1891 / 123 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 28 May 1891 18:00:01 GMT) scan diff

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folgendermaßen: §. 100 f der Reichs⸗Gewerbeordnung bestimmt, daß den Innungen auf ihren Antrag von der höheren Verwaltungsbehörde zu⸗ gestanden werden kann, daß Arbeitgeber, welche, obwohl sie ein in der Innung vertretenes Gewerbe betreiben, derselben nicht angehören und deren Gesellen zu den Kosten einiger Wohlfahrtseinrichtungen herangezogen werden können, nämlich zu den Kosten des Herbergswesens, des Arbeitsnachweises, dann zu den Einrichtungen von Fachschulen und endlich zu der Einrichtung von Schiedsgerichten. Der behördliche Ausspruch, der die Nicht⸗ innungsmitglieder zu den Kosten dieser Einrichtungen heranzieht, ist nur beschränkt durch §. 100 g der Reichs⸗Gewerbeordnung, in welchem es heißt, daß die Bestimmung der höheren Verwaltungsbehörde nur erlassen werden darf, wenn die Einrichtung, für welche dieselbe beantragt ist, zur Erfüllung ihres Zweckes geeignet erscheint. Außerdem ist vorgeschrieben, daß die Betheiligten von der höheren Verwaltungsbehörde zu hören sind. Diese Anhörung ist geschehen. Ich muß zugeben, daß ein Theil der gehörten Gastwirthe nicht zu⸗ gestimmt haben, aber ein gesetzliches Erforderniß ist die Zustimmung nicht. Ebenso ist die städtische Gewerbedeputation angehört worden, und wenn auch dieselbe sich gegen die Heranziehung der Nicht⸗ innungsmitglieder ausgesprochen hat, so hat sie doch durchaus an⸗ erkannt, daß die fraglichen Einrichtungen geeignet sind, den Zweck zu erfüllen, den sie intendiren.

Den gesetzlichen Erfordernissen ist also zweifellos Rechnung ge⸗ tragen, und der Polizei⸗Präsident war auf Grund des Gesetzes befugt, die bei ihm beantragte Genehmigung auszusprechen. Es kann sich nur darum handeln, ob die Einrichtung, zu welcher die Nichtinnungs⸗ mitglieder herangezogen werden sollen, wirklich eine solche ist, die sich bewährt hat. Ich bejahe das und konstatire nochmals, daß eine ent⸗ gegengesetzte Behauptung auch von den Nichtinnungsmitgliedern nicht aufgestellt worden ist. Ich glaube überhaupt, daß der wesentlichste Grund der Opposition der ist, daß die Gastwirthsvereine Berlins, soweit sie nicht der Innung angehören, der Meinung sind, daß das Gastwirthsgewerbe sich überhaupt nicht zur Innungsbildung eigne.

Nun, meine Herren, möchte ich erwähnen, daß um die Fachschule

es sich nicht mehr handelt. Es ist durch meinen Bescheid bereits ausgesprochen worder, daß den Innungen nicht die Befugniß zustehen soll, die Nichtinnungsmitglieder zu den Kosten der Fachschulen heran⸗ zuziehen. Es ist weiter von mir entschieden worden, daß sie zu den Kosten des Innungsschiedsgerichts nur so lange herangezogen werden sollen, bis ein gewerbliches Schiedsgericht der Stadt Berlin ein⸗ gerichtet sein wird. Dann soll eine weitere Erwägung darüuͤber statt⸗ finden, ob die Nichtinnungsmitglieder auch fernerhin zu den Kosten des Innungsschiedsgerichts herangezogen werden sollen.

Wesentlich in Frage ist also nur der Arbeitsnachweis, der übrig bleibt von den Punkten, die angefochten worden sind. Nun hat sowohl die Innung wie die freie Vereiniguug einen Arbeitsnachweis einge⸗ richtet. Der Arbeitsnachweis der Innung unterscheidet sich aber von dem der Vereine seyhr vortheilhaft dadurch, daß er kostenlos ist und durch diese Einrichtung einem längst und sehr deutlich ausgesprochenen Wunsche der Berliner Gehülfenschaft und Kellnerschaft entgegenkommt, die sich beschweren, daß sie bis zu einem Betrage von 5 den Arbeitsnachweis der Gastwirthsvereine haben bezahlen müssen. Ich glaube, der Polizei⸗Präsident hat nicht unrichtig gehandelt, wenn er der Meinung gewesen ist, daß die Einrichtung des kostenlosen Arbeits⸗ nachweises für die Gehülfenschaft im Gast⸗ und Schankwirthschafts⸗ gewerbe eine durchaus günstige Einrichtung rlin ist, und daß er befugt war, auf Grund der Reichs⸗Gewerbeordnung dem Antrage der Innungsmitglieder stattzugeben und zu den Kosten dieses Nach⸗ weises auch Nichtinnungsmitglieder heranzuziehen.

Abg. Eberty: Formell sei richtig, daß die Gewerbedeputation die Innungseinrichtungen für zweckentsprechend erklärt habe. Aber in der That seien diese Privilegien geeignet, die größte Unzufriedenheit, Streit und Hader unter den Betheiligten hervorzurufen, und hätten auch diesen Effekt gebhabt. Die freien Vereinigungen beständen that⸗ sächlich aus nahezu 4000 Mitgliedern, sodaß die Zahlen des Abg. Goldschmidt ziemlich richtig seien. Der kostenfreie Arbeitsnachweis sei zwar ganz angenehm, aber er habe andere Schattenseiten, die ihn dem Arbelisnachweis der freien Vereinigungen nachstehen ließen. Die angesehensten Berliner Gastwirthe, die dem Hause wohl bekannt seien, er nenne bloß die Namen Mühling, Banuer, Dressel, Uhl, HKiller, gehörten diesen freien Vereinigungen an und würden nun dazu gezwungen, die Privilegien der Gastwirthsinnung zu unterstützen, sodaß eine große Mehrheit von einer kleinen Minderheit beherrscht werde. Er trete also dem Abg. Goldschmidt vollständig bei und bitte den Minister, die Petition der Berliner Gastwirthe zu berück⸗ sichtigen.

Abg. Goldschmidt: In der Petition heiße es, daß mehrere Versammlungen, in denen 3000 bis 4200 Personen anwesend gewesen seten, den Beschluß gefaßt bätten, die Petition einzureichen. Also sei seine vorherige Bemerkung doch richtig. Außerdem genüge es nicht, die Nichtinnungsmitglieder zu hören; denn wenn man sie bloß höre, ohne sich nach ihrer Meinung zu richten, so habe die gesetzliche Vor⸗ schrift des Anhörens gar reinen Zweck.

