die Sozialdemokraten an Spielraum gewinnen würden, so sei das nicht so bedenklich. Es sei ganz gut, wenn auch ein paar Sozial⸗ demokraten in die Stadtverordneten⸗Versammlungen kämen, denn durch die praktische Mitarbeit an der Verwaltung würden sie am ersten von ihren verkehrten Ideen abgebracht werden. Der Antrag Richter, welcher das Gemeindewahlrecht nur nach der Einkommensteuer bemessen wolle, sei falsch; er schließe eine ganze Menge von Personen aus den köberen Klassen aus, welche gerade für die Gemeindewahlen von hoher Bedeutung seien, nämlich Diejenigen, welche Grund⸗ und Gebäude⸗ steuer bezahlten. Abg. Freiherr v. Zedlitz beantragt zu dem Antrage Rickert, daß die Vorlage in der laufenden Legislaturperiode gemacht werden folle, und zwar auf Grundlage der Artikel 70—72 der Verfassung (Dreiklassenwahlsystem); die Schlußworte, welche sich auf die Ein⸗ fuͤhrung des allgemeinen gleichen und direkten Wahlrechtes bezögen, sollten deshalb gestrichen werden. Er hoffe, daß wie die Steuer⸗ reform auch die Reform des Wahlrechtes noch von diesem Hause zu Ende geführt werden könne. Das allgemeine gleiche direkte Wahlrecht halte er weder für den preußischen Staat, noch für die Gemeinden für passend; in beiden Fällen müsse dem Besitz und der Intelligenz ein größerer Einfluß auf die Staatsgeschäfte gesichert werden. Der Antrag Rickert, welcher statt 3 ℳ 4 ℳ für jede nicht veranlagte Person einsetzen wolle, bringe im Osten eine erhebliche Verschiebung des Wahlrechts zu Guͤnsten der dritten Klasse hervor, sei deshalb unannehmbar. Der Antrag der Kommission, daß die Bildung der Abtheilungen innerhalb der Urwahlbezirke erfolgen könne, werde allerdings an manchen Stellen einige Seltsamkeiten hervorbringen; aber solche Ungleichbeiten seien auch setzt schon häufig vorgekommen; so seien z. B. in Berlin Fälle vorgekommen, daß in manchem Urwahlbezirk gar keine Wähler erster Klasse vorhanden zewesen seien. Jedenfalls liege in dieser Maßregel ein kleiner Aus⸗ gleich gegen die Verschiebung des Wahlrechts. Eine Aenderung der
Verfassung liege nicht vor; die Einsetzung eines fingirten Steuersatzes sei ja schon 1883 beliebt worden Lediglich auf die Personalsteuer könne man das Gemeindewahlrecht nicht basiren; denn die Ansässigen, deren Interessen dauernd mit der Gemeinde verknüpft seien, dürften in ihrem Wahlrecht nicht beeinträchtigt werden. Deshalb sei der Antrag Richter zu verwerfen namentlich auch, weil er die Gegenden nicht berück⸗ sictige, wo das Dreiklassenwahlrecht nicht bestehe, wohl aber ein Census. Der Vorschlag der Kommission sei besser wie der Antrag Bachem, il er nicht einen so zersetzenden Einfluß auf die beiden ersten Klassen ausübe, wie der letztere. Wenn der Abg. Bachem auch jetzt vielleicht die Anwesenheit eines Sozialdemokraten in der Stadt⸗ vertretung für nicht so gefährlich halte, so werde er doch in einigen vielleicht schon anderer Ansicht sein. b 88 g. Wuermeling bält eine Reform des Wahlrechtes für nothwendig, und zwar aus soziglen Gründen. Der Reich⸗ häufe sich immer mehr in den Händen Einzelner; es sei kein vorhanden, nun auch das Wahlrecht der reichen Leute zu n. Wenn man das Wahlrecht nach der Steuerleistung be⸗ dann dürfe man dabei nicht vergessen, daß die unteren Klassen der Bevölkerung auch viele indirekte Steuern zu bezahlen hätten, und dafür müsse ein Ausgleich gefunden werden, wie ihn der Antrag Bachem verlange. Besonders schlimm liege das auf dem Gebiete der Schule. Gerade die breite Masse des Volkes habe an der Volks⸗ schule das Hauptinteresse. Wenn aber die Vorlage angenommen werde, dann bätten in den Gemeinden die beiden ersten Abtheilungen, also gerade die reichsten Leute, die mit der Volksschule wenig zu thun bätten, den Haupteinfluß. Das sei um so bedenklicher, als immer mehr Schulen zu Kommunalschulen gemacht würden, was er lebhaft bedauere.
Minister des Innern Herrfurth:
Der Hr. Abg. Bachem hat mit Recht zu Anfang hervorgehoben, daß bei dem hier zur Diskussion stehenden Paragraphen drei schwerwiegende Fragen miteinander kombinirt sind, welche auch in der Diskussion nicht überall auseinander gehalten worden sind und wegen ihres inneren Zusammenhanges nicht haben auseinander gehalten werden können. Einmal die Frage, ob und inwieweit durch die Be⸗ stimmungen dieses Gesetzes eine Verfassungsänderung bedingt werde; sodann die Frage, inwieweit Aenderungen des staatlichen Wahlrechts, und endlich die Frage, inwieweit Aenderungen des kommunalen Wahlrechts durch den Gesetzentwurf über die Ein⸗ kommensteuer bedingt werden.
