1891 / 104 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 04 May 1891 18:00:01 GMT) scan diff

Abg. Dr. Barth: Gerade wie bisher bei der Zuckersteuer beständen auch bei der Branntweinsteuer verschiedene Besteuerungs⸗ arten: eine Verbrauchsabgabe und eine Maischbottich⸗ und Ma⸗ terialstener. Die Beseitigung dieser letzteren Steuerarten würde dem analogen Beschluß in Bezug auf die Zuckersteuer entsprechen. Diese verschiedenartigen Steuermethoden erforderten verschiedenartige Kontrolen, und diese sesen mit allerlei Schwierigkeiten und Kosten für die Industriellen verknüpft. Eine einheitliche Steuer in Form der Verdrauchsabgabe würde deshalb sehr vortheilhaft sein Daß die Interessenten an der Maischbottichsteuer festhielten, sei begreiflich. Ueberall, wo Branntwein zur Ausfuhr gebracht werde, oder für ge⸗ werbliche und andere Zwecke nicht in den eigentlichen Konsum gelange, komme für Diejenigen, welche die betreffenden Quantitäten zur Abfertigung stellten, eine Vergütung des Rohmaterials, das sie veraus⸗ lagt bätten, in Frage. Es sei bekannt, daß für die 16 gezaolte Bonifikation in Wirklichkeit vorher an Steuer für Roh⸗ material 14,13 und bei den besteingerichteten Fabriken. noch weniger gezahlt werde. In der Differenz liege eine Prämie, die bei der Ausfuhr als Exportprämie in die Erscheinung trete. Diese Branntweinprämie habe eine täuschende Aehnlichkeit mit der Zucker⸗ prämie, und die paar Millionen, die in dieser Differenz lägen, würden ja allerdings den Branntweinbrennern entgehen. Das dürfe den Reichstag aber nicht bestimmen, die Materialsteuer aufrecht zu er⸗ halten. Eine gewisse differentielle Behandlung in den Steuersätzen lasse sich auch im Rahmen der Gebrauchsabgabe erzielen. Die von ihm vorgeschlagene Resolution binde Niemand, sie weise die Re⸗ gierungen nur hin auf den Weg, den sie zweckmäßiger Weise be⸗ schreiten sollten, wenn sie an die prinzipielle Reform dieser Brannt⸗

ei eranträten. 8 8 81

882 Buhl: Wenn die Resolution die Abschaffung der Materialsteuer unter der Voraussetzung verlangte, daß als Ersatz für die Materialsteuer den kleineren Brennereien in anderer Weise die in der Materialsteuer liegende Begünstigung zugewiesen werden sollte, so ließe sich über die Resolution reden. Der Antrag sei aber nicht so harmlos, wie der Antragsteller ihn hinstelle. Bei der verschiedenartigen Bedeutung der Brennereien in den verschiedenen Theilen von Deutschland dürfe man die Neuregulirung der Steuer nicht so treffen, daß sie die gegenwärtigen Verhältnisse verschiebe. Der Satz, daß nicht durch eine Staatssubvention die freie Konkurrenz in irgend welchem Gewerbe gehindert werden dürfe, sei in Bezug auf das Branntweinsteuergesetz mit Vorsicht aufzunehmen. Außerdem habe der Antragsteller nicht gesagt, auf welche Weise im Falle der Beseitigung der Materialsteuer finanziell Ersatz geschaffen werden solle. Es liege keine Veranlassung vor, die Einnahmen aus der Branntweinsteuer zu verringern. Gerade die politischen Partei⸗ freunde des Abg. Dr. Barth hätten 1887 in der baverischen Kammer für die Materialsteuer gestimmt. Er könne deshalb den radikalen Schritt des Abg. Dr. Barth nicht mitmachen. 1

Abg. Dr. Barth: Es handele sich hier darum, das Prinzip aus⸗ zusprechen, nach dem in Zukunft die Reform der Branntwein⸗ steuer erfolgen solle. Die Frage, welche der Vorredner angeregt habe, beantworte sich dann ganz von selbst. Er denke sich die Reform in der Weise, daß an Stelle der Maischraum⸗ und Materialsteuer eine entsprechende Erhöhung der Verbrauchsabgabe trete. Weshalb aber die durchaus der Zukunft vorbehaltenen sonstigen Modalitäten in diese Resolution aufgenommen werden sollten, sei ihm unver⸗ ständlich. In der Hauptsache handele es sich um die Beseitigung der großen Schwierigkeiten, welche sich aus dem zweifachen Steuersystem für den Branntwein ergäben.

Abg. Dr. Buhl bleibt bei seinen Bedenken gegen die vor⸗ geschlagene Form der Resolution stehen, während der Abg. Dr. Barth ausführt, daß dem von dem Abg. Dr Buhl gehegten Wunsche durch die Fassung der Resolution in keiner Weise präjudizirt werde.

Die Resolution wird abgelehnt. 88

Die zu dem Gesetzentwurf eingegangenen Petitionen sollen durch die gefaßten Beschlüsse für erledigt erklärt werden.

Es folgt die dritte Berathung der zwischen dem Reich und Marokko am 1. Juni vorigen Jahres zu Fez ab⸗ geschlossenen Handelskonvention. 8

Abg. Richter: Er wolle die Gelegenheit nicht vsrübergehen lassen, ohne dem Sultan von Fez und Marokko seine Anerkennung auszusprechen für die verständigen zollpolitischen Ansichten, welche er in diesem Vertrag bekundet habe. Der Sultan habe sich verpflichtet, von allen in sein Sultanat eingehenden Waaren nicht mehr als 10 % vom Werth an Zoll zu erheben. Er könne nur bedauern, daß diese Stipulation nicht auf Gegenseitigkeit beruhe, und daß sich die deutsche Regierung nicht auch dem Sultan gegenüber verpflichtet habe, die Eingangszölle derart zu ermäßigen, daß sie 10 % vom Werth nicht überstiegen. Wenn eine solche Bestimmung im Vertrage vorhanden wäre, so würde z. B. von Getreide gegen⸗ wärtig 20 Zoll statt 50 erhohen werden. Er habe mit Genugthuung aus den Zeitungen entnommen, daß die Regierung sich besonders lebhaft und mit Erfolg verwandt habe, um die Ausfuhr von Getreide aus Marokko nach Deutschland zu erleichtern. Der Sultan habe sich verpflichtet, die Ausfuhrzölle entweder aufzuheben oder auf einen sehr mäßigen Ertrag herabzusetzen. Um so bedauerlicher sei es, daß man in anderer Beziehung die Uebergangszölle in der gegen⸗ wärtigen Situation aufrecht erhalte und damit die Barrikaden bestehen lasse, die die Ausfuhrerleichterung von Getreide von anderen Staaten in ihrer Wirkung mehr als neutralisirten. Auch die Verhandlungen mit Oesterreich versprächen ja höchstens vom nächstkommenden Jahre ab eine Ermäßigung der Getreidezölle. Inzwischen stiegen die Getreidepreise fortgesetzt, und auch wenn Marokko die Erwartungen noch so vollständig erfülle, die in Bezug auf diesen Vertrag gehegt würden, so werde dies wenig verschlagen gegenüber dem Mangel an Lebensmitteln, der in Deutschland auszubrechen drohe, seitdem die Witterung so ungünstig in den letzten Monaten gewesen sei. Die Roggenpreise seien in Berlin während des ganzen April über 180 gewesen. Als im Jahre 1887 der Zoll auf den gegenwärtigen Betrag erhöht worden sei, habe bekanntlich ein freikonservativer Abgeordneter den Antrag gestellt, daß in dem Fall, wenn 60 Tage der Roggenpreis eine solche Höhe erreicht habe, eine Zollermäßigung einzutreten habe. Es sei darauf erwidert worden, daß, wenn der Fall einträte .....