Minister für Handel und Gewerbe, Freiherr von Berlepsch:

Ich möchte nur gegen die Ausführung, die zuletzt von dem Hrn. Abg. Goldschmidt geäußert worden ist, Protest einlegen. Wenn nach dem Gesetz die Betbeiligten angehört werden sollen, so kann das unmöglich heißen, daß man sich dann absolut nach dem richten muß, was die Angehörten meinen und aussprechen. Das liegt weder im Sinne dieses Paragraphen, noch in dem Sinne des gleichen Wortes an anderen Stellen unserer Gesetzgebung. Die Behörde, welche die Genehmigung zu ertheilen hat, hat nach Anhörung der

Beetheiligten zwar, aber nach eigenem Ermessen und nach bestem

Wissen und Gewissen zu entscheiden. Ich glaube, darüber kann ein Zweifel in der That nicht vorliegen.

Der Hr. Abg. Eberty hat dann zum Beyneise der tief gehenden Erbitterung, die in Berliner Gastwirthskreisen über diese Frage vorhanden sein soll, einige Namen großer Restaurateure ge⸗ nannt, die dem Verein der Gastwirthe angehören und dem bohen Hause wohl bekannt seien. Ich will seinem Beispiele folgen und versuchen, das Haus für meine Anschauung weich zu machen, dadurch, daß ich auch einige Namen nenne, die auch wohl bekannt sind. Von den fünf Namen, die der Hr. Abg. Eberty genannt hat, gehören drei sowohl dem Gast⸗ wirthsverein wie der Innung an und zahlen freiwillig und mit Ver⸗ gnügen die Beiträge, die von der Innung verlangt werden, mit der ausdrücklichen Erklärung auch der Verein der Easthofsbesitzer ist zu Worte gekommen —, daß sie die Einrichtungen der hiesigen Innung für wohlthätige hielten. Es gehören der Innung an: Hoftraiteur

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Adloff, Nachfolger von Hiller, Unter den Linden, Schaurté vom Hötel

Monopol, Besitzer vom Grand Hôtel de Rome Mühling, Hoflieferant Mühling, Römischer Hof, Hr. Seifert, Hötel du Nord, Uhl, Unter den Linden, der General⸗Direktor des Kaiserhofs, der Direktor des Hötel Monopol und der Direktor des Hôtel Continental. (Heiterkeit.) Meine Herren, Sie werden daraus ersehen, daß in den Kreisen der großen Hötelbesitzer doch nicht die behauptete Abneigung besteht, die sämmtlichen genannten Herren gehören der Innung an.

Abg. Eberty: Letztere Bemerkung würde nur dann irgend⸗ welche Beweiskraft haben, wenn der Minister zugefügt hätte, wann diese Herren der Innung beigetreten wären, ob vorher oder nachdem der Innung die Privilegien gegeben worden seien. 1

Abg. Lehmann regt eine Umgestaltung der rheinischen Ge⸗ werbegerichte an, um die Organisation derselben mit den Vorschriften des Gewerbegerichtsgesetzes in Uebereinstimmung zu bringen.

Minister für Handel und Gewerbe, Freiherr von Berlepsch:

Meine Herren! Der Gesetzentwurf, der zur Erhaltung der rheinischen Gewerbegerichte dienen soll, wird, wie ich hoffe, in den nächsten Tagen dem hohen Hause vorgelegt werden. (Bewegung.) Ich habe aller⸗ dings befürchtet, daß mit dieser Erklärung die Besorgniß im Hause wachgerufen würde, daß die Arbeitszeit desselben ungebührlich verlängert werden würde. Mit Rücksicht auf den Vorgang am gestrigen Tage fühle ich die Verpflichtung, zu erklären, daß meiner bestimmten Ueber⸗ zeugung nach, der Gegenstand ein so klarer ist, daß das hohe Haus nur außerordentlich kurze Zeit gebrauchen wird, um den Gesetzentwurf zu erledigen, und durch Vorlage desselben nicht in die Lage kommen wird, die Arbeitszeit, die es so wie so hier in Berlin noch vor sich hat, zu verlängern.

Abg. Schmidt (Elberfeld): Er habe in der zweiten Lesung einen Fall vorgebracht, worin es sich um die ungerechtfertigte Be⸗ vorzugung eines Gewerbeschul⸗Direktors gehandelt habe. Der Minister habe den Namen des betreffenden Mannes genannt, indem er das Verhalten desselben vertheidigt habe. Er habe den Mann nicht bloßstellen wollen; nachdem nun aber der Name genannt sei, müsse er doch bemerken, daß er sich zwar freue, daß der Minister seine Beamten in Schutz nehme, aber dennoch wiederholen müsse, daß das Verhalten des betreffenden Gewerbeschul⸗Direktors die von ihm (Redner) ausgegangene Anklage verdiene. Der Aufschwung, von dem der Minister gesagt habe, daß er im vergangenen Jahre stattgefunden habe, sei in diesem Jahre durch einen bedeutenden Rückgang der betreffenden Schule abgelöst worden, und außer anderen Mißständen sei dabei noch zu erwähnen, daß der betreffende Direktor in dem gedruckten Schulprogramm diese Schule als eine Maschinen⸗ bauschule bezeichne, was sie in der That und nach ihrer ganzen Organisation nicht sei. Ueber die dem Hause zugegangene Denk⸗ schrift über die Entwickelung der Fortbildungsschulen und gewerb⸗ lichen Fachschulen in Preußen während der Jahre 1883 bis 1890 möchte er, indem er eine genauere Berathung dieses wichtigen Gegen⸗ standes für die nächstjährige Etatsberathung voraussetze, hier nur betonen, daß unsere Fortbildungsschulen, namentlich die Bau⸗ gewerbeschulen doch nicht den Aufschwung genommen hätten, den ihnen die Denkschrift zuweise, und daß sie namentlich von den König⸗ lich sächsischen Anstalten erheblich übertroffen würden.

Abg. von Schenckendorff: Die gewerbliche Erziehung müsse mehr in die breiten Massen des Volkes getragen werden, das sei auch seine Meinung. Dazu bedürfe es aber auch besserer und gründ⸗ licherer Vorbildung der Lehrer. Das Fortbildungsschulwesen müsse mehr gepflegt, der Besuch obligatorisch gemacht werden, wie es in einigen kleineren Staaten der Fall sei. Das ganze Unterrichtswesen müsse den gänzlich veränderten wirthschaftlichen und sozialen Verhältnissen mehr als bisher angepaßt werden. Für den Mittelstand sei gar keine ein⸗ heitliche Schule vorhanden; er werde auseinandergerissen, ein Theil werde den Eymnasien, ein anderer der realistischen Richtung zu⸗ geführt. Die Entwicklung des niederen, mittleren und höheren ge⸗ werblichen Unterrichtswesens müsse derart sein, daß sie uns nicht hinter anderen Nationen in Rückstand bringe, und diese Rücksicht verbiete, die Frage einheitlich nach finanziellen Gesichtspunkten zu behandeln. Er hoffe auch, daß der Finanz⸗Minister, seiner früberen prinzipiellen Stellungnahme zu dieser Frage entsprechend, der Frage das voll ie Interesse zuwenden werde.

