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instellung des Verfahrens beschließe, so er an, d 8
Verfahren rechtmäßig eingeleitet worden sei, und daß er es nur nicht fortgesetzt wissen wolle. Wenn er (Redner) auch nicht so weit gehe, wie der Abg. Singer, der den Besitzer eines Privilegs auch als den rechtmäßigen Interpreten desselben betrachtet wissen wolle — namentlich für die bevorstehenden Verhandlungen über die Zuckersteuer möchte er (Redner) diesen Grundsatz nicht gelten lassen —, so wolle er doch nicht, daß der Privilegirte stillschweige, wenn es sich um seine ganze Existenz handele. Der Ausspruch des Reichstages sollte auch allein in dieser Sache schon genügen, ohne daß noch der Bundesrath befraat würde. Der Tenor des Antrages Auer aber verlange Unmögliches. Die Angelegenheit sei bier so behandelt worden, als käme es nicht wesentlich darauf an, daß gegen einen Abgeordneten eine Unter⸗ suchung eingeleitet werden könne, da der Reichstag ja doch das Recht habe, die Untersuchung illusorisch zu machen, indem er die Sistirung verlange. Das sei nicht richtig. Wären bei diesem Falle nicht die Gerichtsferien dazwischen gefallen, so wäre die Untersuchung beendigt worden, bevor der Reichstag hätte sprechen können. Bestände also die Möglichkeit, ein Verfahren während einer längeren Vertagung des Reichstages einzuleiten, so könnte gelegentlich auch eine Aburtheilung erfolgen. Der Reichstag sei schuldig, seine Stellung zu kennzeichnen, je unverrückter der Bundesrath bei der seinigen bleibe. (Heiterkeit.) Er bitte also, beide Anträge der Geschäftsordnungskommission zu überweisen. 1“ 38 Abg. Freiherr von Unruhe⸗Bomst: Sein Antrag wolle nur, daß der Reichstag einen Beschluß fasse, den er fassen müsse, und daß er Unausführbares zurückstelle. Die Kommission würde mit beiden Anträgen auch gewiß nicht rechtzeitig fertig werden. In jedem Falle muͤsse die Immunität der Abgeordneten auch während der Vertagung gewahrt bleiben.
Abg. Dr. Hartmann: Er bitte den Antrag von Unruhe sofort zu erledigen, da sonst leicht die Verhaftung des Angeklagten erfolgen könnte, und das gönne er dem Abg. Grillenberger nicht und vor Allem dem Reichstag nicht. Die Würde des Reichstages und der Volksvertretung müsse auf jeden Fall gewahrt werden.
Abg. Munckel: Der Antrag, das schwebende Verfahren sofort zu sistiren, bleibe für ihn unannehmbar, wenn nicht eine besondere Resolution dazu angenommen würde. Er könne nicht dafür stimmen, daß ein an sich ungehöriges Verfahren nur sistirt werde, sondern wolle eine Entscheidung, ob das Verfahren rechtmäßig gewesen sei oder nicht. Eine solche zu fällen, werde vielleicht das Reichsgericht in die Lage kommen.
Abg. Klemm: Durch Annahme des Antrages von Unruhe er⸗ kläre der Reichstag noch nicht das eingeleitete Verfahren für legal oder illegal. Er wahre damit nur die Autorität des Reichstages, übe aber keine Kritik über die Einleitung des Verfahrens aus. Er (Redner) bitte also den Antrag Unruhe⸗Bomst anzunehmen.
Damit schließt die Diskussion. 1
Abg. Singer (Schlußwort): Er bitte, beide Anträge der Ge⸗ schäftsordnungskommission zu überweisen. Die Auffassung, daß seine Partei mit dem Antrag auf Sistirung zugleich über die Rechtmäßig⸗ keit oder Unrechtmäßigkeit des Verfahrens entscheide, sei für ihn zu juristisch. Die Kommission müsse aber das ganze Material in die Hand bekommen. Werde sie mit der Bearbeitung der Sache nicht rechtzeitig fertig, so könne sie ja einen Vorantrag stellen. Jedenfalls aber werde alsdann die Sache eine prinzipielle Entscheidung finden.
Die Ueberweisung des Antrages von Unruhe⸗Bomst an die Geschäftsordnungskommission wird abgelehnt, die Ueberweisung des sozialdemokratischen Antrages an die Ge⸗ schäftsordnungskommission einstimmig beschlossen und darauf
er Antrag von Unruhe⸗Bomst angenommen. 8
Es folgt die zweite Berathung des Etats.
Bei dem Etat „Reichstag“ regt Abg Richter eine gedruckte Zusammenstellung der Beschlüsse der dritten Lesung des Etats an, wie sie in dem preußischen Landtage erfolge; es sei dies im Interesse der leichteren Orientirung und kor⸗ rekteren Rechnungslegung. Redner bringt sodann die Gewährung von Diäten an die Mitglieder des Reichstages zur Sprache. Die Nothwendigkeit hierzu sei immer dringlicher. Als zum ersten Male die Frage negativ beantwortet worden sei, habe man kürzere Sessionen angenommen. Die Diätenlosigkeit habe abkürzend auf die Sessionen wirken sollen; die Erfahrung habe gezeigt, daß sie ohne Einfluß sei auf die Dauer der Sessionen. Dagegen sei sie von Einfluß auf die Präsenz und Beschlußfähigkeit des Hauses. Die parlamentarische Arbeit beschränke sich in Folge der mangelnden Präsenz auf einen ganz kleinen Kreis von Personen, meist solchen, die in Berlin wohnten; diese seien dann von mehreren Kommissionen zugleich in Anspruch genommen, abgesehen davon, daß es dieselben Personen eien, die auch im Abgeordnetenhause die Kommissionsarbeit hätten. Diätenlosigkeit habe ferner dem Eindringen der Be⸗ rufspolitiker entgegenwirken sollen. Aber nach der Erfahrung sei es durch die Däätenlosigkeit Denjenigen leichter, ein Mandat zu übernehmen, deren Beruf der Politik näher stehe. Die Ver⸗ hältnisse seien noch ungünstiger geworden seit Einführung der fünf⸗ jährigen Legislaturperiode. Im Jahre 1867 sei die Gewährung als allgemeines konstitutionelles Recht angesehen worden; auch bei dem ersten konstituirenden Reichstage seien alle Staaten außer Preußen davon durchdrungen gewesen. Nur der persönliche Wille des Fürsten Bismarck habe die Dätenlosigkeit durchgesetzt. Nun habe der jetzige Reichskanzler bekanntlich erklärt, daß die Regierung bereit sein werde, überall solche zurückgedrängte Gedanken aufzunehmen und, soweit sie durchführbar seien, zu realisiren. Deshalb möchte er (Redner) dem Reichskanzler den Wunsch nahelegen, vorurtbeilsfrei in die Prüfung der Frage der Diätengewährung einzutreten. Seine Partei müsse sich vorbehalten, in dieser oder der nächsten Session einen bezüglichen Antrag einzubringen. Die Sache würde sich aber einfacher erledigen, wenn für die Angelegenheit, in der so viele Voten des Reichstages! für Gewährung vorlägen, die Initiative Seitens der Regierung selbst er⸗ griffen würde. 