur gemacht werden; sie konnten eben nicht mehr leisten. n Folge dessen seien einzelne Wahlen erst am Schlusse der Legislaturperiode geprüft worden. Er beantrage nun,
ie früher schon, daß im Bedürfnißfalle der Reichs⸗ tag statt einer zwei Kommissionen niedersetze. In dieser
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Session seien nicht weniger als 78 Wahlen angefochten. Es sei nicht abzusehen, wann dieselben noch geprüft werden sollen. Der Einwand, daß dann vielleicht die beiden Kommissionen nach verschiedenen Grundsätzen verfahren würden, sei nicht stichhallig. Wenn die Wahlprüfungsfragen auch nicht als Parteifragen behandelt würden, so könnten doch die Mitglieder der einzelnen Fraktionen, welche in beiden Kommissionen sitzen, sich leicht einigen. Soviel stehe aber fest, daß, wenn man einmal auf seinen Vorschlag nicht eingehen wolle, die Prüfung der Wahlen in den Abtheilungen noch den Vorzug verdiene. Jedenfalls möge man doch wenigstens einen Versuch wagen; gelinge derselbe nicht, so könnte man in der nächsten Session zu dem alten Verfahren zurückkehren.
Abg. Müller⸗Marienwerder widerspricht diesem Antrage. Alle Versuche, die Wahlen auf einem anderen Wege zu prüfen, als es jetzt geschieht, haben sich als unpraktisch erwiesen. Die konservativen Parteien haben durch ihre Thätigkeit in der Kommission und im Hause nachgewiesen, daß sie genau das⸗ selbe Interesse haben, wie die anderen Parteien, Unregel⸗ mäßigkeiten bei den Wahlen wirksam entgegenzutreten. Es haben sich aber selbst zwei so erfahrene Parlamentarier, wie die Abgg. Windthorst und von Heereman, gegen zwei Wahl⸗ prüfungs⸗Kommissionen erklärt, und sogar der sozial⸗ demokratische Abg. Liebknecht hat zugegeben, daß dadurch das Uebel nur verschlimmert werden würde. Die Debatten würden dadurch über Gebühr verlängert werden. Prinzipiell bin ich also für Ablehnung des Antrags, eventuell für Ueberweisung an die Geschäftsordnungs⸗ Kommission. Ich glaube, daß wir uns mit viel mehr Recht über die kolossale Ueberhäufung mit Wahlprotesten zu beklagen hätten. Das Parlament kann solche Angelegenheiten nicht bewältigen, ohne seine Mitwirkung an der Gesetzgebung in unverantwortlicher Weise zu vernachlässigen. Die Urheber solcher Proteste machen sich nicht klar, welches Unrecht sie dem Reichstage thun, wenn sie ihn mit jedem lokalen Ereigniß, jeder Ausschreitung irgend eines Nachtwächters behelligen. Auffällig ist, daß in keinem Falle, wo es sich um die einfachsten Sachen handelte, auch nicht einmal der Versuch gemacht worden ist, auf dem Instanzenwege des Landes, in dem die Wahl stattgefunden hat, Abhülfe zu schaffen. Der Reichstag sollte doch erst dann angerufen werden, wenn der Instanzenzug erschöpft ist und nichts geholfen hat. Von 1884 bis 1887, also nicht etwa während des Kartell⸗Reichstages, ist nur eine Wahl, die des Abg. Gottburger, kassirt worden. Wozu also dieser ganze Apparat? Wir brauchten mindestens 20 Sitzungen, um alle diese Proteste zu erledigen. Dazu hat der Reichstag keine Zeit. Wir haben kaum Zeit, die Initiativanträge zu erledigen, auf welche Sie (links) doch so großen Werth legen, und mit Recht beschwert man sich, daß das Petitionsrecht fast illusorisch geworden ist. Ueber die schwierigsten Gesetzes⸗ vorlagen müssen wir uns in 3—4 Tagen schlüssig machen, und da sollen wir etwa die Wahlprüfungen zum Mittelpunkt unserer Geschäfte machen? Nein, gegen diesen Unfug der Wahlproteste muß entschieden Stellung genommen werden. Mit Erstaunen lese ich in freisinnigen Zeitungen, daß man geradezu zu Wahlprotesten herausfordert. Wer ist denn heute nicht in irgend einer Weise in der Lage, eine Wahlbeein⸗ flussung vorzunehmen? Schließlich sollen alle Träger irgend⸗ welcher Autorität bei den Wahlen mundtodt gemacht werden, es bleibt dann nur übrig eine agitatorisch aufgehetzte, ver⸗ blendete und verführte Masse. Durch solche massenhaft vor⸗ gebrachten, in vielen Fällen ganz unbegründeten, auf Unwahr⸗ heiten beruhenden Wahlproteste kann man höchstens das all⸗ gemeine Wahlrecht ad absurdum führen!