Vize⸗Präsident Graf von Ballestrem: Er möchte den Redner doch bitten, sich von dem Gegenstande der Tagesordnung nicht zu weit zu entfernen.

Abg. Richter (fortfahrend): Er sollte meinen, daß, nachdem das Haus drei Stunden eine Anzahl von Reden, denen man einen gewissen nationalen Schwung nicht aberkennen könne, angehört habe, welche den Zweck gehabt, die Wichtigkeit des steuerfreien Haustrunks nach⸗ zuweisen, man die erste Veranlassung ergreifen sollte, darauf hin⸗ zuweisen, daß das zollfreie Brot für Millionen viel wichtiger sei, als der steuerfreie Trunk für die Brenner. Er habe nicht die Absicht, auf diese Zustände hier näher einzugehen, es würde ja angezeigt sein, An⸗ gesichts der augenblickichen Lage der Getreidepreise eine Interpellation darüber einzubringen, er halte das aber nicht für erforderlich, da man in den nächsten Tagen einen Nachtrags⸗Etat zu berathen haben werde; er

eschränke sich daher auf die Ankündigung, daß er bei diesem Nach⸗ rags Etat an die Regierung die Anfrage stellen werde, welche ollpolitischen Maßnahmen sie beabsichtige eintreten zu lassen, Zum der in beunruhigender Weise zunehmenden Vertheuerung des Getreides und des Brotes entgegenzutreten. . Der Vertrag wird darauf ohne weitere Debatte endgültig genehmigt. 8 Es folgt die dritte Berathung über das internationale Uebeinkommen, betreffend den Eisenbahnfrachtverkehr.

In der Spezialdiskussion über Artikel 10, welcher von der Zollabfertigung handelt, wiederholt der Abg. Dr. Hammacher an die verbündeten Regierungen die Bitte, daß sie zur Berubigung weitester Geschäftskreise eine Erklärung dahin abgeben möchten, daß der Versender in Deutschland auch nach dem Inkrafttreten des internationalen Frachtvertrags das Recht habe, für die Zollabferti⸗

gung auf der Grenzstation eine Mittelsperson vorzuschlagen.

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ordinarium des Justiz⸗Etats.

1

Präsident des Reichs⸗Eisenbahnamts Dr. Schulz: Er sei ja nicht in der Lage, Namens der verbündeten Regierungen in dem gewünschten Sinne eine Erklärung abgeben zu können, aber er glaube, wie es in der Kommission wiederholt erklärt worden sei, auch an das Haus die Bitte richten zu dürfen, zu vertrauen, daß die verbündeten Regierungen wie bei den Verhandlungen des inter⸗ nationalen Vertrages auch später die Interessen von Handel und Ge⸗ werbe aufs Beste wahrnehmen würden. 1

Der Vertrag wird hierauf unverändert genehmigt.

Der Gesetzentwurf, betreffend das Reichs⸗Schuldbuch, wird in erster Lesung ohne Debatte erledigt und in zweiter Lesung im Einzelnen unverändert angenommen. b

Als nächster Gegenstand steht auf der Tagesordnung die erste Berathung des am 14. Mai 1890 von den Abgg. Dr. Hirsch, Eberty, Dr. Hänel, Schneider und Schrader eingebrachten Gesetzentwurfs, betreffend die eingetragenen Berufsvereine. W“ 1

Vor dem Eintritt in die erste Lesung wird jedoch die Vertagung beantragt und vom Hause beschlossen. Schluß 3 ½ Uhr.

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Haus der Abgeordneten. 80. Sitzung vom Sonnabend, 2. Mai.

Der Sitzung wohnen der Präsident des Staats⸗ Ministeriums, Reichskanzler von Caprivi, der E Dr. von Schelling, der Finanz⸗Minister Dr. Miquel und der Minister für Landwirthschaft ꝛc. von Heyden bei.

Die Etatsberathung wird fortgesetzt bei dem Extra⸗

Bei der Position: Neubau eines Dienstgebäudes für das Ober⸗Landesgericht Kiel bittet

Abg. Hollesem dringend um einen Neubau des Amtsgerichts in Rendsburg mit einem gegenüberliegenden Gefängniß. Das jetzige Gebäude entspreche in keiner Weise den bau⸗ und feuerpolizeilichen Vorschriften.

Der Titel wird genehmigt.

Beim Titel: Neubau eines amtsgerichtlichen Geschäfts⸗ gebäudes in Braunfels beklagt b

Abg. Wißmann, daß noch immer nicht mit dem Bau eines Amtsgerichtsgebäudes in Wiesbaden begonnen worden sei, obwohl die Baustelle bereits seit längerer Zeit vorhanden sei.

Der Titel wird genehmigt, ebenso der Rest des Etats. 8

Die Etats des Herrenhauses und des Abgeordneten⸗ hauses werden ohne Debatte erledigt.

Es folgt der Etat der Ansiedelungskommission für Westpreußen und Posen. In Verbindung mit dem Etat wird die Denkschrift über die Ausführung des Ansiede⸗ lungsgesetzes für das Jahr 1890 berathen.

Berichterstatter Conrad (Flatow) berichtet über die Denk⸗ schrift und befürwortet den Antrag der Budgetkommission, die Denk⸗

schrift durch Kenntnißnahme für erledigt zu erklären. Zum Schluß spricht der Berichterstatter dem bisherigen Präsidenten der An⸗ siedelungskommission seinen Dank für die Förderung der Arbeiten der Kommission aus, woran er die Hoffnung schließt, daß die Arbeit auch unter dem neuen Präsidenten rege Fortschritte machen möge.