1 8 Der Etat „Reichstag“ wird bewilligt, ebenso ohne Debatte der Etat „Reichskanzler und Reichskanzlei“. Bei dem Etat des „Reichsamts des Innern“ und zwar bei dem Titel „Besoldung des Staatssekretärs“ bringt Abg. Lingens die Thatigkeit der Fabrikinspektoren zur Sprache. Er weise auf das Ansehen dieser Beamten in Oesterreich, namentlich im 15. Inspektionsbezirk hin, wo fast alle Arbeitseinstellungen durch ihr Dazwischentreten ausgeglichen worden seien. Im Hinblick auf den badischen Bericht bezeichne er es als durchaus zweck⸗ mäßig, daß Angesichts der Zunahme der Arbeiterinnen in den Fabriken der Inspektor auch zur nächtlichen Zeit Inspektionen vor⸗ nehme. In demselben Bericht werde bemängelt, daß katholische Geist⸗ liche an katholischen Feiertagen um 4 Uhr früh Messe läsen und dann die Arbeiter von dieser Stunde bis 7 oder 8 Uhr thätig zu sein genöthigt würden. Das sei allerdings zu bedauern, aber der katho⸗ lische Geistliche würde wohl zu der Frühmesse nicht übergehen, wenn nicht dazu ein absolutes Bedürfniß vorläge; die Arbeitgeber sollten an solchen Feiertagen die Arbeit wenigstens später beginnen lassen. Abg. von Keudell: Nach den Ermittelungen des Dr. Baer hätten sich in deutschen Kranken⸗ und Irrenhäusern 11 000 Personen befunden, die an Säuferwahnsinn gelitten, in Gefängnissen und Zuchthäusern unter 33 000 Personen 1400, deren Verhaftung durch Trunksucht veranlaßt worden sei, also 43 % aller Gefangenen. Unter den bestraften Verbrechen seien auf Mord 43 Trunksüchtige gekommen, auf Todtschlag 63, aufß Brandstiftung 47, auf Diebstahl 51, auf Raub 68, auf Körperverletzung 74 %. Rechne man zu den 11 000 und 14 000 Personen die 800, welche durch Selbstmord oder Unglücksfälle in Folge von Trunksucht jährlich zu Grunde gingen, so ergebe das 25 800 Personen. Ehe diese Leute zum Aeußersten kämen, schlügen sie sich durch ein langes Leben hin, ruinirten eine Frau oder einen Ehemann und gäben Kindern das Leben, welche mit dem erblichen Hange zur Trunksucht und zum Wahnsinn belastet in das Leben einträten, und das sei die auch. lichste Seite dieser Verheerung. Erfahrungsmäßig seien frische Fälle
on Trunksucht in den Trinkerheilanstalten sehr leicht geheilt worden, Personen aber, deren Eltern schon dem Trunke ergeben gewesen seien, würden in der Regel, wenn sie geheilt würden, wieder rückfällig. Das Uebel wurzele im deutschen Volke tief; die Erfahrung aller anderen Länder, wo der Kampf gegen die Trunksucht geführt werde, beweise, daß nur da, wo der Staat seine starke Hand zur Unter⸗ stützung der Privatthätigkeit leihe, die Erfolge bedeutend seien. In Schweden und Norwegen sei der Konsum des Trinkbranntweins in wenigen Jahrzehnten bis auf ein Sechstel gesunken; England, mehrere Staaten Nordamerikas, die Schweiz, Holland wiesen ähnliche Erfahrungen auf. Für Deutschland komme noch ein ganz besonderer Grund hinzu, der Sache näher zu treten. Alle Interessenten der großen sozialpolitischen Gesetze, und das sei so ziemlich die ganze Bevölkerung und die Reichskasse selbst, hätten ein Interesse daran, daß die Zahl der Trunksüchtigen sich vermindere. In der That habe auch das Reichsamt des Innern dem Gegenstande ernste Aufmerksamkeit gewidmet und darüber vielfach Correspondenzen mit den verbündeten Regierungen gepflogen. Vor einigen Wochen habe durch die Presse die Nachricht die Runde gemacht, daß ein solcher Entwurf bereits fertig gestellt sei. Er frage, ob die Nachricht begründet und ob Aussicht vorhanden sei, daß ein solcher Entwurf noch im Laufe der gegenwärtigen Tagung vor⸗ gelegt werden könne. (Beifall.)
Staatssekretär Dr. von Boetticher:
Ich benutze gern die Gelegenheit, um über die Lage des Gesetzes, welches sich auf die Bekämpfung der Trunksucht richtet, Auskunft zu ertheilen. Wie aus meinen früheren Erklärungen, glaube ich — ich habe sie jetzt nicht wieder eingesehen —, bereits dem hohen Hause bekannt geworden ist, hat ein Meinungsaustausch unter den ver⸗ bündeten Regierungen über die Bedürfnißfrage stattgefunden, bei welchem sich die überwiegende Zahl der Regierungen dahin aus⸗ gesprochen hat, daß ein Bedürfniß für ein gesetzgeberisches Vorgehen auf diesem Gebiete anzuerkennen sei. (Hört, hört!) Demgemäß sind bereits von den berufenen Reichsstellen, dem Reichs⸗Justizamt und dem Reichsamt des Innern, kommissarische Verhandlungen ein⸗ geleitet worden. Die Ergebnisse dieser Berathungen liegen mir augenblicklich in Gestalt von Grundzügen zu einem Gesetze vor, in welchem es sich darum handeln wird, sowohl gewerbepolizei⸗ liche wie privatrechtliche und strafrechtliche Bestimmungen zu erlassen, welche geeignet sind, gerade den Uebelständen, welche der Herr Vorredner so lebhaft und, wie ich anerkennen muß, mit vollem Recht betont hat, entgegenzutreten. Der Gesetzentwurf selbst ist bisher noch nicht in seinen Einzelheiten aufgestellt, indessen ist bisher das Stadium, das noch bis zur Fertigstellung des Gesetz⸗ entwurfs zurückzulegen ist, kein so schwieriges, daß ich nicht annehmen könnte, daß der Gesetzentwurf in Bälde an den Bundesrath gelangen wird. Auch dort, hoffe ich, wird er nicht auf große Bedenken stoßen. Ich möchte deshalb annehmen — aber ohne daß ich, klug gemacht durch frühere Vorgänge, einen bestimmten Zeitpunkt bezeichnen kann —, daß Aussicht vorhanden ist, den Gesetzentwurf noch in dieser
Session dem Hause vorzulegen, namentlich dann, wenn, wie der
Hr. Abg. Richter vorhin voraussetzte, die Session sich über Ostern hinauszieht.