Abg. Singer: Vielleicht stellen die Herren von der konservativen Partei nach diesem Vortrage den Antrag, daß Wahlproteste verboten und Diejenigen, die den Reichstag damit behelligen, auf Grund des Unfugsparagraphen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Entrüstung über die Wahl⸗ proteste ist fuͤr mich nichts weiter als der Ausdruck des bösen Gewissens, welches die konservative Partei bei den Wahlen sich erworben hat. Erst in den letzten Tagen ist das Mandat eines unserer Mitglieder einstimmig für ungültig erklärt, die Möglichkeit der Entscheidung aber durch Einreichung eines Gegenprotestes im letzten Augenblick verzögert worden. Wenn es den Herren so sehr am Herzen liegt, zu verhüten, daß das Haus mit unnöthigen Wahlprotesten behelligt wird, so hätten sie diese Gegenproteste unterlassen sollen. Die Wahl⸗ proteste entstehen übrigens nur in Folge der Beeinflussung, welche viele Behörden, namentlich die Landräthe, bei den Wahlen sich zu Schulden kommen lassen. Wenn Sie die Wahlproteste aus der Welt schaffen wollen, lassen Sie die Wahlbeeinflussung fort. Die Wahlproteste sind auch nur ge⸗ dg nc der Ausfluß des Petitionsrechtes, der Ueberzeugung, 19 der Reichstag die Stelle ist, an der das verletzte Recht gesühnt wird, und der Reichstag sollte dankbar sein, daß er in dem Maße das Vertrauen des Volks besitzt. Die Konser⸗ vativen haben in der vorigen Legislaturperiode allerdings das
hrige gethan, um dem Volk das Vertrauen zu nehmen.
ie Grundsätze in Bezug auf Wahlfreiheit, die im Laufe der Jahre mühsam errungen waren, hat die Kartellmehrheit im vorigen Reichstage einfach über den Haufen geworfen, und es wird eine der noth⸗ wendigsten Thätigkeiten dieses Reichstages sein, den verloren gegangenen Glauben in dem Volke wieder wachzurufen. Eine große Schwierigkeit liegt in der Langsamkeit, mit der die vom Reichstage beschlossenen Erhebungen gemacht werden. Wenn 1. Besserung einträte, dann würde der Reichstag seine Ent⸗ chließungen schneller fassen können. Ich betrachte den Antrag Rickert nicht als Heilmittel für alle Schäden auf diesem Gebiete, sondern als einen Versuch, der gemacht werden kann, und den man, wenn er zum gewünschten Ziele nicht führt, wieder aufgiebt. Der Schwerpunkt der Entscheidung muß und wird immer bei dem Reichstage liegen, und deshalb sind 85 Befürchtungen, daß durch das Nebeneinander mehrerer Wah prüfungs⸗Kommissionen eine verschiedene Praxis in der Ent⸗ scheidung entstehen wird, unbegründet. Die Kommissionen bereiten ja die Dinge nur für den Beschluß des Reichstages vor; der Reichstag wird immer in der Lage sein, einige Grundsätze festzustellen. Gegen die Ueberweisung des Antrages an die Geschäftsordnungs⸗Kommission habe ich nichts einzu⸗ wenden; vielleicht gelingt es dort, das, was der Antrag⸗ steller will, noch in präziserer Form zum Ausdruck zu bringen. Aber daß in Bezug auf die Wahlprüfung etwas geschehen muß, scheint mir unzweifelhaft. Es liegen bereits etwa 0 Wahlproteste vor, und der Reichstag hat das größte Mteresse daran, die Legitimation seiner ene möglichst schnell estzustellen. Sollte der Antrag auf Ueberweisung an die Geschäftsordnungs⸗Kommission nicht angenommen werden,
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so werde ich schon heute für den Antrag Rickert stimmen. 8 I111166“
Abg. von Steinrück: Gegen den Vorwurf, daß die Konservativen einen Mangel an gutem Gewissen haben, pro⸗ testire ich ganz energisch. Wir nehmen für uns dasselbe gute Gewissen in Anspruch, wie die übrigen Parteien des Hauses hoffentlich mit uns. Von diesem Standpunkt aus theilen wir die Tendenz des Antrages Rickert, die Feststellung über die Gültigkeit der Wahlen möglichst zu beschleunigen. Die haupt⸗ sächlichste Verzögerung der Entscheidung liegt aber in der Instanz, in der die beschlossenen Beweiserhebungen erfolgen. Daran, daß diese Erhebungen so sehr als möglich beschleu⸗ nigt werden, haben wir das lebhafteste Interesse. Die That⸗ sache, daß wir in der Kommission jüngst eine Wahl für un⸗ gültig erklärt haben, ist richtig. Es ist nach diesem Beschlusse ein Gegenprotest eingegangen, und unter Zustimmung des Vor⸗ sitzenden der Kommission waren wir der Meinung, daß erst in eine Prüfung des Gegenprotestes eingetreten werden muß, ehe wir den schriftlichen Bericht feststellen.
wären, ist also unbegründet. Der Antrag Rickert birgt die große Gefahr in sich, daß die beiden Wahlp rüfungs⸗Kommissione
an demselben Tage über einen ungefähr gleichliegenden Fa
zu verschiedenen Resultaten kommen könnten. Die Abtheilungen überweisen vielfach Proteste an die Wahlprüfungs⸗Kommissionen, während sie dieselben selbst erledigen könnten. 80 Wahlproteste sind auch im Jahre 1884 eingegangen und damals ohne be⸗ sondere Maßregeln erledigt worden. Dem Antrage auf B
rathung des Vorschlages Rickert in der Geschäftsordnungs⸗ sennhchäffion werden wir nicht widerstreben, sonst aber ihn ab⸗ ehnen. Abg. Gröber: Wenn man über Unfug sprechen will, 8 dann wird man über den Unfug sprechen müssen, der zu den Wahlprotesten Veranlassung giebt. Die Wahlproteste sind mit großer Mühe abgefaßt; das thut man doch nicht zum Privat vergnügen. In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle spricht sich das Gefühl aus, daß, wenn auch nicht alle Punkte des Protestes nachgewiesen werden können, doch genügende Gründe für den Protest vorgelegen haben. Wenn die Kon⸗ servativen das nicht empfinden, so erklärt sich das einfach daraus, daß in ihren Wahlkreisen, die sie von lange her be⸗ sitzen, derartige Dinge nicht vorkommen. Sie haben nicht das Gefühl wie andere Parteien, wenn von oben herab Wahl⸗ erlasse ausgegeben und Direktiven gegeben werden, welche Kandidaten der Regierung angenehm sind, und welche nicht. Weil das die Herren nicht am eigenen Leibe em
pfunden haben, reden sie von Unfug.