Abg. Dr. von Jazdzewski erklärt, daß der Referent von der Kommission nicht beauftragt sei, ein Loblied auf die Kommission zu singen; er habe dagegen in der Budgetkommission schon Protest er⸗ hoben. Nur die geringe Zahl der polnischen Stimmen habe seine Freunde abgehalten, den Antrag wegen Aufhebung, dieses den Staat und die Provinz schädigenden Gesetzes einzubringen. Seine Freunde seien nicht der Ansicht, daß gute Früchte erzielt worden seien. Das Gesetz habe politisch und wirthschaft⸗ lich Fiasko gemacht. Die Regierung habe 30 Millionen „Mark für Erwerbungen ausgegeben; sie habe mehrfach bei Subhastakionen gekauft. Das sei eine Einmischung in Privatverhältnisse, eine Be⸗ einflussung der Kauflust Privater, die nicht berechtigt sei. (Zuruf: Die Polen haben ein schönes Stück Geld bekommen!) Allerdings, Geld habe der Staat bezahlt, aber den Verkäufern sei das Geld nicht immer voll zu Gute gekommen. Die Regierung verdecke ihren Zweck; es werde nicht blos eine Germanisirung der Provinz beab⸗ sichtigt, sondern auch eine Evangelisirung. (Widerspruch.) Das bewiesen die Zahlen, denn unter circa 600 Ansiedlern seien nur 59 Katholiken. Den Ansiedlern komme man sehr entgegen, das koste aber sehr viel Geld, und das Ergebniß sei deshalb nicht sehr bedeutend. Politisch habe das Gesetz garnicht gewirkt; der Gegensatz zwischen Polen und Deutschen sei nicht beseitigt oder abgeschwächt worden. Das müßten die Herren aus Westpreußen und auch die Staatsregierung bestätigen. Die Gegenfätze seien innerlich sehr viel stärker geworden. Die Polen, welche an die Ansiedelungskommission verkauft hätten, litten an einem moralischen Defekt, und der Vorwurf könne der Regierung nicht erspart werden, daß sie die Nothlage der einzelnen polnischen Landwirthe ausgenutzt habe, um einen Druck auf sie auszuüben, ihr alt ererbtes Besitzthum aufzugeben. Er möchte an die Staats⸗ regierung eine Mahnung und eine Bitte richten. Jedes Gesetz solle ein Ausdruck des Rechts sein; dieses Gesetz sei der Ausdruck des Unrechts, denn ein Theil der preußischen Bepölkerung, von welchem verlangt werde, daß er zu diesen Millionen beitrage, der aber von den Wohlthaten ausgeschlossen sei, werde degradirt; das errege Mißgunst und Haß. Nachdem aus dem Staats⸗Ministerium die Männer gewichen seien, welche die Förderer dieses Unternehmens gewesen seien, sei die Zeit gekommen, wo die Staatsregierung untersuchen sollte, ob das Gesetz nicht aufgehoben werden solle. Wenn die Staats⸗ regierung das Gesetz beseitigen wolle, dann würden es die Parteien auch wollen (Widerspruch rechts), wie das Gesetz der Regierung auf höhere Anregung angetragen worden sei. Er richte an den Minister⸗ Präsidenten die Frage, ob die Regierung noch auf demselben Stand⸗ punkte stehe, wie Fürst Bismarck bei Erlaß des Gesetzes. Er würde der Erwägung der Staatsregierung anheimgeben, ob es nicht thun⸗ lich sei, dem Gesetze eine andere Grundlage zu geben, nämlich das⸗ selbe auf den ganzen Staat Preußen auszudehnen; dadurch werde die politische Spitze genommen werden, welche immer ein Dorn im Fleische der Betheiligten sei.

Präsident des Staats⸗Ministeriums, Reichskanzler von Caprivi:

Der Herr Abgeordnete hat vorhergesehen und wiederholt geäußert, daß ein Theil seiner Behauptungen bestritten werden würde. Ich bin im Namen der Staatsregierung in der Lage, hiervon Gebrauch zu machen und zunächst zu widerstreiten der Behauptung, daß die Staats⸗ regierung gewillt sei, durch die Benutzung des Ansiedlungsgesetzes die Provinz Posen zu evangelisiren. (Sehr richtig!) Der Herr Abgeordnete ist den Beweis dafür schuldig geblieben. Seine Behauptungen ent⸗ behren nach Ansicht der Staatsregierung der thatsächlichen Begründung.

Er hat dann weiter an die Regierung die Frage gerichtet, ob sie gewillt sei, das jetzige Gesetz zu verändern. Ich muß diese Frage verneinen. Die Staatsregierung ist nicht gewillt, das jetzige Gesetz zu verändern. (Bravo!)

Der Abgeordnete motivirt seinen Wunsch damit zunächst, daß das Gesetz nicht gewirkt habe, weder wirthschaftlich noch politisch. Die Staatsregierung kann diese seine Ansicht nicht theilen, aber selbst wenn sie sie theilte, würde sie nicht geneigt sein, zur Auf⸗

hebung des Gesetzes Schritte zu thun. Denn daß ein Gesetz der

Art in fünf Jahren keine Erfolge haben kann, die offen zu Tage liegen, die sich Jedermann fühlbar machen, das ist an sich nichts Ueberraschendes. Die Staatsregierung hat die Folgen dieses Gesetzes wahrgenommen und erwartet, daß, wenn das Gesetz länger in Gültig⸗ keit bleibt, diese Folgen sichtbarer werden werden.