Abg. Eberty schließt sich dem letzten Wunsche des Vorredners in allen Punkten an. Wenn überhaupt eine Ausgabe als produktiv angesehen werden könne, dann sei es die für das gewerbliche Bildungs⸗ schulwesen.

Abg. von Eynern: Mit der Kritik der Einrichtungen für as gewerbliche Schulwesen sei es nicht gethan. Mißgriffe könnten ei der Vielseitigkeit der dabei in Frage kommenden Anforderungen

m einzelnen Falle gar nicht ausbleiben. Mit der enthusiaftischen Aufforderung des Abg. von Schenckendorff, das gewerbliche Schulwesen zu einer großen Organisation auszugestalten, und mit der For⸗ derung des obligatorischen Fortbildungs⸗Schulunterrichtes sei er ganz und gar nicht einverstanden. Wo sollten denn die massenhaft den Fort⸗ bildungsschulen zuzuführenden Kinder untergebracht werden? Eine

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ganz allgemein obligatorische Fortbildungsschule mit einem einheit⸗ lichen Lehrplan halte er für eine Unmöglichkeit. Es dürfe nicht schablonisirt, sondern es müsse auf dem bisherigen Wege der Be⸗ friedigung lokaler Bedürfnisse fortgeschritten werden.

Abg. Seyffardt: Er müsse im Gegensatz zu seinem Vorredner sich entschieden auf die Seite des Abg. von Schenckendorff stellen und behaupten, daß man mit der Zeit um den obligatorischen Unter⸗ richt in den Fortbildungsschulen garnicht werde herumkommen können. Der Staat habe die Verpflichtung, dafür zu sorgen, daß die Ver⸗

wahrlosung unserer Jugend nicht noch größer werde, als sie bisher

schon sei.

Abg von Eynern: In vielen Fällen ständen die obligatorischen Fortbildungsschulen in den kleineren deutschen Staaten nur auf dem Papier. Was der Abg. Seyffardt ausgeführt habe, könne doch seiner Meinung nach nicht der Zweck des obligatorischen Fortbildungs⸗ unterrichts sein. Möge man doch einmal in einer gewerbereichen Stadt, wie etwa Krefeld, einen Versuch mit der obligatorischen Fort⸗ bildungsschule machen.

Abgz. Richter: Er möchte hier einen anderen Gegenstand zur Sprache bringen. Er habe am 4. Mai d. J. im Reichstage den Minister von Boetticher gefragt, ob die Regierung Angesichts der Getreidetheuerung sich nicht vielleicht zu einer Herabsetzung des Zoll⸗ tarifs für Getreide entschließen könne. Der Minister habe erwidert, daß die Regierung den Ernst der Lage nicht verkenne, indessen mit Erhebungen darüber befaßt sei, welche Getreidevorräthe zur Zeit in Deutschland vorhanden seien, und welche Aussichten der Stand der Saaten biete. Seitdem seien nun zweiundzwanzig Tage verflossen, die Getreidetheuerung habe noch mehr zugenommen, und die Berichte, die der „Reichs⸗Anzeiger“ über den Stand der Saaten aus verschiedenen Regierungsbezirken veröffentlicht habe, ließen jene An⸗ sicht, die der Minister von Boetticher damals kundgegeben habe, leider als noch zu günstig erscheinen. Es unterliege keinem Zweifel, daß die Erhebungen, auf welche der Minister von Boetticher damals Bezug genommen habe, mit dem Einverständniß der preußischen Regierung, insbesondere des preußischen Handels⸗Ministeriums erfolgt seien. Unter diesen Umständen erscheine ihm die Anfrage gerechtfertigt, ob inzwischen diese Erhebungen zum Abschluß gelangt seien. Es bedürfe keiner näheren Ausführung, von welcher außerordentlichen Wichtigkeit es sei, daß zur Verhinderung weiterer Verschärfung der Lage die Re⸗ gierung mit ihren Erhebungen mögltchst bald zum Abschluß gelange und diejenigen Entschließungen fasse, die sie auf Grund der Er⸗ hebungen für nöthig halte.

Minister für Landwirthschaft ꝛc. von Heyden:

nicht zum Abschluß gelangt. Die Entschließungen in dieser Angelegen⸗

heit gebühren dem Reich.

Die wenigen Mittheilungen, welche in den letzten Tagen im „Staats⸗Anzeiger“ über den Stand der Feldfrüchte gestanden haben, sind

voraussichtlich Angaben entnommen, welche bereits vor einiger Zeit gemacht wurden und die beute nicht mehr zutreffen.

Nach dem, was bis jetzt aus neuerer Zeit zu meiner Kenntniß gelangt ist, sind für Preußen die Befürchtungen, welche man an den Stand und an den Ausfall der diesjährigen Ernte geknüpft hat, nich t

mehr in dem früheren Umfange zutreffend. (Sehr richtig!)

Ich glaube, man kann im Allgemeinen feststellen, daß die Be⸗

fürchtungen inzwischen durch die günstigen Entwicklungsverhältaisse der letzten Wochen abgeschwächt sind und daß die Aussichten für die Ernte in Preußen sehr viel bessere sind, als wie sie im

Anfang dieses Frübjahrs und auch im Spätfrühjahr waren. Es werden voraussichtlich diejenigen nicht wohlgethan haben,

welche zu früh, veranlaßt durch den schlechten Stand ihrer Saaten,

dieselben umgepflügt haben. Es gilt dies besonders von den mittleren

und östlichen, weniger vielleicht von den westlichen Landestheilen. Aber nach den Eindrücken, die ich durch Besprechungen und durch eigenen

Augenschein gewonnen habe, ist es nicht ausgeschlossen, daß wir aller⸗ dings eine sehr viel geringere Strohernte, aber möglicherweise an Brotfrüchten eine reichlich so gute Ernte wie im verflossenen Jahre in größeren Distrikten erlangen werden. (Sehr richtig! rechts.) Ich glaube deshalb, daß, was die zukünftige Ernte anbetrisft, für uns in diesem Moment ein Grund zu einer ernsthaften Besorgniß in geringerem

Grade wie früher vorliegt. Wie sich die Verhältnisse schließlich ge⸗

stalten werden, kann allerdings kein Mensch voraussehen; es hängt das von so vielen begleitenden Ereignissen ab, daß ein abschließendes Urtheil über den Ernteausfall im gegenwärtigen Moment nicht möglich ist, und daß es verfrüht sein würde, mit bestimmten Ansichten hervor⸗ zutreten. Jedenfalls haben aber die Aussichten in den letzten vierzehn Tagen gegen die Zeit vorher sich erheblich gebessert.