Abg. Wurm: Die Sozialdemokraten seien ebenfalls ganz energische Gegner des Trunkes. Die Arbeiter, die dem Trunke huldigten, seien nicht Sozialdemokraten. Sie könnten sich aber niemals herbeilassen, die unschuldigen Opfer der heutigen Gesellschaft dafür noch zu strafen, daß sie sie in diesen Zustand versetzt habe. Gerade die Inspektoren⸗ berichte, besonders der badische, zeigten, wie die Trunksucht auf dem Boden der schlechten Ernährung, der niedrigen Löhne der arbeitenden Bevölkerung erwachse. Die Schilderung der sozialen Lage der Tabacks⸗ arbeiter in Baden gebe ein besonders trauriges Bild hiervon. Nicht bloß die schlechte Löhnung und Ernährung, auch die ganze Arbeits⸗ eintheilung treibe die Leute zum Branntwein, besonders die Akkord⸗ arbeit bringe den Arbeiter dazu, nervös zu werden und seine Nervosität durch ein Alkoholikum zu betäuben, wie das in andern Kreisen auch geschehe, nur daß der Arbeiter eben zu dem billigen Schnaps greifen müsse, dessen Konsum nicht gesunken, sondern gestiegen sei. — Die Be⸗ fugnisse seien leider in den verschiedenen Staaten verschieden. Zu beklagen sei auch, daß die Zahl der Inspektoren zu gering sei. Die Berichte vermieden es, klarzulegen, wie wenig Untersuchungen stattfänden; es werde nicht mitgetheilt, wie viele Anlagen hätten be⸗ sucht werden sollen, und wie viele nicht hätten besucht werden können. In vielen Bezirken beschränke sich der Besuch auf nur wenige Pro⸗ zente der Anlagen. Da dürfe es freilich nicht wundern, daß der Ge⸗ werbe⸗Rath für Hannover Müller in seinem Bericht Mittheilungen mache, die den Thatsachen nicht entsprächen. Er schreibe z. B., daß regelmäßige Nachtarbeit der Frauen nur in den Zuckerfabriken statt⸗ fände. Dicht vor den Thoren der Stadt befinde sich aber eine Wollwäscherei und Kämmerei, in der eine große Anzahl Arbeiterinnen beschäftigt sei, die auch des Nachts arbeiteten. Er (Redner) nehme seine falsche Notiz dem Gewerbe⸗Rath Müller gar nicht übel, da dieser nur 5 % der Anlagen seines Bezirks zu besichtigen in der Lage sei. Wenn aber die Berichte von dieser Beschaffenheit seien, so werde doch der Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Berichte überhaupt berechtigt sein. Die Fabrikinspektoren müßten so vermehrt werden, daß es nicht mehr vorkommen könne, daß ein Arbeiter, welcher fünfzehn Jahre lang in einer Fabrik gearbeitet habe, überhaupt niemals den Fabrikinspektor kennen gelernt habe. In Preußen habe man gar keine Kontrole, wie viel Revisionen vorgenommen würden. In Sachsen seien 54 % der Betriebe revidirt worden, das sei immerhin schon besser. Wie viel Revisionen stattgefunden hätten, werde in allen Be⸗ richten gesagt, aber nicht, wie viel Betriebe revidirt werden sollten. Es komme auch nicht so sehr auf die Anzahl der revidirten Betriebe, als auf die darin beschäftigten Arbeiter an, sonst könnte ein Fabrik⸗ inspektor sehr viele kleine Werkstätten besuchen, wo die Revision schnell beendigt sei, aber nicht die großen Fabriken mit einer Masse von Arbeitern. In Sachsen seien merkwürdiger Weise 1887 weit mehr Betriebe unter das Fabrikgesetz gestellt gewesen als 1888 und 1889, nämlich 1887 17 173, 1888 12 931, 1889 12 963. Es seien 1888 eine ganze Anzahl Betriebe bei der Zählung ausgeschlossen worden, die doch unter dem Inspektorat stehen müßten, z. B. die unter Aufsicht der Berginspektion stehenden Betriebe, selbst wenn andere darunter nicht stehende Betriebe damit verbunden würden. Ferner die Steinbrüche, in denen Viele verunglückten und die oft von den Unter⸗ nehmern fahrlässig betrieben würden. Namentlich sei die Kantinen⸗ wirthschaft nirgends größer als dort, aber darüber verlaute in dem Bericht nichts. Würden die Unternehmer zu sehr von den Fabrik⸗ inspektoren belastet, so konstruirten sie sich Hausindustrieen, die nicht beaufsichtigt würden. Ein Stickereifabrikant habe sechs Stick⸗ maschinen im Hause aufgestellt und die Stickmaschinen verpachtet: wenn die Sticker nun im Hause Kinder beschäftigten, so habe ihn das gar nichts angegangen. Für Cigarrenfabrikanten sei es auch vortheil⸗ haft, wenn sie Werkstätten hausindustriell als Filialen einrichteten. Dann entzögen sie sich der Aufsicht, weil sie nicht Fabriken im Sinne des Gesetzes hätten. Das Schlimmste sei auch nicht das, was man in den letzten Berichten erfahre, sondern das, was man nicht zu hören bekomme, weil es sich der Aufsicht der Fabrikinspektoren entziehe. Wenn man nun in Preußen eine größere Anzahl von Fabrikinspektoren bekomme — die Sozialdemokraten würden dem freudig zustimmen, aber leider hätten sie im Abgeordnetenhause nichts zu sagen —, so müßten auch deren Befugnisse ganz ent⸗ schieden erweitert werden. Es komme auch auf die Person an und auf die Qualifikation des Beamten. Ein klassischer Gegen⸗ soß zwischen einem Fabrikinspektor, wie er sein solle und wie er nicht
ein solle, böten der Fabrikinspektor von Dresden und der von Baden. Der Erstere, der Gewerbe⸗Rath Siebdrat, habe es mit großer Ge⸗
schicklichkeit verstanden, sich die Sympathien der Arbeiter voll⸗ kommen zu verscherzen. Er habe z. B. erklärt, anonyme Auf⸗ forderungen zur Revision überhaupt nicht zu berücksichtigen. Der Arbeiter könne den Muth haben, hervorzutreten. Die Arbeiter hätten Muth genug gezeigt, wenn es gegolten habe. Aber ihre Familie elend zu machen wegen kleinlicher Dinge, wo sie doch nur angehört würden und man ihnen höchstens wohlwollende Be⸗ rücksichtigung verspreche, so dumm seien die Arbeiter nicht. Vertrauen zu den Fabrikinspektoren hätten sie meistens nicht. Der Fabrik⸗ inspektor von Baden sage offen, wenn er etwas von einem Arbeiter erfahre, seien die Unternehmer sehr empfindlich, sähen es für einen Verstoß gegen die Disziplin an und entließen dann den Arbeiter. In Dresden habe ein Arbeiter einer Bronzefabrik von der Gesundheitsschädlichkeit des Betriebes Anzeige gemacht, er sei post hoc entlassen worden, die Arbeiter seien aber überzeugt, daß es propter hoc geschehen sei. Der Gewerbe⸗Rath Siebdrat berichte über diesen Fall: „Nach der Untersuchung der Angelegenheit stellte sich heraus, daß der betreffende Arbeiter entlassen worden war, weil derselbe in agitatorischer Weise fortwährend Unzufriedenheit unter den Arbeitern verbreitet hat. Die von ihm gemachten Angaben waren theils übertrieben, theils ganz unwahr.“ Woher kenne der Gewerbe⸗Rath das agitatorische Verhalten des Arbeiters? Die hygieni⸗ schen Anforderungen dagegen scheine er nicht zu kennen. So lange das Unternehmerthum und das Fabrikinspektorat sich das Vertrauen der Arbeiter nicht erwürben, werde man nicht weiter kommen. Von manchen Fabrikinspektoren werde ihre Pflicht eigenthümlich aufgefaßt. Der Fabrikinspektor von Baden sage, daß die Unternehmer sehr empfindlich seien, wenn man ihnen Vorhaltungen mache. Viele Maßregeln zum Schutze der Gesundheit und des Lebens der Arbeiter unterblieben im Interesse des Geldbeutels der Unter⸗ nehmer. Er (Redner) denke, man sei so weit gekommen, daß von einer Gleichberechtiung der Arbeiter die Rede sein könne; in dem Kaiserlichen Erlaß habe dies doch ausdrücklich gestanden. Wenn aber die Unternehmer erst nach wiederholten Bestrafungen zu Verbesserungen zu bestimmen seien, und wenn die Kinder zu falschen Aussagen abgerichtet würden, damit die Fabrikinspektoren Nichts er⸗ führen, so sehe das doch einer Korruption verzweifelt ähnlich. Wenn
die Fabrikinspektoren im Interesse der Saisonarbeit, die längst ab⸗.
