theils
deßwillen, weil dieser Antrag tbeils überflüssig ist, entbehrt.
undurchführbar sein würde und theils der Begründung (Heiterkeit)
Ueberflüssig ist der erste Satz des neuen Absatzes, den der Herr Redner in §. 7 hinter Absatz 1 einfügen will. Der Herr Vorredner wünscht eine Gesetzesvorschrift dahin erlassen zu sehen, daß dem durch Trunkfälligkeit oder geschlechtliche Ausschweifungen Erkrankten freie Kur und Verpflegung in einem Krankenhause gewährt werden kann, auch wenn von der Befugniß des §. 6a Absatz 1 Ziffer 2 Gebrauch gemacht ist. Nun bezieht sich diese Ziffer des §. 6a Absatz 1 gar nicht auf die ärztliche
ehandlung des Patienten, sondern sie läßt nur zu, daß durch einen emeindebeschluß festgestellt werden kann, daß der in Folge geschlecht⸗ cher Ausschweifungen oder Trunkfälligkeit u. s. w. Erkrankte kein Krankengeld bekommt Die Gemeinde ist also nicht zu beschließen berechtigt, daß dieser Kategorie von Erkrankten auch die ärztliche Be⸗ handlung und freie Arzenei versagt wird; auch diese Kategorie st ebenso gestellt, wie alle übrigen Erkrankten, d. h. es muß ihr, sofern sie einer Krankenkasse angehört, die freie ärztliche Behandlung und freie Arzenei zu Theil werden. Jedem Erkrankten aber kann nach §. 7 Absatz 1, sofern die sonstigen Voraussetzungen orliegen, die Kur in einem Krankenhause angesonnen werden. Es giebt sich, daß das, was der Herr Vorredner hier verordnen will, über⸗ sig ist. Die bezeichneten Kranken müssen freie Arzenei und eie ärztliche Behandlung bekommen und können auch in einem rankenhause kurirt werden. Was nun den Schlußsatz des vorgeschlagenen neuen Absatzes be⸗ trifft, wonach verordnet werden soll, daß die Aufnahme der von mir bezeichneten Kategorie von Erkrankten in ein Krankenhaus dann ge⸗ 8 chehen soll, wenn der betreffende Patient erwerbsunfähig ist und darum einkommt, so erscheint dieser Vorschlag unausführbar. Woher nehmen und nicht stehlen? Wenn eine Gemeinde kein Krankenhaus hat, dann kann sie selbst⸗ verständlich auch ihre Kranken nicht ins Krankenhaus bringen, und wenn man sie durch diesen Beschluß nöthigen wollte, beispiels⸗ weise in Masuren, die Aufnahme in ein Königsberger Krankenhaus zu ermöglichen, so würde man die Lasten der Krankenkassen ganz außerordentlich erschweren. Also der Herr Vorredner wird sich daran überzeugen, daß die Ausführung dieses Beschlusses unmöglich sein würde. Was dann seinen dritten Vorschlag anlangt, wonach er ange⸗ ordnet wissen will, daß bei Erkrankung in Folge von Trunkfälligkeit oder geschlechtlichen Ausschweifungen die Leistung des halben Kranken⸗ geldes an die Familie versagt werden kann, so finde ich diesen Vorschlag etwas hartherzig. Was kann die arme Familie dafür, wenn der Vater trunkfällig ist oder geschlechtliche Ausschweifungen begangen hat? Der Herr Vorredner präsumirt allerdings den Fall, daß die amilie an der Trunkenboldigkeit des Vaters schuld ist, aber ich laube, dieser Fall wird so selten eintreten, daß der Gesetzgeber sich um seinetwillen nicht in besondere Unkosten zu stürzen nöthig hat. Minima non curat praetor. Ich bitte, auch diesen Zusatz abzulehnen, da ich, wie gesagt, die unschuldige Familie nicht
arunter leiden lassen kann, daß der Vater ein Trunkenbold oder ein geschlechtliche Ausschweifung liebender Mann ist.
Was nun die übrigen Anträge anlangt, so kann ich mich für den Antrag der Abgg. Dr. Giese, Wichmann und Graf von Holstein aus⸗ sprechen. Dieser Antrag enthält eine Verbesserung gegenüber der Vorlage, und ich möchte das hohe Haus bitten, ihn anzunehmen.
