1891 / 43 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Wed, 18 Feb 1891 18:00:01 GMT) scan diff

zeige ein Beispiel der Arbeiterschutzgesetzgebung, wie sie nicht sein solle, indem nicht weniger als 27 Kategorieen von Ausnahmen vorgesehen seien. Man fühle auch, daß der Reichstag nicht ganz um sein kon⸗ stitutionelles Recht gebracht werden könne, und verlange wenigstens eine Kenntnißnahme desselben von den Ausnahmen. Damit sei dem Reichstage aber nicht gedient. Er (Redner) danke für die Kenntnißnahme eines Beschlusses, der ein fait accompli sei. Der Bundesrath habe aber selbst ein Interesse, daß der Reichs⸗ tag ihn mit seiner Verantwortlichkeit decke. Ueber die Nothwendig“ keit der Sonntagsruhe sei kein Streit, wohl aber frage sich, wie man diese mit den Interessen des Verkehrs in Einklang bringen könne. Hier sollte der Bundesrath nicht allein das ganze Odium auf sich nehmen.

Staatssekretär Dr. von Boetticher: 8 1“

Gestatten Sie mir, meine Herren, dem Herrn Vorredner zunächst zu erwidern, daß die konstitutionelle Frage eigentlich von Niemandem in Zweifel gezogen wird, und Niemand das Recht des Reichstages zur Mitwirkung in den Dingen, um die es sich hier handelt, bestreitet; es fragt sich aber, ob nicht im vorliegenden Fall das Betonen dieses konstitutionellen Rechts hinter den Zweckmäßigkeitsrücksichten, die in dieser Frage meiner Ueberzeugung nach das ausschlaggebende Gewicht haben, zurückstehen muß. . 1b 8

Der Herr Vorredner ist der Meinung, daß der Reichstag seine Mitwirkung bei der hier in Frage stehenden Regelung nicht aus der Hand geben solle. Hierauf habe ich zu erwidern, daß der Reichstag bereits in einer ganzen Reibe von Fällen und in sehr viel wichtigeren Fragen dieses Recht nicht betont hat, weil er sich davon überzeugt hielt, daß es nicht zweckmäßig sein würde, seine Mitwirkung in Anspruch zu nehmen da, wo einerseits zu erwarten ist, daß der Bundesrath nichts Verkehrtes beschließen wird, und anderer⸗ seits der Gegenstand auch ohne eine solche Mitwirkung im Reichstage immer noch bei allen möglichen Gelegenheiten zur Sprache gebracht werden kann.

Ich will mich gar nicht, wie es der Hr. Abg. Dr. Hartmann gethan hat, auf den Vorgang in anderen Ländern berufen, möchte aber doch darauf hinweisen, daß der Hr. Abg. Dr. Baumbach heute die österreichische Gewerbegesetzgebung nicht gelten lassen will, während er dieselbe in früheren Jahren mir gegenüber als ein bis her in Deutschland noch unerreichtes Muster hingestellt hat. (Sehr gut! rechts.) So wechseln die Anschauungen, so wechseln die Gründe, je nachdem man sie braucht.

Meines Erachtens liegt bei der Ausführung der in §. 1058d vor⸗ gesehenen Bestimmung absolut keine Veranlassung dafür vor, daß der Reichstag das Recht, das ihm der Hr. Abg. Dr. Gutfleisch in seinem Antrage wahren will, in Anspruch nimmt. Darüber sind wir ja Alle einig, daß dieser Gegenstand, der, wie ich bereits vorhin sagte, an sich dem Gebiet der Gesetzgebung angehört, nicht in allen Detailfragen im Plenum des Reichstages diskutirt werden kann, und deshalb will auch selbst der Hr. Abs. Dr. Baumbach dem Bundesrath es gütigst überlassen, diejenigen Ausnahmen festzustellen, die von der Vorschrift des §. 105 b Absatz 1 im Interesse gewisser gewerblicher Betriebe zu machen sein möchten.

Nun aber, meine Herren, will der Hr. Abg. Gutfleisch und mit verehrter Fraktionskollege dem Reichstage die Befugniß vor⸗ die Aufhebung dieser Anordnungen zu verlangen, wenn er für unzweckmäßig hält. Mit vollem Recht hat dem gegen⸗

über der Hr. Abg. Dr. Hartmann darauf hingewiesen, daß Sie mit dieser Vorschrift den betheiligten Industrien einen außerordentlich chlechten Dienst erweisen. Wenn der Bundesrath einmal Vor⸗ schriftrn über die Sonntagsarbeit erlassen hat, natür⸗ lich selbstverständlich nach gehöriger Prüfung der Verhältnisse, causa cognita, dann kann es meines Erachtens nicht im Interesse der Industrie sein, wenn nach verhältnißmäßig kurzer Zeit ein Beschluß im Reichstage extrahirt würde, wonach jene Vorschriften, auf welche sich die betreffende Industrie vielleicht unter Aufwendung großer Kosten und unter Abschluß einer Reihe wichtiger Geschäfte einmal eingerichtet hat, wieder aufgehoben werden sollen.

Auf der anderen Seite frage ich mich, cui bono, zu welchem Zwecke ist eine Bestimmung, wie sie der Hr. Abg. Dr. Gutfleisch beantragt hat, nothwendig? Wie gesagt, das konstitutionelle Recht des Reichstages bestreitet Niemand. Sollte wirklich einmal der Fall eintreten, daß der Bundesrath eine den wirthschaftlichen An⸗ schauungen des Reichstages und den thatsächlichen Bedürfnissen wider⸗ sprechende Maßregel getroffen hat, nun, so giebt es ja Mittel und Wege genug, um den Bundesrath auf dasjenige aufmerksam zu machen, was er etwa übersehen haben sollte. Im Uebrigen aber glaube ich in diesem Hause kaum auf Widerspruch zu stoßen, wenn ich behaupte, daß die Prüfung der Verhältnisse und der Interessen der einzelnen Gewerbebetriebe beim Bundesrath nothwendigerweise eine gründlichere ist und sein muß, als wie sie im Reichstage sein kann; denn im Bundesrath sind 25 Regierungen vertreten, und, wenn Sie die elsaß⸗ lothringische noch hinzunehmen, 26, sodaß jede Frage wirthschaft⸗ lichen oder anderen Charakters, die dem Bundesrath vorgelegt wird, bei jeder dieser einzelnen Regierungen vorgeprüft wird. Also Alles, was an Gesichtspunkten der Praxis für das pro und contra einer Frage beizubringen ist, besitzt der Bundesrath vermöge dieser Vorprüfung in vollstem Maße und besser als der Reichstag, wo ich bitte mir das nicht übel zu nehmen unter Umständen es doch nicht allzu schwer ist, für gewisse Ansichten eine Majorität zu ge⸗ winnen, zumal wenn man so geschickt spricht, wie mein Herr Vorredner.