geschafft sein könnte, zahlreiche Ueberstunden erlaubten, so müsse dieses Institut geändert werden, wenn es segensreich wirken solle. Der Fabrikinspektor von Baden sage, der Verkehr zwischen den Fabrikinspektoren und den Arbeitern werde nur dann vortheilhaft sein, wenn erstere mit organisationsmäßigen Vertretungen der Arbeiter verhandeln könnten. Was wolle seine Partei anders mit ihren For⸗ derungen von Arbeiterkammern und] Arbeitsämtern als dies! Die bösen sozialdemokratischen Fachvereine seien gänzlich verpönt. Auf der einen Seite werde den Arbeitern Freiheit gewährleistet, auf der anderen werde sie beschränkt. Erst vor drei Tagen habe der Berg⸗ werksdirektor Francke in Obernkirchen den Deputirten des Knappschafts⸗ vereins erklärt, daß die Arbeiter, welche einem Fachverein ange⸗ hörten, austreten oder in 14 Tagen die Arbeit niederlegen müßten. Hoffentlich werde ihm von seiner vorgesetzten Behörde mitgetheilt, daß er seine Befugnisse überschritten habe. Zu Fabrikinspektoren dürften nicht Personen gemacht werden, die keine Ahnung von den Schmerzen der Arbeiter hätten. In Preußen wolle man jetzt die Kesselrevisionen mit dem Fabrikinspektorat verbinden; dazu brauche man geschulte Beamte, die aber die Arbeiterzustände nicht beurtheilen könnten. Wenn der Mainzer Fabrikinspektor erkläre, die Arbeiter sollten nur die Fenster öffnen, um bessere Luft zu haben, so kenne er nicht den Nachtheil der Zugluft. Die Unternehmer kümmerten sich um die Gesundheit ihrer Arbeiter nur, wo sie Vortheil davon hätten. In einer Cementfabrik habe der Besitzer eine Einrichtung zur Beseitigung des Staubes treffen sollen. Als er aber darauf aufmerksam gemacht worden sei, daß dann der Staub aufgesammelt werden könnte, habe er es gethan und aus dem Staube einen Ueberschuß von 3000 ℳ gehabt. So lange man unter den Interessen der Industrie immer das Interesse des Geldbeutels des Unternehmers verstehe, werde man Nichts erreichen. Immer schroffer werde der Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeiter werden. Wenn die Gleichberechtigung der Arbeiter von höchster Stelle ausgesprochen sei, müßten die anderen Organe erst recht darnach strebken. In dem Bericht sei aber auch da⸗ von die Rede, daß der Arbeiter auch ein Mensch sei und daß er ein Recht habe zu leben. Wenn der Reichstag ihm das Recht nicht gebe, werde er es sich nehmen. (Beifall links.)
Sächsischer Bundesbevollmächtigter Dr. Grafvon Hobenthal: Der Gewerbe⸗Rath Siebdrat in Dresden sei ein ganz vorzüglicher Beamter und ganz allgemein als Fachmann erster Klasse anerkannt, nur nicht bei den Sozialdemokraten, weil er mit Energie unberechtigten An⸗ sprüchen derselben jederzeit entgegengetreten sei. Der Fall von dem Arbeiter in der Bronzefabrik sei ihm (dem Redner) nicht bekannt. Er glaube aber nicht, daß die Untersuchung des Gewerbe⸗Raths und die Entlassung des Arbeiters im Zusammenhange ständen. Der Gewerbe⸗Rath Siebdrat sei von jeher der Agitation unter den Arbei⸗ tern entgegengetreten. Es sei für ihn (den Redner) sehr wahrschein⸗ lich, daß es sich in diesem Fall um einen Mann handele, der das ganze Einvernehmen zwischen dem Inhaber der Fabrik und den Arbeitern zu stören bestrebt gewesen sei und den der Besitzer deshalb entlassen habe. Wenn der Besitzer die hygienischen Maßnahmen für ge⸗ nügend erklärt habe, so traue er (Redner) ihm ein besseres Urtheil zu, als dem betreffenden Arbeiter.
Abg. Bebel: Der sächsische Bundesbevollmächtigte habe dem Gewerbe⸗Rath Siebdrat das Zeugniß ausgestellt, daß er ein außer⸗ ordentlich tüchtiger und in seinem Fach brauchbarer Beamter sei. Er habe sich aber dadurch mißliebig gemacht, daß er sich ganz einseitig auf die Seite der Arbeitgeber gestellt und über Agitationen und Versammlungen der Arbeiter berichtet habe. Nun frage er (Redner) das ganze Haus: seit wann sei es denn Auf⸗ gabe der Fabrikinspektoren, sich um die Agitation urd die Be⸗ strebungen der Arbeiter zu bekümmern? Seit wann habe der Inspektor das Recht, sich als Partei in die Strikes u. s. w. einzu⸗ mischen? Seien die Fabrikinspektoren Beamte zum Schutz der Unter⸗ nehmer oder der Arbeiter? Wenn sie schon Partei ergriffen, dann hätten sie weit eher die Verpflichtung, sich auf die Seite der Arbeiter als der Unternehmer zu stellen. Man möge aber die Berichte des Hrn. Siebdrat durchgehen, dann werde man zahlreiche Aeußerungen gegen die Arbeiter finden, aber nicht eine einzige gegen die Unternehmer. Der Herr müßte vom Ministerium eine Rüge erhalten oder entlassen werden. Er habe weder das Ver⸗ trauen der Sozialdemokraten, noch der Arbeiter überhaupt. Freilich gegen Sozialdemokraten sei Alles erlaubt. Ihre Sammlungen in Versammlungen würden verboten, andere Parteien könnten ruhig diese Sammlungen vornehmen ohne polizeiliche Genehmigung. Er finde es sehr löblich, wenn der Abg. Dr. Hartmann und seine Freunde der Trunk⸗ sucht entgegenträten. Man möge aber seine Aufmerksamkeit nicht bloß der Trunksucht in den niederen Klassen, sondern auch in den höheren Ständen, namentlich dem übermäßigen Biergenuß, den Kneipereien der Korps auf den Universitäten, dem Frühschoppen zuwenden. Da finde man ein weites Feld der Thätigkeit.