Was dann den Antrag des Abg. von Strombeck anlangt, so laube ich, daß dieser Antrag überflüssig ist. Wir gehen nämlich von er Voraussetzung aus, und diese ist auch, soviel ich weiß, bisher in der Praxis zur Geltung gekommen, daß die Kranken, welche auf Anordnung des
Krankenkassenvorstandes oder hier der Gemeindebehörde in ein Kranken⸗ aus geschafft werden sollen, nicht auf ihre Kosten, sondern auf Kosten r Krankenkassen, also hier der Gemeindekrankenversicherung ins rankenhaus übergeführt werden. Ich glaube also nicht, daß es in dieser Beziehung noch einer Anordnung bedarf, und nehme weiter an, aß, indem der Herr Antragsteller Fälle zuläßt, in denen die Kranken die Kosten der Ueberführung ins Krankenhaus zu tragen haben, damit eine Verschlechterung des bisherigen Zustandes eintreten würde, onach, soweit mir bekannt ist, die Transportkosten ausschließlich von en Kassen gestellt wurden. Ich möchte also glauben, daß auch dieser Antrag sich nicht zur Annahme empfiehlt. 1 Abg. v. Strombeck: Nach §. 8 des württembergischen Muster⸗ statuts würden die Kosten des Transports nach und aus dem Krankenhaus und die Beerdigungskosten nicht von der Amts⸗ orporation getragen. Dieses Statut beruhe auf dem Ausführungs⸗ ne Reichs⸗Krankengesetz. Er müsse also seinen Antrag aufrecht erhalten. Staatssekretär Dr. von Boetticher: Der Herr Vorredner hat mich auf die württembergische Gesetz⸗ gebung und auf das württembergische Musterstatut hingewiesen. Mir wird aber eben von meinem württembergischen Herrn Bundesraths⸗ Kollegen gesagt, daß das Musterstatat, auf dessen §. 8 der Herr Abgeordnete sich bezogen hat, nicht das zur Zeit in Geltung befind⸗ liche ist. In dem von ihm citirten §. 8 steht allerdings:
„Die Kosten des Transports in das Krankenhaus und aus demselben und die Beerdigungskosten werden von der Amtskorpo⸗ ration nicht getragen.“
In dem neuen jetzt in Geltung befindlichen Musterstatut ist der betreffende Passus in §. 15 gerade umgekehrt gefaßt:
„Die Kosten des etwa nothwendigen Transports in das Kranken⸗ haus werden von der Versicherungskasse auf Anweisung des Ver⸗ waltungsausschusses bezahlt.“
In einer Anmerkung hat der Herr Kommentator allerdings inzugefügt:
„Eine rechtliche Verpflichtung, diese Transportkosten zu tragen, besteht zwar für die Versicherungskasse nicht; es erscheint aber zweckmäßig, diese Kosten auf die Versicherungskasse zu übernehmen, wenn der Transport nothwendig war.“
Nun ist, soviel mir von meinen sachverständigen Beiräthen gesagt wird, nur in Württemberg in früherer Zeit, ohne daß aber diese selbe Praxis in den übrigen Theilen des Reichs bestanden hätte, die An⸗ weisung der Trarnsportkosten auf die Versicherungskasse abgelehnt worden. Nach dem neueren Statut muß ich annehmen, daß auch in Württemberg die Regel sein wird, daß man den Erkrankten auf
osten der Kasse in das Krankenhaus überführt. Deshalb scheint mir der Antrag von Strombeck nicht gerade nöthig zu sein.
1
Ich finde aber auch, ungeachtet der Ausführungen des Herrn von Strombeck, daß sein Antrag insofern gegenüber dem bisherigen Rechts⸗ zustande zu einer Verschlechterung der Lage der Patienten führt, als er wenigstens für gewisse Fälle dem Patienten die Kosten der Ueberführung zur Last legen will, — und das scheint mir nicht zweckmäßig zu sein. Ich würde es vielmehr vorziehen, wenn man es bei der gegenwärtigen Rechtsübung beließe, die meines Erachtens auf Grund des Reichs⸗ gesetzes dahin gegeben ist, daß die Kosten des Transports in das Krankenhaus allemal von der Krankenkasse getragen werden.