Der Herr Abgeordnete sagt dann weiter: „Die Staatsregierung will die Polen los werden.“ Auch diese seine Behauptung muß ich bestreiten. Wir wollen die Polen nicht los werden, wir wollen mit ihnen gemeinsam leben; aber wir wollen unter denjenigen Bedingungen mit ihnen gemeinsam leben, die das Wohl und die Erhaltung des preußischen Staates fordert. (Sehr richtig!) Die Verhältnisse in der Provinz Posen haben sich im Laufe der fünf Jahre nicht so ge⸗ ändert, daß die Regierung diejenigen Mittel, die sie damals für nöthig gehalten hat, um die Zugehörigkeit der Provinz Posen zum preußischen Staate zum vollen Ausdruck zu bringen, aus der Hand geben könnte. Ich glaube nicht, daß in den letzten Jahren das germanische Element gegen das polnische in der Provinz Posen vorgeschritten ist. Im Allgemeinen ist in den Jahren von 1867 bis 1886 eine Zunahme der Polen zu konstatiren gewesen; während im Jahre 1867 der Prozentsatz der Gesammtbevölkerung, der rein polnische Familiensprache hatte, sich auf 54,86 % bezifferte, waren es 1886 57,69 % geworden. (Hört, hört!) Ich bin nicht in der Lage, für das laufende Jahr eine Zahl anzuführen wir sind noch nicht in deren Besitz aber ich halte es für wahrscheinlich, daß ein Rück⸗ gang des polnischen Elements nicht stattgefunden hat, und zwar aus verschiedenen Gründen. Einmal befinden wir uns in einer Bewegung, die eine gewisse Aehnlichkeit mit der Völkerwanderung hat. Sie vollzieht sich mit modernen Mitteln; es ist aber eine Be⸗ wegung vom Osten nach dem Westen da. Diese Bewegung hält nicht still an unseren östlichen Grenzen, sondern sie setzt sich von da aus weiter fort. Ich halte es für wahrscheinlich, daß, wie es in anderen Grenzprovinzen ist, so auch in der Provinz Posen im letzten Jahre ein erhöhter Zuzug nichtdeutscher Elemente, trotz des Ansiedelungs⸗ gesetzes, stattgefunden haben wird. Ich halte weiter für wahrschein⸗ lich, daß das polnische Element an Zahl zugenommen hat, weil es bis dahin ein statistisch festgesetzter Erfahrungssatz gewesen ist, daß die polnischen Ehen im Durchschnitt um ein Kind reicher sind, wie die germanischen Ehen. (Heiterkeit.) Also auch dieses Naturgesetz wirkt dahin, das polnische Element nicht zu schwächen.

Wenn dies eine Betrachtung ist, die die numerischen Verhältnisse betrifft, so glaube ich, daß auch dem inneren Werthe nach das polnische Element nicht zurückgegangen ist. Unter der preußischen Regierung und mit der Beihülfe der preußischen Regierung, nicht zum Wenigsten durch die Säkularisation der polnischen Klöster, aus denen die Mittel zur Dotirung polnischer Schulen und Gymnasien hergenommen wurden, ist ein Mittelstand in der Provinz Posen ent⸗ standen, der eine kräftige Stütze des polnischen Elements bildet, so⸗ daß ich der Meinung bin: nicht nur numerisch, sondern auch innerlich hat das polnische Element zugenommen.

Nun sind, seit die jetzige Regierung diese Plätze einnimmt, von Seiten polnischer Abgeordneten hier und da Aeußerungen laut ge⸗ worden, die darauf schließen lassen, daß man polnischerseits gewillt sei, eine veränderte Stellung der preußischen Regierung und dem preußischen Staat gegenüber einzunehmen.

Der Herr Abgeordnete hat die Frage an mich gerichtet, ob die jetzige Regierung den Standpunkt des Fürsten Bismarck einnimmt, und hat diesen Standpunkt nachher dahin präzisirt, daß er ein haßerfüllter gegen die Polen gewesen sei. (Sehr richtig! bei den Polen.) Ich muß dem Herrn Abgeordneten überlassen, mit seinem Gewissen sich darüber einig zu werden, ob dieser Ausspruch auf den Fürsten Bismarck zutrifft. (Unruhe bei den Polen.)

Auf die gegenwärtige Regierung trifft er nicht zu. Wir hassen die Polen nicht. Wir sehen sie als Mitbürger an schwierige Mit⸗ bürger zu Zeiten, zeitweise auch verirrte Mitbürger von unserem

Standpunkt aus, aber immer unsere Mitbürger, mit denen

sammen wirken zu können zum Besten des Staats uns zu allen Zeiten eine Freude sein wird. (Bravo!) 8

Wir stehen in Bezug auf das Ansiedlungsgesetz und in Bezug auf das ganze politische Leben auf dem Standpunkt des Gesetzes und sind gewillt, die bestehenden Gesetze gegen Polen und gegen Deutsche, für Polen und für Deutsche gleichmäßig zur Anwendung zu bringen.

Wenn nun polnischerseits der Wunsch laut geworden ist, sich der Regierung mehr zu rer. so kann uns das ja nur recht sein. Aber es ist doch natürlich, darb „zefr, als dieser überraschende Wunsch zuerst bei einer Reichstagsdebatte im vorigen Jahre auch zum prakti⸗ schen Ausdruck dadurch kam, daß die polnische Fraktion, die sich sonst der Vermehrung deutscher Wehrkraft widersetzt hatte, für diese Ver⸗ mehrung eintrat, daß wir uns da die Frage vorlegten: Was mag denn der Grund zu dieser veränderten Stellung sein? Wenn über hundert Jahre Deutsche und Polen gemeinsam in nichtfreundschaft⸗ lichen Verhältnissen gelebt haben, so war es vom deutschen Standpunkt erklärlich, daß man diesen Umschwung, wenn auch erfreulich, so doch überraschend fand. Man konnte glauben: Haben die Gesetze, über die die Polen so viel geklagt haben, Sprachg setz, Gerichtsgesetz, Schulgesetz, haben die doch am Ende so stark gewirkt, daß polnischerseits eine Nach⸗ giebigkeit als Folge dieser Wirkung auftritt oder halten die Polen

die jetzige Regierung für so schwach, daß sie glauben, ihr etwas

bieten zu können, was sie der vorigen Regierung nicht geboten haben 2 (Zurufe rechts.) Die Staatsregierung hat keine dieser Auslegungen acceptirt. Sie hat sich an die Thatsache gehalten, daß ein freund⸗ licherer Ton von Seiten der Polen angeschlagen wurde. Sie hat aber doch nicht vergessen können, daß in der Epoche, die die Provinz Posen mit dem preußischen Staat verbindet, Zeiten dagewesen sind, in denen wir schon ähnliche Klänge gehört haben. (Sehr richtig! rechts.) Ich darf erinnern an die ersten Zeiten der Re⸗ gierung Friedrich Wilhelm's IV. und ich will nicht erinnern an das, was darauf folgte, um nicht Wunden wieder aufzureißen, von denen wir ja auch hoffen: sie vernarben, um nicht einen scharfen Ton in die Debatte zu bringen, denn ich habe heute zum ersten Male das Vergnügen gehabt, den Herrn Vorredner sprechen zu hören; ich habe aber in den stenographischen Berichten über seine sonstigen Reden mich zu orientiren gesucht und kann mit Freude heute feststellen, daß sein Ton ein gemäßigterer war als früher. Ich möchte nicht dazu beitragen, daß der frühere Ton wieder angeschlagen würde. Die Botschaft dieses sanfteren Tons haben wir gehört, der volle Glaube hat uns aber hier und da noch gefehlt; aber (Abg. Dr. von Jazdzewski: Kommt nach!) gehen Sie voraus; das ziehen wir vor! (Heiterkeit) Dann kommen wir mit Ihnen. Wir stehen ich