und da wollen wir nicht kleinlich darüber urtheilen, ob ein mal ein Mißbrauch mit einem Wahlprotest gemacht wird. Uebrigens ist nicht die schnelle Erledigung, sondern die ge⸗ rechte und gründliche Erledigung der Wahlproteste die Haupt sache. Es ist ein Unding, daß Jemand hier großartige Reden hält, in Kommissionen sitzt, an Abstimmungen theilnimmt
und dann einen Monat nachher seine Wahl kassirt wird. Wenn man nicht in die Geschäftsordnung die Bestimmung die Wahlprüfungen allen anderen dann bleibt nichts übrig, als das Durch das Nebeneinanderbestehen absolut nicht ver⸗ meiden, daß selbst in grundsätzlichen Fragen widersprechende
aufnehmen will, daß Geschäften vorgehen, gegenwärtige Verfahren. mehrerer Kommissionen läßt sich
Entscheidungen getroffen werden. Die Autorität der Kommis⸗ siom wird dadurch schwer geschädigt, das Volk kann aber ver⸗ langen, daß alle Wahlen gleich behandelt werden. (Zuruf
links: Im Plenum!) Das trifft nur bis zu einem gewissen
Grade zu, denn, wenn ein Antrag der Kommission an den Reichstag kommt, so hat es schon etwas für sich. Vor allen Dingen soll die Beweiswürdigung gleich sein. Es wird aber Niemand bestreiten können, daß je nach der Persönlichkeit des Vorsitzenden und der Zufammensetzung der Kommission sich verschiedene Strömungen naturgemäß geltend machen und die Wahlen verschieden behandelt werden. Vielleicht empfiehlt es sich, der Wahlprüfungs⸗Kommission für ihre Arbeiten ähnlich wie für die Budgetkommission eine Pause zu lassen. Von dem Antrage Rickert ist eine Besserung nicht zu erwarten.
Abg. Heine: Ich erkenne an, daß bei den letzten Wahlen eine Beeinflussung der Regierung nicht so sehr her⸗ vorgetreten ist, wie bei früheren Wahlen; um so mehr ist diesmal aber der Einfluß der Arbeitgeber Hernc. erh welche die Arbeiter scharenweise zur Wahl trieben und durch die Schnapsflasche zur Wahl veranlaßten. Eine solche Beein⸗ flussung wird von der freisinnigen Partei nicht für eine solche angesehen, welche eine Ungültigerklärung nöthig machen könnte. Unser Wahlsystem müßte durch das sogenannte australische System ersetzt werden, welches sich in den einzelnen Staaten Nord⸗Amerikas vortrefflich bewährt hat.
Abg. von Marquardsen: Ich bin mit dem Antrag Rickert nicht einverstanden, weil er das Ziel auch nicht an⸗ nähernd erreichen wird. Aber die Angelegenheit ist wichtig genug, um sie in der Geschäftsordnungs⸗Kommission zum Aus⸗ trag zu bringen. Bei gutem Willen werden aber auch in einer Kommission von 14 Mitgliedern ersprießliche Resultate erzielt werden können. Wenigstens haben wir 1876, als die Wahlprüfungs⸗Kommission zum ersten Mal bestand, gleich in der ersten Session die Wahlen entweder für gültig oder un⸗ gültig erklärt oder die Beanstandung ausgesprochen, und nur die letzteren Fälle gingen in die nächste Session über. Wenn die Abtheilungen bereits über manches entscheiden und es nicht der Wahlprüfungs⸗Kommission überlassen, wird auch in Zukunft eine raschere Erledigung ermöglicht sein.
Abg. Müller (Marienwerder): Ich habe nicht die Wahl⸗ proteste als Unfug bezeichnet, sondern nur die rein erfundenen, unwahren Protestbehauptungen. Zeitungs⸗Redacteure reichen z. B. Proteste über Wahlen in ganz anderen Wahlkreisen ein. Ein Redacteur hat einen Protest eingereicht und sich vor⸗ behalten, die Begründung nachzubringen, das ist eine Frivo⸗ lität. Das halte ich aufrecht.
Damit schließt die Diskussion.
Im Schlußwort bedauert Abg. Rickert, daß bei der Stimmung des Hauses nicht viel aus seinem Antrag heraus⸗ kommen werde. Die feenag eedenken der Juristen und ähnlicher Herren seien nicht stichhaltig. Es kämen viel mehr Wahlbeeinflussungen vor, als in den Protesten zum Ausdruck kämen, denn Proteste zu erheben sei nicht ungefährlich. Er bedauere, daß der Abg. Müller auch bei dieser Gelegenheit Parteipolitik getrieben habe. Wenn auch sein Antrag mit formalistischen Gründen todtgeschlagen werden würde, so habe er doch gegenüber den zahlreichen Klagen von allen Parteien über das Hinausziehen der Wahlprüfungen seine Pflicht gethan und werde mit seinem Antrag immer wiederkommen.