Abg. v. Strombeck zieht auf Grund dieser Erklärung seinen Antrag zurück. “
Königlich württembergischer Bundesrathsbevollmächtigter Ober⸗ Regierungs⸗Rath von Schicker bemerkt, daß die von dem Abg. von Strombeck angezogenen Bestimmungen sich nicht auf die reichsgesetz⸗ liche, sondern auf die landesgesetzliche Versicherung bezogen hätten. Abg. Graf Holstein empfiehlt den Antrag Giese zur Annahme. 3 3 Abg. Möller bekämpft diesen Antrag, weil er das Recht der Krankenkassen, die Erkrankten in ein Krankenhaus überzuführen, ein⸗ schränke. Die moralische Verpflichtung der Arbeitgeber, den Ar⸗ beiter auf ihre Kosten in das Krankenhaus zu befördern, möchte er durch eine gesetzliche Bestimmung nicht beschränkt sehen. 1
Geheimer Ober⸗Regierungs⸗Rath von Woedtke: Er wisse nicht, ob thatsächlich Mißverständnisse zu praktischen Unzukömm⸗ lichkeiten Anlaß gegeben hätten, aber jedenfalls hätten die Inter⸗ pretatoren dieses Mißverständniß gerügt und bei der Berathung, einer Novelle sollte man auch diesen Fehler beseitigen; darum empfehle er den Antrag Giese zur ö“ vorbehaltlich der redaktionellen Ver⸗
erung in der dritten Lesung.
8 Abg. Freiherr von Münch hält seinen Antrag für durchaus nicht überflüssig oder undurchführbar; die wenigen Fälle, wo die Ueber⸗ führung in ein Krankenhaus außergewöhnliche Kosten veranlasse, könnten nicht ausschlaggebend sein, und es müsse den Kranken immer die Verpflegung im Krankenhause freistehen. 18 Unter Ablehnung sämmtlicher Anträge wird §. 7 nach dem Vorschlage der Kommission genehmigt.
Nach §. 8 wird der Betrag des ortsüblichen Tagelohns gewöhnlicher Tagearbeiter von den höheren Verwaltungs⸗ behörden nach Anhörung der Gemeindebehörden festgesetzt; Aenderungen der Festsetzung treten erst sechs Monate nach der Veröffentlichung in Kraft. Die Festsetzung findet für männliche und weibliche, erwachsene und jugendliche Arbeiter (§. 135 der Gewerbeordnung) getrennt statt.
Auf Antrag des Abg. von Strombeck wird die Bezug⸗ nahme auf §. 135 der Gewerbeordnung durch Einfügung der betreffenden Bestimmungen über die jugendlichen Arbeiter selbst beseitigt.
§. 12 des Krankenkassengesetzes läßt zu, daß mehrere Gemeinden sich zu einer gemeinsamen Krankenversicherung vereinigen und daß eine solche Vereinigung durch Verfügung der höheren Verwaltungsbehörden angeordnet wird; gegen diese Verfügung soll den einzelnen Gemeinden eine Beschwerde üustehen.
zuf 8 von Strombeck: In §. 12 fehle eine Bestimmung darüber, an wen die Beschwerden gegen die Genehmigung der höheren Verwaltungsbehörde gehen sollten; er würde empfehlen, hier eine Aende⸗ rung eintreten zu lassen.
Geheimer Ober Regierungs- Rath von Woedtke: Eine Be⸗ stimmung hierüber fehle allerdings, aber in der Mehrzahl der Einzel⸗ staaten sei darüber landesgesetzlich Bestimmung getroffen, und wo eine solche fehle, da sei es humaner, den jetzigen Zustand bestehen zu lassen, weil dann die Betreffenden die Möglichkeit hätten, die Be⸗ schwerde an mehreren Stellen einzureichen.
Nach 14 können die eben erwähnten Vereinigungen auf demselben Wege wieder aufgelöst werden, auf dem sie herbeigeführt sind.
Abg. von Strombeck: In Preußen würden nach dem Inkraft⸗ treten der Landgemeindeordnung sehr viele Gemeinden zusammengelegt werden, und es könnten hier Schwierigkeiten entstehen bei der Aus⸗ einandersetzung zwischen den Krankenkassen dieser zusammenzulegenden Gemeinden, sowohl in Bezug auf die Beitragshöhe, als auch auf die Verwendung der Reserve. Er möchte die Regierung bitten, hierfür bald Vorsorge zu treffen.
§. 15 enthält Bestimmungen über die Leistungen von Gemeinde⸗Versicherungskassen, sowie über die zu diesen zu leistenden Beiträge und begimmt, daß etwaige Erhöhungen dieser Beiträge, die nothwendig sind, um die Leistungen der Gemeindekassen mit den sonstigen Anforderungen des Kranken⸗ kassengesetzes in Einllang zu bringen, spätestens binnen einem Jahre nach Einführung des Gesetzes durchzuführen sind.