wiederhole es auf dem Boden. des Gesetzes und glauben da

einen sicheren Boden unter uns zu haben. Jetzt kommen polnische Mitbürger, die so lange gegrollt haben, und winken uns: kommt her. Wir sind vorsichtig, unsern sichern Boden zu verlassen und uns auf ein unbekanntes Terrain an der Hand unserer neuen Freunde zu begeben. Aber wir wollen das nicht abweisen; im Gegentheil, wir sind Ihnen in einzelnen kleinen Dingen nachgekommen. Gehen Sie weiter auf dem Wege der Versöhnung, so werden Sie es der Regierung und den Deutschen in der Provinz Posen möglich machen, Ihnen auch weiter zu folgen. Ich habe mich gegenüber einem der Herren, die mit mir darüber sprachen, des Gleichnisses bedient: Sie machen uns ein freundliches Gesicht; das freut uns, aber Sie können nicht verlangen, daß wir Ihnen nun um den Hals fallen. (Heiterkeit.) Wir wollen wieder freundlich sein, aber wir wollen abwarten, wie diese der preußischen Regierung wohl⸗ wollende Entwickelung sich weiter gestaltet, und werden in dem Maße Ihnen folgen, als Sie uns vorangehen. (Sehr richtig!) Das Ansiedlungsgesetz, welches wir für eins der wichtigsten halten, jetzt aufzugeben, dazu sind die Motive des Wohlwollens, das uns von der anderen Seite entgegengebracht worden ist, noch nicht gewichtig genug. (Bravo!)

Abs. Seer: In der kurzen Zeit habe allerdings noch nicht viel geleistet werden können. Wenn der Vorredner dagegen sei, daß bei Subhastationen angekauft werden solle, so sei das nicht zu ver⸗ stehen. Freihändig wollten die Polen nicht verkaufen, wie solle denn die Kommission Güter erwerben? Daß die Evangelischen bevorzugt würden, sei nicht richtig, man hätte vergleichen müssen, wie vitle Katholiken sich gemeldet hätten, und wie viel angesiedelt seien. Wenn sich keine Katholiken meldeten, dann könnten sie nicht angesiedelt werden. Der Abg. von Jazdzewski wolle das Gesetz ausdehnen auf alle Provinzen. Wenn er es für so gut halte, dann müsse er es auch in Posen gelten lassen.

Abg. Rickert: Er bezweifle, daß die vorige oder die jetzige

Regierung die Evangelischen bevorzugt habe oder bevorzugen wolle. Wenn die Polen sich auf den Standpunkt des Ministeriums stellten, so würden sie wohl begreifen, daß die Regierung nicht geneigt sein könne, jetzt nach so kurzer Zeit von dem Gesetze zurückzutreten Jeden⸗ falls sei ein erfreuliches Ergebniß festzustelle: Der Ton sei auf beiden Seiten ein anderer, besserer geworden, man mache sich freundliche Gesichter und darüber könne man sich nur freuen. Daß die bedenklichen Folgen des Ansiedlungsgesetzes auch von Konservativen anerkannt würden, gehe aus verschiedenen Aeußerungen hervor. Der Reichskanzler habe darin Recht: in fünf Jahren könne man von einem solchen Gesetz eine Wirkung noch nicht erwarten. Er sei der Meinung, daß das Gesetz dem Deutschthum nicht geholfen habe. (Sehr wahr! bei den Polen.) Er sei schon erfreut darüber, daß Männer an der Regierung seien, welche an diesem Gesetze kein persönliches Interesse hätten. Er wolle dem Fürsten Bismarck keinen Vorwurf machen; aber der Ton, in welchem er zu den Polen ge⸗ sprochen habe, sei ein ganz anderer gewesen. Er hoffe, daß die freund⸗ lichen Gesichter gegenüber unseren polnischen Brüdern dauern würden, daß heute der Anfang einer Versöhnung sei, welche zum Heile des Vaterlandes diene. (Beifall links, im Centrum und bei den Polen.) Abg. Graf zu Limburg⸗Stirum: Die Konservativen ständen im Wesentlichen noch auf demselben Standpunkte, auf welchem sie beim Erlaß des Gesetzes gestanden hätten. Die Maß⸗ regeln seien nicht aggressiv gegen die Polen, sondern defensiv für das Deutschthum gewesen. Die Polen würden durch die deutschen Gesetze und die deutschen Schulen wirthschaftlich gefördert, sonderten sich aber sozial ab und gingen aggressiv gegen das Deutschthum vor, und es habe im Wesen der Dinge gelegen, daß die polnisch⸗katholischen Geistlichen ihren großen kirchlichen Einfluß benutzten, um nicht allein die Interessen der Kirche, sondern auch die polnischen Interessen zu fördern. Wenn seine Partei dem gegenüber das Deutschthum schütze, so werde man ihr das nicht verdenken können. Ueber das Ansiedelungsgesetz und seine Wirkung könne man sich jetzt noch keine Anschauung bilden, es stehe aber zu hoffen, daß es für die Zukunft wirken werde zur Stärkung des Deutschthums. Die zukünftige Gestaltung werde davon ab⸗ hängen, daß die polnischen Angehörigen sich zeigten als ganze An⸗ gehörige des Deutschen Reichs, daß alle Gedanken auf eine spätere Wiederherstellung des polnischen Reichs verschwänden. (Zuruf: Olle Kamellen!) Die „ollen Kamellen“ seien noch nicht ganz abge⸗ storben. So lange das nicht eingetreten sei, könne seine Partei auf eine vorsichtige Haltung den Polen gegenüber nicht verzichten. Er freue sich über eine Aeußerung des Minister⸗Präsidenten; seine Partei werde vollkommen dem Wege folgen, den der Minister⸗Präsident ihr vorgezeichnet habe. Die Schwankungspolitik, die früher befolgt sei, habe schwere Nachtheile gebracht. (Sehr richtig!) Es werde sich wieder bitter strafen, wenn nicht eine feste Haltung beobachtet werde. (Beifall rechts.)