Säͤchsischer Bundesbevollmächtigter Dr. Graf von Hohentha l:
Der Abg Bebel frage, ob die Fabrikinspektoren den Unternehmern oder den Arbeitern dienen sollten, und meine, den Arbeitern; er (Redner) sage, Beiden zugleich. Wenn der Abg. Bebel weiter meine, Hr. Siebdrat habe noch niemals eine Klage der Arbeiter für gerecht⸗
fertigt erklärt, so verweise er (Redner) ihn auf den Bericht, da
stehe das Gegentheil.
Abg. Bebel: Der Vorredner habe ihn mißverstanden. Er (Redner) habe gesagt, daß man in den zahlreichen Berichten dieser Herren fortgesetzte Angriffe gegen die Arbeiter, aber niemals eine
Beschwerde gegen die Arbeitgeber finde.
Abg. Ackermann nimmt den Gewerbe⸗Rath Siebdrat in
Schutz. Derselbe sei ein Ehrenmann durch und durch.
Abg. Dr. Hartmann: Daß Herr Siebdrat von den sozialdemo⸗ kratischen Hetzern angegriffen werde, nehme ihn (den Redner) nicht Wunder; es gehe ihm da ebenso wie den Staatsanwälten. (Zurufe bei den Sozialdemokraten.) Die Staatsanwälte seien gewissermaßen
ihre geborenen Feinde. Mit vollem Recht. Die Sozialdemokraten gefährdeten Staat und Gesellschaftsordnung, und suchten sich um das Gesetz herumzuschlängeln, es zu umgehen. Sie hätten auf dem Kongreß in Wyden das Wort „gesetzlich“ aus ihrem Programm gestrichen. Sie wollten also auch mit ungesetzlichen Mitteln kämpfen. Später, als man gesehen habe, daß die Sache doch einen schlechten Eindruck mache, habe man gesagt, man habe das Wort „gesetzlich“ des⸗ halb gestrichen, weil man sonst das Sozialistengesetz anerkannt hätte. Seit dem 30. September sei das Sozialistengesetz in den Hades ver⸗ sunken. Die Sozialdemokraten seien in Halle zusammen gewesen, hätten sie dort das Wort „geseglich“ in das Programm hinein⸗ geschrieben? Sie wollten also ihre Träume und Hirngespinnste mit gesetzlichen und ungesetzlichen Mitteln durchführen. Da diese Partei mit den Gesetzen in Konflikt komme und die Wächter des Ge⸗ setzes das verfolgten, so hätte sie keinen Grund, sich darüber zu be⸗ klagen. (Zuruf bei den Sozialdemokraten.) Warum hätten sie ihn immer als Staatsanwalt angegriffen? Man möge ihm einen Fall nennen, wo er als Staatsanwalt einem Sozialdemokraten gegenuüber das Recht gebeugt oder gebrochen habe. Das sei nicht einmal be⸗ hauptet worden, obgleich die Sozialdemokraten doch mit Behaup⸗ tungen sehr schnell bei der Hand seien. Redner geht nunmehr aus⸗ führlicher auf den Kopenhagener Kongreß und die spätere Verhaftung von sozialdemokratischen Abgeordneten ein und wird dabei durch wiederholte Rufe zur Sache unterbrochen. Sachsen besitze ein tüch⸗ tiges Vereins⸗ und Versammlungsrecht, schade, daß das Preßgesetz nicht auch so sei. Wenn wirklich die Gerichte irgend einen Fehler gemacht hätten, so sei allemal Remedur eingetreten. Statt den ordentlichen Instanzenweg zu gehen, inkommodirten die sozialdemokratischen Ab⸗ geordneten den Reichstag mit allerlei Spezialfällen. Ganz ent⸗ schieden müsse er bestreiten, daß in Sachsen das Recht verschieden gehandhabt werde. Im Großen und Ganzen gewährten die Berichte 1u.““ ein sehr erfreuliches Bild. (Lebhafter Beifall rechts.
Abg. Stadthagen: Wenn der Vorredner sich darüber beklage,
daß die Fabrikinspektoren ebenso vielfach angegriffen würden, wie die Staatsanwalte, so übersehe er, daß die einzige Person in Deutsch⸗ land, die nicht angeklagt werden könne, der Staatsanwalt sei, selbst wenn er eine strafbare Handlung begehe. Sich selbst anklagen werde ein Staatsanwalt wohl niemals, desto schlimmer gehe er gegen die Sozialdemokraten vor, die nicht einmal eine Kritik über die Fabrikinspektoren fällen sollten. Abg. Singer: Wo die Fabrikinspektoren ihren Aufgaben in sachlicher, unparteisscher Weise nachkämen, sei niemals ein Wort des Tadels gefallen. In den meisten Fällen aber habe die Handlungsweise der Beamten das Mißtrauen weiter Kreise herausgefordert. Das sozialdemokratische Urtheil über Hrn Siebdrat sei im Interesse der Dresdener Arbeiter, nicht bloß der Dresdener Sozialdemokraten ge⸗ fällt worden. Einem Mangel an geeignetem Personal bei einer Vermehrung des Fabrikinspektorats könne man vorbeugen, wenn man auch Arbeiter zu Fabrikinspektoren ernennen wollte. Nur dann würde das Amt auch im Interesse der Arbeiter verwaltet werden. Der Abg. Dr. Hartmann deduzire als Ober⸗Staats⸗ anwalt, wenn er aus dem Umstande, daß das Wort „gesetzlich“ im sozialdemokratischen Programm neuerdings fortgelassen sei, folgere, daß die Sozialdemokraten sich fortgesetzt Ungesetzlichkeiten zu Schulden kommen ließen. Zunächst habe er (Redner) nicht bemerkt, daß in dem konservativen Programm das Wort „gesetzlich“ stehe. Seine Partei habe es aber auch nicht nöthig, das Wort „gesetzlich“ in ihr Pro⸗ gramm besonders aufzunehmen, denn gegen Ungesetzliches schreite ja der Staatsanwalt ohne Weiteres ein, auch jetzt, wo so vielfach von einer neuen Aera die Rede sei. Hauptsächlich aber habe sie das Wort ö deshalb auf dem Wydener Kongreß fortgelassen, weil sie das sog. Sozialistengesetz nie als Gesetz habe anerkennen können. Dem Institut der Fabrikinspektoren nütze sie aber mehr durch eine angebrachte Kritik, als durch fortgesetzte Lobeserhebungen. Solche könne nur Einer erheben, der die Berichte der Fabrikinspektoren nicht eingehend gelesen habe. 8
Das Gehalt des Staatssekretärs wird bewilligt.