Der Antrag wird der Geschäftsordnungs⸗Kommission über⸗ wiesen. 81 1 I 1““
1“
riftlich 8 Der Vorwurf, daß wir aus parteipolitischen Rücksichten unrechtmäßig verfahren
Das Wahlrecht ist ein staatsbürgerliches Recht, und wir sind Wächter dieses Rechts,
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Damit ist die Tagesordnung erledigt.
Der Präsident schlägt vor, die nächste Sitzung nach dem Pfingstfest erst am 9. Juni abzuhalten, in der Hoffnung, daß diese lange Zeit und namentlich die Woche vom 2. bis 9. Juni von allen Kommissionen zur sorgfältigsten Bearbeitung der ihnen übertragenen Geschäfte verwendet wird, auch von der Wahlprüfungs⸗Kommission.
Schluß 5 ½ Uhr. Nächste Sitzung Montag, den 9. Juni.
— Schlußbericht der gestrigen (64.) Sitzung des Hauses der Abgeordneten.
Die Petitionen von Familienräthen aus dem Ermlande, betreffkend die Schließung der Mädchen⸗ pensionate bei der Kongregation der Katha⸗ rinerinnen, schlägt die Kommission vor, durch Tagesord⸗ nung zu erledigen; die Abgg. Krebs und Genossen dagegen beantragen, die Regierung zu ersuchen, der Kongregation der Katharinerinnen für das Mutterhaus in Braunsberg und die Filialen zu Wormditt, Heilsberg und Rössel zu gestatten, junge Mädchen in Kost und Logis zu nehmen. Nach längerer Dis⸗ kussion beschließt das Haus den Uebergang zur Tagesordnung.
Die Petition von Gemeinderäthen der Land⸗ gemeinde Wietersheim, betr. die Anlegung eines kom⸗ munalen Begrä nißplatzes daselbst, sowie die der
arzellisten Jürgen Hansen u. Gen. in Düppel, betr. den
rsatz für Kriegsschäden aus dem Jahre 1864, werden durch Uebergang zur Tagesordnung erledigt.
Die Petition des Direktors Dr. Schauenburg in Krefeld, betreffend die Berechtigung der Realgymnasien zu allen Studien und Staatsprüfungen, empfiehlt .lu der Regierung zur Berücksichtigung zu über⸗ weisen.
Abg. Dr. Graf (Elberfeld) wendet sich gegen den Kom⸗ missionsantrag. Es sei kein berechtigtes Verlangen, wenn den kaufmännischen und sonstigen wirthschaftlichen Kreisen zu Gunsten das Gymnasial⸗Monopol aufgehoben werden sollte. Die Realgymnasien müßten ihre Forderung aufgeben, zu⸗ nächst die Berechtigung zu erhalten und dann Reformen ein⸗ treten zu lassen. Er sage, erst die Reform und dann die Be⸗ rechtigung; denn sonst könnten die Reformen das Latein noch weiter beschränken.
Abg. Dr. Kropatscheck führt aus, daß er durch den Zudrang zu den gelehrten Studien, der nach Aufhebung des Berechtigungsmonopols der Gymnasien sicher eintreten würde, sich nicht würde bestimmen lassen, den Realgymnasien die Be⸗ rechtigung vorzuenthalten. Ob die Vorbildung auf den Real⸗ gymnasien ausreiche oder nicht, darüber könnten Gymnasial⸗ lehrer so wenig wie Realgymnasiallehrer ein Urtheil haben, sondern allein die Staatsregierung, die sich aber bisher nicht geäußert habe. Wenn die klaßische Bildung nicht mehr nöthig sei für die Vorbereitung zum akademischen Studium, so könnten auch die Ober⸗Realschulen mit gleichem Recht wie die Realgymnasien die Berechtigung verlangen. Logisch richtiger wäre es dann, die freie Zulassung zu dem Uni⸗ versitätsstudium einzuführen. Der Minister von Kamptz habe bereits vor 30 Jahren diesen letzteren Standpunkt vertreten und im Jahre 1873 seien gelegentlich einer Konferenz im Kultus⸗Ministerium ähnliche Anschauungen geäußert worden. Das klinge aber leichter, als es sei. Die Dinge, die auf der Schule verhältnißmäßig leicht angeeignet würden, könnten nur schwer auf der Universität nachgeholt werden. Die Wissenschaft würde bei mangelhafterer Vorbildung der Hörer von der Höhe, auf der sie sich befindet, herabsinken; die Dozenten wuürden ihren Vortrag ganz anders einrichten müssen, jeder einzelne unserer höheren Berufsstände würde darunter leiden. Die Mitglieder dieser Stände brauchten ja nicht Alle Gelehrte zu sein; aber es sei doch zu wünschen, daß sie Alle wenigstens einmal an der Quelle der Wissenschaft gewesen und die wissen⸗
schaftlichen Quellen des Faches kennen gelernt haben. Das
Mehr an naturwissenschaftlichem und neusprachlichem Unterricht an den Realgymnasien wiege nicht das Mehr des klassischen Unterrichts an den Gymnasien auf; andererseits sei nur zu bedauern, daß die Gymnasien in neuerer Zeit mit Neben⸗ fächern immer mehr belastet worden seien. Redner empfiehlt mit Rücksicht auf die vom Kultus⸗Minister beabsichtigte die Petition der Regierung als Material zu über⸗ weisen.