Ein Antrag von Strombeck, diesen Zusatz, den er für überflüssig hält, nachdem das Gesetz nunmehr seit einer Reihe von Jahren gilt, zu streichen, wird abgelehnt. 8
Nach §. 16 können die Gemeinden Ortskrankenkassen errichten für die in einem Gewerbszweige oder in einer Be⸗ triebsart beschäftigten Arbeiter; für mehrere Gewerbszweige können gemeinsame Kassen errichtet werden, wenn in den einzelnen Gewerbszweigen die Zahl der zu versichernden Per⸗ sonen Hundert nicht übersteigt. 1
Abg. Wisser beantragt, den Gemeinden, die besondere Ortskassen begründen wollen, das Recht zu geben, aus einem Kommunalverbande auszuscheiden. 1
Der Antragsteller weist darauf hin, daß durch die Aus⸗ dehnung der Krankenversicherung viele Versicherte in einzelnen Gemeindekassen viel besser aufgehoben sein würden, als in Verbancskassen, daß aber die betreffenden Gemeinden jetzt nicht in der Lage seien, den von ihnen gewünschten Austritt aus den Kassenverbänden herbeizuführen.
Geheimer Ober⸗Regierungs⸗Rath von Woedtke: So wünschens⸗ werth der Antrag auch im Interesse einzelner Gemeinden sei, so müsse er für seine Person doch die Ablehnung befürworten, weil durch das Ausscheiden einzelner Gemeinden die übrigen im Krankenkassenverbande verbleibenden Gemeinden arg benachtheiligt werden könnten.
Abg. Dr. Hirsch: Viele Gemeinden hätten, als das Kranken⸗ kassengesetz neu gewesen sei, einen Verband gestiftet, ohne daß sie vorber hätten überseben können, mit welch nachtheiligen Folgen für sie das verknüpft sein würde; nunmehr ergäben sich diese übelen Folgen, den Gemeinden sei aber der Austritt unmöglich, selbst da, wo sich ganz heterogene Gemeinden, solche mit vorwiegend löndlicher und solche mit vorwiegend industrieller Bevölkerung, in einem Verband befänden; hierdurch würden beide Theile in der Ausbildung ihres Kassenwesens gehemmt. Er bitte, aus diesem Grunde den Antrag Wisser, der in seiner Tendenz ganz empfehlenswerth sei, anzunehmen, oder den in seinem Antrag enthaltenen Vorschlag in einer anderen Fassung in das Gesetz aufzunehmen.
Gebeimer Ober⸗Regierungs⸗Rath von Woedtke: Wenn man nicht zu Gunsten einzelner Gemeinden andere schädigen wolle, dürften Gemeinden aus Krankenkassenverbänden nur auf demselben Wege aus⸗ scheiden, auf dem sie den Verband begründet hätten
§. 16 wird unter Ablehnung des Antrags Wisser unver⸗ ändert angenommen, ebenso §. 18 a, wonach die Gemeinden das Recht haben, Gewerbszweige, für die eine Ortskranken⸗ kasse nicht besteht, einer anderen Ortskrankenkasse zuzuweisen.
§. 20 setzt die Leistungen der Ortskrankenkasse fest; das Krankengeld soll sich richten nach dem durchschnittlichen (nicht
nach dem ortsüblichen) Tagelohn; für Wöchnerinnen soll ein
Krankengeld gewäh: berden, wenn sie sechs Monate vor der Entbindung „ununte orochen“ Mitglieder der Kasse gewesen sind. Die Abgg. Auer u. Gen. wollen das Wort „ununter⸗ brochen“ streichen; Abg. Spahn beantragt, wie es auch in der ursprünglichen Regierungsvorlage hieß, daß nur ehe⸗ lichen Wöchnerinnen Krankengeld gewährt werden soll.
Abg. von Strombeck will den durchschnittlichen Tage⸗ lohn nach §. 8 (also ebenso wie den ortsüblichen Tagelohn) durch die höheren Verwaltungsbehörden festsetzen lassen.
Das Sterbegeld soll, wenn ein Mitglied nach Beendigung der Krankenunterstützung stirbt, nur gewährt werden, wenn der Tod „in Folge derselben Krankheit“, für welche die Unter⸗ stützung gewährt ist, vor Ablauf eines Jahres eintritt.
Abg. Dr. Hirsch beantragt die Streichung der Worte: „in Folge derselben Krankheit“. 18 1
Abg. Spahn: Er beantrage, die Krankenunterstützung auf die ehelichen Wöchnerinnen zu beschränken. Die Kommission habe aus humanitären Gründen die Unterstützung unehelicher Wöchnerinnen zu⸗ lassen wollen, und er wolle sich diesen Gründen auch nicht ver⸗ schließen, könne aber doch dem Kommissionsbeschlusse nicht zustimmen. Schwerwiegende juristische Gründe sprächen gegen die Gewährung des Krankengeldes an uneheliche Wöchnerinnen. Denn man habe den feststehenden Grundsatz in der Gesetzgebung, daß Rechtsgeschäfte, die gegen die guten Sitten verstießen, nichtig seien.