Ich erwähnte schon, daß die Ermittelungen darüber, welche Ge⸗ treidevorräthe vorhanden sind, bisher nicht abgeschlossen sind; ich gebe mich auch in dieser Beziehung keinen Illusionen hin, daß es überhaupt möglich sein würde, mit absoluter Sicherheit festzustellen, welche Vor⸗ räthe im Inlande vorhanden sind, und welche Vorräthe vom Auslande herangezogen werden können. Ich glaube aber, daß die augenblickliche Höhe der Getreidepreise wesentlich herbeigeführt wird durch die Unsicherheit der Verhältnisse, welche auf dem zollpolitischen Gebiet in der Beziehung herrschen. (Sehr richtig!)

Wenn verbreitet wird, es würden in nächster Zeit die Getreide⸗ zölle aufgehoben werden, so macht natürlich kein Mensch mehr den Versuch, in diesem Augenblick von Außen Getreide heranzuziehen (sehr richtig!), und ich glaube, daß diejenigen Kreise, welche jetzt mit einer Forderung auf Aufhebung der Zölle hervortreten, ohne daß im gegen⸗ wärtigen Moment dem Folge gegeben werden kann und ohne daß nach dem jetzigen Stande der Getreidepreise eine Nöthigung vorliegt, dem Folge zu geben daß gerade die darauf hinwirken, daß eine stetige Verschärfung der Situation in Bezug auf die Getreidepreise eintritt. (Lebhafter Beifall).

Abg. Rickert: Er setze voraus, daß die Stzatsregierung Alles daran setzen werde, um die erwähnten Erhebungen schleunigst anzustellen. Allerdings gehöre diese Frage eigentlich nicht vor das preußische Abgeordnetenhaus; indessen glaube er doch, daß auch für die Staatsregierung die Verhältnisse sich ganz wesentlich geändert hätter, seitdem ein Staat, der früher in der ersten Reihe der schutzzöllnerischen Bewegung gestanden habe, Frankreich, mit Rücksicht auf die Noth auf dem Getreidemarkt seinen Zoll vom 1. August bis auf 2,40 herabgesetzt habe. (Zuruf rechts: „Auf ein Jahr!“) Dann möchten auch wir es auf ein Jahr machen. Dann möchte er den Minister bitten, jiene Erhebungen auch auszudehnen auf die Handelsplätze, namentlich im Osten. Die jetzige Einfuhr von St. Petersburg nach Danzig zeige deutlich, wie sehr der Danziger Handel stagnire, wie leer die Lager dort und im Hinterlande, im ganzen deutschen Osten seien. Deshalb könne die im Herrenhause beantragte Herabsetzung der Eisen⸗ bahntarife absolut nichts helfen. Er glaube, es seien sehr viel weniger Vorräthe vorhanden, als die Regierung bisher angenommen

abe. Wenn der Minister gesagt habe, die Unsicherheit trüge dazu

bei, um die Versorgung mit Getreide abzuschwächen, so hätte er sich doch an seinen Kollegen wenden müssen. Es sei der Vize⸗Präsident des preusischen Staats⸗Ministeriums gewesen, welcher vor wenigen Tagen in Stralsund Mittheilung gemacht habe von einer bevorstehenden Herabsetzung der Getreidezölle. Außerdem habe das Jedermann gewußt. Also er begreife nicht, wie der Minister dazu komme, einen Vorwurf daraus zu machen, daß Dinge bekannt und verbreitet würden, die sich nicht verbeimlichen ließen und die längst schon mit voller Deutlichkeit hätten an die Oeffentlichkeit gebracht werden müssen. Seine Partei sei ja nicht im Stande, der Regierung die Meinung dafür beizubringen, daß hier in der That gehandelt werden müsse. Sie lehne aber die schwere Verantwortung für jede Verzögerung der Einberufung des Reichstages ab und wälze sie der Regierung zu. (Beifall links.) 8

Abg. Graf von Kanitz: Die jetzigen bohen Getreidepreise seien der Landwirthschaft durchaus nicht erwünscht, sie seien böher, als die Landwirthschaft sie durch irgend welche Schutzmaßregeln habe bringen wollen. Diese hohen Preise seien zurückzuführen 1) auf die spärliche Ernte an Brotkorn des vorigen Jahres, 2) auf die un⸗ günstigen Aussichten der diesjährigen Ernte und 3) auf die Aussichten auf den österreichischen Handelsvertrag. Ge⸗ rade wie im Jahre 1887 die bevorstehende Getreidezoll⸗ Erhöhung eine Ermäßigung der Getreidepreise veranlaßt habe, weil die Händler vor der Zollerhözung möglichst viel Getre de aus dem Auslande eingeführt hätten, gerade so habe die bevorstehende Zollermäßigung die Getreidepreise erhöht, weil Niemand Getreide einführe, aus Furcht, später schlechte Geschäfte zu machen. Es sei in Frankreich eine Ermäßigung der Zölle beschlossen, und da finde eine ähnliche Erscheinung statt. Es würde wünschenswerth sein, die Absichten der Regieruag kennen zu lernen. Es sei ja ganz berechtigt gewesen, daß der Reichskanzler bei der Berathung der Zucker⸗ steuer erklärt habe, über den österreichischen Handelsvertrag nicht eher Mittheilungen machen zu können, als der Vertrag selbst vorläge, aber dann sei es Unrecht, über einen und gerade den wichtigsten Zoll, den Getreidezoll, unklare Nachrichten sich verbreiten zu lassen, über die anderen Punkte aber einen dichten Schleier zu legen. Er bitte den Minister um Auskunft über folgende Punkte: 1) Ist es richtig, daß der Getreidezoll auf 3 ½ herabgesetzt werden soll? 2) Beabsichtigt der Bundesrath auch mit andern Ländern nach dieser Richtung in Verbandlung zu treten, namentlich mit Rußland? und 3) zu welcher Zeit ist das Inkrafttreten solcher Handelsverträge in Aussicht genommen? Wüßte man hierüber Bescheid, so würde der Getreidehandel auf eine sichere Basis gestellt werden und eine Steigerung der Getreidepreise zu der jetzigen Höhe würde nicht möglich sein. Die Landwirtbe hätten von den jetzigen Getreidepreisen keinen Vortheil, sie hätten

wegen Mangels an Vorräthen ihr ganzes Getreide schon längst ver⸗ kaufen müssen. Er bitte also, aus diesen Preisen der Land⸗ wirthschaft keinen Vorwurf zu machen. Er berühre nicht die Frage, ob Koalitionen von Getreidehändlern und Börsenmanöver vorhanden seien, Vermuthungen würden ja darüber ausgesprochen. Aber es sei ein alter Grundsatz von ihm, was er nicht genau begründen könne

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darüber spreche er nicht. Er bitte also über jene drei Punkte Klar⸗ heit zu geben. Ueberrascht sei er über die Forderung des Abg.