Auf die beiden ersten Fragen will ich nur mit wenigen Be⸗ merkungen eingehen. Die Königliche Staatsregierung hat ihrerseits einer eingehenden Prüfung die Frage unterzogen, ob sie glaube, daß durch die Bestimmungen des neuen Einkommensteuergesetzes in der
zung der Kommissionsbeschlüsse in irgend einer Weise Bestimmungen zassung abgeändert werden, und sie ist ihrerseits zu einer
ung dieser Frage gelangt. Die Gründe, die hierfür maß⸗
sen sind, sind in dem schriftlichen Kommissionsbericht
sind heute von dem Herrn Referenten und ich glaube auf dieselben Bezug
Ich möchte nur eine Bemerkung hier noch
eines neuen Arguments, das mir in Privat⸗
ntniß gebracht worden ist. Dieses Argument stützt Meine
richt in Abrede stellen, daß allerdings die Aende⸗ Gesetz herbeigeführt würden, als solche an⸗
2
en können, welche mit den in dem genannten Artikel für definitives Wahlgesetz gegebenen Direktiven
GNe 9
₰
vereinigen lassen. Aber es handelt sich jetzt Felas eines definitiven Wahlsesetzes, sondern es ob und inwieweit diejenige Verordnung,
blen als verfassungsmäßiges Recht gilt, aatsregierung glaubte deshalb, ihrerseits ergsveränderung verneinen zu sollen. Ich gebe ge eine zweifelhafte ist, und die König⸗ natürlich der gewissenhaften Erwägung es überlassen, inwieweit es glaubt, sich Verfassung gebunden zu erachten, diesen Vorschlägen zustimmen zu die Verfassung geändert werde. Die steht aber — und das ist
er Majorität der Kommission gewesen —
c dieses Gesetz findet eine Veränderung der . ist nicht erforderlich, daß in den Formen, vorgeschrieben sind, auch dieses Gesetz
dce. güsegisssege⸗ vollkommen
12
192 95 ₰ 12
v.
festgestellt werde. Was die Aenderung bes staatlichen Wahlrechts anbelangt, bedingt werde, so glaubt die Königliche durch die Vorschläge in §. 79 der Anforderungen genügt zu haben, welche nten zur Verhütung einer Aenderung des Abgeordnetenhaus zur Zeit in Geltung stest und dessen Aenderung ja allerdings durch die Erhöhung des Maximalprozentsatzes der Steuern sowohl als durch die Ermäßigung des Tarifs für die mittleren und niederen Klassen zum Theil mit vergenommen werden wird. Von Ihrer Fommissten ist eine Aenderung nach zwei Richtungen
.7 Se en
m.
ÜAbb
0„
„ 2 92
6„ 21 894 H
g .
Wablredts, welches für
8 442
hin beschlossen worden: Statt des Satzes von 2,40 ℳ für die nicht zur Staatseinkommensteuer veranlagten Personen ist ein Satz von 3 ℳ festgestellt. Und außerdem ist nach dem Antrage des Abg. Freiherrn von Huene ein letzter Absatz beigefügt worden, wonach die Abtheilungslisten gesondert für die einzelnen Urwahlbezirke gebildet werden sollen. Hierzu hat der Abg. Bachem noch einen Antrag ge⸗ stellt, der, wenn ich ihn recht verstehe, wohl nur redaktioneller Natur ist, der, wie ich glaube, in einer Beziehung zwar eine redaktionelle Verbesserung enthält, aber nach einer anderen Richtung hin nicht ganz korrekt ist. Er enthält eine redaktionelle Verbesserung insoweit, als er ausdrücklich sagt, daß die zur Staatseinkommensteuer nicht veranlagten wa l⸗ berechtigten Personen in Frage kommen. Aber wenn er weg⸗ gelassen hat, daß der Steuerbetrag von 3 ℳ an Stelle der bisherigen Klassensteuer treten solle, so könnte das, glaube ich, zu Mißverständnissen Anlaß geben. (Abg. Rickert: Sehr richtig!) Ich erinnere an den Fall, daß eine nicht zur Klassensteuer veranlagte Person ein kleines unbedeutendes Grundstück besitzt, von dem sie eine oder zwei Mark Grundsteuer zu entrichten hat. An Stelle dieses Betrages kann dann die Summe von 3 ℳ nicht treten, viel⸗ mehr wird dieselbe dem letzteren Betrage hinzugerechnet werden müssen, und ich glaube, die redaktionelle Aenderung in dem Antrage Bachem würde noch verbessert werden, wenn hinter den Worten „drei Mark“ hinzugesetzt würde: „an Stelle des bisherigen Klassen⸗ steuersatzes“'. Die Tragweite der Aenderung, die die Kommission auf Antrag des Abg. Freiherrn von Huene beschlossen hat, vermag ich heute, trotz der für fünf bis sechs Gemeinden angestellten Stichproben, noch nicht völlig zu übersehen und ich muß sagen, daß ohne ganz genaue ziffermäßige Ermittelungen nicht mit Bestimmtheit sich er⸗ kennen läßt, ob hier wirklich eine Verbesserung vorliegt oder nicht. (Hört! hört! links.)
Prinzipielle Bedenken glaube ich allerdings nicht gegen diesen Zusatz erheben zu sollen; ich meine, daß die Aenderung doch nicht von großer praktischer Erheblichkeit sein wird; namentlich in Rücksicht darauf, daß alle diejenigen Wahlbezirke, welche aus Gemeinden mit weniger als 750 Seelen bestehen, unberührt bleiben, würde man wohl ohne allzuschwere Bedenken diesen Zusatz acceptiren können.
Auf die sonstigen Anträge, die in Betreff des staatlichen Wahlrechts gestellt worden sind, glaube ich hier nicht näher ein⸗ gehen zu müssen. Was insbesondere den Antrag Rickert anlangt, so hat ja der Abg. Wuermeling ausdrücklich erklärt, er stimme diesem Antrage zu lediglich in der Form einer platonischen Liebeserklärung, und ich glaube, diese Liebeserklärung wird hier im Hause wenig Gegen⸗ liebe finden (Heiterkeit), und so lange das nicht geschehen ist, ist von der Staatsregierung wohl nicht zu erwarten, daß sie sich über den Inhalt einer Resolution, die voraussichtlich nicht gefaßt werden wird, noch weiter ausspricht.