Abg. Kuhnert: Die Vorlage bringe theilweise neue Grund⸗ lagen für die Krankenversicherung, aber nicht Verbesserungen, sondern Verschlechterungen. Eine sehr harte Forderung sei es, daß die be⸗ treffenden Wöchnerinnen sechs Monate lang ununterbrochen einer Krankenkasse angehört haben sollten. Die Erwerbsverhältnisse brächten eine große Fluktuation unter den Arbeitern mit sich, sodaß häufig ein Wechseln der Arbeiterinnen aus einer Kasse in die andere eintrete und durch diese Bestimmung eine Schädigung für sie hervorgerufen werde. Deshalb müsse das Wort „ununterbrochen“ gestrichen werden. Sodann sei seine Partei gegen den Ausschluß der unehelichen Wöchnerinnen schon vom rein menschlichen Standpunkte. Eine uneheliche Wöchnerin sei entschieden hülfsbedürftiger als eine eheliche, und nach der Statistik sei die Sterblich⸗ keit der unehelichen Kinder größer als die der ehelichen. Wenn die uneheliche Wöchnerin ihre Kassenpflicht erfüllt habe, müsse auch die Kasse die entsprechende Gegenleistung gewähren. Seine Partei wolle eine solche Arbeiterin auch vor dem Anheimfallen an die öffentliche Armenpflege bewahren, da diese gewöhnlich mit dem Odium der Schande belegt sei. Eine uneheliche Wöchnerin sei doch keine Verbrecherin; nur für strafrechtliche Vergehen könne eine Sühne veclangt werden. Sollten die Mädchen für den außer⸗ ehelichen Umgang bestraft werden, so müßte auch für die Männer eine Strafe eingeführt werden. Hätte man eine solche Strafe, so würden sicherlich neun Zehntel der Bourgeoisie darunter zu leiden haben. Der Religion und den guten Sitten könne man durch den Antrag Spahn nicht aufhelfen. Religiöse und sittliche Fragen solle man nicht mit wirthschaftlichen verquicken, und es sei unmöglich, Religion und Sittlichkeit auf Kosten der Gerechtigkeit und der einfachsten Menschlichkeit zu heben. Daher sei der Antrag des Centrums inhuman und unmoralisch.
Abg. Wilisch empfiehlt den Antrag Hirsch.
Abg. Dr. Buhl: Er ersuche, es bei den Beschlüssen der Kom⸗ mission zu lassen und auch unehelichen Wöchnerinnen das Kranken⸗ geld zu gewähren. Die Lage einer unehelichen Wöchnerin und ihres Kindes sei in der Regel schlimmer als die einer ehelichen. Er könne nicht anerkennen, daß man mit einem solchen Beschluß gegen die guten Sitten verstoßen würde. Eine humane Bestimmung sei wohl ver⸗ einbar mit den guten Sitten. Das Arbeiterschutzgesetz verbiete den Wöchnerinnen das Arbeiten während vier Wochen nach der Ent⸗ bindung, danach würde es eine Grausamkeit sein, ihnen kein Krankengeld zu gewähren. Das Wort „ununterbrochen“ habe der Abg. Kuhnert miß⸗ verstanden, es werde nicht die ununterbrochene Zugehörigkeit zu einer 33 8 Krankenkasse, sondern überhaupt zu irgend einer Kasse verlangt.