Rickert, den Reichstag schleunigst zusammenzuberufen, um jetzt eine Herabsetzung der Getreidezölle zu beschließen. Das sei ein Novum.

Minister für Landwirthschaft ꝛc. von Heyden:

Ich befinde mich nicht in der Lage, mich hier auf die Handels⸗ vertrags⸗Verhandlungen einzulassen und kann dem Hrn. Abg. Grafen Kanitz eine Auskunft darüber nicht geben, ob in dem später dem Reichstage vorzulegenden Handelsvertrage eine Herabsetzung der Zölle auf Brotfrüchte auf 3,50 per Tonne in Aussicht genommen ist. Ich glaube jedoch, er wird die Mittheilungen österreichischer Blätter über diese Angelegenheit gerade so gut gelesen haben wie ich.

Wenn ich vorhin gesagt habe, daß durch die Forderung, wie ich mich glaube ausgedrückt zu haben, „der sofortigen Aufhebung der Kornzölle“ jetzt die Versorgung mit ausländischem Getreide erschwert wird, so habe ich natürlich damit nicht die Handelsvertrags⸗Verhand⸗ lungen im Auge gehabt und eine etwa durch diese herbeigeführte Un⸗ sicherheit, weil dieser Vertrag frühestens im Jahre 1892 in Kraft treten kann, sondern die verlautbarte Forderung, sofort den Reichstag zusammenzuberufen und auf eine Aufhebung der Getreidezölle Bedacht zu nehmen. Diese Forderung und die entstandene Unsicherheit darüber, ob etwas derartiges eintreten kann, sind meines Erachtens von großem Einfluß auf die Entschließungen der Händler bezüglich der Heran⸗ ziehung von ausländischem Getreide. (Sehr richtig! rechts.)

Abg. Richter: Nach der Behauptung, daß die Landwirthschast kein Interesse an den hohen Getreidepreisen habe, sei für die Herren, die sich Vertreter der Landwirthschaft nennten, um so weniger Anlaß vorhanden, Maßregeln zur Herabsetzung der Getreidepreise zu wider⸗ sprechen, es sei denn, daß man darauf spekulire, durch Mangel an Vorräthen bei der nächsten Ernte höhere Getreidepreise zu erzielen. Der Minister habe gemeint, daß die Nachrichten des „Reichs⸗Anzeigers“ über den Saatenstand sich auf frühere Zeiten bezögen. Soweit aber Daten vorhanden seien, bezögen sie sich auf den Monat Mai. Die Nachrichten aus dem Auslande seien sogar telegraphisch, also aus neuester Zeit. Habe der Minister günstigere Nach⸗ richten, so solle er sie veröffentlichen, statt durch das Bekanntwerden der nicht mehr zutreffenden Berichte die öffentliche Meinung irre zu führen. Er habe gemeint, die neresten Nachrichten lauteten so günstig über den Stand des Wintergetreides, daß man das vor⸗ gekommene Umpflügen bedauern werde; nun, was umgepflügt sei, sei umgepflügt (Lachen rechts), aber man sollte feststellen, wieviel mit Wintergetreide besätes Land umgepflügt und jetzt mit Kartoffeln und Hafer bepflanzt sei. Daraus könne man ersehen, welche Ver⸗ minderung des Brotkornbestandes man zu erwarten habe. Weil man eine geringe Ernte erwarte, halte man mit den Vorräthen zurück, und das steigere die Getreidepreise immer mehr. Dieser Erscheinung begegne man nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Es sei dann gesagt worden, daß die Unsicherheit der Zölle zurückzuführen sei auf diejenigen, welche eine Ermäßigung derselben wünschten. Das sei aber nicht der Fall. Seine Partei wolle die Zölle nicht aufrecht erhalten in ihrer bisherigen Höhe, weil man dadurch das Brot vertheuere. Suspensionen von Zöllen in Zeiten hoher Getreidepreise seien früher sehr oft vorgekommen. In den letzten 70 Jahren habe man nur sechs Mal Getreidepreise gehabt, die den jetzigen gleichkämen, und zwar 5 Mal zu der Zeit, wo die Getreide⸗ zölle den vierten Theil der jetzigen Höhe erreicht hätten; und auch in dem einzigen Jahre, in dem die Getreidepreise während der Geltung der hohen Zölle die jetzige Höhe erreicht hätten, im Jahre 1880/81, hätten die Zölle nur 12 ℳ, nicht wie jetzt 50 betragen. Bei der letzten Zollerhöhung sei von der freikonservativen Partei beantragt worden, wenn der Roggenpreis 60 Tage lang 180 betrage, den Zoll zu suspendiren; und damals habe der Landwirth⸗ schafts⸗Minister von Lucius bemerkt, in einem solchen Falle würde keine Regierung es verantworten können, noch 60 Tage zu warten, sondern sie würde sofort die nothwendigen Maßregeln treffen, sie würde auch ohne eine solche Schablone den Reichstag berufen. Heute betrage der Roggenpreis 210 215 ℳ, auch die 60 Tage seien längst erfüllt. Bei Begründung des Zoll⸗ vereins sei den einzelnen Staaten die Berechtigung gewährt worden, bei einem Roggenpreis von 187 selbständig die Getreidezölle zu suspendiren. In den Nothzeiten von 1846 und 1856 seien auch die Getreidezölle selbständig von der Regierung suspendirt worden, ja, man habe sogar Ausfuhrzölle eingeführt, und wegen der hohen Kar⸗ toffelpreise die Verwendurg der Kartoffeln zum Spiritusbrennen ver⸗ boten. Solche Maßregeln entsprächen also den Traditionen der preußischen Regierung in absolutistischer Zeit. Der Minister habe gemeint, der österreichische Handelsvertrag könne nicht in Betracht kommen, weil er im Jahre 92 erst in Kraft träte. Man wisse über diesen nichts Gewisses, aber es stehe fest, daß eine Ermäßigung der Getreidezölle von 50 auf 35 stattfinden solle und da sei doch kein Sinn darin, in der gegen⸗ wärtigen Situation nicht sofort diese Reduktion vorzunehmen im Interesse der inländischen Konsumenten. Im Winter, wenn der Vertrag in Kraft trete, sei die Versorgung mit ausländischem Getreide des erschwerten Transports wegen sehr verringert. Die Situation sei jetzt gegen den Zustand vor 3 Wochen sehr geklärt, denn in Frankreich habe die Deputirtenkammer beschlossen, vom 1. August 1891 bis 1. Juni 1892 also für 10 Monate den Getreidezoll ar die Hälfte herabzusetzen Frankreich könne also nunmehr auf dem Weltmarkte seine Bedürfnisse in großem Umfange befriedigen und billiger als sonst. Für uns kämen aber doch nicht bloß die ein⸗ heimischen Verhaͤltnisse in Betracht. Wir müßten ½ unseres Ge⸗ treides aus dem Auslande beziehen, und wenn andere Staaten ihren Bedarf an Getreide vom Weltmarkte leichter decken könnten, so werde für uns die Situation erschwert. Die Unsicherheit, über welche der Minister von Hexyden sich beklagt habe, sei nicht zum Geringsten durch den Minister von Boetticher veranlaßt, der eine Er⸗ mäßigung der Kornzölle für den Monat Juli wenigstens nicht direkt in Abrede gestellt habe. Also diese Unsicherheit müsse von der Regierung beseitigt werden, man müsse bestimmte Erklärungen erhalten, wie die Zollverhältnisse in diesem Jahre sich regeln würden, die Aus⸗ führungen des Ministers aber gäben eine solche Sicherheit durchaus nicht. Die Regierung lade eine schwere Verantwortung auf sich, wenn sie jetzt mit verschränkten Armen der Steigerung der Getreidepreise zusehe. (Beifall links.)