Ich möchte meinerseits hauptsächlich nur noch in Betreff des kommunalen Wahlrechts, namentlich mit Rücksicht auf eine Reihe von Ausführungen des Hrn. Abg. Wuermeling Einiges hinzufügen. Meine Herren, bei der ersten Berathung des Antrages der Hrrn. Abgg. Fritzen und Bachem habe ich meinerseits Namens des Staats⸗Ministeriums erklärt, daß, insoweit wie dieser Antrag bestimmt und geeignet sei, die Verschiebungen zu beseitigen, welche in Folge des neuen Ein⸗ kommensteuergesetzes in dem Kommunalwahlrecht entstehen würden, Seitens des Staats⸗Ministeriums Bedenken gegen denselben nicht zu erheben seien. Ich habe aber ausdrücklich hervorgehoben, daß die Frage, in wie weit der Antrag wirklich dazu geeignet sei, erst sich beurtheilen lassen werde, wenn spezielle, ziffermäßige Ermittelungen hierüber stattgefunden haben würden. Es haben inzwischen solche Er⸗ mittelungen stattgefunden, sie liegen Ihnen als Nr. 149 der Drucksachen vor, und sie haben meines Erachtens ergeben, daß der Antrag Bachem für den Zweck, für den er eigentlich gestellt ist, sich überhaupt nicht eignet. Er beseitigt diese Verschiebungen nicht vollständig, er beseitigt sie nur zu einem geringen Theil in den Klassen 1 und 2 und er verstärkt sie ganz erheblich in der dritten Klasse. Die Ver⸗ schiebungen, welche überhaupt das neue Einkommensteuergesetz bezüg⸗ lich des kommunalen Wahlrechts herbeiführen wird, können doch nur darin bestehen, daß ein Theil der Wähler der ersten Klasse in die zweite, und ein Theil der Wähler der zweiten Klasse in die dritte geschoben würde, daß also somit ver⸗ hältnißmäßig das Wahlrecht der ersten und zweiten Klasse ge⸗ steigert, das der dritten vermindert wird. Nun gebe ich dem Hrn. Abg. Bachem zu: in Betreff der Verstärkung des Wahlrechts in der ersten und zweiten Klasse hilft der Antrag etwas, aber nicht vollständig, wenigstens nicht in allen Gemeinden, sondern nur in zwei oder drei von denen, für welche Erhebungen stattgefunden haben. Es wird immer noch eine Verschiebung zu Gunsten dieser Klassen ein⸗ treten, nur in wenigen Fällen findet ein Ausgleich statt. Wie steht es nun aber in Betreff der dritten Klasse? Für dieselbe wird das Wahl⸗ recht aller derjenigen, welche jetzt dieser Klasse angehören, nach der Regierungsvorlage etwas, aber wenig vermindert durch den Hinzutritt von einigen, wir wollen sagen, Hunderten von Wählern aus der ersten und zweiten Klasse; nach dem Antrage Bachem aber würde das Wahlrecht des Einzelnen in außerordentlich starker Weise vermindert durch den Hinzutritt von Tausenden von Wählern.
Ich könnte in Uebereinstimmung mit den von mir Anfangs ab⸗ gegebenen Erklärungen mich auf den rein negativen Standpunkt stellen: auf dem Wege, den Hr. Bachem vorschlägt, ist das von ihm angestrebte Ziel Überhaupt nicht zu erreichen; dieser Weg ist nicht gangbar, sein Antrag bedeutet jetzt etwas ganz Anderes, als das, was er bei der Einbringung nach seiner eigenen Begründung bedeuten sollte; er bedeutet jetzt nichts Anderes, als eine Abänderung einer bestehenden speziellen Be⸗ stimmung der rheinischen Städteordnung über das kommunale Wahlrecht. z2 ta, meine Herren, lassen sich allerdings die Einwendungen wiederbolen, die ich damals erhoben habe: das
gehört nicht in das Einkommensteuergesetz, das ist nur zu machen durch ein provinzielles Spezialgesetz, welches auf dem Wege, wie eben Prorinzialgesetze zu Stande zu kommen pflegen, in separato zu behandeln sein würde.
Ich erkenne aber mit Hrn. Bachem und Hrn. Dr. Wuermeling an, daß wir einen anderen Weg bereits im Jahre 1873 beschritten haben, als wir auch Bestimmungen, die sich auf das kommunale Wahlrecht bezogen, in das Klassen⸗ und Einkommensteuergesetz mit aufgenommen haben; und ich glaube deshalb Namens des Königlichen Staats⸗Mini⸗
steriums Einspruch nicht dagegen erheben zu sollen, daß dieser Weg auch hier
beschritten werde — namentlich aber nicht Widerspruch erheben zu sollen 'gegen den Antras Ibhrer Kommission, der meines Erachtens berechtigte Beschwerden beseitigt, dabei auch gleichzeitig verhindert, daß eine allzugroße Vermehrung der Wähler eintrete, die aus poli⸗ tischen wie sozialpolitischen, aber auch aus wirthschaftlichen Gründen in den Städten der Rheinprovinz als sehr bedenklich zu erachten sein würde.
Von Hrn. Bachem ist die Ausführung des Bürgermeisteramts in Köln kritisirt worden, dessen Vertreter die Befürchtung aussprach, daß in Zukunft die Sozialdemokratie in den Stadtverwaltungen einen erheblichen Einfluß gewinnen könne und werde. Aber daneben ist noch ein anderer Punkt, glaube ich, mit vollem Recht vom Bürgermeisteramt hervorgehoben worden, nämlich der Hinweis darauf, daß nach dem Antrag des Hrn. Abg. Bachem eine große Anzahl von Mitgliedern, welche von jeder Kommunalsteuer frei sind, das Wahlrecht erhalten würde. Dies würde aber vorzugsweise von den unverheiratheten jugendlichen Arbeitern gelten, welche auf Grund ihres hohen Verdienstes zu einem Steuersatz von 4 ℳ Einkommen⸗ steuer veranlagt worden, während die älteren verheiratheten Arbeiter mit Rücksicht auf den Abzug, der bei ihrem Einkommen nach dem neuen Steuergesetz gemacht werden wird, das Wahlrecht nicht erhalten.
Der Hr. Abg. Wuermeling hat nun den Wunsch ausgesprochen, es möchten möglichst bald statistische Ermittelungen gemacht werden über die prozentualen Verhältnisse, die sich in den einzelnen Wahlklassen sowohl bei den Wahlen zum Abgeordneten⸗ hause als auch bei den Kommunalwahlen bisher herausgestellt hätten. Er hat zur Begründung seines Antrages aber in nicht ganz richtiger Weis ezug genommen auf die Verhandlungen, welche im Jahre 1876 bei der Erörterung der Frage des Erlasses einer allgemeinen Städteordnurg über diesen Punkt stattgefunden haben. Damals ist allerdings im Anschluß an das badische Wahlsystem in der zweiten Lesung des Abgeordnetenhauses der Beschluß gefaßt worden, daß man eine Minimalzahl der Wähler von ein Zwölftel auf die 1. Klasse, und von zwei Zwölftel für die 2. Klasse festhalten wolle. Allein dieser Beschluß ist in der dritten Lesung wieder fallen ge⸗ lassen worden. Er stand im Widerspruch mit der Regierungs⸗ vorlage, er stand im Widerspruch mit den Beschlüssen des Herren⸗ hauses, und ich glaube, aus diesen Vorgängen lassen sich irgend welche Schlüsse auf die Uebereinstimmung der gesetzgebenden Faktoren be⸗ züglich der Zweckmäßigkeit der Festsetzung eines prozentualen Ver⸗ hältnisses nach keiner Richtung hin ziehen.