Um 5 ¼ Uhr wird die weitere Berathung des Etats auf Dienstag 1 Uhr vertagt.
Entscheidungen des Reichsgerichts.
— In Bezug auf §. 345 Abs. 1 der Civ.⸗Proz.⸗Ordnung: „Ein ordnungsmäßig geladener Zeuge, welcher nicht erscheint, ist, ohne daß es eines Antrages bedarf, in die durch das Aus⸗ bleiben verursachten Kosten, sowie zu einer Geldstrafe... zu verurtheilen“ hat das Reichsgericht, V. Civilsenat, durch Beschluß vom 26. September 1890 ausgesprochen, daß jede der Prozeßparteien zur Stellung des Antrages, daß ein in ihrer Prozeßsache ge⸗ ladener, aber nicht erschienener Zeuge in die durch sein Ausbleiben entstandenen Kosten verurtheilt werde, berechtigt ist und event. deshalb den Beschwerdeweg beschreiten kann.
— Das Vergehen des Bandenschmuggels im Rückfalle, welches im §. 148 Absatz 3 des Vereinszollgesetzes außer der Konfis⸗ kation und der Geldbuße beim Anführer mit ein⸗ bis zweijähriger und bei den übrigen Theilnehmern mit sechsmonatlicher bis einjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist, liegt, nach einem Urtheil des Reichsgerichts, I. Strafsenats, vom 23. Oktober 1890, nur dann vor, wenn die frühere Bestrafung auch wegen Bandenschmuggels ergangen war; war dagegen die frühere Bestrafung nur wegen einfacher Defraudation oder Contrebande erfolgt, so tritt neben der im §. 146 Absatz 1 für den Bandenschmuggel angedrohten Freiheitsstrafe (von 3 bis 6 bezw. 1 bis 3 Monaten) die Rückfallstrafe der einfachen Defraudation gemäß §§. 140 flg. des Vereinszollgesetzes ein. Ferner fällt bei dem Bandenschmuggel im Rückfalle die Straferhöhung wegen Rückfalls des §. 146 Absatz 3 fert, wenn drei Jahre seit der Verbüßung des vorhergegangenen Bandenschmuggels bereits ver⸗ flossen sind.
— Sozietätsverträge müssen nach §§. 170, 171 I, 17 des Preuß. Allg. Landrechts bei Strafe der Nichtigkeit schriftlich ab⸗ gefaßt werden. Haben jedoch die Kontrahenten bebufs Ausführung der mündlichen Abrede gemeinschaftliche Verwendungen gemacht und ist mit diesen etwas für die Sozietät erworben, so soll ein solcher Erwerb als gemeinschaftliches Eigenthum, welches aus einer zufälligen Begebenheit entstanden ist, angesehen werden. In Bezug auf diese Bestimmungen hat das Reichsgericht, V. Civilsenat, durch Urtheil vom 5. November 1890, ausgesprochen, daß unter den „gemeinschaftlichen Verwendungen“ nicht bloß die Hingabe von Geld oder Sachen, sondern auch die Leistung von Arbeiten oder die Uebernahme einer Verpflichtung, insbesondere auch die der Ersatz⸗ pflicht eines Theils des von dem anderen Kontrahenten gezahlten vollen Erwerbspreises, Seitens des einen Kontrahenten zu verstehen ist.
— Stellen sich zwei Personen einander zum Zweikampf gegenüber und geben beide Personen ihren Schuß in die Luft ab in der dem Gegner unbekannten Absicht, fehlzuschießen, so liegt nach einem Urtheil des Reichsgerichts, II. Strafsenatt, vom 11. November 1890, ein strafbarer Zweikampf nicht vor.
Statistik und Volkswirthschaft.
Volksheime.
Dem „Volkswohl“ entnehmen wir Folgendes: In neuester Zeit
machen gewisse gemeinnützige Unternehmungen, die ganz besonders den ärmeren Ständen zu Gute kommen, viel von sich reden und werden allgemein zur Nachahmung empfohlen. Es sind die sogenannten Volksheime. Sie sind ein sprechender Beweis für die freundliche Ge⸗ sinnung und das Gefühl der Verpflichtung unserer Gebildeten und Besitzenden gegenüber den breiteren Schichten des Volks. Denn ene Volksheime sind zum Theil mit großem Kostenaufwand
(in Leipzig z. B. für 340 000 ℳ) errichtet, und dies Geld ist durch freimwillige Zeichnungen und Schenkungen aufgebracht worden. Ein Volksheim ist ein schönes, großes Gebäude, mit weiten Räumen für Tischgäste und sehr billigen Speisen, mit schönen Lese⸗ zimmern und inhaltreichen Bibliotheken, mit Sälen, in welchen Vor⸗ träge gehalten werden können, mit Unterrichtsstuben, mit Billard und Kegelbahn, mit Garten und Spielplätzen für die Kinder. Die Be⸗ quemlichkeiten eines Volksheims sind gerade für die Aermsten be⸗ rechnet. Die Mitgliedschaft in Leipzig wird für 50 ₰ vierteljährlich erworben, und dafür kann man Alles genießen, was ein Volksheim bietet: lehrreiche Vorträge, schöne Musik an den Concertabenden, gute Lesebücher und Zeitungen.
Auch in Hamburg plant man die Einrichtung von Volksheimen und Logirhäusern nach dem Muster der von den Vereinen für Volks⸗ wohl in Dresden, Leipzig und Halle geschaffenen Anstalten. Der dortige Verein für Volkskaffeehallen, dessen Erfolge ja bekannt sind, will das Unternehmen ausführen und wendet sich jetzt an befreundete Kapitalisten mit dem Ersuchen, Antheilscheine zu 1000 ℳ zu zeichnen.
Zur Arbeiterbewegung.