Also ich sehe nach dieser Richtung hin gar keinen Nutzen von dem Antrage Dr. Gutfleisch und möchte Sie auch schon aus diesem Grunde bitten, denselben abzulehnen. Es kommt aber noch eins hinzu. Die Erfahrungen, welche ich im Bundesrath gemacht habe, führen mich zu der Ueberzeugung, daß es geradezu unzweckmäßig und schädlich sein würde, wenn Sie den An⸗ trag annehmen. Der Vorgang, daß eine Verordnung des Bundes⸗ raths, weil der Reichstag es verlangte, hat aufgehoben werden müssen, ist hier schon berührt. Seit der Zeit wird in den Kreis der Erwägungen des Bundesraths über eine zu erlassende Verordnung naturgemäß auch noch die Frage bineingezogen, wie sich der Reichstag zu derselben stellen wird. Es werden in Folge dessen nicht allein die sachlichen Gründe, sondern auch die politischen Möglichkeiten erwogen, wie diese Frage im Reichstage etwa beurtheilt werden möchte. Und daß die Politik auch bei diesen Dingen eine gewisse Rolle spielt, darüber können wir doch nicht füglich im Zweifel sein. Wohin führt das? Es führt dahin, daß der Bundesrath recht bedenklich wird

die Aufhebung verlangen kann, zusteht, im Verordnungswege vor⸗ zugehen. Das halte ich im Interesse der Industrie ebenfalls für nicht förderlich. Ich bin der Meinung, daß, wenn man einmal zu der Ueberzeugung kommt, daß die Gesetzgebung gewisse Befugnisse auf den Bundesrath übertragen kann, wie sie dies bereits in einer Reihe von Fällen gethan hat, man dann auch getrost die Ausübung dieser Befugnisse in die Hände des Bundesraths legen und diesem die Verantwortung für die von ihm getroffenen Maßregeln allein belassen soll.

Es sprechen also, wie ich wiederhole, Gründe der praktischen Zweckmäßigkeit dafür, daß Sie den Antrag Dr. Gutfleisch ablehnen, und ich bitte, demgemäß zu beschließen (Bravo! rechts.) .

Abg. Bebel: Wenn die vom Abg. Dr. Hartmann befürworteten Modifikationen auch vom Bundesrath für zulässig erachtet werden sollten, so fürchte er (Redner), daß sie bedenklich groß sein würden. Es genüge dem Abg. Dr. Hartmann nicht, daß der Bundesrath Ausnahmen zulasse, wo die Produktionsbedingungen es erforderten; er führe auch Konkurrenzbedingungen an. Leider seien solche noch allgemein maßgebend und könnten es auch beim Bundesrathe sein. So könnte es dahin kommen, daß für kein Gewerbe die Be⸗ stimmung des §. 105 b voll und ganz gelte. In den Anträgen seiner (des Redners) Partei liege auch nichts Schablonenhaftes. Der Abg. Dr. Baumbach halte es für einen großen Schaden der öster⸗ reichischen Gesetzgebung, daß man dort deutlich gesagt habe, wo Sonn⸗ tagsarbeit nicht stattfinden dürfe, und daß man gleichwohl 27 Kategorieen von Ausnahmen festgesetzt habe. In Deutschland würden es leider über 100 Kategorieen werden. Die deutsche Sonn⸗ tagsgesetzgebung werde also bedeutend ungünstiger ausfallen als die österreichische. Alles, was seine Partei verlange, stehe bereits in anderen Gesetzgebungen, so in England und in den Vereinigten Staaten, in der Schweiz und auch in Oesterreich. Frankreich werde in Kürze genöthigt sein, in der Arbeiterschutzgesetzgebung weiter⸗ zugehen. Er fürchte, daß der Bundesrath mit den Ausnahmen viel zu weit gehen werde. Diese Bestimmung öffne der Auslegung Thür und Thor. Für den Antrag Gutfleisch könne er sich erklären, weil er immer bereit sei, die Macht des Reichstags zu vermehren. Aber er würde denselben Antrag, zu §. 105 g gestellt, wahrscheinlich ablehnen. Denn hier bei § 105 d erlange der Reichstag die Macht, wenn der Bundesrath einmal in der Auslegung seiner Vollmachten zu weit gehe, hierin eine Beschränkung zu Gunsten der Arbeiter eintreten zu lassen, aber umgekehrt könnte der Reichstag bei §. 105 g, wenn der Bundesrath einmal eine weitere Beschränkung der Sonntagsarbeit bestimmt habe, diesen den Arbeitern günstigen Beschluß wieder außer Kraft setzen. Wenn der Bundesrath in diesen Fragen allein der Vermögende und Wißende sei, brauche man ja den Reichstag überhaupt nicht. Aller⸗ dings könne sich der Bundesrath in diesen technischen Fragen um⸗ fassendere Informationen schaffen als der Reichstag; aber nicht nur im Reichstag hänge alles von zufälligen Majoritäten ab, sondern auch im Bundesrath sei die Majorität gebunden, denn derselbe werde selten anders beschließen als die preußische Regierung. Sein (des Redners) Antrag lasse allein die Ausnahmen zu, die zu⸗ gelassen werden müßten Im Uebrigen sei er damit einverstanden, daß in diesem Falle die Vollmacht des Bundesraths durch den Antrag Gutfleisch beschränkt werde.

Abg. Möller: Er sei gegen den Antrag Gutfleisch, denn der Reichstag könne nicht in alle Detailfragen eindringen. Seine Partei wolle den Arbeiterschutz soweit wie möglich, aber nur innerhalb der praktischen Bedürfnisse. Es kämen in diesen Fragen gerade bervor⸗ ragende Exportindustrieen in Betracht, die unter Umständen den Sonntag zur Arbeit zu Hülfe nehmen müßten. Deshalb müsse seine Partei auch den Antrag Bebel ablehnen. Wenn z. B. die Ab⸗ fahrt des Dampfschiffes bevorstehe, müsse irgend ein Exvportartikel rechtzeitig fertig gestellt werden oder die Bestellung falle einem an⸗ deren Lande zu. Der Abg. Bebel wolle hier für den Antrag Gut⸗ fleisch stimmen, bei §. 105 g aber nicht. Dadurch zeige er sich in schärfstem Maße als Vertreter von Klasseninteressen. Er (Redner) vertrete dagegen das Interesse des ganzen Landes, wenn er Export⸗ geschäfte möglich mache und dadurch den Arbeitern Arbeit verschaffe, die sonst an andere Länder verloren ginge. (Beifall bei den National⸗ liberalen.)