Das Haus schließt sich dem an. (Schluß 3 ½ Uhr.)
Literatur.
Die Begründung des Deutschen Reichs durch Wilhelm I.
Von dem Sybel'’schen Werk, dessen I. und II. Band wir in Nr. 286 des „Reichs⸗Anzeigers“ vom 29. November 1889, und dessen III. Band wir in Nr. 84 vom 2. April d. J. be⸗ sprochen liegt jetzt der IV. Band vor. (Verlag von R. Oldenbourg in München und Leipzig.) Dieser Band be⸗ handelt die Zeit vom Abschluß des dänischen Krieges bis zum Ausbruch des österreichisch⸗deutschen Krieges.
v. Sybel beginnt mit der Darlegung der allgemeinen Weltverhältnisse und der für die Politik Napoleon's gegenüber Italien und Oesterreich maßgebenden Motive und deckt dabei den inneren Zusammenhang dieser mit der Stellung Oesterreichs zur deutschen und zur schleswig⸗holsteinischen Frage auf. Zugleich werden die sich immer mehr entwickeln⸗ den Gegensätze in den Auffassungen und Interessen Oesterreichs und Preußens in der schleswig⸗holsteinischen Frage in ihren Fäden blosgelegt und scharf und deutlich charakterisirt. Der
wiespalt der beiden Großmächte, der schon über hundert Jahre bezüglich der Vormachtstellung in Deutschland bestand und durch das Bündniß gegen Dänemark nicht aus der Welt eschafft werden konnte, trat um so schäfer hervor, als es ich um das Schicksal des gemeinsam eroberten und befreiten Landes und demgemäß um eine rage handelte, bei welcher beide Mächte ihrer traditionellen Politik und ihren namentlich in der Zeit der Bundesverfassung von jeher erhobenen An⸗ sprüchen Geltung verschaffen zu können glaubten. Wir sehen mit dramatischer Lebendigkeit die geschichtliche Nothwendigkeit einer endlichen Auseinandersetzung sich entwickeln und empfin⸗ den an der Hand des Sybel'schen Werkes um so mehr Theil⸗ nahme und Verständniß einmal für die Bemühungen, dem Bruch vorzubeugen, und auf der andern Seite für die konsequente und planmäßige Vorbereitung aller Mittel, um zu dem einmal als richtig erkannten, den eigenen Interessen entsprechenden Ziel zu gelangen. Mit steigendem Interesse verfolgen wir in dieser
eziehung namentlich die Darlegung des preußischen Stand⸗ punkts, der sowohl in der Bundesfrage wie in der Frage über
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das Schicksal der Herzogthümer sehr bald große Festigkeit er⸗ kennen ließ. Die diplomatischen Vorstöße Oesterreichs konnten diesen Standpunkt nicht erschüttern: Preußen befand sich hierbei in der glücklichen Lage einer Vertheidigungsstellung, in der es zunächst nur die gegen sein Interesse gerichteten Angriffe zu pariren brauchte. Herr von Bismarck wußte zu warten und konnte dies mit um so größerer Hoffnung auf Gewinn thun, als weder Oesterreichs Wünsche bezüglich der Zukunft Schleswig⸗Holsteins eine feste Gestalt angenommen hatten, noch irgend welche Einmüthigkeit unter den deutschen Staaten bestand, die jedoch nach Preußens Auf⸗ fassung die Frage nichts anging. Das 3. Kapitel des IV. Bandes, welches sich „Die preußischen Februar⸗Forde⸗ rungen“ betitelt, enthält eine außerordentlich klate Darstellung und Charakteristik der hierbei zu Tage tretenden Gegensätze und insbesondere der preußischen Politik des Abwartens und ihrer Motivirung: in dieser Beziehung wirft namentlich das Gespräch Bismarck's mit Karolyi, welches nach einer von Herrn von Bismarck sofort niedergeschriebenen Aufzeichnung wiedergegeben wird, helles Licht auf die Staatskunst des Ersteren (Seite 57—61). Das Gespräch (8. Februar 1865) läßt den baldigen Bruch als bevorstehend erkennen; sein Inhalt wird von Svbel dahin resumirt: Karolyi erklärte, wenn Preußen nicht im Februar annehmbare Vorschläge macht, so tritt Oesterreich zu den Mittelstaaten und der Bundesmehrheit über, während Bismarck antwortete: wenn Oesterreich sich einem uns feindseligen Bundes⸗ beschlusse zugesellt, so ist der Konflikt vorhanden. Die am 22. Februar von Preußen endlich gestellten orderungen wegen der Garantien, welche Preußen von einem elbständigen Herzogthum verlangte, brachten den zwischen den beider⸗ seitigen Interessen und Anschauungen bestehenden Gegensatz klar zu Tage. An diesem Punkte der Entwickelung entwirft Sybel ein außerordentlich anschauliches Bild von der Politik Napoleon's, der fürchtete, eine Einigung Preußens und Oester⸗ reichs würde letzterem die Sicherheit verschaffen, Venetien zu behaupten, was Napoleon schon längst für Italien bestimmt hatte. Bismarck drohte seinerseits mit einer Verständigung mit Oesterreich, Falls Fhns eaich in der Frage der Elbherzog⸗ thümer eine Preußen feindselige Haltung einnehmen würde.