Wenn ich bei dem Entwurf der Landgemeindeordnung und bei dem Entwurf der Städteordnung für Wiesbaden mich lediglich an das bestehende Wahlrecht gehalten habe, so ist das bezüglich des Entwurfs einer Städteordnung für den Regierungsbezirk Wiesbaden selbstverständlich; denn dieser Entwurf charakterisirt sich lediglich als ein Interimistikum, als ein Nothgesetz, welches einem zur Zeit in der Provinz Nassau bestehenden Nothstande dadurch ab⸗ helfen soll, daß die Grundsätze der bisher in den östlichen Provinzen bestehenden Städteordnung in jenem Regierungsbezirk eingeführt werden. Hier sind irgendwelche grundsätzliche Aenderungen garnicht in Erwägung gezogen, vielmehr ist ausdrücklich ausgesprochen worden, es sei von einer solchen grundsätzlichen Erörterung Abstand genommen.
Meine Herren, was nun aber die Frage der Landgemeinde⸗
ordnung für die 7 östlichen Provinzen anlangt, so glaube ich, werden Sie mir zugeben, daß hier, wo wir überhaupt erst ein Wahl⸗ recht neu für diese Gemeinden einführen, am Allerwenigsten die Land⸗ gemeinden des Ostens als diejenigen Körperschaften zu bezeichnen wären, bei denen man dieses neue Experiment mit ausführen kann. (Sehr richtig! rechts.) Ueberhaupt wird, wenn man diesem Gedanken näher tritt — ich will das ja keineswegs ablehnen, namentlich, soweit es sich um die Vorfrage der statistischen Ermittelungen
handelt, — so wird man das generell für den ganzen Staat 8
sowohl für das staatliche wie für das Kommunalwahlrecht machen müssen. Das kann man nicht für Landgemeinden oder Stadtgemeinden einzelner Provinzen in verschiedener Weise; da muß eine generelle Regelung stattfinden. Schließlich bemerke ich — und ich befinde mich damit im Einverständniß mit sämmtlichen Herren Rednern, ich glaube es als eine glückliche Lösung an- sehen zu können, daß durch den Kompromißvorschlag der Kommission die von den verschiedenen Seiten geäußerten Wünsche ihre Befriedigung gefunden haben und daß Diejenigen, welche ihrerseits mit Rücksicht auf die Rückwirkung des Einkommensteuer⸗ gesetzes auf das Kommunalwahlrecht gegen dieses Gesetz Widerspruch erhoben hatten, heute noch erklärt haben, daß sie ihren Widerspruch fallen lassen wollen. Denn das ist ja zweifellos: die König⸗ liche Staatsregierung kann bei einem Gesetz von solcher Wichtigkeit, wie das Einkommensteuergesetz, bei seiner Rück⸗ wirkung auf das staatliche und auf das Kommunalwahlrecht, auf die gesammte wirthschaftliche und politische Lage unseres Land nur das allergrößte Gewicht darauf legen, daß mit möglichst großer Einstimmigkeit dieses Gesetz demnächst hier im Hause Annahme finden möge. 8
Abg. Freiherr von Huene: Der Antrag der Kommission sei von keiner Seite angefochten, auch vom Minister als annehmbar bezeichnet worden. Es handele sich ja hier nur um eine provisorische Regelung der Frage und von diesem Standpunkte aus müsse man über manche Mängel der Vorschläge hinweggehen. Man dürfe die Gestaltung des Wahlrechts nicht bloß nach diesem Gesetze beurtheilen, sondern nach der ganzen Steuerreform. Wenn die Grundsteuer über⸗ wiesen werde, wie werde dadurch das Wahlrecht verändert! 8 könne man das Gemeindewahlrecht nicht nach der Einkommen⸗ steuer allein bemessen, denn die Grund⸗ und Gebäudesteuer zahlenden Bürger seien diejenigen, welche das meiste Interesse an der Ge⸗ meindeverwaltung hätten. Ob eine Verfassungsänderung vorliege oder nicht, darüber müsse Jeder sich seine eigene Meinung bilden Aber allseitig werde man wohl überzeugt sein, daß es so mit dem Wahlrecht nicht weiter gehe. Daß man die Fundamente durch Stützen ersetze, sei auf die Dauer nicht durchführbar. Mit der Ueberweisung der Grund⸗ und Gebäudesteuer an die Kommunen müsse auch das Gemeindewahlrecht anders geregelt werden. Daran müsse der Regierung ebensoviel liegen, wie jedem Mitgliede des Hauses
Abg. Francke (Tondern): Die Verfassung und die Wahlordnung bestimmen, daß die Gemeinden im Ganzen in drei Klassen getheilt werden sollten; jede Klasse solle für sich wählen. Was auf An trag des Abg. von Huene von der Kommission beschlossen worden sei entspreche dieser Verfassungsvorschrift nicht. Wenn es sich jetzt auch nicht um Beschaffung eines neuen Wahlgesetzes handele, so sei man auch bei Aenderung des bestehenden Gesetzes an die Direktiven ge bunden, welche die Verfassung gebe.
Um 4 Uhr wird die weitere Berathung vertagt.
8
8
n““ 86
Zweite Beilage
zum Deutschen Reichs⸗Anzeiger und Königlich Preußischen
Berlin, Donnerstag, den 26. Februar
Staats⸗Anzeiger.
1891.
Statistik und Volkswirthschaft.