Abg. Schrader: So weit gehende Befugnisse, wie hier dem Bundesrath gegeben würden, könnten gut und schlecht angewendet werden. Er würde daher gern einem Antrage zustimmen, welcher alle zulässigen Ausnahmen genau bestimmte, aber der Antrag Bebel erfülle die nothwendigen Voraussetzungen nicht. Er gehe zu weit. Man sei heute nicht in der Lage, in alle Einzelheiten des Ge⸗ werbebetriebs einzudringen. Dann dürfe man nicht mit einem Male ein so großes umfassendes Gesetz machen, sondern müßte stückweise vorgehen. Deshalb müsse der Reichstag den Behörden Vollmacht, Ausnahmen zu bestimmen, geben. Was den Antrag Gutfleisch be⸗ treffe, so gehöre zu einem Gesetz die Zustimmung des Bundesraths und des Reichstages. Wäre die Reichsverfassung mit besonderen Schutzmaßregeln versehen, wie z. B. die preußische, dann könnte man solche gesetzlichen Bestimmungen nicht treffen, wie die Vorlage enthalte. Aber die Verfassung könne, wie jedes Gesetz, geändert werden, und jede die Verfassung ändernde gesetzliche estimmung gelte ebenso wie die Verfassung. Der Reichstag müsse es sich daher sehr über⸗ legen, ehe er ein verfassungsmäßiges Recht aufgebe. Ohne die schwer⸗ wiegendsten Gründe dürfe der Reichstag keinen Schritt auf diesem Wege thun, weil später daraus Konsequenzen gezogen werden könnten. Der Reichstag habe ähnliche Bestimmungen in dem Unfallversiche⸗ rungsgesetz gemacht, und nun exemplifizire man darauf. Für die Vorlage würden Zweckmäßigkeitsgründe angeführt, zunächst: der Bundesrath verstehe es besser, zugegeben; aber der Bundesrath werde seine Informationen kundgeben, und daher werde der Reichstag ebenso informirt sein. Dazu komme, daß der Bundesrath hinter verschlossenen Thüren verhandle. Seine Verfügungen seien vorher nicht bekannt. Hier werde öffentlich verhandelt und dadurch den Interessenten die Möglichkeit gegeben, ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen. Man möge auch nicht die Qualifikation der Reichstagsabgeordneten unter⸗ schätzen: Eine Menge von Leuten unter ihnen seien ebenso bewan⸗ dert in diesen Fragen wie die Herren vom Bundesrath. Bundes⸗ rath und Reichstag zusammen unter Mitwirkung der Oeffent⸗ lichkeit und aller Betheiligten seien entschieden viel besser informirt als der Bundesrath allein. Sobald der Bundesrath einen Beschluß gefaßt habe, sei eine Kritik darüber unwirksam. Denn verfassungsmäßig sei der Bundesrath dem Reichstage nicht ver⸗ antwortlich. Gerade in dieser Gesetzgebung habe man erfahren, daß der Bundesrath durchaus nicht geneigt sei, den Wünschen des Reichs⸗ tages zu folgen, und daß seine Majoritäten außerordentlich wechselten. Anfangs 1890 sei der Bundesratb gegen und Mitte 1890 bereits für den Arbeiterschutz gewesen. Der Bundesrath könne ja auch einfach ablehnen, mit dem Reichstage über die Frage zu diskutiren. Das habe man auch schon erlebt, daß der Bundesrath erklärt habe: ich habe keine Lust, mit Euch zu verhandeln Ihm (dem Redner) wäre es viel lieber, wenn man an Stelle des Bundesraths den Reichskanzler oder selbst die Kaiserliche Verordnung stellte. Denn für diese sei der Reichs⸗ kanzler verantwortlich, und man könne ihn unter allen Umständen Rede und Antwort stehen lassen. Durch den Antrag seiner (des Redners) Partei werde der Reichstag nicht gezwungen, hier in Details einzugehen. Er solle ja nicht die Verfügung des Bundesraths in ihren Einzelheiten abändern, sondern nur erklären dürfen: diese oder jene Bestimmung einer Verordnung ist außer Kraft zu setzen. In dem Fall, wo eine Bestimmung des Nahrungsmittelgesetzes auf Ver⸗ anlassung des Reichstages außer Kraft gesetzt sei, liege ein Beispiel vor, daß der Bundesrath die Ueberzeugung gewonnen habe, daß der Reichstag Recht gehabt habe. Dazu komme noch ein politischer Grund. Es sei außerordentlich wichtig, daß der Reichstag in dieser Gesetz⸗ gebung seine Macht nicht aus der Hand gebe. Die Volksvertretung müsse dauernd mit der Arbeiterschutzgesetzgebung befaßt bleiben.

Darum bitte er dem Antrag seiner Partei zuzustimmen.

Staatssekretär Dr. von Boetticher:

Ich kann mich zwar im Allgemeinen darauf beschränken, meine früheren Erklärungen hinzuweisen, möchte aber doch dem Herrn Vorredner auf seine Bemerkungen Einiges erwidern.

Zunächst ist mir nicht recht klar geworden, was der Unterschied, der bezüglich der Verfassungsänderung zwischen der preußischen und der Reichsverfassung besteht, auf die vorliegende Frage für einen Einfluß haben soll. Es handelt sich meines Erachtens gar nicht um eine Verfassungsbestimmung, sondern vielmehr lediglich darum, daß dem Reichs⸗ tage angesonnen wird, eine ihm zustehende Befugniß, nämlich das Mitwirken bei Feststellung der Bedingungen der Arbeiterschutzgesetzgebung, aus Zweckmäßigkeitsgründen auf den Bundesrath zu delegiren. Eine Verfassungsänderung wird dadurch in keiner Weise herbeigeführt.

Der Herr Vorredner hat nun zur Unterstützung des Antrages Dr. Gutfleisch in der Hauptsache einen politischen Grund angeführt und gemeint, wir sollten uns hüten, auf dem Wege fortzuschreiten, der bereits in verschiedenen vorher von uns angedeuteten Fällen ein⸗ geschlagen worden ist, und nicht zugeben, daß der Reichstag jede Kontrole über die von dem Bundesrath zu erlassenden Verordnungen auf⸗ giebt. Nun, diese früheren Fälle waren gerade wie der jetzt vorliegende lediglich nach Zweckmäßigkeitsrücksichten zu beurtheilen, und ich sollte glauben, daß man das, was man damals ohne Anstand gethan hat und, soweit es sich um die Partei des Herrn Antragstellers handelt, jeden⸗ falls unter denselben Gesichtspunkten, welche heute von dem Hrn. Abg. Schrader ins Feld geführt worden sind auch hier thun könnte. Es liegt in der That absolut kein Anlaß vor, der Sache eine politische Bedeutung zu geben; es handelt sich vielmehr, wie ich wiederholt betone, lediglich um Zweckmäßigkeitsgründe, die darauf hinausgehen, daß der Reichstag in seinem Plenum die Arbeit garnicht zu leisten im Stande ist, die zur Ausführung des §. 105 Gd geleistet werden muß, und daß es sich aus diesem Grunde erforderlich macht,

ldie betreffende Befugniß dem Bundesrath allein zu übertragen.

Der Herr Vorredner hat zwar zugegeben, daß der Bundesrath über eine ganze Reihe informatorischer Mittel verfügt und dabei be⸗ tont was ich ihm nicht bestreite —, daß auch innerhalb des Reichs⸗ tages eine Reihe von Abgeordneten sitze, welche über gewerbliche Fragen ebenso gut unterrichtet seien, wie die Organe des Bundesraths. Wenn dann aber der Hr. Vorredner weiter ausführt, daß jede Kritik des Reichstages nach Erlaß der bundesräthlichen Verordnung unwirksam sei, so geht er darin meines Erachtens zu weit. Ich brauche ihn zur Widerlegung nur an die Etatsverhandlungen zu erinnern, welche sich beim Reichsamt des Innern in der Regel etwa eine Woche lang hin⸗ ziehen, und er wird mir zugeben, daß da recht reichlich gefragt und recht reichlich geantwortet wird. Ich habe noch nicht gefunden, daß irgend eine Frage, die aus der Mitte des Reichstages gestellt worden ist, ungenügend beantwortet worden wäre (Widerspruch links), dasselbe wird auch in diesem Fall anzunehmen sein. (Zurufe.) Es mögen nicht alle Fragen unter Ihrem Beifall beantwortet worden sein, aber beantwortet worden sind sie immer. (Heiterkeit.)