Wirklicher Geheimer Ober⸗Regierungs⸗Rath Loh mann: Er bitte um Annahme des Antrages von Strombeck, der etwaige Zweifel beseitige. Bei der Frage der Wöchnerinnen handele es sich einfach um die Wahrung der sittlichen Grundsätze. Es dürfe keine gesetzliche Ein⸗ richtung geschaffen werden, die darauf hinauslaufe, unverehelichte Mädchen gegen die Folgen einer unehelichen Niederkunft zu ver⸗ sichern. Das Wort „ununterbrochen“ könne allerdings zu Konse⸗ quenzen führen, die damit nicht verbunden sein sollten. Es sollte nur vorgesorgt worden, daß die Krankenkassen nicht von Arbeiterinnen in Anspruch genommen würden, die ihnen noch nicht angehörten, aber bei bevorstehender Niederkunft noch rechtzeitig einträten, um Unter⸗ stützung zu genießen. Dieser Gedanke müsse auch aufrecht erhalten werden, nur werde bis zur dritten Lesung eine andere Fassung 8 suchen sein. Vorläufig bitte er, den Antrag Auer abzulehnen. 8
Abg. von der Schulenburg: Er erkläre zunächst, daß er nur für seine eigene Person spreche. Der Ansicht, daß das Mädchen, das in eine Kasse eintrete, genau dieselbe Berechtigung habe, wie die ve heirathete Frau, müsse er entschieden entgegentreten. Für den Fall der Entbindung stehe nur der verheiratheten Frau eine Vergünstigung zu. Diesen Vorzug genieße sie wegen ihrer hohen Aufgabe als Frau zum Unterschied von den unverheiratheten Mädchen. Er könne durchaus keine Unduldsamkeit darin finden, daß man die unverheiratheten Mädchen nicht dieselben Vergünstigungen genießen 1 wolle, wie die verheiratheten Frauen. Duldung zu sei Sache des Einzelnen, nicht des Gesetzgebers. Duldung für die unverheiratheten gefallenen Mädchen werde die Ehre der verheiratheten Frauen angetastet, und diese halten, sei vor allen Dingen die Aufgabe des Reichstages. Es sei dankbar anzuerkennen, daß man in einer Zeit, wo die Sozialdemo⸗ kratie das Christenthum aus den Herzen der Menschen zu reißen suche, durch die Gesetzgebung verhindere, daß die Frau in einer Weise herabgesetzt werde, die unausbleiblich sein würde, wenn man den Kom 8 missionsvorschlag annähme. Wenn die Gemeinden durch Ortsstatut duldsam sein und uneheliche Wöchnerinnen unterstützen wollten, so bleibe ihnen das unbenommen; dazu habe man den §. 21. Es gebe
aber viele Arbeiter, die dagegen Einspruch erhoben hätten, daß ge⸗
fallene unverheirathete Mädchen dieselben Rechte haben sollten, wie die ehrbaren verheiratheten Frauen. Man möge über der Toleranz nicht vergessen, was man der Ehre der ehrbaren Frauen schuldig sei! Abg. Graf Holstein: Er bedauere aufrichtig, daß er sich mit dem Abg. von der Schulenburg in einem vollständigen Widerspruch befinde. Hier sei nicht der Ort, um Tugendprämien zu vertheilen oder Verstöße gegen die Tugend zu ahnden, damit habe die Gesetz⸗ gebung gar nichts zu thun. Er (Redner) verstehe nicht, wie der Abg. von der Schulenburg zu der Auffassung kommen könne, daß man der Ehre der ehelichen Wöchnerinnen zu nahe trete, die unehelichen Wöchnerinnen unterstütze Auch sie hätten gezwungener Weise ihre Beiträge gezahlt und auch sie könnten nach der Ent⸗ bindung nicht arbeiten Wer leide darunter, wenn man ihne das Geld entziehe? Das unglückselige Kind, das von ihnen geboren sei. Man bringe die Wöchnerinnen möglicherweise um ihre Ge⸗ sundheit. Er wolle nicht die Verantwortung dafür übernehmen, da durch die Entziehung des Geldes das unglückliche Mädchen auf den Weg des Verbrechens getrieben werde 8
Auf eine Anfrage des Abg. Dr. Höffelerklärt der Wirkliche Geheime 8
Ober⸗Regierungs⸗Raͤth Lohmann: Soviel er wisse, hätten die Aerzte bisher das Wochenbett nicht als Krankheit angesehen; es könne deshalb von einer ärztlichen Behandlung nicht die Rede sein. Zuzugeben sei nur, daß die Wöchnerin als solche, auch wenn sie nicht trank sei, eine Unterstützung bekomme in Höhe des Krankengeldes. Sei sie zugleich krank, so bekomme sie nach den allgemeinen Be⸗ 15 selbstverstaäͤndlich zugleich freie ärztliche Behandlung und eznei. Abg. Eberty: Er würde das Gewicht der Ausführungen des
Abg. Grafen Holstein nur abschwächen, wenn er ihnen irgend ein
belassen.