Die wirthschaftliche Lage
der ländlichen Bevölkerung im Regierungsbezirk Osnabrück wird im Hinblick auf die Viehpreise und die mit geringen Ausnahmen immerhin genügende Ernte größtentheils als befriedigend bezeichnet. Doch ist die Strenge des diesjährigen Winters nicht ohne nachtheilige Wirkung geblieben. Den kleineren Grundbesitzern und besonders den Heuerleuten und Tagelöhnern war durch das Frostwetter zumeist für längere Zeit die Gelegenheit genommen, lohnen⸗ dem Verdienste nachzugehen. Die Koblenpreise stiegen, und nicht überall sind ausreichende Vorräthe an Korn und Futter vorhanden. So sind viele Schafbesitzer dadurch empfindlich betroffen, daß die Schafe ihre Nabrung nicht mehr außerhalb des Stalles finden konnten. Vor Allem aber klagen die Moorkolonisten, deren letzte Buch⸗ weizenernte ganz unzureichend ausgefallen ist. Doch ist ein Nothstand nur im Kreise Hümmling, speziell in der Gemeinde Esterwegen, her⸗ vorgetreten, wie dies schon bei Beginn des Winters befürchtet wurde. Zur Lage der Textilindustrie.
Man schreibt aus dem Regierungsbezirk Breslau: Der Einfluß der Mc. Kinley⸗Bill ist zwar zum Glück hinter den Befürchtungen zurückgeblieben, hat aber zu dem auffallenden Rückgang einzelner Industriezweige, wie z. B. der Bleichereien, Färbereien und Appretur⸗ Anstalten, der Portefeuille⸗ und feineren Porzellanfabrikation sowie der Handweberei, offenbar wesentlich mit beigetragen. Unter dem Rückgang der Industrie hat vor Allem die Textilindustrie zu leiden gehabt. Der Absatz der Gewebe hat in unerwartetem Maße nach⸗ gelassen; selbst das Weihnachtsgeschäft war, wie auch sonst in In⸗ dustrie und Handel, nur sehr mäßig belebt. Alle Fabriken gingen mit großen Waarenbeständen in das neue Jahr über.
Die besonders in den Kreisen Reichenbach, Waldenburg und Glatz noch stark vertretene Handweberei erweist sich mehr und mehr als völlig außer Stande, gegen die mechanische Weberei aufzu⸗ kommen.
Von den Spinnereien geht es der Leinenspipnerei noch immer verhältnißmäßig am Besten. Wenn auch die Werggarne einen unver⸗ hältnißmäßig niedrigen Preis haben, so werden dafür die Flachsgarne zu gewinnbringenden Preisen abgesetzt. Die diesjährigen russischen und schlesischen Flächse sind besser als die des Vorjahres, die russischen in Folge des Zurückgehens der russischen Valuta auch billiger. Die Baumwollspinnerei leidet dagegen an Ueberproduktion und muß zu unrentablen Preisen verkaufen. Ganz darnieder liegt die Spinnerei harter Kammgarne. Ihr Absatz ist sehr beschränkt, die Preise der Garne sind verlustbringend, die Fabrikation ist stark zurückgegangen.
Roheisen⸗Produktion.
Niach den statistischen Ermittelungen des Vereins deutscher Eisen⸗ und Stahlindustrieller belief sich die Roheisen⸗ produktion des Deutschen Reichs (einschl. Luxemburgs) im Monat Januar 1891 auf 348 355 t; darunter Puddelroheisen und Spiegeleisen 137 685 t, Bessemerroheisen 30 895 t, Thomas⸗ roheisen 131 802 t und Gießereiroheisen 47 973 t. — Die Pro⸗ S im Dezember 1890 betrug 362 560 t und im Januar 1890 74 066 t. 8
Zur Arbeiterbewegung.
Aus Bochum berichtet man der Berliner „Volks⸗Ztg.“, das Organ des Deutschen Bergarbeiterverbandes theile mit, daß auch die Reviere Elsaß⸗Lothringen, Pfalz und Königreich Sachsen sich die Forderungen des Delegirtentages aneignen werden; bei einem Strife würde auch Oberschlesien zur Gesammtheit stehen.
Wie der „Köln. Ztg.“ aus Aachen telegraphirt wird, soll zum Frühjahr ein Ausstand der Zinkarbeiter, Bleiarbeiter und Silberarbeiter geplant sein. Die Zinkhütten⸗Konvention habe bereits diesen Angriffsplänen gegenüber Stellung genommen.
Die „Hamb. B⸗H.“ theilt mit, daß für die sogenannte All⸗
gemeine große Strikekasse, „die General⸗Kommission der Gewerkschaften Deutschlands“ (Centralkassirer: A. Dammann in Hamburg), in der Zeit vom 5. bis zum 18. Februar 1891 im Ganze 15 200 ℳ eingegangen sind. In dieser Summe ist ein Posten von 5000 ℳ quittirt mit „Von der Börse“ und ein Betrag von 2790 ℳ, eingegangen vom „Verband der Cigarrenarbeiter“ in Antwerpen, enthalten. Die Einnahmen vom 20. November v. J. bis zum 4. Februar d. J. betrugen 159 650 ℳ, sodaß sich die Gesammt⸗ einnabmen auf 174 850 ℳ beziffern. — Es ist jetzt laut Beschluß der Führer der Hamburger Gewerkschaften mit dem bisherigen Sammelsystem gebrochen und ein Markenverkauf eingeführt worden. Die Quittungsmarken sind in verschiedenen Zahlstellen in Hamburg, Altona und Ottensen à 10, 30 und 50 ₰ käuflich. Ueber den Arbeiterausstand in Thalheim (Val. Nr. 34 d. Bl.) bemerkt eine Zuschrift der „Lpz Ztg.“, daß bei demselben die eigenthümliche Beobachtung habe emacht werden können, daß die Führer der sozialdemokratischen Partei in und um Thalheim öffentlich von der Arbeitseinstellung beziehentlich von dem Anschlusse an dieselbe abgemahnt, nichtsdestoweniger aber im Stillen dieselbe auf olle mögliche Weise unterstützt und gefördert baben. Die ausständigen Arbeiter hatten in voriger Woche die Vermittelung des Chemnitzer Amtshauptmanns angerufen, dessen Vorschlag aber, ihnen einen anständigen Rückzug zu vermitteln“, nicht angenommen. Uebrigens ist trotz aller Versicherungen, daß die Arbeiter Thalheims „in ihrem Klassenbewußtsein feststehen und dadurch zum Siege und zu ihrem unveräußerlichen Rechte gelangen“ werden, die gründliche Niederlage der Strikenden doch unausbleiblich; Einzelne schicken sich bereits an, in aller Stille die Arbeit wieder aufzunehmen. Mit vem Antrage der sozialdemokratischen Gemeindevertreter, aus Gemeindemitteln die ausständigen Arbeiter zu unterstützen, haben dieselben selbstverständlich kein Glück gehabt. Die Aufsichtsbehörde hat auf Anrufen die Beschlußfassung in diesem Sinne als eine un⸗ gesetzliche bezeichnet und die Antragsteller haben sich dabei beruhigt.