Abg. von Czarlinski: Wie oft sollten die Polen wieder⸗ holen, daß sie die Verfassung beschworen hätten und halten würden. (Zustimmung links und im Centrum.) Er fordere Beweise für deren Illoyalität, sie seien Angehörige des preußischen Staats, aber sie seien Polen und wollten Polen bleiben, alles Andere seien leere Phrasen. Er stelle mit Genugthuung fest, daß der Reichskanzler in einem anderen Tone gesprochen habe, daß er das Entgegenkommen nicht abweise. Aber wenn der Reichskanzler sage: „Verlangen Sie nicht, daß wir Ihnen um den Hals fallen“, so müsse er (Redner) sagen: „Liebe haben wir nicht geradezu verlangt, sondern nur Gerech⸗ tigkeit“. Von einer Versöhnung der Nationalitäten könne doch keine Rede sein, so lange dieses Gesetz bestehe wenn die Gelder der Polen benutzt würden, um die Polen auszukaufen, wenn die Polen von der Kolonisation ausgeschlossen würden! An den Ein⸗ richtungen des Staats sollten alle seine Unterthanen Theil nehmen. Wie wolle man es rechtfertigen, daß auf diese Weise das Rechtsbewußtsein des Volks vernichtet werde? Es sei schon manches andere Gesetz wieder aufgehoben worden, und nach dem Wiederaufleben dieses Gesetzes werde sich Niemand sehnen. Die Arbeiterbevölkerung von anderen Gegenden werde nicht nach Posen kommen; wenn man die Arbeiter ansässig machen wolle, müsse man polnische Arbeiter ansiedeln. Das Gesetz habe nicht gegen den polnischen Bauernstand gerichtet sein sollen, aber die Thatsachen besagten das Gegentheil. Der starken Vermehrung des polnischen Volksstammes könne man doch nicht entgegentreten, weder mit diesem, noch mit einem anderen Gesetze. 2

Abg. von Tiedemann (Bomst): Wie seine politischen Freunde 1886 mit voller Ueberzeugung für dieses Gesetz eingetreten seien, würden sie sich auch durch nichts bewegen lassen, von demselben ab⸗ zugehen. Daß mit diesem Gesetze das Richtige getroffen sei, beweise der Ton der heutigen Debatte, das Entgegenkommen der Polen. Aber die Vorsicht, von der der Reichskanzler gesprochen, sei nothwendig; bisher habe man nur Worte gehört, möchten die Herren Polen Thaten folgen lassen. (Zuruf der Polen: Was für Thaten?2) Sie möchten mit⸗ arbeiten an dem Wohle des Deutschen Reichs und des deutschen Volks. Er freue sich, daß die Regierung auf dem alten Boden stehen bleiben wolle. Der Zufall, daß ein Sprachenerl zusammengefallen sei mit dem Ministerwechsel, habe zu Beunruy gungen Veranlassung ge⸗ geben; dieser Zufall hätte vermieden werden können, denn es seien dadurch unter den Deutschen allerlei Befürchtungen hervorgerufen worden. Möge die Staatsregierung sich nicht durch das freundliche Gesicht der Polen von ihrem heutigen Standpunkte ableiten lassen; möge sie aus der Geschichte lernen. (Beifall rechts.)

Abg. Dr. von Jazdzewski: Worte des Wohlwollens Seitens der Regierung hätten die Polen mehrfach gehört, von Thaten des Wohl⸗ wollens hätten sie sehr wenig gesehen. Bemerkenswerth sei, daß der neue Sprachenerlaß so viel Befürchtungen hervorgerufen haben solle. Was bringe denn der Erlaß? Es werde der polnischen Be⸗

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völkerung erlaubt, ihre Kinder privatim im Polnischen unter⸗ richten zu lassen. Von den Polen verlange man Thaten, während der Abg von Tiedemann sich schon beunruhigt fühle, wenn ein polnisches Kind privatim im Polnischen unterrichtet werde. Die Polen erfüllten ihre Pflicht vollständig. Sie bezahlten ihre Steuern, ihre Soldaten hätten in den deutschen Kriegen mit⸗ gefochten, was werfe man ihnen dann noch vor? Es sei bedauerlich, daß die Regierung sich von der Unbrauchbarkeit dieser Polen⸗ gesetze noch nicht überzeugt habe, daß sie mit großer Zähigkeit daran festhalte. Was die Wiederaufrichtung eines Polenreichs an⸗ betreffe, so forderten die Herren eine Erklärung, die die polnischen Mitglieder des Hauses gar nicht abgeben könnten. Sie könnten doch nicht im Namen ihrer Wähler über die Zukunft ihrer Nationalität eine Erklärung abgeben! Der russische Kaiser Alexander habe 1809 auch von Napoleon die Erklärung verlangt, daß Polen nicht wieder hergestellt werden solle. Napoleon habe gesagt, er könne erklären, daß er dazu nicht beitragen wolle, aber etwas Weiteres würde ein Eingreifen in die Rechte Gottes sein. Wenn Gott ein polnisches Reich wiederherstellen wolle, so könne er nichts dagegen einwenden. Die polnische Fraktion könne nur erklären, daß, so lange die Polen dem preußischen Staat angehörten, ihre Pflicht mit voller Loyalität erfüllen wollten. Die Abweisung, welche die Fraktion heute von der Staatsregierung erfahren habe, werde sie nicht abhalten, mit ihrer Forderung stets von Neuem wiederzukommen. (Beifall bei den Polen.)

Abg. Sombart: Daß die Kolonisation wirthschaftlich nicht günstig gewirkt habe, sei nicht richtig. Gerade die Ansiedelungen kleiner ländlicher Besitzer, welche persönlich mitarbeiteten, sei das einzig richtige. Von den zahlreichen Bewerbern habe nur ein kleiner Theil berücksichtigt werden können. Zahlreiche Bewerber hätten sich ge⸗ meldet, trotzdem die Anforderungen erhöht worden seien; es werde ein Kapital von 6000 statt bisher von 4000 verlangt. Unter keinen Umständen dürfe man die Sache jetzt im Stich lassen, sondern müsse sie energisch fortsezen. Die Auswanderung habe seit 1886 sichtlich abgenommen; denn die Auswanderung habe nur stattgefunden, weil die Leute kein Areal gehabt hätten, um sich anzusiedeln.

Abg. Dr. von Stablewski behält sich, da der Minister⸗ Präsident den Saal verlassen habe, vor, auf dessen Ausführungen bei anderer Gelegenheit zu antworten.

Der Etat der Ansiedelungskommission wird darauf ge⸗ nehmigt; die Denkschrift der Kommission wird durch Kenntnißnahme für erledigt erklärt.

Der Gesetzentwurf wegen Abänderung von Amts⸗ gerichtsbezirken wird in erster und zweiter Lesung ohne Debatte genehmigt.

Der Gesetzentwurf, betreffend die Abänderung einiger Bestimmungen wegen der Pensionirung der Gemeindebeamten in den Landgemeinden der Rheinprovinz wird nach kurzer Debatte einer Kommission von 14 Mitgliedern überwiesen.

Es folgt die zweite Berathung des Entwurfs einer 111 für den Regierungsbezirk Wies⸗

aden. u §. 5 beantragt Abg. Wißmann für die Erwerbung des Bürgerrechts keinen Census einzuführen.

Die Abgg. Wißmann und Zelle treten für den Antrag ein, während die Abgg. Grimm und Althaus, sowie der Geheime Ober⸗Regierungs⸗Rath Halbey den Antrag bekämpfen, weil er von den Vorschriften abweiche, die auch in anderen Städteordnungen in Geltung seien.