Also ich sage, es liegt gar kein Anlaß zu der Annahme vor, daß nicht künftig auch über die Gründe, welche für den Erlaß der hier in Frage kommenden Vorschriften des Bundesraths maßgebend sein werden, Auskunft gegeben werden sollte, und es hat alsdann der Reichstag alle konstitutionellen Mittel in der Hand, um auf eine Re⸗ medur hinzuwirken, sofern er eine solche für wünschenswerth erachten sollte. Er muß dann allerdings auch dem Bundesrath die Befugniß lassen, sich über etwaige Anträge dieses Hauses schlüssig zu machen.

Wenn der Herr Vorredner an die veränderte Stellung des Bundesraths zur Arbeiterschutzfrage erinnert hat, so will ich mich in dieser Beziehung auf den Hinweis beschränken, daß auch seine Partei zu dieser Frage im Laufe der Jahre eine sehr veränderte Stellung angenommen hat. (Sehr wahr! rechts.)

Uebrigens weht aber durch alle Ihre Auseinandersetzungen immerhin ein gewisser Hauch des Vertrauens zum Bundesrath. Nun lassen Sie sich von diesem Hauche noch etwas weiter tragen! Hic Rhodus, hic salta! Jetzt ist es Zeit, diesem Vertrauen einen Aus⸗ druck zu geben, lehnen Sie deshalb den Antrag Dr. Gutfleisch ab.

Abg. Freiherr von Stumm: Es wundere ihn, daß die frei⸗ sinnige Partei ihren Antrag nicht sauch auf den §. 105e ausgedehnt habe, denn bei demselben könnten dieselben konstitutionellen Bedenken erhoben werden. Er habe stets der Auffassung gehuldigt, daß im Gesetz selbst vorgeschrieben sein müsse, was verboten und was erlaubt sei. Er habe aber leider keinen Weg gefunden, wie dies zu machen sei. Der freisinnige Antrag lasse aber alle Nachtheile der bundes⸗ räthlichen Ausnahmen bestehen, ohne irgend welche Sicherheit für die Industrie herbeizuführen. Ohne Frage handele der Bundesrath in diesen Fragen objektiver und konstanter, als der Reichstag. Habe man nicht gesehen, wie in der Kommissionsberathung dieses Gesetzes die Majoritäten sich von einer Sitzung zur andern geändert hätten? Beschließe man, daß der Bundesrath beliebige Verordnungen einführen dürfe, auf welche sich die Industrie durch massenhafte Einstellung von Arbeitern u. s. w. einrichte, und behalte sich vor, diese Verord⸗ nungen wieder aufzuheben, so sei das ein Standpunkt der Willkür und nicht der Gesetzlichkeit. (Sehr richtig! rechts.) Wer gleiches Recht für Alle im Staate festhalten wolle, müsse gegen den Antrag Gutfleisch stimmen. Ebenso unannehmbar sei auch der Antrag Bebel. Er (Redner) wolle sich überhaupt nicht bei Anträgen aufhalten, die in der Kommission mit großer Majorität abgelehnt seien. Die Leere des Saales zeige, wohin diese Wiederholungen führten.

Abg. Dr. Orterer: Seine politischen Freunde würden mit ihm gegen die Anträge Bebel und Gutfleisch stimmen aus den Gründen, welche im Kommissionsbericht niedergelegt seien. (Beifall.)

Abg. Wöllmer: Die Schlußfolgerungen des Abg. Freiherrn von Stumm, daß durch Annahme des Antrages seiner (des Redners) H völlige Willkür eintreten und die Gesetzgebung über diesen

egenstand, statt vom Bundesrath und vom Reichstage gemeinsam geregelt zu werden, beim Reichstage allein liegen würde, erschienen sehr wunderbar, wenn man erwäge, daß es sich hier um staatsrechtlich zu ordnende Dinge handele. Der Abg. Freiherr von Stumm wundere sich, daß seine (des Redners) Partei nicht einen analogen Antrag zu §. 105 e gestellt habe; sie werde auch dabei ihre ernsten Bedenken in irgend einer Form zum Vortrag bringen. Wären die Gründe der Nützlichkeit wirklich so stark, wie es drüben dargestellt werde, so würde seine Partei auf das Veto des Reichstages verzichten, aber dem sei nicht so, denn seine Partei wolle nicht etwa einen Appendix zu diesem Gesetz machen, sondern denke sich die Sache so, daß sofort bei Emanirung dieses Gesetzes der Bundesrathsbeschluß erfolgen werde, welche Gewerbe unter §. 105 d fielen, und später würden Zusätze so sporadisch erscheinen, daß sie bequem dem Reichstage zugänglich gemacht und von ihm erledigt werden könnten. Solche Befugnisse würden dem Reichstage nicht nur in Gewerbegesetzen schon gegeben, sondern auch in der kürzlich berathenen Zuckersteuer⸗ novelle bekomme er bezüglich der Besteuerung der Zuckerabläufe das gleiche Recht. Es handele sich doch hier nicht allein um die Berücksichtigung der Industrie, sondern auch um des Arbeiters, und darum bitte er um Annahme des Antrages seiner Partei. Abg. Dr. Klemm: Es gebe viele Industrien, die keine Unter⸗

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brechung des Betriebes vertrügen, und die also bei Annahme des

Antrages Bebel zu Grunde gehen müßten; in der chemischen Industrie z. B. sei bei chemischen Prozessen häufig eine Betriebsunterbrechung unmöglich, und die Annahme des Antrages Bebel würde Deutschland auf diesem Gebiet konkurrenzunfähig machen.

Abg. Ulrich: Die Beispiele, die von Seiten der Gegner des Antrages seiner Partei angeführt würden, bezögen sich gar nicht auf den Fall des §. 105 d, sondern sie gehörten zu den Fällen, in denen eine Betriebsunterbrechung wegen der Natur des Gewerbes nicht ein⸗ treten könne; bei solchen erstrebe auch seine Partei natürlich keine Arbeitspause. Der Abg. Dr. Hartmann werfe seiner (des Redners) Partei vor, ihr Antrag schütte das Kind mit dem Bade aus, aber erade der Abg. Dr. Hartmann thue das, denn er wolle wegen der

ücksicht auf die Arbeitgeber die ganze Sonntagsruhe ausschütten. In dem Bericht des Chemnitzer Fabrikinspektors sei klar ausgedrückt, daß wegen angeblicher Saisonarbeiten Einschränkungen der Sonntags⸗ ruhe einträten, die unbeschadet der Entwickelung der Industrie ver⸗ mieden werden könnten, und der Chemnitzer Stadtrath habe gegen diesen Bericht nichts einzuwenden gehabt. Das zeige die Nothwendig⸗ keit der Annahme des Antr iges seiner Partei. Der Abg. Dr. Klemm habe auf die chemische Industrie verwiesen, aber gerade sie sei so leistungsfähig und gebe so hohe Dividenden, daß sie eine Einschrän⸗ kung wohl ertragen könne. Wenn die Mehrheit den Antrag seiner Partei ablehne, so werde das Prinzip der Sonntagsruhe so durch⸗ löchert sein, daß schließlich, wie in einem großlöcherigen Sieb, nichts mehr davon vorhanden sei.