In Leipzig wurde am letzten Sonntag in einer öffentlichen Versammlung der biesigen Buchdruck⸗Maschinenmeister beschlossen, dem von München und Wien ausgehenden Vorschlag, einen Mas chinenmeister⸗Verband für Deutschland, mit dem Sitze in Berlin, zu gründen, nicht beizutreten, sondern zu erklären, daß die bestehende Orga⸗ nisation des Buchdruckgewerbes, der „Unterstützungsverein Deutscher Buchdrucker“, vollkommen im Stande sei, die Interessen seiner Mit⸗ glieder zu wahren. — Die Drechslergehülfen und verwandten Berufsgenossen Leipziss beschlossen, wie das „Chemn. Tgbl.“ berichtet, in einer Versammlung am Montag, die am 30. März d. J. in Halle a. S. stattfindende Generalversammlung des Verbandes der Drechsler Deutschlands, die sich in der Hauptsache mit der Organisationsfrage beschäftigen wird, zu beschicken und dieser Generalversammlung den Vorschlag der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, den ersten Sonntag im Mai als allgemeinen Arbeiterfeiertag zu begehen, zur Annahme zu empfehlen.
Einem Londoner Telegramm des „Wolff'schen Bureaus“ zufolge kam es nach Meldungen aus Durham beute anläßlich der gerichtlichen Ausweisung von strikenden Kohlen⸗ grubenarbeitern der Grube Silksworth aus den von dem Grubenbesitzer Marquis Londonderry erbauten Arbeiter⸗ wohnungen zu Ruhestörungen. Gegen die Polizeimann⸗
schaften, welche mit Stöcken gegen die Ruhestörer einschritten, wurden Steine geschleudert. Mehrere Personen wurden, zum Theil erheblich, verletzt.
Aus Lyon wird telegraphisch gemeldet, daß fast sämmtliche Arbeiter der dortigen Glasfabriken in den angekündigten Strike eingetreten sind, da die vor vierzehn Tagen von ihnen geforderte Lohnerhöhung nicht zugestanden wurde.
Aus Brisbane hatte die Londoner „Allg. Corr.“ unter dem 22. d. M. gemeldet, daß in Clermont eine 180 Mann starke be⸗ waffnete Schaar erwartet werde, welche von dem Queenslander Gewerkverein der Scheerer abgesandt wurde, um die aus Melbsurne imvportirten „freien“ Arbeiter des Austra lischen Heerdenbesitzervereins zur Niederlegung der Arbeit zu zwingen. Unter dem 24. d. M. wird nun weiter berichtet, daß 500 bewaffnete, dem Gewerkverein angehörige Schafscheerer in der Nähe von Clermont eingetroffen sind. Da jedoch 400 Mann Polizei und Militär in der Gegend steben, so werden kaum Ruhestörungen vorkommen. Die Behörden haben die Schafscheerer aufgefordert, ihre Waffen abzuliefern.
ur Sachsengän ei schreibt die „Schles. Ztg.“”: Die Sachsengängerei scheint im kom⸗ menden Frühjahr einen besonders großen Umfang annehmen zu sollen. So wird aus dem Kreise Namslau berichtet, daß in der Gegend von Reichthal nicht blos Arbeiter, sondern sogar Hausbesitzer und Handwerksmeister sich anwerben lassen, gewissenlose Eltern geben zu, daß ihre kaum der Schule entwachsenen Töchter in die Ferne ziehen. Ebenso wird aus dem Kreise Falkenberg dem ⸗Landwirth“ geschrieben, daß dort aus Dörfern, die bisher von der Wanderseuche noch nicht angesteckt waren, eine große Anzahl Arbeiter und Arbeiterinnen durch Agenten geworben worden sind, um, sobald das Scheiden des Winters Feldarbeit gestattet, nach Sachsen zu ziehen. Es eröffnet sich dadurch eine trübe Aussicht für alle die, welche Forstkulturen zu machen haben; da im Walde noch an zwei Fuß vereisten Schnees liegen, so ist augenblicklich an eine Pflanzung nicht zu denken, und wenn die Witterung endlich die Pflanzenarbeit gestatten wird, muß sie aus Arbeitermangel unterbleiben.; Eine Vernachlässigung in der Aufforstung ist aber nicht nur ein privater 8 des Forstbesitzers, sondern eine Schädigung des National⸗
Kunst und Wissenschaft.