Abg. Hitze: Die Fürsorge für die Wöchnerinnen gehe überhaupt über den Rahmen des Gesetzes hinaus. Die Gemeindekrankenversiche⸗ rung enthalte die Fürsorge für die Wöchnerinnen nicht, und die ein⸗ geschriebenen Hülfskassen hätten die Fürsorge für die Wöchnerinnen in den meisten Fällen nicht angenommen. Wenn man konsequent sein wolle, so müsse man die Fürsorge für die Wöchnerinnen überhaupt ausscheiden. Solle man nun soweit gehen, daß man die Ortskassen
winge, auch die unehelichen Wöchnerinnen zu unterstützen? Die ehelichen Wöchnerinnen erhielten die Unterstützung nicht als Gegen⸗ leistung, sondern etwa als ein besonderes Geschenk der Kassen. Er frage die Sozialdemokraten: Haben Sie in Ihren eingeschriebenen Hülfskassen die Wöchnerinnen auch? Hätten die eingeschriebenen Hülfskassen diese Fürsorge nicht, so könne man seiner Partei keinen Vorwurf daraus machen, daß sie sie hier nicht aufnehmen wolle. Seine Partei bekunde ihre Arbeiterfreundlichkeit dadurch, daß sie die Arhbeiter selbst darüber entscheiden lassen wolle, ob sie ihren Kassen diese Fürsorge auferlegen wollten oder nicht. Wenn es sich um eine barmherzige Fürsorge handelte, so ließe sich darüber reden. Was die katholische, auch die evangelische Kirche in dieser Beziehung für die Wöchnerinnen geleistet habe, sei so viel, daß die Sozialdemokratie vergeblich etwas Annäherndes ihr gegenüberzustellen versuchen würde. Gegen eine statutarische Regelung dieser Frage sei er nicht, nur sollte man hier den Zwang nicht auferlegen. Alle Erklärungen über Ungerechtigkeit des Ausschlusses der unehelichen Wöchnerinnen seien unberechtigt, es sei schon ein Uebriges, wenn die Wöchnerinnen überhaupt unterstützt würden. Seine Partei wolle nicht die Arbeiter zwingen, die unehelichen Wöchnerinnen zu unter⸗ stützen. 1 Abg. Bebel: Die katholische Kirche sei eine Jahrtausende alte Einrichtung und habe ein ungeheures Vermögen; die Sozialdemokratie sei eine neue Partei, die in einem gewissen Gegensatz zu der katho⸗ lischen Kirche und ihren Grundprinzipien stehe. Sie stebe allerdings nicht auf dem Boden der Barmherzigkeit, sie wolle an ihre Stelle das Gesetz setzen. Der Abg. Hitze habe sich nun bemüht, die Frage insofern auf ein anderes Gebiet zu ziehen, als er mehr den Rechts⸗ standpunkt im Gegensatz zum Sittlichkeitsstandpunkt hervorgekehrt babe. Aber auch diesen Standpunkt könne er (Redner) nicht theilen. Wenn verlangt würde, daß den freien Hülfe⸗ kassen die Pflicht auferlegt werde, die ehelichen und un⸗ ehelichen Wöchnerinnen zu unterstützen, so seien seine Partei⸗ genossen die Ersten, die dafür eintreten würden. Jedenfalls gebe es beute bereits eine große Anzahl von Hülfskassen, die diese Be⸗ stimmung aufgenommen hätten. Tie Herren widersprächen sich selbst, indem sie einmal aus moralischen Rücksichten davon Ab⸗ stand nähmen, die unehelichen Wöchnerinnen zu unterstützen, dann aber im § 21 ihre fakultative Unterstützung zuließen. Sehe man es als eine Art von moralischem Verbrechen an, die unehelichen Wöchnerinnen zu unterstützen, so dürfe man auch nicht die MNöglichkeit dieser Unterstützung zulassen. Immer seien es die rmen Frauen, die man für ihren Fehltritt verantwortlich mache. Wer denke daran, den Vater verantwortlich zu machen? Wenn seine Partei also die Unterstützung der unehelichen Wöchnerinnen aus der
asse verlange, so beweise das nur den hohen moralischen Stand⸗ punkt, den sie dabei einnehme. Jeder Arzt sehe darauf, daß die Wöchnerin wenigstens in den ersten neun Tagen das Bett nicht verlasse. Das Kind, das von der unehelichen Wöchnerin geboren werde, solle doch am Leben erhalten werden. Man wolle die unehelichen Wöchnerinnen auf die Armenunterstützung anweisen. Aber gerade die Sozialreform wolle das Odium dieser Armenunterstützung nach Möglichkeit vermeiden Unterstütze man diese Wöchnerinnen nicht,
dann treibe man sie der bittersten Noth und dem Verbrechen in die
rme.
Abg. Eberty: Wenn die Arbeiterinnen, verheirathete und unver⸗ heirathete, in die Krankenkassen hineingezwungen würden, dann könne man bei der Unterstützung keinen Unterschied machen, man müsse die Unterstützung Beiden gewähren und könne sie nicht in die Frei⸗ willigkeit der Gemeinden setzen, welche die Unterstützung nicht be⸗ schließen würden aus finanziellen Gründen.