Abg. Schrader: Ein Gesetz könne nach der Verfassung nur unter Zustimmurg des Bundesraths und Reichstages zu Stande kommen oder aufgehoben werden, und der Reichstag sollte dieses Recht nicht aufgeben. Wenn man einmal dem Bundesrath den Vor⸗ schlag machte, gewisse Befugnisse dem Reichstage allein zu übergeben, wie würde der Bundesrath darüber denken? Bei der Belastung des Volkes durch Steuern könne der Reichstag allein ganz gut ein sach⸗ gemäßes Urtheil abgeben. Warum wolle der Bundesrath nicht Reci⸗ procität walten lassen? Der Abg. Freiherr von Stumm scheine zu meinen, daß, wenn der Reichstag Bestimmungen des Bundesraths außer Kraft zu setzen das Recht erhielte, eine gewisse Willkür⸗ lichkeit Platz greifen würde, und habe ausgeführt, daß die Industrie dabei nicht bestehen könnte, weil sie nicht wisse, od der Reichstag die Bestimmung des Bundesraths auch aufrecht erhalten werde. Habe denn der Abg. Freiherr von Stumm die Sicherheit, daß der Bundesrath, wenn er allein die Befugniß erhalte, seine Ueber⸗ zeugung nicht ändern werde? Der Reichstag werde sich außer⸗ ordentlich besinnen, eine schon bestehende Bestimmung des Bundes⸗ aths außer Kraft zu setzen. Weder rechtliche noch sachliche Gründe sprächen gegen den Antrag seiner Partei

Abg. Freiherr von Stumm: Er habe von Willkür nur insofern gesprochen, als die Mehrheiten des Reichstages schwankten und ein neuer Reichstag, der die Sache in objektivster Weise regeln wolle, vielleicht ganz andere Auffassungen in der Sache habe, als der vorige. Dieselbe Kom mission, in der dieselben Mitglieder säßen, wiese ja ganz abweichende Abstimmungen in der ersten und zweiten Lesung auf. Ganze Industriezweige könnten auf den Kopf gestellt werden, wenn sie von den jeweiligen Ansichten des Reichstages über die Nothwendigkeit eines Betriebes am Sonntag abhängig würden.

Damit schließt die Diskussion.

Ihn der Abstimmung wird §. 105d in der Kommissions⸗ fassung unter Ablehnung der beiden Amendements ange⸗ nommen.

Nach §. 105e können durch die höheren Verwaltungs⸗ behörden Ausnahmen von den Vorschriften über die Sonntags⸗ ruhe zugelassen werden für Gewerbe, deren vollständige oder theilweise Ausübung an Sonn⸗ und Festtagen zur Befriedi⸗

ung täglicher oder an diesen Tagen besonders hervortretender

edürfnisse der Bevölkerung erforderlich ist, sowie für Be⸗ triebe, welche ausschließlich mit durch Wind oder unregelmäßige Wasserkraft bewegten Triebwerken arbeiten. Nach dem Zusatz der Kommission soll für Anträge bezüglich der letztgenannten Betriebe das Verwaltungsstreitverfahren zulässig sein.

Abg. Möller befürwortet einen Kompromißantrag Gutfleisch und Genossen, wonach im Interesse der kleineren Papiermühlen auch diejenigen Betriebe unter die Bestimmungen des Paragraphen fallen sollen, welche nicht „ausschließlich“, sondern nur „vorwiegend“ mit unregelmäßiger Wasserkraft arbeiten. Kleine Wassermühlen und Windmühlen, die, um nicht der Unterbrechung des Betriebes ausgesetzt zu sein, eine kleine Reservedampfmaschine, einen Gasmotor oder dergl. sich anschafften, dürften deshalb von dem Gesetze nicht aus⸗ geschlossen werden.

Geheimer Regierungs⸗Rath Dr. Königs hat sehr erhebliche Bedenken gegen den Zusatz der Kommission und bittet, denselben zur Vermeidung überflüssigen Schreibwerks zu streichen.

Abg. Dr. Hirsch: Er wolle gern Billigkeitsrücksichten walten lassen, aber nur wirkliches Bedürfniß solle maßgebend für die Zulassung von Ausnahmen sein, nicht aber Bequemlichkeit, üble Angewobnheit oder Profitwuth. Die Beurtheilung des Bedürfnisses sei schwierig, aber er habe die Hoffnung, daß die höhere Verwal⸗ tungsbehörde, der man diese wichtige Befugniß in die Hand gebe, sie ausüben werde mit Rücksicht auf die Schonung der Arbeitskraft und Aufrechterhaltung der Sonntagsruhe. Die Petition der Konditoren zeige, welch starker Mißbrauch in diesem Gewerbe bisher stattge⸗ funden habe.

Abg. Dr. Orterer: Er stimme dem Vorredner bei, daß nur unbedingt nothwendige Ausnahmen zugelassen werden dürften. In den Motiven finde man nirgends den Versuch einer Erläuterung, was denn eigentlich Betriebe mit unregelmäßiger Wasserkraft seien, und doch sei eine Definition sehr wichtig, wenn man das punctum saliens treffen wolle. Der Antrag Möller scheine im Uebrigen das⸗ selbe erreichen zu wollen, wie die Vorlage. Der Deutsche Reichstag sollte nicht härter verfahren, als die österreichische Gesetz⸗ gebung, die auch für Mühlen in gewissem Umfange Aus⸗ nahmen zulasse. In Bayern seien es beinahe 5000 kleine Müller, die unter die Betriebe mit unregelmäßiger Wasserkraft sielen. Wenn man diesen verbieten würde, ihre Betriebe auch am Sonntag fortzuführen, würden die Leute finanziell ruinirt werden. Man sehe aber hier wieder einmal, daß die einzelnen Be⸗ rufszweige in Deutschland ganz außerordentlich verschieden gestaltet seien. Eine ihm zugegangene Information bestätige, daß derartige Betriebe, wie sie der Antrag Möller im Auge habe, anderswo garnicht vorkämen. Bei der Fakultät, die Grenze nach oben zu ziehen, würden Viele hineingezogen werden, welche man sonst aus⸗ geschlossen wissen wollte wegen des größeren Umfangs und einer mangelnden Nothlage. Andererseits möchte er aber auch nicht vielen Betrieben Hindernisse in den Weg legen. Deshalb sei es das Beste, bei dem Beschlusse der Kommission zu bleiben. Auch daß man un⸗ nöthiges Schreibwerk vermeiden wolle, spreche gegen den Antrag. Er bitte, den Kommissionsantrag anzunehmen.