Der Antrag Wißmann wird abgelehnt. Ebenso ein Antrag zu §. 17, welcher die richterlichen Beamten und die Elementarlehrer als Stadtverordnete zulassen will, während die Vorlage dies verbietet. Auch ein Antrag Wiß⸗ mann zu §. 25, statt der öffentlichen, die geheime Abstimmung bei der Stadtverordnetenwahl einzuführen, wird abgelehnt, nachdem die Freisinnigen und das Centrum sich dafür erklärt und Abg. Grimm sich dahin geäußert hat, daß die geheime Abstimmung das Richtige sei, bnß aber jetzt diese prinzipielle Frage nicht erledigt werden önne.

Ein Antrag des Abg. Wißmann zu §. 33, wonach nur die Bürgermeister, nicht aber die besoldeten Magistrats⸗ mitglieder der Bestätigung unterliegen sollen, wird von den Abgg. Riesch und Schaffner, sowie vom Geheimen Ober⸗ Regierungs⸗Rath Halbey bekämpft und abgelehnt.

Einige redaktionelle Anträge des Abg. Zelle werden unter Zustimmung der Regierung angenommen.

Schluß 4 Uhr. 8

Statistik und Volkswirthschaft.

Landgüterrolle. 3

Landgüterordnungen mit dem Zweck, ein besonderes,] Th ausschließendes Erbfolgerecht in Landgüter zu begünstigen, bestehen, ab⸗ gesehen von Hannover, in Westfalen (seit in Brandenburg (seit

eilung

1883), in Schlesien (seit 1884), in Schleswig⸗Holstein (seit 1886) und dem Regierungsbezirk Kassel (seit 1887). Der Eigenthümer, der sein Gut ungetheilt vererben will, hat zu diesem Behufe die Eintragung in die von dem zuständigen Amtsgericht geführte Landgüterrolle zu bewirken. Am 1. Januar 1890 waren in die Rollen insgesammt eingetragen Güter: in Hannover, wo das Institut der Höferolle seit lange besteht und völlig eingelebt ist, 68 394, im Kreise Herzogthum Lauenburg mit ähnlichen Verhältnissen 513, in Westfalen 2028, in Brandenburg 73, in Schlesien 40, in Schleswig⸗Holstein 8, im Re⸗ gierungsbezirk Kassel 67.

b Fleischpreise in Berlin.

Einer vom Statistischen Amt gemachten Zusammenstellung über die Fleischpreise in Berlin ist zu entnehmen, daß die Preise für Rind⸗ fleisch, Hammelfleisch, Kalbfleisch, Schweinefleisch im Kleinhandel fast durchgängig seit dem Oktober oder Dezember wieder stetig zurückgegangen sind, wenn sie auch theilweise noch nicht wieder auf den Status vom April vorigen Jahres herabgesunken sind. Beispielsweise kostete das Kilogramm Rindfleisch (im Kleinhandel) im April v. J. 1,21 ℳ, im August, September und Oktober 1,35 ℳ, im März d. J. 1,28 ℳ; das Kilo Hammelfleisch im April v. J.

18 ℳ, im Januar d. J. 1,41 ℳ, im März d. J. 1,31 ℳ; das Kalbfleisch im April v. J. 1,35 ℳ, im September und Oktober 1,50 ℳ, im März d. J. 1,30 ℳ; das Schweine⸗

leisch im April v. J. 1,40 ℳ, im September 1,51 ℳ, im März d. J. 1,35 Hiernach waren Rindfleisch und Hammel⸗ fleisch im März d. J. noch theurer als im April vorigen Jahres, dagegen waren Kalbfleisch und Schweinefleisch im März d. J. schon wieder unter die Preise vom April v. J. herabgesunken.

Zusammenstellung der Zwangsversteigerungen.

Im Jahre 1890 sind in Preußen nach dem Gesetz vom 13. Juli 1883 7192 Zwangsversteigerungen mit 75 447,6775 ha Flächeninhalt, 3 188 271,24 Gebäudesteuer⸗Nutzungswerth und 935 422,61 Grundsteuer⸗Reinertrag erfolgt; hiervon waren 3766 Liegenschaften, welche hauptsächlich zur Land⸗ und Forstwirthschaft dienten. Antrag⸗ steller waren 5714 Gläubiger mit einem nicht erst im Wege der Zwangsvollstreckung erlangten Realrecht allein oder mit Anderen. Von den 7192 Fällen wurde in 4696 Fällen die baare Zahlung des ganzen Betrags geleistet, in 2050 Fällen wurden Forderungen mit Einwilligung der Gläubiger übernommen, in 496 Fällen auf rück⸗ ständiges Kaufgeld angewiesen.

Außerhalb des Geltungsbereichs des Gesetzes vom 13. Juli 1883 erfolgten 1520 Zwangsversteigerungen mit 1446,7425 ha Flächen⸗

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inhalt, 319 406,07 Gebäudesteuer⸗Nutzungswerth, 26 328,01 Grundsteuer⸗Reinertrag; 937 versteigerte Liegenschaften dienten haupt.. sächlich zur Land⸗ oder Forstwirthschaft. Antragsteller waren 1245 Gläubiger mit einem nicht erst im Wege der Zwangsvollstreckung erlangten Realrecht allein oder mit Anderen.

XVI. deutscher Schmiedetag.

In den Tagen vom 7. bis 10. Mai d. J. findet in Keller's Etablissement, Köpenickerstraße 96/97 hierselbst, der XVI. deutsche Schmiedetag statt, auf welchem recht wichtige, das Schmiedehandwerk berührende Fragen zur Berathung stehen. Mit diesem Verbandstage ist eine Ausstellung von Hülfsmaschinen, Werkzeugen und Materialien des Schmiedegewerbes und verwandter Fächer ver⸗ bunden, welche wegen ihrer reichen Beschickung und der Eigenartigkeit der ausgestellten Gegenstände sowohl für das Fach⸗ als auch für das Laien⸗Publikam viel des Interessanten bietet. Nach den bis jetzt eingelaufenen Anmeldungen verspricht dieser Schmiede⸗Verbandstag sehr zahlreich aus allen Theilen des deutschen Vaterlandes besucht zu werden. Die Berliner Schmiede⸗ Innung hat denn auch alles Mögliche aufgeboten, um den hier er⸗ scheinenden Kollegen eine der Reichs⸗Hauptstadt würdige in jeder Hin⸗ sicht gastfreundliche Aufnahme zu bereiten, und sie hat zu diesem Behufe eine Reihe von festlichen Veranstaltungen getroffen.