Ueber sein neues Heilmittel gegen Tuberkulose hielt gestern Abend Professor Oscar Liebreich in der Medi⸗ zinischen Gesellschaft einen Vortrag, worin er über dasselbe nähere Mittheilungen machte. Wir entnehmen darüber der „National⸗Ztg.“ folgenden Bericht:
„Das Heilmittel besteht in kantharidinsaurem Kali resp. Natron, d. i. eine Lösung von Kantharidin — der bekannten, aus der spanischen Fliege gewonnenen krystallinischen Substanz — in Kali oder Natron, und wird, wie das Koch sche Tuberkulin, auf dem Rücken unter die Haut eingespritzt. Mit begreiflicher Spannung hatte man in der ärztlichen Welt dem Liebreich'schen Vortrage ent⸗ gegengesehen; das bewies der übervolle Sitzungssaal, in welchem sich etwa 800 Aerzte Kopf an Kopf drängten, das bewies ferner die An⸗ wesenheit des Geheimen Ober⸗Regierungs⸗Raths Dr. Althoff vom Kultus⸗ Ministerium. In seinem Vortrage ging Professor Liebreich von seiner größten Entdeckung, der des Chloralhydrats als Schlafmittel, aus und erinnerte daran, daß er schon damals den Wunsch aus⸗ gesprochen habe, es möge jede Arzneimittel⸗Untersuchung mit chemischen Untersuchungen beginnen, eine physiologische Prüfung folgen und dann am Krankenbett beobachtet werden, ob die theoretischen Voraus⸗ fetzungen sich bestätigen. Neben dieser chemischen Methode der phar⸗ makologischen Untersuchungen kommen indessen auch noch andere Prinzipien der Forschung in Betracht, wie die Entdeckung des La⸗ nolin, durch welches das bis dahin nahezu verachtete Gebiet der Salbenanwendung auf eine wissenschaftliche Basis erhoben wurde, ferner die Untersuchungen der Desinfektionsmittel durch Robert Koch u. A. be⸗ wiesen. Andererseits hatte Koch's Entdeckung des Tuberkelbacillus neue Hoffnungen erweckt, daß nämlich jene von Pasteur für die Gährung nachgewiesene Erscheinung, wonach die von den Mikro⸗ organismen gebildeten Stoffe ihnen selber Vernichtung bringen, auch für die Heilkunde verwerthet werden könnte. Allerdings waltet dabei die große Schwierigkeit ob, daß die von den Bakterien produzirten Stoffe hochgradig giftig sind. Günstiger stehe es da⸗ gegen um die Bestrebungen, durch abgeschwächte Kulturen heilbringend zu wirken. Bei seinen Untersuchungen über die schmerzstillenden Mittel hat sich der Vortragende auch mit dem Kantharidin, der von Alters her bekannten, aus den spanischen Fliegen gewonnenen Substanz beschäftigt, deren stark reizende, blasenziehende Wirkung wohl Jeder kennt. Als er nun die Wirkung des Koch'schen Tuberkulins an einem Lupuskranken beobachtete, fiel ihm eine gewisse Aehnlichkeit mit der Wirkung des Kantharidin auf, dem er nunmehr seine besondere Aufmerksamkeit widmete. An die Kanthariden knüpfen sich von Alters her vortreffliche Heilberichte, aber man hat auch sehr unangenehme Nebenwirkungen derselben beobachtet, weil bei der früheren ungenauen Art der innerlichen Verabreichung Magen und Darm sie nicht vertragen konnten. Um sie für den menschlichen Organismus nun doch erträglich zu machen, versuchte Liebreich hier eine neue Art der Anwendung in Form von subkutanen Injektionen (Einspritzungen unter die Haut). Um dies zu ermöglichen, mußte vorerst eine geeignete Lzfung des Kantharidin hergestellt werden, und dazu wurde die geringste Menge von Kali resp. Natron benutzt, welche für eine geeignete Arzneilösung nöthig ist. Hiermit wurden zunächst im Pharmakologischen Institut Thierversuche angestellt und, nach⸗ dem damit die Ungefährlichkeit der Lösung festgestellt war, zu Versuchen an Menschen übergegangen. Der erste Versuch wurde an einem fünfzigjährigen Manne unternommen, der an einer Geschwulst der Speiseröhre litt und zwar wurde ihm der fünfzigsten Theil eines Milligramms eingespitzt, worauf er sogleich eine Erleichterung seines Leidens verspürte. Dann wurden die Versuche im Augusta⸗Hospital auf der Abtheilung des Professors Ewald, im Friedrichshain⸗Krankenhause auf der Abtheilung des Professors Hahn und ans Privatpatienten des Dr. Landgraf fort⸗ gesetzt. Die Injektionen waren schmerzlos, es zeigte sich keine störende Nebenwirkung und, die Leidenden besserten sich auf⸗ fallend schnell. Allerdings wurde mit minimalen Dosen von einem Zehntel Milligramm begonnen und nur allmählich bis auf sechs Zehntel gesteigert. Bei größeren Dosen kann zuweilen Nierenreizung eintreten, doch ist ein solcher Zustand nicht besonders zu fürchten, weil derselbe durch geeignete Behandlung bald rückgängig gemacht werden kann, sodaß der Körper keinen dauernden Nachtheil erleidet. Die überraschende Heilwirkung des Mittels erklärt sich der Vortragende so, daß dasselbe, in minimalen Dosen gegeben, den gesunden Körper nicht beeinflußt; sobald aber an einer Stelle eine Blutgefäßwand sich nicht in normalem Zustande, in Entzündung oder Eiterung befindet, dann wirkt es reizend auf dieselbe ein; es erfolgt dort ein Ausguß, eine Transsudation von Blutserum, durch welche die Bakterien ver⸗ nichtet oder das kranke Gewebe in einen besseren Ernährungs⸗ zustand versetzt wird, vermöge dessen die Bakterien nicht weiter gedeihen können. Bisher ist das Mittel nur noch bei
Kehlkopfpatienten des Prof. B. Fränkel und des Dr. Paul Heymann mit bestem Erfolge versucht worden. Ob es auch bei der Tuber⸗ kulose anderer Organr wirksam ist, müssen weitere Beobachtungen zeigen. Das Mittel wirkt aber nicht allein bei Tuberkulose des Kehlkopfes, sondern auch bei chronischen Katarrhen, An⸗ schwellungen der Stimmbänder ꝛc. Prof. Liebreich verwahrte sich dagegen, daß sein Mittel ein Spezifikum sei, sondern betonte nur dessen Heilwirkung bei Kehlkopfleiden, soweit die bisherigen Versuche es ergeben haben.