Abg von Kardorff:; Er glaube, daß Zollermäßigungen allein nicht helfen könnten; den Weg, auf dem er der Landwirtbschaft helfen wolle, kenne das Haus. Bei der jüngsten Erhöhung der Getreide⸗ zölle habe der Abg. Delbrück beantragt, bei einer bestimmten Preishöhe den Zoll zu suspendiren, man könne daraus sehen, daß seine Partei einer solchen Suspension sympathisch gegenuüberstehe; wenn also heut die Regierung dazu übergehe, so werde man seine Partei dazu bereit finden. Ueber die Getreidevorräthe und den Saaten⸗ stand habe allein die Regierung eine Uebersicht, beantrage sie eine Ermäßigung der Getreidezölle für drei Monate, so werde seine Partei dazu bereit sein Der Abg. Richter übersehe bei der jetzigen Getreidehausse den Einfluß der Börse, namentlich der Berliner Getreidebörse. Was seien das für Zustände, wenn in Mannheim und Mainz, wo das Getreide sonst 1 höher notire als bei uns, der Weizen jetzt in Mannheim 238, in Köln 234 koste, während er hier 248 notire. Das zeige dentlich den Einfluß der Spekulation, die sich nicht scheue, das Ge⸗ treide unter dem Preise nach dem Westen abzugeben, um hier einen Nothstand hervorzurufen. Ueber diese Verhältnisse könne auch nur die Regierung erschöpfende Auskunft geben. Was die Aussicht auf die Ernte anlange, so freue er sich, daß der Abg. Richter anfange, schon einiges Verständniß für die Landwirthschaft zu gewinnen, indem er zugebe, was umgepflügt sei, sei umgepflügt. Aber es sei eine falsche Schlußfolgerung, wenn er meine, daß, so viel Land als mit

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Winterkorn bestanden und umgepflügt gewesen sei, an Getreideland abgehe. Denn was mit Winterkorn bestanden gewesen sei, sei eben jetzt mit Sommerweizen bepflanzt. Der Minister habe recht, wenn er sage, die früber ungünstigen Ernteaussichten hätten sich in der letzten Zeit wesentlich verbessert, die gleichen Zustände finde man auch in fremden Ländern und aus seinem eigenen Kreise könne er das Gleiche bestätigen. In zehn Wochen werde man in den Genuß des neuen Getreides eintreten, und wenn der Abg. Richter seinen Einfluß dahin geltend mache, daß die Börse die Getreidepreise nicht weiter in die Höhe treibe, habe man in Bälde wieder billiges Getreide in Aussicht.

Abg. von Eynern: Er sei überzeugt, daß nach den heutigen Worten des Ministers die Unsicherheit noch größer werden würde und daß die Spekulation sich nach der Seite der Preissteigerung noch weiter er twickeln werde (sehr richtig! links), weil man unsicher dar⸗ über sei, wie weit die Kornzölle durch den österreichischen Handels⸗ vertrag ermäßigt werden sollten. Das werde der Erfolg der heutigen Debatte sein; die Landwirthe würden allerdings von den hohen Getreidepreisen keinen Vortheil ziehen, weil sie eben falsch spekulirt und zu früh verkauft hätten. Er bedaure das im Interesse der Landwirthe, aber beklagen könnten sie sich nicht darüber, denn TS werde man die Spekulation nicht aus der Welt schaffen

unen.