Abg. Bebel: Wenn die Regierung eine Vermeidung des Schreibwerks für ausschlaggebend gegen eine Bestimmung halte, so hoffe er, daß sie vielen der Anträge seiner Partei aus demselben Grunde zustimmen werde. Bereits zwischen der ersten und zweiten Kommissionslesung des Entwurfs werde ein Comits eingesetzt werden, welches wesentliche Abschwächungen beschlossen habe. Jetzt komme man allgemein mit Anträgen wie die vorliegenden, die auch die Kom⸗ missionsvorlage noch abschwächen sollten. Es solle nicht genügen, Aus⸗ nahmen bei Vetrieben mit Wind oder unregelmäßiger Wasserkraft zu⸗ zulassen, sondern schon bei solchen, die vorwiegend damit arbeiteten. Damit werde wieder eine Erweiterung in das System der Aus⸗ nahmen gebracht. Was heiße: vorwiegend? In einem windreichen Jahre könne dieses Wort zu Gunsten vieler Betriebe ausschlagen. Diejenigen Müller, die irgendwie Dampfanlagen besäßen, sollte man überhaupt nicht unter die Ausnahmen zulassen, sondern höchstens Müller an unbedeutenden Gewässern. eer Antragsteller gehe aber viel zu weit. Je weiter man in der Berathung der Sonntagsruhe

fortschreite, desto weniger bleibe schließlich davon übrig. Unternehmer Eundesrath und untere Verwaltungsbehörden erhielten die Befug⸗ niß, Ausnahmen von der Sonntagsruhe zuzulassen. Hier aber kämen Betriebe in Frage, bei denen, wenn irgendwo, die Arbeiter eines kräftigen Schutzes bedürften. Es sei ihm gestern keine Antwort ge⸗ geben worden, ob auch das Bäckereigewerbe unter die Bestimmung des §. 105 b falle. Jus dem Kommissionsbericht aber ersehe er jetzt, daß es der Fall sei, während doch gerade die Bäckergehülfen mit Rück⸗ sicht auf ihre überlange Wochentagsarbeit einen freien Sonntag bedürften. Selbst Bäckermeister⸗Innungen, die sich doch nicht gerade durch besondere Arbeiterfreundlichkeit auszeichneten, hätten die Sonntagsarbeit für entbehrlich erklärt. Auch die Barbiergehülfen gehörten zu denjenigen, füt die eine gesetzliche Sonntagsruhe geschaffen werden müsse. Das Urtheil eines einzigen vernünftigen Mannes sei ihm in diesen Fragen maßgebender als dasjenige von Tausend, welche in ihrem Schlendrian fortlebten. Schließlich, wenn man diesen Para⸗ graphen über die Sonntagsruhe fertig gemacht haben werde, werde nur für sehr wenige Gewerbe eine wirklich volle Sonntagsruhe übrig bleiben. Seine Partei habe ja keine Aussicht, mit weitergehenden Anträgen durchzudringen. Er hoffe aber, daß der Reichstag durch die Opposition aus den Kreisen der Betheiligten gezwungen werde, schließlich noch weitere Einschränkungen der Sonntagsarbeit zu be⸗ schließen. . Abg. Dr. Gutfleisch: Diese Hoffnung habe er auch. Aber im Interesse eines stetigen Fortschritts habe seine Partei den Antrag gestellt, den der Abg. Bebel bekämpft habe. Von vornherein sei es eines der stärksten Desiderien gewesen, daß Garantien geschaffen wer⸗ den sollten, damit nicht in willkürlicher Weise das Ausnahmerecht gehandhabt werde. Es sei in diesem einen vorliegenden Falle, wo die Voraussetzungen eines individuellen Verfabrens gegeben seien, ge⸗ lungen, eine solche Garantie zu finden. Nachdem man sich in der Kommission darüber geeinigt habe, hätte er es kaum für möglich ge⸗ halten, daß der Regierungsvertreter diesen kümmerlichen Rest der ursprünglichen Wünsche auch noch bekämpfen würde. Der Regierungs⸗ vertreter habe von dem vielen Schreibwerk gesprochen. Von einem solchen könne aber, wenn überhaupt, erst in zweiter Instanz die Rede sein. Dieser Tadel nehme sich aber sehr eigenthümlich aus,

wenn man bedenke, daß die Regierung selbst in ihrer Novelle zum Krankenversicherungsgesetz das Verwaltungsstreitverfahren in einem bestimmten Falle vorschreibe! Die Kommission sei in ihren Wünschen so bescheiden gewesen, daß es geradezu gegen die öffentliche Moral verstoßen würde, wenn man nicht wenigstens in diesem einen Falle der Verwaltungswillkür durch Zulassung des Verwaltungsstreitverfahrens und der §§. 20 und 21 der Gewerbeordnung eine Schranke setzte.

Abg. Dr. Hartmann: Er bitte ebenfalls um Annahme des

Antrages Gutfleisch und der Kommissionsvorschläge und schließe sich wegen der Motivirung völlig den Ausführungen des Abg Dr. Gut⸗ fleisch an. Abg. Graf Arnim: Er empfehle mit Rücksicht auf die durch Hochwasser, Eisgang u.⸗dgl. ohnehin schon oft zu Pausen genöthigten, mit Wasserkraft bewegten Werke den Antrag der Kommission mit dem Antrage Gutfleisch. Man könne vertrauen, daß der Bundesrath in jedem Einzelfalle Sachverständige heranziehen und keine überflüssigen Dispense ertheilen werde. Auch den Zusatz bitte er anzunehmen, denn das einzige Schreibwerk, das er veranlassen werde, würden die be⸗ reffenden Antragsteller zu leisten haben, und für diese werde sich die Schreibarbeit, wenn sie solche Anträge stellten, wohl lohnen.

Abg. Möller: Man müsse sich bei der gesetzlichen Regelung einer Frage, da man es doch nicht Allen recht machen könne, damit begnügen, die große Mehrheit zu berücksichtigen, und das geschehe bei Annahme des Antrages Gutfleisch. 1 Deanach wird der Antrag Gutfleisch und damit der so geänderte §. 105 e angenommen.