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In Bezug auf die sogenannten sozialde tischen Sperren hat das Landgericht II Berlin ein Urtheil gefällt, welches wir, weil von allgemeinerem Interesse, an dieser Stelle wieder⸗ geben. Im Auftrage des Vorstandes des Deutschen Tischlerverbandes hatte ein Tischler Ernst Hampel an zwei Tischlermeister in Friedrichbberg bei Berlin Briefe des Inhalts geschrieben, daß über die Werkstätten derselben die Sperre verhängt werden würde, wenn sie bis zu einem bestimmten Tage eine verlangte Lohnerhöhung nicht bewilligt hätten. Die Staatsanwaltschaft hatte gegen Hampel die Anklage wegen groben Unfugs erhoben. Das Schöffengericht am Amtsgericht II erklärte sich für unzuständig, weil nicht grober Unfug, sondern Verrufserklärung im Sinne des §. 153 der Gewerbeordnung vorliege. Der Staatsanwalt sprach vor der Strafkammer ebenfalls die Meinung aus, daß nicht grober Unfug, sondern Bedrohung vorliege, und beantragte sechs Wochen Gefängniß. Der Gerichtshof fällte folgendes Urtheil: „Die Frage des groben Unfugs ist ohne Weiteres verneint worden. Auch eine Nöthigung liegt nicht vor; ebensowenig ist der §. 153 der Gewerbeordnung anwendbar. Bei diesem Para⸗ graphen handelt es sich nur um die Verabredungen der Arbeiter untereinander und um diejenigen unrechtmäßigen Mittel, welche die Arbeiter denjenigen Arbeitsgenossen gegenüber anwenden, die sich den gemeinsamen Bestrebungen zur Erreichung besserer Lohn⸗ und Arbeitsbedingungen nicht anschließen. Wohl aber ist §. 253 des Strafgesetzbuchs anwendbar, welcher von der Er⸗ pressung handelt und Denjenigen bestraft, welcher sich oder einem Dritten durch Gewalt oder Drohung einen rechtswidrigen Ver⸗ mögensvortheil zu verschaffen sucht. Eine Lohnerhöhung ist ein Vermögensvortheil, der erst dann ein berechtigter wird, wenn der Arbeitgeber seine Einwilligung dazu gegeben hat. Wenn von der Vertheidigung behauptet wird, daß die verhängte oder angedrohte Sperre nur für die Mitglieder des Vereins gelte, so habe die Erfah⸗ rung doch gelehrt, daß sich die Sache in der Praxis ganz anders ge⸗ staltet und sich viele andere Arbeiter mehr oder weniger unfreiwillig der Sperre unterwerfen bezw. anschließen müssen. Eine solche Sperre ist unter den heutigen Verhältnissen ein großes Uebel, es liegt darin eine schwere Drohung, wenn den Gesellen gesagt wird: „Diese Werkstatt ist gesperrt!“ Die Handlung, welche im Sinne des §. 253 erzwungen werden sollte, ist die Einwilligung in die verlangte Lohnerhöhung. Damit sind alle Thatbestandsmerkmale der Erpressung erfüllt. Es liegt allerdings nur ein Versuch vor, denn der Arbeitzeber hat sich nicht einschüchtern lassen, das Vergehen ist aber ein sehr schweres, denn solchen Maßnahmen stehen die Arbeitgeber vollständig wehrlos gegenüber. Darum erschien es angemessen, über das vom Staats⸗ anwalt beantragte Strafmaß hinauszugehen, und deshalb ist auf sechs Monate Gefängniß erkannt worden.“
Wie die Berliner „Volksztg.“ aus Bochum mittheilt, hat die Belegschaft der Zeche „Eintracht Tiefbau“, da der zweite Vorsitzende des Verbandes „Glückauf“, Hohmann, von der Verwaltung der Zeche ohne Kündigung entlassen wurde, beschlossen, die Einstellung Hohmann's gütlich zu verlangen, indem sie Zwangs⸗ maßregeln für den Fall der Nichtgenehmigung ihres Verlangens in Aussicht stellte.
Der Ausstand der Puddler auf der Laurahütte ist einer Meldung der „Bresl. Ztg.“ zufolge beendet.
In Solingen wurde der „Köln. Ztg.“ zufolge in einer Ver⸗ sammlung der Metallarbeiter am Sonntag angekündigt, daß die Solinger Sozialdemokraten die Gründung eines Arbeiter⸗ Vereinshauses, verbunden mit einer Arbeiter⸗Bildungsschule, planen.
In Hamburg erstattete, wie die „Hamb. Börs.⸗H.“ berichtet, die Lohnkommission in einer öffentlichen Cigarrenarbeiter⸗ versammlung am vorigen Mittwoch Bericht über den Stand des Strikes. Danach hat sich in der Sachlage nichts geändert. Aller⸗ dings hat die Firma Caprano & Co. ihren Arbeitern den Vorschlag gemacht, mit ihr in Unterhandlung zu treten, doch haben die Arbeiter dies abgelehnt und die Firma an die Lohnkommission verwiesen. Der Vorsitzende der Lohn⸗ kommission berichtete dann über seine Reise nach London und Antwerpen, die er zu dem Zweck unternommen, um die englischen und belgischen Arbeiter zu veranlassen, für die hiesigen Cigarrenarbeiter Geldbeträge beizusteuern. Eine bedeutende Summe wurde ihm in London übergeben und außerdem versprochen, daß allwöchentlich nam⸗ hafte Geldbeträge für die Ausgeschlossenen nach Hamburg gesandt werden sollten. Es striken nach wie vor 3000 Cigarrenarbeiter, doch soll ein ausreichender Unterstützungsfonds vorhanden sein, um den Strike noch auf Wochen hinaus fortsetzen zu können.
Ueber die Arbeiterbewegung in England wird der „Rh.⸗Westf. Ztg.“ geschrieben: In Süd⸗Wales sind in der letzten Woche Lohnstreitigkeiten ernstlicher Art in Merthyr Valley ausgebrochen. Sämmtliche Arbeiter der Plymouthgrube, über 2000, striken augenblicklich. Ferner sind im Diffryn⸗, Morriston⸗ und Swansea⸗Distrikte die Arbeiter der Weißblechfabriken im Ausstande. Der Zweck ist hier lediglich die Abschaffung eines Flußmittels, welches bei der Bereitung des Weißblechs gebraucht wird. Die Maschinenwärter und Heizer in Aberdare haben pro⸗ visorisch die Arbeit wieder aufgenommen; man will das gegfnne einer Berathung der Grubenbesitzer in Cardiff abwarten. Der Aus⸗ stand in den Hunnery⸗Gruben in Porkshire ist beendigt. In den Verhältnissen der schottischen Hochofenarbeiter ist eine Aenderung bis jetzt noch nicht eingetreten. — Die Londoner „Allg Corr.“ berichtet unter dem 17. d. M.: Der Strike der schottischen Eisenbahnbediensteten dauert jetzt fast einen Monat. Dennoch will keine Partei etwas von Nachgeben wissen. Die Geschäftswelt hat die Buße für diese schottische Halsstarrigkeit zu zahlen und es nimmt deshalb nicht Wunder, wenn auf einer in Edinbur abge⸗ haltenen Bürgerversammlung ein neuer Ausschuß mit Lord Aberdeen an der Spitze eingesetzt wurde, um zwischen den Bahn⸗ gesellschaften und den Strikern zu vermitteln. Die Gesellschaften behaupten, daß immer mehr Angestellte zur Arbeit zurückkehren, während die Striker, nach ihren Reden zu schließen, siegesgewisser als je sind. Bedrohung der in ihren Stellen gebliebenen Beamten ist an der Tagesordnung, — Am Sonnabend machte der in Glasgow ernannte Bürgerausschuß den Direktoren der Nord⸗ britischen Eisenbahn in Edinburg seine Aufwartung und be⸗ schwor sie, Zugeständnisse zu machen und den Strikers auf halbem Wege entgegenzukommen; allein sie setzten den Vorstellungen des Ausschusses unbedingten Widerstand entgegen.