„Abg. Broemel: Die Entscheidung, ob man bei uns noch über ausreichendes Getreide verfüge, sei sehr wohl möglich; sie werde getroffen durch die Verhältnisse des Getreidemarktes, auf dem jeder einzelne Betheiligte seine Haut zu Markte trage. Um die Gemüthsruhe, mit der der landwirthschaftliche Minister über diese Frage spreche, könne ihn Mancher beneiden. Gewiß könne Niemand mit Sicherheit heute voraussagen, wie in sechs Monaten die Ge⸗ treidepreise sich gestalten würden. Aber die Preise, die schon jetzt für Lieferungen im Herbst und selbst im Winter gezahlt würden, so⸗ wie das Urtheil, das man in Frankreich über die Getreidepreise in der nächsten Campagne gefällt habe, zeigten doch einigermaßen, welche Preise man zu erwarten habe. Die gegenwärtigen Preise für Herbstlieferungen bedeuteten, daß auf sieben bis acht Monate hinaus die Preise eine Höhe haben würden, bei der früher niemals die Zölle im Deutschen Reich aufrechterhalten worden seien. Der landwirthschaft⸗ liche Minister scheine nur die Interessen seines Ressorts oder derjeni⸗ gen Produktionszweige, denen er seine besondere Aufmerksamkeit zu⸗ wende, vor Augen gehabt zu haben. Vergeblich sei die Behauptung gewesen, daß der Zoll keinen Einfluß anf den Getreidepreis ausübe, vergeblich, daß der Getreidepceis ohne Einfluß auf den Brotpreis sei. Im Jahre 1887, als die letzte Getreidezollerhöhung beschlossen worden sei, habe in Berlin ein 50⸗Pfennigbrot ein Gewicht von nahezu 5 Pfund gehabt, während es seit vier Wochen nur 3 ¼ Pfund wiege. Das sei eine Steigerung des Brotpreises um nahezu 50 %. Gewiß er⸗ schwere die zollpolitische Unsicherheit die Versorgung des deutschen Markts mit Getreide. Aber auch wenn kein Wort über Zoll⸗ aufhebung in der Presse gestanden hätte, würde man in allen Kreisen auf eine solche Maßregel sich Aussicht gemacht haben, weil man es für undenkbar halte, daß in einem civilisirten Staat eine Regierung und eine Volksvertretung sich finde, welche gleichgültig dagegen sei, in welchem Preise unter einer unerträglichen Zollbelastung die Brotfrucht sich erhalte. Zu den Zeiten des absoluten Staats würde unter solchen Verhältnissen unzweifelhaft zu Gunsten des Konsums eingegriffen worden sein; gerade xb jenigen, die das monarchische Prinzip hoch hielten, müsse es ver⸗ hängnißvoll werden, diesen Zoll, wie er in keinem Lande bestehe, unter allen Umständen aufrecht zu erhalten. In allen Ländern und auf allen Märkten seien die Bestände nur klein. Die Preise hielten sich bei uns fast überall auf gleichem Niveau Der Preis für Loco⸗ roggen sei nach der heutigen Zeitung in Königsberg 206, Danzig 200, Stettin 203, Köln 210 ℳ, für Locoweizen in Danzig 243, in Stettin 228 240, in Hamburg 238 244, in Köln 250, in Paris 244 Woher der Abg. von Kardorff habe, daß in Köln der Weizen 234 koste, wisse er nicht. Wenn allein in Berlin die Preise so hoch wären, so könnte es kein besseres Geschaͤft geben, als Getreide aus anderen Plätzen heranzuziehen. Er würde dem Abg. von Kardorff ein Com⸗ pagniegeschäft vorschlagen, damit er ihm die Orte nenne mit so niedrigen Preisen, um von dort das Getreide herzuholen. Er sei ein Gegner jedes Einzriffs des Staats in die wirthschaftlichen Verhältnisse, vor Allem deshalb, weil er an die angebliche Weisheit und Voraussicht der Regierung nicht glaube. Sie sei meistens weit ununterrichteter und ungeschickter als der Privatmann; aber wenn es möglich sein sollte, mit Staatsmitteln billiges Getreide nach Berlin zu schaffen, so würde er die Hand dazu bieten. Der Abg. von Kardorff habe Mannheim und Mainz genannt. Das seien doch aber nicht Plätze, um Berlin mit Getreide zu versorgen. Es seien Rheinhäfen, die von dem Berliner Preisstand an sich nicht abhängig seien. Aber selbst die von dem Abg. von Kardorff an⸗ geführten Preise an diesen Plätzen, welche in Folge der billigen Zufuhr zu Wasser etwas niedriger seien, zeigten doch, daß die Weizenpreise dort eine ungewöhnliche Höhe erreicht hätten. Man habe zudem nicht bloß mit den gegenwärtigen Preisen, sondern auch mit denen der St zu rechnen. Die Regierung lade mit ihrem Verhalten eine ungewöhnliche Verantwortlichkeit auf sich. Es gebe nichts Thörichteres, als sich jetzt hartnäckig auf die vorhandenen Zölle zu steifen. Das Sypstem könne keinen schlimmeren Untergang erfahren, als wenn man es in verblendeter Weise unter allen Um⸗ ständen aufrecht erhalten wolle. (Beifall links.)

Staats⸗Minister Dr. von Boetticher:

Meine Herren! Ich bedauere, daß ich der Diskussion, welche das Haus gegenwärtig beschäftigt, nicht von Anfang an habe bei⸗ wohnen können, und ich muß deshalb um Entschuldigung bitten, wenn in meinen, wie ich beabsichtige, nur sehr kurzen Ausführungen irgend Etwas enthalten sein sollte, was entweder von anderer Seite schon, namentlich vom Regierungstische aus gesagt ist, oder wenn ich nicht ganz richtig informirt sein sollte über die Ausführungen, die aus der Mitte des Hauses gemacht sind.

Meine Herren, ich beklage es lebhaft, daß der Hr. Abg. Broemel zur Weisheit und Voraussicht der Regierung in den Fragen, die hier zur Diskussion stehen, ganz und gar kein Vertrauen hat. Er thut uns darin wirklich unrecht, wenn er uns sein Vertrauen versagt; denn ich glaube, an Interesse für die Versorgung des Landes mit den nöthigen Lebensmitteln steht die Regierung dem Hrn. Abg Broemel nicht nach. (Zurufe: Sehr gut! Abg. Broemel: Ganz entschieden! Heiterkeit.)

Der Hr. Abg. Broemel sagt: Ganz entschieden! Das ist eine Auffassung, die ich ihm lasse, deren Berechtigung aber lediglich um deswillen, weil er sie hat, doch noch nicht auf allen Seiten des Hauses anerkannt zu werden braucht. (Sehr gut!)

Nun komme ich zunächst auf eine Aeußerung, die ich vor einigen Tagen bei Gelegenheit einer landwirthschaftlichen Versammlung ge⸗ than habe, und an die der Hr. Abg. Rickert, wie man mir sagte, heute erinnert hat. Diese Aeußerung ich weiß nicht, ob der Herr Abgeordnete sie so wiedergegeben hat, wie mir berichtet wurde ist, wie ich höre, einer mißverständlichen Deutung unterzogen worden, und ich freue mich, daß ich Veranlassung habe, hierüber mich des Näheren auszulassen.

Meine Herren, ich nahm Theil an einem landwirthschaftlichen Feste in meinem Wahlkreise, und ich habe diese Gelegenheit, ebenso wie alle Gelegenheiten, die sich mir zu diesem Zwecke bieten, dazu be⸗ nutzt, um die Besorgnisse, die im Lande gehegt werden wegen der Entwicklung unserer Zustände, soweit es an mir liegt, zu zerstreuen.

Ich babe bei meiner Ausführung, die ich im Rabmen einer Tischrede ge-

macht habe, zunächst daran erinnert, daß die äußere Lage des Reiches mir augenblicklich eine besonders günstige zu sein scheine, sodaß ich keine Veranlassung sähe, die Besorgnisse, die bezüglich der Aufrecht⸗ erhaltung des Friedens im Lande hier und da geäußert werden, als begründet anzusehen. Ich bin dann weiter, und das lag ja in einer landwirthschaftlichen Versammlung ganz nahe, auf die Sorgen der Landwirthschaft gekommen und habe auch, zumal ich darauf angeredet war, davon gesprochen, ob etwa der Landwirthschaft Opfer angesonnen werden möchten. Ich habe selbstverständlich nicht davon sprechen können, welche Herabsetzung agrarischer Zölle in Folge der Handelsverträge, über die wir gegenwärtig verhandeln, eintreten wird; denn, meine Herren, obwohl ich weiß, daß von anderer Seite der Satz vertreten wird, daß man über wirthschaftliche Dinge recht offen mit einander sprechen muß, so halte ich es doch nicht für angemessen, über Gegenstände, die sich in schwebender internationaler Verhandlung befinden, von einer autoritativen Stelle aus eher etwas zu sagen, als bis diese Verhandlungen zum Abschluß gekommen sind. (Sehr richtig!) Und, meine Herren, Sie werden auch heute von mir vergeblich erwarten, daß ich mich über das Maß der landwirthschaft⸗ lichen Konzessionen, die in diesen Verträgen gemacht werden, des Näheren äußere. Dazu bin ich nicht ermächtigt, ich würde dies auch für total falsch halten.