Um 5 Uhr vertagt das Haus die weitere Berathung auf Mittwoch 1 Uhr. 1

Haus der Abgeordneten. 35. Sitzung vom 17. Februar 1891

1 Der Sitzung wohnt der Finanz⸗Minister Dr. Miquel bei. Die zweite Berathung des Einkommensteuer⸗ gesetzes wird fortgesetzt beim §. 17, der den Steuertarif enthält. Neben dem Kommissionsvorschlage liegen noch die Abänderungsanträge der Abgg. Enneccerus, Rickert und Richter vor. Abg. Freiherr von Zedlitz: Gegen die Erhöhung der Steuer für Einkommen von über 100 000 auf 4 % sprächen zwei Gründe: zunächst ein steuertechnischer, indem die reichen Einwohner verleitet würden, weniger und ungenau zu deklariren, obgleich er das Vertrauen zu unseren reichen Mitbürgern habe, daß eine ungenaue Deklaration oder eine Verweigerung der Deklaration die ver⸗ schwindende Ausnahme bilden werde. Sodann würden die Kommunal⸗ steuerverhältnisse ungünstig beeinflußt werden, indem die Reicheren aus den mit hohem Steuertarif belegten Städten wegziehen würden, ein Verhältniß, das sich schon jetzt in Bezug auf die Industriestädte geltend mache. Beide Momente aber träten weit zurück gegen das Moment der Gerechtigkeit. In weiten Kreisen der Bevölkerung sei die Ansicht verbreitet, daß die reicheren Mitbürger auch verhältniß⸗ mäßig mehr zu den allgemeinen Lasten beitragen müßten, als die minder Wohlhabenden. Außerdem könne man nur durch eine höhere Heranziehung der großen Einkommen eine Erleichterung für die geringeren Einkommen bewirken. Eine sachgemäße Regelung des Ver⸗ hältnisses zwischen Staats⸗- und Kommunalsteuer setze voraus, daß der Staat thunlichst auf die ganze Grund⸗ und Gebäudesteuer und die Gewerbesteuer zu Gunsten der Kommunen verzichte. Das bedeute einen Ausfall von 90 Millionen für den Staat. Die Beträge, die den Kreisen nach der lex Huene zuflössen, seien durchaus schwankend. Würden die Getreidezölle um 40 % ermäßigt, so würde sich das Aufkommen nicht wie bisher auf 54 Millionen Mark, sondern auf 32 Millionen Mark stellen. Die den Kreisen zufließenden Summen würden sich danach von 39 auf 17 ½ Millionen Mark ermäßigen. Man werde den nothwendigen Ertrag kaum erreichen, und jede Verminderung desselben würde die Steuerreform zu einem Stückwerk machen, ja ganz vereiteln. Des⸗ wegen sei der Antrag Richter, der gewisse Beträge vorweg nehmen wolle und so den Ertrag des Gesetzes auf ein Minimum reduzire, prinzipiell abzulehnen. Der Kommissionsvorschlag empfehle sich der Regierungsvorlage gegenüber dadurch, daß er für mittlere Einkommen eine Ermäßigung der Steuer um 20 etwa zur Folge habe. Diese 20 bedeuteten, um an das Beispiel des Abg. von Eynern anzuknüpfen, daß ein Beamter, der mit seinem vollen Gehalt künftig beran⸗ gezogen werden solle, auch nicht mehr zahle, wenn er aus eigenem Vermögen etwa 800 jährlich Einnahmen habe. Dazu komme, daß gerade für die in Rede stehende Klasse der Bevölkerung die gestrigen Beschlüsse über die Freilassung der Lebensversicherungs⸗ prämie sehr häufig in Anwendung kommen würden. In Summa stelle sich die Sache so: die mittleren Einkommen würden wesentlich erleichtert, sowohl in Bezug auf die staatlichen als auch auf die kommunalen Lasten; eine Erhöhung der Steuerlasten werde bei Denen eintreten, die heute zu niedrig, unter dem Normal⸗ satze der Einkommensteuer veranlagt seien. Das ließe sich niemals vermeiden, und es liege auch eigentlich im Sinne der aus⸗ gleichenden Gerechtigkeit. Er bitte, den Kommissionsantrag auch wegen der politischen Erwägung anzunehmen, daß die Annahme eines Gesetzes, welches die unteren Einkommen um so viel entlaste, als es die Staatsregierung in Aussicht stelle, nach seiner Meinung einem Hause entspreche wie dieses, das aus Wahlen hervorgegangen sei, bei denen der Besitz eine gewisse Rolle spiele. Er bitte also, sowohl den Antrag Richter, als auch den Antrag Enneccerus und den Antrag Rickert abzulehnen und den Kommissionsantrag anzunehmen. Abg. Melbeck: Er unterstütze den Antrag Vygen, als höchsten

Steuersatz nur 3 % festzusetzen. In keinem Staate Deutschlands

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g5 der Einkommensteuersatz über 3 % hinaus, und selbst in England sei der höchste Satz nur 2 ½ %. Welche Gründe hätten die Kommission bestimmt, in diesem Punkt fiskalischer zu sein als die Regierung? Der Finanz⸗Minister habe in der Kommission vor der Erböhung auf 4 % gewarnt, welche beinabe auf eine progressive Steuer hinauskomme, und auf die wirklich erschreckende Erhöhung der Kommunalsteuern in Folge eines solchen Steuersatzes hingewiesen. Das werde die Besitzer der großen Vermögen aus dem Lande treiben oder die richtige Deklaration gefährden. Bezüglich des Tarifs stimme er für den Antrag Enneccerus, weil er die mittleren Klassen am Besten berücksichtige.

Abg. Freiberr von Huene: Der Abg. von Zedlitz habe eine durch⸗ aus zutreffende Kritik an den gestrigen Ausführungen gegen den Kom⸗ missionsantrag geübt. Er (Redner) beziehe sich auf seine sachlichen Ausführungen und verschone das Haus seinerseits damit, nochmals die⸗ selbe Berechnung aufzustellen, was das Haus vielleicht übel nehmen könne. Der letzte Redner habe neues Material zur Beurtheilung der Fragen nicht beigebracht, und wie weit seine persönliche Ueber⸗ zeugung Eindruck im Hause gemacht habe, wisse er nicht. Von einer Progression oder Konfiskation bei dem Satz von 4 % sei keine Rede. Er stimme dem Satz von 4 % aus voller Ueberzeugung zu. Die Herren sprächen so, als ob die 4 % schon bei 30 000 Vermögen beginnen sollten. Bis 30 000 seien aber 3 % festgehalten, und von da ab steige allmählich in einer ganzen Anzahl von Stufen der Satz bis auf 4 %. Das sei lediglich eine Besteuerung dessen, was Jemand über den standesgemäßen Lebensunterhalt hinaus besitze, also dessen, was zur Kapitalbildung diene. Man sage, diese dürfe man nicht beschränken, weil sie unsere Kraft gegenüber dem Auslande darstelle. Aber gerade die Kapitalbildung der letzten Zeit habe unsere sozialen Verhält⸗ nisse geschädigt. (Sehr richtig! rechts und im Centrum.) Das Gesetz bringe durchaus nicht eine große Erhöhung der Steuern mit sich, sondern eine Erniedrigung. Die Selbsteinschätzung treffe die Vermögen so, wie sie jetzt schon getroffen werden sollten, wenn wirklich jedes Ein⸗ kommen richtig eingeschätzt wäre. Die jetzige Besteuerung sei eine große Ungerechtigkeit. Die leicht erkennbaren kleineren Einkommen würden voll herangezogen, die großen entzögen sich der Steuer. Nach der Vorlage werde jedes Einkommen so getroffen, wie es ihm gebühre. Damit sielen auch die Bedenken des Abg. Vygen. Mit den Herren, welche mit vier Prozent besteuert würden, habe er kein Mit⸗ leid. Man müsse das Gesetz als Ganzes auffassen und nicht davor zurückschrecken, aus der Einkommensteuer mehr Geld herauszuschlagen, als es bisher der Fall gewesen sei, nur so werde man im Stande sein durch die Ueberweisung an die Kommunen eine wirkliche Steuer⸗ reform durchzuführen. Das sei ein ganz falscher Standpunkt, hier und da ein paar Millionen abzuknapsen. Stärkere Schultern müßten stärker, schwächere Schultern schwächer belastet werden, darum bleibe er auf dem Boden der Kommission stehen. (Beifall im Centrum.)