Es würde zu weit führen, die einzelnen Stadien der weiteren Entwickelung hier wiederzugeben. Sybel führt diese Entwickelung, in welcher die Gasteiner Uebereinkunft nur ein kurzer Ruhepunkt war, Schritt für Schritt vor⸗ wärts, immer dabei die Stellung Frankreichs und die allgemeinen Weltverhältnisse scharf im Auge behaltend und zur Beleuchtung heranziehend. Als der Bruch wahrscheinlicher wurde, wurden — am 21. April 1865 — die ersten Be⸗ ziehungen mit Italien angeknüpft, die im Juli von Neuem angeregt wurden. Italien wurde der andere Trumpf in dem diplomatischen Spiel. Die anfängliche Unentschlossenheit Italiens wie Frankreichs bewirkte die Verständigung Preußens mit Oesterreich in der Gasteiner Uebereinkunft, die in Frank⸗ reich sehr enttäuschte. Sie war kein Allheilmittel und die Gegensätze traten bald von Neuen hervor: das preußisch⸗ italienische Bündniß wurde alsbald zur That gegen den Willen Napoleon'’s, der Italien von Preußen zu trennen suchte.
Die Ereignisse sind bekannt: je mehr man sie aber nur in ihrer äußeren Erscheinung sich vergegenwärtigt, desto größer ist der Genuß der Sybel schen Darstellung aller einzelnen Phasen, welche die Ereignisse mit außerordentlicher Meister⸗ schaft gruppirt und die Motive der einzelnen Handlungen aus den geschichtlichen Urkunden mit scharfem Blick herausholt. Den IV. Band wird Niemand weglegen, ohne das dringende Bedürfniß zu empfinden, bald auch die Fortsetzung lesen zu können.
Wie die Verlagshandlung uns soeben mittheilt, wird der V. Band bereits am 9. Juni in München und Leipzig zur Ausgabe gelangen. Er wird, wie es in der Mittheilung heißt, namentlich zur Katastrophe des Hannoverschen König⸗ reichs, zur Geschichte der französischen Intervention nach der Schlacht von Sadowa, sowie der Friedensverhandlungen über⸗ aupt und endlich über die Beendigung des preußischen Ver⸗ hanct und end. über die Begründung des Norddeutschen Bundes und über die Friedensverträge mit den süddeutschen Staaten die belangreichsten Aufschlüsse bringen.
Settatistik und Volkswirthschaft.
8 Zur Arbeiterbewegung.
In Dudweiler (Saarrevier) fand, wie die „Saarbr. Ztg.“ berichtet, am Sonntag eine Versammlung der Ausschußm itglie⸗ der des Rechtsschutzvereins statt, in welcher hauptsächlich über die Stellung des Vereins zur Knappschaft verhandelt wurde; man verlangt, daß die Knappschaftsältesten nicht mehr Beamte sein sollen und daß die Arbeiterbeiträge zur Knappschaft von 3,50 auf 4,50 ℳ monatlich und der Pensionssatz von 30 auf 36 ℳ erhöht werden ꝛc.
Aus Hamburg theilt die „H. Börs.⸗H.“ mit, daß auf den Werften am jenseitigen Elbufer gegenwärtig wieder die gewohnte Thätigkeit herrscht. — Im Arbeitsnachweisbureau des Verbandes der Eisenindustrie suchten bereits so viele Leute um Beschäftigung nach, daß fast in allen Branchen die vorhandenen freien “ besetzt werden konnten und eine ganze Anzahl wegen Mangels an Vakanzen
urückgewiesen werden mußte. . 1
Rach Telegramm der „Voss. Ztg.“ stellten in Lübeck sämmtliche Schmiedegesellen, welche bei Innungsmeistern arbeitenten, wegen verweigerter Lohnerhöhung die Arbeit ein. Die Nichtinnungsmeister bewilligten theilweise die Forderungen der Ge⸗ ellen. b In Leipzig beschloß am Montag eine öffentliche Versammlung der Zimmerer, an Stelle der jetzt bestehenden 10 stündigen, auf die Einführung einer 9 stündigen Arbeitszeit hinzustreben sowie den zu Pfingsten d. J. in Frankfurt a. M. stattfindenden Zimmerer⸗ kongreß durch einen Vertreteter zu beschicken. — In einer Ver⸗ sammlung der Leipziger Feilenhauergehülfen wurde, dem „Chemn. Tabl.“ zufolge, beschlossen, Zuzug von auswärts fern zu halten, um den seit dem letzten Strike noch arbeitslosen Gehülfen den Wieder⸗ eintritt in die Arbeit zu ermöglichen. — Am Dienstag fand dann eine von 500 Personen besuchte Maurerversammlung statt, in welcher zunächst über den vom 27. Mai ab in Erfurt tagenden 7. Kon⸗ greß der deutschen Maurer verhandelt wurde. Die Verhandlungen ließen, wie wir einem Bericht der „Lpz. tg.“ entnehmen, erkennen, daß der auf dem letzten Maurerkongreß in Halle scheinbar bei⸗ gelegte Zwiespalt zwischen den beiden großen Parteien der deutschen Maurer, deren eine von Berlin, die andere von Hamburg aus geleitet wird, unter der Oberfläche immer fortgelebt haben muß und auf dem Erfurter Kongreß wieder auszubrechen droht. Der Berliner Partei wurde vorgeworfen, daß sie die jetzt in Hamburg befind⸗ liche Geschäftsleitung sowie die Verfügung über das Hauptorgan der Maurer, den „Grundstein“, an sich zu reißen und durch Entsendung von 15 oder noch mehr Delegirten den Erfurter Kongreß zu majorisiren beabsichtige. Um dem zu begegnen, wurde beschlossen, auch von Leipzig aus vier Vertreter auf den Kongreß zu schicken. — Bei der Besprechung der Leipziger Koheseweung theilte der Vertrauensmann ein Schreiben des Leipziger Bauarbeitgeberbundes mit, in welchem die geforderte Festsetzung des Stundenlohns auf 48 ₰ abgelehnt