Das Rezept, nach welchem das Mittel bereitet wird, lautet: „0,2 g Kantharidin und 0,4 g Kalibpdrat (resp. dafür 0,3 g Natron⸗ hvdrat) werden auf das Genaueste abgewogen und in einem 1000 ccm Maßkolben mit etwa 20 ccm Wasser im Wasserbade erwärmt, bis klare Lösung erfolgt. Dann wird ganz abmählich unter fort⸗ dauerndem Erwärmen bis ungefähr zur Marke Wasser zugesetzt und scelh nach dem Erkalten genau bis zu einem Liter Wasser auf⸗ gefüllt.“
Dr. Paul Heymann, welcher seit dem 30. Januar das Lieb⸗ reich'sche Mittel an 28 ambulanten Patienten angewendet hat, be⸗ richtete sodann eingehend über seine rfahrungen, unter Vorstellung der betreffenden Kranken. Von den 28 Patienten scheiden vorläufig 11 wegen zu kurzer Behandlungsdauer aus; von den übrigen 17 litten 11 an Tuberkulose des Kehlkopfes und der Lungen, 6 an schweren Kehlkopf⸗ Katarrhen. Kranke, welche zu Beginn der Behandlung vollständig stimmlos waren, konnten nach wenigen Einspritzungen wieder sprechen, ihr Leiden besserte sich in überraschend schneller Zeit, auch das Allgemeinbefinden hob sich, und selbst das Lungenleiden schien in einzelnen Fällen nachzulassen. Ein Fall ist geheilt, von den anderen kann bei der Kürze der Behandlung nur von einer deutlichen Besserung gesprochen werden. Als Vorzug des Liebreich'schen Mittels konstatirte Dr. Heymann, daß es durchaus ungefährlich ist, sehr gut vertragen wird und daß die Kranken während der Behandlung ihrer gewöhnlichen Beschäftigung nachgehen können. — Professor B. Fränkel stellte etwa ein halbes Dutzend Patienten vor und berichtete über gleich er⸗ freuliche Erfolge. Berselbe hat sein besonderes Augenmerk auf die Untersuchung der Bacillen gerichtet und gefunden, daß sie unter der Einwirkung des Mittels spärlicher, magerer und dünner werden. Zum Schluß berichtete Dr. Guttmann über einen Fall von tuber⸗ kulöser Augenerkrankung, der durch das Liebreich'sche Mittel bedeutend gebessert worden ist.“
Das Wolff'sche Telegraphenbureau verbreitet ferner fol⸗ gende Mittheilung über das Liebreichsche Mittel; Es scheint, daß nicht nur bei der Tuberkulose, sondern auch bei anderen Infektionen das Mittel, in richtiger Weise benutzt, einen heilenden Einfluß ausübt. Eine große Reihe sorgfältiger Beobachtungen wird erforderlich sein, um dem Mittel, dessen Wirksamkeit außer Zweifel steht, die richtige Stellung im Arzneischatz anzuweisen. Nach Liebreich's Erklärung ist er vor Schluß seiner Untersuchungen gezwungen worden, Alles mitzutheilen; er hofft, daß bei gemeinsamer Arbeit aller Aerzte dem Mittel bald die richtige Stellung gegeben wird. — Die Versuche mit dem Mittel werden bei Hautkrankheiten und Tuberkulose sofort in Angriff genommen werden. — Von
deckung volle Aufmerksamkeit und Stütze zu Theil geworden.
— Der Uebersetzer der sämmtlichen Werke des portugiesischen Dichters Luis de Camoens und dessen Lebensbeschreiber Herr Geheimer Regierungs⸗Rath Dr. Wilhelm Storck, Professor an der König⸗ lichen Akademie zu Münster ist nach dem „Westf. Volksbl.“ Anfangs dieses Monats von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Lissabon einstimmig zum korrespondirenden Mitgliede ernannt worden.
— In der Sitzung der französischen Akademie der Wissenschaften vom 16. Februar theilte Hr. Milne⸗Edwards einen Bericht des Hrn. Colin über die Einwirkung außer⸗ ordentlicher Kältegrade auf die Hausthiere mit. Nach demselben hat das Kaninchen, dessen geringe Körpermasse an⸗ scheinend am Schnellsten von der Kälte durchdrungen werden müßte, die größte Widerstandsfähigkeit dagegen. Ausgewachsene Kaninchen, welche in eisernen Käfigen, an Bäumen oder auf Schneehaufen 5 oder 6 Tage lang einer Kälte von 10 9° bis 150 C. ausgesetzt wurden, ver⸗ loren nicht mehr als ein und einige Zehntel Grad von ihrer inneren Wärme, andere, welche von Ende November bis Ende Januar in auf der einen Seite vollständig offenen Hütten einer Kälte von 100 bis zu 200 und selbst 25° ausgesetzt waren, blieben voll⸗ ständig gesund. Solche, welche einen Tag und eine Nacht in Eis⸗ blöcke eingepackt wurden, die den Körper von allen Seiten be⸗ rührten, behielten eine gleiche innere Temperatur, wie die in Käfigen der Kälte ausgesetzten, obschon die Temperatur der Ohren und Füße um 12⁰, 150 und sogar 200 sank. Rach dem Kaninchen zeigen Schafe die größte Widerstandskraft, vorausgesetzt, daß die Wolle vor Nässe geschützt worden war. Nach den kältesten Nächten zeigte die innere Wärme nahezu eine normale Höhe, und unmittelbar unter der mit Wolle be⸗ deckten Haut ergaben sich 365 bis 370. Schweine zeigten fast die gleiche Widerstandsfähigkeit. Ihre Hauttemperatur erhielt sich in der Mehr⸗ zahl der Fälle auf 34° bis 35 0. Ihnen folgen die Hunde, welche nach einer im Freien auf gefrorenem Boden verbrachten Nacht, un⸗ geachtet starken Zitterns, nur eine Abnahme der inneren Temperatur um 10 oder 2° aufwiesen. Bei den Einhufern zeigte sich die größte Empfindlichkeit. Bei den obeg erwähnten Kältegraden sank die Temperatur der Haut bei langbehaarten Thieren um 6 °, 8 ° und 10 °, bei denen mit kurzen Haaren um 100° bis 12 0. Hühner und Truthühner zeigten sich fast ganz unempfindlich gegen die Kälte, wenn das Gefieder trocken war; nur wurde das Eierlegen um eine oder zwei Wochen verzögert.
— Aus Cannes meldet „W. T. B“: Die Aerzte Dr. Bertin, Pick und Roustan nahmen gestern Versuche mit Transfusion von Ziegenblut vor und erzielten damit sehr günstige Resultate.
— Das Comité für die Errichtung eines Denkmals für Meissonier hat nach einer Meldung des „W. T. B.“ den Herzog von Aumale zum Ehren⸗Präsidenten und Jules Simon zum Präsi⸗ denten gewählt. 8
Gesundheitswesen, Thierkrankheiten und Absperrungs⸗ Maßregeln.
.Februar. (W. T. B.) ur
iets telegraphirt, im Senegalgebiet sei
ieber vorgekommen.
Der Gouverneur des kein Fall
Handel und Gewerbe.
Die Zulassung des Auslands zu der in Nr. 39 des „Reichs⸗Anzeigers“ vom 13. d. M. erwähnten Thon⸗ und Asphalt⸗Stein⸗ und Cement⸗Ausstellung in Brhares ist nachträglich auf folgende Gruppen ausgedehnt worden: 8
A. Zu
Thonindustrie. Zwecken derselben dienende
materialien: 1) Thon (plastische Substanzen).
“
Seiten des Kultus⸗Ministers von Goßler ist auch dieser Ent⸗