Abg. Fritzen (Borken): Es scheine ihm nicht konsequent zu sein, daß man mit der Progression bei 100 000 stehen bleibe; ein Mann, der 200 000 Einkommen habe, könne weit eher 5 % be⸗ zahlen, als einer, der 100 000 habe, 4 %. Aber der Satz von 4 % sei überhaupt ein zu hoher; kein deutscher Staat habe ihn. Es sei gewiß ein seltenes Vorkommniß, daß eine politische Körperschaft einem Finanz⸗Minister mehr anbiete, als er fordere. Die D tion sei an sich eine unpopuläre Maßregel, sie werde aber schwer empfunden werden, wenn die Steuer in solcher Weise erhöd werde. Man mäage bedenken, daß von der Erhöhung hauptsächlich Groß⸗ gewerbetreibende betroffen würden, die obnehin neuerdings durch unsere soziale Gesetzgebung schwer belastet seien. Und dann würden doch gleich⸗ zeitig auch die Kommunalsteuern in ähnlicher Weise wachsen, denn eine andere Skala für dieselben einzuführen, sei gänzlich unthunlich. Schließlich mache er noch auf die bedeutende Verschiebung in der Wahlberechtigung aufmerksam, die zu Gunsten der großen Vermögen eintreten müsse. Deshalb bitte er die Regierungsvorlage wieder her⸗ zustellen.

Abg. Dr. Sattler: Die Regierungsvorlage habe in ihrem Tarif den Mangel, die mittleren Einkommen zu sehr zu belasten. Mit Recht habe deshalb die Kommission hier Abhülfe zu schaffen gesucht. Gegen die Erhöhung der Steuer auf 4 % bei großem Ein⸗ kommen spreche sehr vieles. Wenn diese Einkommen früher nicht ge⸗ nügend herangezogen seien, habe man jetzt doch keinen Grund zu einer übergroßen Belastung. Wesentlich praktische Gründe bewögen ihn, gegen eine solche Erhöhung zu stimmen. Man treffe damit auch die Aktiengesellschaften und somit auch die kleineren Leute. Die kommu⸗ nalen Finanzen würden auch in außerordentlich ungünstiger Weise beeinflußt werden. Im Aufblühen begriffene Städte würden auf lange für kommunale Zwecke größere Lasten verlangen, und die Gefahr liege nahe, daß die reicheren Leute ihren Wohnsitz nach Außerhalb verlegten. Mancher, der in Altona sein Geschäft habe, werde nach Hamburg übersiedeln. Die Deklarationspflicht ermögliche zum ersten Male einen genauen Einblick in die Einkommensverhältnisse der Bevölkerung. Deshalb solle man sich hüten, durch eine zu hohe Steuer zu ungenauer Deklaration zu verführen. Man stehe im Anfang einer großen Reform, die den Staat allein auf die Personalsteuer verweise. In der That gehöre die Realsteuer von Rechtswegen den Kommunen, man erschwere aber die Durchführung dieser Reform gleichfalls durch eine zu hohe Be⸗ steuerung der großen Einkommen. Es sei gewiß kein Eintreten für Kapitalisteninteressen, sondern die Absicht, eine segensreiche Steuerreform durchzuführen, wenn er bitte, den Antrag Vygen an⸗ zunehmen.

Abg. Rickert: Bei der ersten Lesung des Gesetzes habe im Hause volle Uebereinstimmung darüber geherrscht, daß eine durch⸗ greifende Korrektur des Tarifs besonders in Bezug auf die mittleren Einkommen Platz greifen müsse. Man möge sich nun das klägliche Resultat der Kommission ansehen. Es sei ein Vorgang, wie er sich selten in einem Parlamente wiederhole. Fast nichts sei in Bezug auf die Erleichterung der mittleren Einkommen geschehen, und alle Forderungen und Wünsche bei der ersten Lesung seien vergessen. Welchen Grund vermöge man für die überaus winzige Entlastung von 95 000 insgesammt anzuführen? An⸗ gesichts des Mehrs, wie es aus dem Gesetz hervorgehen werde, wolle dieses Minus nichts sagen. Daß der Deklara⸗ tionszwang schon eine Entlastung der mittleren Einkommen herbei⸗ führen werde, wie der Finanz⸗Minister neulich gemeint habe, sei ihm völlig unverständlich. Der Deklarationszwang werde ebenso steigernd auf die mittleren wie auf die oberen Klassen wirken. Die Anträge seiner Partei wollten nun eine Entlastung gegenüber dem großen Plus der Regierungsvorlage. Die Thronrede habe aus⸗ drücklich erklaͤrt, daß Preußen zur Zeit größere Einnahmen aus den Steuern nicht brauche. Weshalb solle man nun Steuern bewilligen, ohne den geringsten Verwendungszweck vor sich zu sehen? Eine Antwort habe er auf seine Frage nach dem Verwendungszweck der 15, oder, wie er meine, 20 bis 30 Millionen neuer Steuern bisher nicht erhalten. Es beiße nur immer: Gründliche Steuerreform; Reform im Interesse der Gerechtigkeit! Mit solchen allgemeinen Redewendungen werde sich kein gesetzgebender Körper in einem kon⸗ stitutionellen Staat für befriedigt erklären. Der Finanz⸗Minister sage, er wisse selbst nicht, was er für Reformen vorhabe; aber selbst wenn er es wüßte, würde er es nicht sagen, um diese Vorlage nicht zu gefährden, denn der Streit würde dann noch größer werden. Ueber die Ueberweisung von Grund⸗ und Gebäudesteuer werde schon seit Dezennien gesprochen. Ueber die lex Huene schimpfe jetzt Alles, Regierung und Parteien. Wem solle denn Grund⸗ und Gebäudesteuer überwiesen werden? Den Kreisen nicht, das werde jetzt allgemein anerkannt. Den Kommunen auch nicht, denn das würde in den Gutsbezirken ein Geschenk an die Gutsbesitzer sein. Und die neue Landgemeindeordnung werde mit den Gutsbezirken auch nicht aufräumen. Wolle man Reformen, so müsse man sie jetzt vorlegen, wo das Geld bewilligt werden solle. Sei das Geld erst bewilligt, so müsse Ja gesagt werden auch zu Bewilligungen, mit denen man nicht einverstanden sei. In diese Zwangslage wolle er das Parlament nicht gebracht wissen. Er habe eine Probe auf die Reformen in der Kommission machen wollen und beantragt, die lex Huene aufzuheben und vom 1. April

1892 ab den Stadt⸗ und Landkreisen die Hälfte der Grund⸗