und mit Rücksicht auf den schlechten Geschäftsgang ein Höchstlohn
von 45 ₰ geboten wird. Die übrigen Forderungen der Gehülfen werden dagegen bewilligt. Die Versammlung beschloß einem früheren Be⸗ schluß entsprechend, nunmehr die 9 stündige Ar eitszeit und eine Er⸗ höhung des Stundenlohns zu verlangen und nöthigenfalls durch Arbeitseinstellung zu erzwingen. Die Durchführung soll mit Rücksicht auf die in Deutschland schon zahlreich ausgebrochenen Eee. vas sofort, sondern bei gelegener Zeit im Laufe des Sommers erfolgen. b “
Aus Spandau meldet „W. T. B.“, daß in den Königlichen Artilleriewerkstätten der Tageslohn um 15 bis 20 % erhöht worden ist. 1
Aus Berlin wird dem „Hamb. Corr.“ über die in einer Arbeiterinnen⸗Versammlung erhobene Forderung der Anstellung von weiblichen Fabrikinspektoren geschrieben: In einer von 2000 Personen besuchten Versammlung in der Wäsche⸗ branche beschäftigter Arbeiterinnen ist die Forderung zuerst auf⸗ gestellt worden, und für sie soll nun weiter in Arbeiterinnen⸗ Versammlungen nicht nur in Berlin, sondern auch in den übrigen Städten Propaganda gemacht werden. Die Arbeiterinnenbewegung ist augenblicklich hier ziemlich stark in Fluß, aber vollständig wieder in das sozialdemokratische Fahrwasser gerathen, zahlreiche neue Arbeiterinnenvereine sind entstanden resp. in Entstehung begriffen der Verein der Plätterinnen soll bereits viele Hunderte von Mitgliedern umfassen. — Die Versuche, neue sozialdemokratische Blätter ins Leben zu rufen, haben lange Zeit keinen rechten Fortgang gehabt, jetzt scheinen dieselben auf etwas günstigeren Boden gefallen zu sein; denn außer in Solingen sind neue Arbeiterblätter in Bremen, „Bremer Bürgerzeitungt, in. Mannheim „Volksstimme“ ent⸗ tanden. —
Ueber den Zusammenstoß der Arbeitermassen in dem Nürschauer Ausstandsgebiet mit dem Militär entnehmen wir dem „Prag. Abdbl.“ folgende Darstellung: Vorgestern Morgen drangen gewaltige Arbeitermassen gegen den Marthaschacht in Nürschau vor, zu dessen Deckung ein Zug Infanterie aufgestellt war. Der Offizier forderte die tumultuirende Menge dreimal vergebens auf, den Schacht zu verlassen. Das auf das Aeußerste bedrängte Militär war alsdann gezwungen, einige Salven abzugeben, wobei 7 Arbeiter ge⸗ tödtet, 7 schwer und 30 leicht verwundet wurden. In Nürschau selbst mußten später die sich dort ansammelnden Menschenmassen von 23 Gendarmen mit gefällten Bajonetten auseinander getrieben werden.
In Jolimont wurde vorgestern, wie man der „Köln. Ztg.“ berichtet, der internationale Bergarbeitertag in dem großen Saale der Bäckereigenossenschaft, der mit deutschen, belgischen, englischen und französischen Fahnen geschmückt war, eröffnet. Zum Vorsitzenden wurde das ernglische Parlamentsmitglied Burt gewählt, der mit dem Kcollegen Fenwick an der Spitze von 34 englischen Abgesandten die Trades Unions mit 395 000 Bergleuten vertritt. Daneben erschienen je vier Franzosen und Deutsche. Die belgische Vertretung ist vollzählig. Bisher wurden nur Förmlichkeiten erledigt. Das Programm ist rein wirthschaftlich. Die Engländer geben den Ausschlag. —
Wie aus Stockholm mitgetheilt wird, haben die dortigen Bäckergesellen, gegen 700 an der Zahl, am Montag die Arbeit eingestellt; die Bewohner der Hauptstadt konnten deshalb an diesem Tage kein frisches Brot erhalten. Die Bäckermeister ver⸗ öffentlichten eine Erklärung, daß sie eine höhere Löhnung und kürzere Arbeitszeit bewilligt haben, auf die sonstigen Forderungen der Gesellen aber unmöglich eingehen können. 8 einer am Montag Vormittag abgehaltenen Versammlung verpflichteten sich alle Bäckermeister durch Unterschrift und bei einer Strafe von 2000 Kronen, die eventuell den Ferienkolonien zufallen sollen, den Gesellen keine weiteren Zugeständnisse zu machen. — Auch die Eisengießer Stockholms sind in die Ausstandsbewegung eingetreten; eine Werkstatt nach der anderen soll bis zur Bewilligung der aufgestellten Forderungen gesperrt werden. Die Eisengießereibesitzer wollten am Montag Abend in einer Versammlung über gemeinsame Stellung⸗ nahme den Arbeitern gegenüber beschließen.