Aus Brüssel wird der „Voss. Ztg.“ unter dem 16. d. M. ge⸗ schrieben: Auf dem belgischen Metallmarkt ist die längst be⸗ fürchtete Krisis zum vollen Ausbruch gekommen. Die hohen Selbst⸗ kostenpreise, die übermäßig hohen Preise des Brennmaterials, das Ausbleiben aller Aufträge haben den Eisenmarkt erschüttert und die Kürzung der Löhne, wie die Verminderung der Arbeits⸗
zeit herbeigeführt. All gischen Metallwerke haben die Le
Wum 5 bis 15 % heruntergesetzt. Viele Eisenfabriken und Walz werke, auch einzelne Hochöfen haben einstweilig den ganzen Betrieb eingestellt; andere Werke lassen nur an 4 bis 5 Tagen in der Woch arbeiten. In einzelnen Werken haben die Arbeiter es abge lehnt, mit ermäßigten Löhnen zu arbeiten und sind ausständig Tausende von Metallarbeitern sind heute in den Provinzen Hennegau un Lüttich unbeschäftigt. Es herrschen bei dem ungewöhnlich harten Winter daher in den dortigen Arbeiterkreisen schlimme Nothstände welche die schon vorhandene Gährung erhöhen.
Der XV. Jahrgang des statistischen Jahrbuches de Stadt Berlin, herausgegeben von dem Direktor des statistischen Amts der Stadt Berlin, R. Böckh, in welchem die Statistik des Jahres 1888 bearbeitet ist, ist im Verlag von P. Stankiewicz Buchdruckerei erschienen. Wir behalten uns vor, auf den Inhalt de Werkes zurückzukommen.
ck. Die kirchlich eingesegneten Ehen und Taufen in Berlin während der Jahre 1877 —1888. 4 In der Reichshauptstadt ist in dem Jahrzwölft 1877 — 1888 nach dem letzten „Bericht über die Gemeinde⸗Verwaltung der Stadt Berlin“ der Prozentantheil der kirchlich eingesegneten Ebe an der Zahl der Eheschkießunsen christlicher Männer sehr erheblich fast um das Doppelte, gestiegen, wie aus der nachstehenden Zusammen stellung ersichtlich: Zahl der Hiervon sind Ctescliezungen tirlich aüenesegnet christlicher Männer: es 10 602
10 086 10 068 10 414 10 722 11 362 11 810 12 836 13 375 13 907 14 674 15 185 64,7 „Während demnach im Jahre 1877 nur ein Drittel der ehe schließenden Christen sich kirchlich einsegnen ließ, thaten das im Jahre 1888 fast zwei Drittel.
Auch ergiebt eine Vergleichung der Zahl der Taufen mit der Zahl der in Betracht kommenden lebend gevorenen Kinder evangelischer, katholischer und sonst christlicher Ehemänner und unehelicher Mütter dieser Konfessionen ein erfreuliches Resultat; denn die folgende Zu⸗ sammenstellung zeigt, daß, während im Jahre 1877 31,5 % der Kinder ungetauft blieben, dieses im Jahre 1888 nur mit 13,4 % der Fall war:
Zahl der Hiervon sind
Jahr: in Betracht kommen⸗ in Prozenten den Kinder
42 883 43 409 44 256 45 415 6 46 337 Das Jahr 1882, in welchem nur rund das zehnte Kin ungetauft blieb, hat den größten Prozentantheil der Getauften an de Zahl der in Betracht kommenden Kinder aufzuweisen.
Bremens Schiffsverkehr 1890.
Das vergangene Jahr hat, wie die „Wes.⸗Ztg.“ mittheilt, eine Zunahme in dem Schiffsverkehr Bremens ergeben, die freilich nicht so groß ist wie die des vorhergehenden, aber doch schon aus dem Grunde freudig begrüßt werden muß, weil 1889 aus verschiedenen Gründen eine Ausnahmestellung einzunehmen schien. Nun ist 1890 noch darüber hinausgewachsen. Die Gesammttonnenzahl der ange menen Seeschiffe betrug:
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1889: 1 682 700 „ 205 200 t 13 ½
1890 1 733 800 51 100 „ 3
Von den einzelnen Weserhäfen hat Nordenham am meisten ge⸗
wonnen, nämlich 39 400 t, sodann Bremen 35 000 t, endlich Geeste münde 19 500 t. — Bremerhaven hat 31 700 t verloren, Brak 9500 t. — Die Seeschiffahrt der Stadt Bremen ist auf 173 400 angekommen und wird sich im Laufe des soeben begonnenen Jahre hoffentlich erfreulich weiter entfalten. Darauf ist um so sicherer z rechnen, als der Norddeutsche Lloyd beabsichtigt, einige Dampfer für die Fahrt von Bremen⸗Stadt nach London zu erbauen. — Die Schiff fahrt auf der Unter⸗ und Ober⸗Weser zeigt auch einen normalen Fortschritt. — Die Gesammtzahl der in der Stadt Bremen ange kommenen See⸗ und Flußschiffe beläuft sich für 1890 auf 8153 Schiffe mit 900 000 Registertons.
Nach Mittheilung des Statistischen Amts der Stadt Berlin sind bei den hiesigen Standesäͤmtern in der Woche vom 4. Januar bis incl. 10. Januar cr. zur Anmeldung gekommen 274 Eheschließungen, 1143 Lebendgeborene, 41 Todtgeborene, 646 Sterbefälle.
Zunahme in %
8 Verkehrs⸗Anstalten.
London, 19. Januar. (W. T. B.) Der Union⸗Dampfer „German“ ist heute auf der Heimreise in Southampton an- gekommen.
Der Castle⸗Dampfer „Grantully Castle“ ist heute au der Heimreise in Plymouth angekommen. Der Castle⸗Dampfer „Dunottar Castle“ hat heute auf der Ausreise Lissabo passirt. Der Castle⸗Dampfer „Methven Castle“ ist am Sonnabend auf der Heimreise in London angekommen.
6 Theater und Mufik.
Königliche Theater.
Nachdem Se. Majestät der Kaiser die hundertste Vorstellung des „Fliegenden Holländer“ besucht und allen Mitwirkende durch den General⸗Intendanten der Königlichen 8 spiele Grafen von Hochberg die Allerhöchste Anerkennung hatten aussprechen lassen, erschienen Se. Majestät mit Sr. Königlichen Hoheit dem Prinzen Heinrich, Sr. Hoheit dem Erbprinzen und Ihrer Königlichen Hoheit der Erbprinzessin von Sachsen⸗Meiningen auf's Neue in der Sonntags⸗Aufführung der gleiche Oper. — In der Oper „Doctor und Apotheker“ am Donnerstaf Opernhause sind die Damen Waitz, Herzog und Kopka, die 8 1 Krolop, Ernst, Lieban, Schmidt und Mödlinger beschäftigt. J der Freita “ der Oper „Der Prophet“ treten die Damen Hiedler und Staudigl sowie Hr. Sylva in den Hauptpartien auf.
Im Sschauspielhause sebt am Donnerstag, dem Geburts⸗ tage Lessing’s, „Nathan der Weise“ mit Hrn. Kahle in der Titelroll
in Scene. Am Domnerstag fcher de d8. Wffährung des s „Am Donnerstag findet die 25. ühru 9 iel . Kinder der Excellenz“ statt. des Lee,. 8 Berliner Theater.
Am Donnerstag geht zur Feier des Geburtstages Lessing's das Lustspiel Minna B rnhelm“ einstudirt in Uüne Der