Die überseeische Auswanderung aus dem Deutschen Reich über deutsche Häfen, Antwerpen, Rotterdam und Amsterdam betrug im

88 11 671 19 020

Von den im laufenden Jahre ausgewanderten 19 285 Personen kamen aus der Provinz Posen 3880, Westpreußen 3134, Pommern 2049, aus Bayern rechts des Rheins 1413, aus der Provinz Hannover 1101, Brandenburg mit Berlin 832, Schleswig⸗Holstein 827, dem Königreich Württemberg 741, aus der Provinz Rheinland 606, aus Baden 524, aus dem Königreich Sachsen 493, aus der Provinz Hessen⸗Nassau 411, aus der Rheinpfalz 405, Schlesien 310, Westfalen 305. Der Rest von 2254 vertheilt sich auf die übrigen Gebiete des Reichs.

Das soeben ausgegebene Märzheft der Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reichs enthält: 1) Ein⸗ und Ausfuhr der wichtigeren Waarenartikel im März und im ersten Vierteljahr 1891, 2) Großhandelspreise wichtiger Waaren an den maßgebenden deutschen Handelsplätzen, 3) überseeische Aus wanderung, 4) Be⸗ triebsergebnisse der Rübenzucker⸗Fabriken, versteuerte Rübenmengen und Zuckermengen im März 1891, 5) Zahl und Art der Nieder⸗ lagen für unverzollte Gegenstände nach dem Stande vom 31. Januar 1890.

Zur Arbeiterbewegung. Die Maifeier der sozialdemokratischen Arbeiter ist in ganz Deutschland am gestrigen Sonntag, der von der Reichstagsfraktion als der eigentliche Feiertag vorg schlagen war, ebenso ohne irgend welche bemerkenswerthe Ruh störungen verlaufen wie der erste Mai; aber im Auslande sind namentlich durch'sogenannte „Anarchisten“ doch an mehre⸗ ren Orten bedeutendere Unruhen angestiftet worden, welche 8 mehrere Menschenleben nicht nur auf Seite der ausschreitenden Massen, sondern auch auf Seiten der die Ordnung wiederher⸗ stellenden Polizeimannschaften gekostet haben. Wie weit die Maifeier etwa einer Wiederbelebung oder Anfachung von Aus⸗ ständen Vorschub geleistet hat, läßt sich noch nicht übersehen.

Hier in Berlin fanden gestern zahlreiche Versammlungen von Arbeitern statt, aber nur sehr vereinzelt waren dieselben zahlreich besucht. Erwähnenswerth sind folgende großen Zu⸗ sammenkünfte: Die sozialdemokratischen Wahlvereine für den ersten, zweiten und dritten Reichstagswahlkreis waren am Nachmittag in dem Etablissement der Berliner Bock⸗ brauerei versammelt. Das große Lokal war übermäßig gefüllt; die Festrede unterblieb. In der „Neuen Welt“, einem großen Gartenlokal im Osten der Stadt, wo die Tischler und die Berufsgenossen der Holzbearbeitungsindustrie zu- sammenkamen, soll der Andrang der Massen noch größer ge⸗ wesen sein; man berichtet, daß etwa 14 000 Eintrittskarten verkauft wurden. Hier hielt am Nachmittag der Reichstags⸗ Abgeordnete Bebel eine etwa einhalbstündige Rede, und es gelangte die bekannte Resolution zur Abstimmung. Bei den Aus flügen in die Umgegend von Berlin haben die Arbeiter namentlich Friedrichshagen bevorzugt, wo der sozial⸗ demokratische Reichstags⸗Abgeordnete Schippel Nachmittags eine 16“ hielt.

on anderen deutschen Städten liegt nur aus Ham⸗ burg folgende telegraphische Meldung über den Verlauf des gestrigen Tages vor:

An dem Festzuge der Arbeiter nach Horn nahmen nahezu 30 000 Personen Theil; die Aufstellung und Entwicklung des Zuges, der von zehn Musikcorps begleitet war, erfolgte in größter Ordnung, der Abmarsch dauerte zwei Stunden. Die Bahrenfelder ö. weil sich die Altonäer zumeist dem Hamburger Zuge anschlossen, wenig besucht. 500 Schutzleute waren aufgeboten, 9. und Ordnung aufrechtzuerhalten, was ohne Schwierig⸗ eit gelang.

Aus dem Auslande liegen zahlreiche Telegramme vor, welche sich zum Theil noch auf den Verlauf des 1. Mai be⸗ ziehen, zum Theil aber auch schon Berichte vom gestrigen Sonntag enthalten. Wir stellen die bemerkenswerthesten Nachrichten in dem Folgenden zusammen:

In Pest haben die Fabrikanten sämmtliche Arbeiter, die am 1. Mai ohne Genehmigung gefeiert haben, entlassen. Ferner wird aus Pest nach Zeitungsmeldungen telegraphirt: In Oroshaza und Bekesesaba in der Nähe von Szegedin fanden am Freitag Un⸗ rubenstatt. In Oroshaza hatte der Ober⸗Stuhlrichter für den 1. Mai das Ausstecken einer Fahnesowie jede Zusammenkunft verboten. Das Verbot war dem Arbeiterverein schriftlich mitgetheilt worden; trotzdem wurde in Oroshaza eine Fahne ausgesteckt. In Bekescsaba sammelten sich über 1000 Arbeiter vor dem Stadthause an und forderten die direkte Einhändigung des Verbotes der Arbeiterversammlungen. Der anwesende Kommissar sandte nach dem Ober⸗Stuhlrichter, welcher sofort erschien und die Menge zu beruhigen ver⸗ suchte. Die Arbeiter zerrten jedoch den Ober⸗Stuhlrichter und den Kommissar zu Boden und verwundeten Beide. Das zur Hülfe erschienene Militär welches von den Massen mit Steinwürfen empfangen wurde, rückte mit gefälltem Bajonnet vor und zersprengte die Massen. Zwei Arbeiter und ein Soldat wurden verwundet 20 Tumultuanten verhaftet. Die Ruhe ist wiederhergestellt.

In Fourmies, wo am Freitag bereits Ruhestörungen statt. gefunden hatten (pgl. Nr. 103 d. Bl.), fanden am Sonnabend ver⸗ schiedene Zusammenrottungen statt, das Militär wurde von allen Seiten beschimpft. Nach mehreren Abendblättern beträgt die Zahl der Todten 14, die der Verwundeten 40. Cs sind bedeutende Truppenverstärkungen eingetroffen, da bei den Begräbnissen der Getödteten Excesse befürchtet werden. Die Behörden beabsichtigen, das Begräbniß auf Montag zu verschieben. Auch gestern herrschte noch immer unter den Arbeitern große Erregt⸗

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heit, die Munizipalität erbat militärischen Schutz, der durch Ab⸗ sendung einer Abtheilung Artillerie gewährt wurde. Nach den der

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