Zur wirthschaftlichen Lage. 8
Einen Beitrag zur Beurtheilung der wirthschaftlichen Lage liefert der soeben erschienene Bericht der Handelskammer zu Frankfurt ga. M. für das Jahr 1889. Wir heben daraus folgende Mitthei⸗ lungen, welche für den wirthschaftlichen Aufschwung — zunächst der Stadt Frankfurt a. M. — von selbst sprechen, hervor:
Der Gesammt⸗Schiffahrts⸗ und Eisenbahn⸗Verkehr der Stadt Frankfurt a. M. betrug 1889: auf der Eisenbahn 1 334 148,0 t, mittels des Wasserverkehrs 1 016 699,4 t, also insgesammt 2 350 847,4 t. Für das Jahr 1888 berechnete sich der Gesammt⸗ verkehr auf 2 016 568,5 t, (Eisenbahnverkehr 1 231 935,0 t, Wasserverkehr 784 633,5 t). Gegen 1887 hat sich der Wasser⸗ verkehr im Jahre 1888 um 43,5 % und im Jahre 1889 um 60,4 % gehoben; gleichzeitig stieg der Eisenbahnverkehr um 31,6 % gegen 1887 und 8,3 % gegen 1888. In Centnern aus⸗ gedrückt ergiebt sich für die letztvergangenen 3 Jahre folgende Pro⸗ gression des gesammten Güterverkehrs: 1887 33 360 334 Ctr., 1888 40 331 370 Ctr., 1889 47 016 948 Ctr. Frankfurt nimmt hiernach im Güterverkehr eine der ersten Stellen unter den Städten des Deutschen Reichs und unter den Rheinstädten die zweite ein, denn nur Mannheim geht von den letzteren mit 4 170 000,0 t (im Jahre 1888) voran; dann folgt Köln mit 1 955 423,5 t (1888).
Die in Frankfurt a. M. im Jahre 1889 zur Erhebung gelangten Eingangsabgaben berechnen sich auf 7 014 536,65 ℳ gegen 6 713 116,15 ℳ im Jahre 1888. 1
Aus mehreren dem Bericht beigegebenen Tabellen über den Post⸗ und Telegraphen⸗Verkehr in Frankfurt a. M., verglichen mit 21 anderen Städten des Reiches ergiebt sich, daß Frankfurk auch im Jahre 1888 seine erste Stelle behauptete, und zwar in Bezug auf die Höhe der Porto⸗ und Telegraphen⸗Gebühren (pro Kopf der Bevölkerung nach der Zählung von 1885 27,23 ℳ, dann Leipzig 19,66 ℳ, Mannheim, Hamburg, erst an 5. Stelle Berlin mit 17,78 ℳ), den Brief⸗Verkehr (122,43 Stück pro Kopf, dann Mannheim, Leipzig, Köln und an 5. Stelle Berlin mit 97,78 Stück), die Zahl der aufgegebenen Telegramme (4,09 Stück pro Kopf, dann Mannheim 2,79, Hamburg, Bremen, Magdeburg und an 6. Stelle Berlin mit 2,12 Stück) und die der eingegangenen Telegramme (4,52 Stück pro Kopf, dann Mannheim, Bremen, Hamburg, Stettin, Magdeburg, Köln und an 8. Stelle Berlin mit 1,67 Stück). 8
Die Lage der Industrie und des Handels “ hat sich auch im I. Quartal d. J. im Regierungsbezirk Potsdamim All⸗ gemeinen günstig gestaltet. Fast in sämmtlichen Industriezweigen war reich⸗ liche Beschäftigung und befriedigender Absatz vorhanden. Verkürzungen der Arbeitszeit, größere Arbeiter⸗Entlassungen und Betriebs⸗Einstellungen sind nur wenige vorgekommen. Ausstandsbewegungen haben wieder mehrfach stattgefunden. Zur Zeit üben dieselben zwar noch keinen allgemeinen Einfluß auf die Industrie aus; nur die Ziegelstein⸗ Lieferungen nach Berlin wurden unter der Bedingung abgeschlossen, daß nicht ein allgemeiner Strike die Erfüllung des Vertrages verhindere. Im Einzelnen ist hervorzuheben, daß das Ziegelei⸗ geschäft im Allgemeinen gut geht, da in Folge der milden Witterung die Bauthätigkeit eine rege blieb. Auch im vorigen Vierteljahre sind mehrere neue Ziegeleien errichtet worden. Die Glasindustrie war lebhaft beschäftigt, vorzugsweise in der Her⸗ stellung von Beleuchtungsgegenständen. Hohlglasartikel gingen ziemlich gut, dfie encs bei sehr gedrückten Preisen im Inlande, während durch die Ausfuhr nach England, Amerika, Ost⸗Indien und Japan ver⸗ hältnißmäßig gute Preise erzielt wurden. Die optische Industrie in Rathenow war wie seither gut beschäftigt und nimmt nach wie vor eine der ersten Stellen auf dem Welt⸗ markte ein. Die Maschinenbauwerke waren ausreichend mit Neuanlagen von Fabriken beschäftigt. Erfreulicherweise hat sich der Dampfmaschinenbau gehoben. In Eisenkonstruk⸗ tion⸗ und Baugußartikeln zeigte sich große Nachfrage. Der Absatz