Das allerdings habe ich nicht verschwiegen, daß Ermäßigungen des Schutzes, welchen unsere Landwirthschaft zur Zeit genießt, eintreten werden. (Hört! hört! rechts.) Ich habe aber hinzugefügt, die Politik der Regierung müsse, wenn sie anders eine vorsichtige und weise sein soll, darauf gerichtet sein, daß solche Ermäßigungen nicht in einem Maße zugestanden werden, daß dadurch die Existenz und Entwickelung des nothwendigsten Faktors unseres wirthschaftlichen Lebens, der Landwirthschaft, gefährdet oder beeinträchtigt werde. (Zurufe: dehnbar!)

Ich glaube, meine Herren, Sie werden bei ruhiger und objektiver Betrachtung diese Aeußerung für eine ganz richtige und rationelle, nach Maßgabe der Verhältnisse gegebene erachten. (Zurufe.) Ja, das glaube ich, daß die Herren gern mehr wissen möchten; aber ich kann eben nicht mehr sagen. (Zuruf links: wir haben Sie ja gar nicht angegriffen! Zurufe. Glocke des Präsidenten.)

Also, meine Herren, so verhält es sich mit den Ausführungen, die ich in Stralsund gemacht habe und die hier vor Ihnen zu wieder⸗ holen ich keinen Anstand genommen habe.

Was nun die brennende Frage anlangt, die gegenwärtig hier verhandelt wird, so werden Sie schon aus dem Eingang meiner Bemerkungen entnommen haben, daß die Regierung die Er⸗ scheinungen, die auf dem Gebiete unseres Getreidehandels und unserer Getreideproduktion sich zeigen, mit aufmerksamem Interesse verfolgt, daß die Regierung bemüht ist und, meine Herren, das ist nicht ganz leicht —, der Sache auf den Grund zu kommen, ein sicheres Bild über die vorhandenen Bestände an Brotkorn zu gewinnen, und daß sie bereit ist, nach Maßgabe des Ausfalls dieser Untersuchungen diejenigen Maßregeln zu treffen, welche etwa getroffen werden müssen, um einem Nothstande im Lande zu begegnen. (Hört! hört!)

Aber wenn der Hr. Abg. Broemel so weit geht, die Regierung bezüglich der Getreidezölle auf einen Systemwechsel drängen zu wollen, so glaube ich, auch ohne daß in dieser Beziehung schon ein Beschluß unter den verbündeten Regierungen gefaßt worden ist, einen solchen Systemwechsel ihm nicht in Aussicht stellen zu können. (Abg. Bromel: Brotvertheuerung! Heiterkeit. Glocke des Präsi⸗ denten.) Ich bin der Meinung, daß mit gutem Grunde die Regie⸗ rungen und der Reichstag dazu übergegangen sind, zum Schutz der Land⸗ wirthschaft agrarische Zölle zu schaffen. Ich bin der weiteren Meinung, daß diese agrarischen Zölle vorbehaltlich natürlich der Rücksicht⸗ nahme auf andere, höhere Interessen, namentlich auf das Interesse der Versorgung des Landes so lange aufrechterhalten werden müssen, als ihre Aufrechterhaltung nothwendig ist zur Erhaltung der Existenz. fähigkeit und der Leistungsfähigkeit der Landwirthschaft. Wir werden deshalb schwerlich dazu übergehen, um der Anschauung des Hrn. Abg. Broemel willen die Getreidezölle ape heben. Wir werden aber, wenn wir zu der Ueberzeugung kommen, dag eine zeitweise Ermäßigung oder Aufhebung der Getreidezölle mit Rücks. ! auf di Versorgung des deutschen Marktes mit Brotkorn nothwendig ist, auch keinen Anstand nehmen, ähnlich, wie es auch schon früher geschehen ist, diejenigen Vorschläge dem Bundesrath und dem Reichtage zu machen, welche erforderlich sind, um dem Nothstand abzuhelfen. (Zurufe.)

Nun, meine Herren, glaube ich, daß damit das Thema, das hier verhandelt wird, soweit ich mich damit zu beschäftigen habe, erledigt ist. Ich refümire mich dahin: wir untersuchen den aktuellen Zustand, wir werden thun, was nothwendig ist, um Noth Wund Elend vom Lande abzuwehren, und wir werden den Reichstag berufen, wenn wir etwa zu solchen Maßregeln übergehen wollen, welche wir nur im Zusammenwirken mit dem Reichstag vornehmen können. Ich untersuche nicht, welche Gründe die gegen⸗ wärtige Preisvertheuerung hervorgerufen haben. Nur das Eine, glaube ich, wird der Abg. Broemel bei reiflicher Ueberlegung doch auch zugeben müssen, nämlich, daß die Spekulation an dieser Preis⸗ steigerung doch nicht so ganz unschuldig ist. (Sehr wahr! rechts.) Er hat in seiner Betrachtung in Abrede gestellt, daß die Spekulation auf eine solche Vertheuerung hinzuwirken vermöge. Allein, meine Herren, ich brauche nur an die Kaffeeschwänze zu erinnern, ich brauche nur auf den Kupferring und vielfache ähnliche Erscheinungen auf dem Gebiete der Börse hinzuweisen, um dem Hrn. Abg. Broemel den Beweis zu liefern, daß die Spekulation auf die. Preissteigerung einen recht erheblichen Einfluß zu üben im Stande ist

Also, meine Herren, vertrauen Sie der Fürsorge der Regierung; sie wird nicht anstehen, die Maßregeln zu ergreifen, die sie von Seiten der Gesetzgebung und Verwaltung für erforderlich hält, um die Ver⸗ sorgung Deutschlands mit den nöthigen Brotfrüchten sicherzustellen. (Bravo! rechts.)

Abg. von Schalscha polemisirt gegen eine auch nur temporãre Suspension der Getreidezölle als eine ganz zwecklose Maßregel, welche nur einen großen Ausfall für die Reichskasse zur Folge haben würde den nachher die Steuerzahler doch wieder aufbringen müßten. Die Herabsetzung der Zölle im E mit Oesterreich sei ebenfalls unnütz, denn die österreichischen Interessenten täuschten sich sehr, wenn sie glaubten, bei uns an Getreide etwas zu verdienen, da schon die heimische Landwirthschaft gerade nur auf die Kosten komme.

Abg. Richter: Die Landwirthe seiner Fraktion versicherten überein⸗ stimmend, daß man erst später beurtheilen könne. wann umgepflügt

werden müsse; zum nochmaligen Säen von Weizen sei es dann meistens zu spät, es müßten dann meistens Hafer und Kartoffeln gebaut werden.

1 Die Agrarier hier v rhielten sich noch ablehnender als die Agrarier