Abg. Dr. Hirsch: Die Entbindung sei allerdings keine Krank⸗ heit, aber während der ersten Tage sei die Gefahr des Krankwerdens sehr groß, deshalb müsse eine Unterstützung gewährt werden. Wenn die Gemeinde⸗Krankenversicherung füir die Wöchnerinnen nicht sorge, so könne das in dritter Lesung beschlossen werden, und müsse be⸗ schlossen werden, weil die Gewerbeordnung die weiblichen Arbeiter vier Wochen nach der Entbindung von der Arbeit fern zu bleiben.
Wirklicher Geheimer Ober⸗Regierungs⸗Rath Lohmann: Es sei nicht richtig, daß die Wöchnerinnen gezwungen würden, vier Wochen von der Arbeit fern zu bleiben. Während der vier Wochen sollten sie nur vom Fabrikbesitzer nicht beschäftigt werden. Von einer Forderung der Gerechtigkeit könne man hier nicht sprechen. Das Gesetz, das hier den allgemeinen Versicherungszwang schaffe, statuire keines⸗ wegs in jedem Fall einer mit Erwerbsunfahigkeit verbundenen Krankheit die Versicherung, sondern versage die Versicherung aus⸗ drücklich in dem Falle, wo die Krankbeit durch Trunkfälligkeit oder geschlechtliche Ausschweifung veranlaßt sei.
Abg. Spahn: Das jus primae noctis habe nie zu Recht be⸗ standen. Allerdings habe man im Krankenkassengesetz ursprünglich die Wöchnerinnen gleichgestellt, aber bereits in dem Gesetz für die land⸗ wirthschaftliche Krankenversicherung habe man von dieser Gleich⸗ stellung abgesehen. Sei der Vater des unehelichen Kindes zu ermitteln und gehöre er namentlich den höheren Ständen an, dann werde die Mutter auch zu ihrem Rechte kommen. Das Mittelalter habe sich zu helfen gewußt durch Errichtung von Findelhäusern, das Kind habe man nicht treffen wollen. Daß man der Mutter das Odium der Armenunterstützung auferlege, halte er für recht und billig.
Abg. Eberty: Die sittlichen Gesichtspunkte hätten mit diesem rein wirthschaftlichen Gesetz nichts zu schaffen. Bei der Einführung der Kranken⸗ und Unfallversicherung sei eine Rücksicht auf ein etwaiges Schuldmoment der Beschädigten und die Verweisung an die Armenpflege ausgeschlossen gewesen; abgesehen von Beschädigungen in Folge von Raufhändeln, Trunksucht und geschlecht⸗ lichen Ausschweifungen, sei nirgend von einem Ausschluß von der Unterstützung die Rede, von unehelichen Geburten stehe nichts im Gesetz, und es widerspreche der Gerechtigkeit, einen Versicherungs⸗ zwang einzuführen und dann ein Ausnahmegesetz zu machen, unter das man diese Unglücklichen stellen wolle, die eben das Unglück gehabt hätten, einen Fehltritt zu thun.
„Abg. Bebel: Die meisten Hülfskassen bedürften einer Be⸗ stimmung über den in Frage stehenden Punkt schon darum nicht, weil in ihnen lediglich Männer versichert seien. In Bayern, wo das Centrum so viel Macht habe, sei gerade durch Vermehrung der Ehehindernisse die Zahl der unehelichen Geburten sehr gestiegen.
Abg. von der Schulenburg: Er habe vorher nur be⸗ hauptet, daß die Sozialdemokratie das Christenthum aus dem Herzen der Leute reißen wolle, nicht aber die Sittlichkeit. 8
Der Antrag Spahn wird abgelehnt, §. 20 unverändert angenommen.
Schluß gegen 5 Uhr.
Statistik und Volkswirthschaft.
Zur Arbeiterstatistik. VI. . guße 5 Nr. 261, 264, 266, 269 und 271) Außer den amtlichen statistischen Untersuchungen über Arbeiterverhältnisse, hea ücti en., für suc Reich, ein⸗ zelne Bundesstaaten und für die Städte Berlin und Breslau, worüber in den vorhergehenden Artikeln (III. bis V.) ge⸗
sprochen worden ist, muß zunächst auf eine Anzahl von Veröffentlichungen aufmerksam gemacht werden, die zeigen, daß wirthschaftliche Vereinigungen verschiedener Art — Han⸗ delskammern, landwirthschaftliche Vereine, Gewerkvereine, Fachvereine — auf diesem Gebiete in Deutschland bereits thätig gewesen sind und Vorarbeiten zur Arbeiterstatistik ge⸗ liefert haben. b
Zuvörderst möge hier derjenigen Beiträge dieser Art Erwähnung geschehen, die sich in den Berichten der Handelskammern finden. Bei der Durchsicht dieser Be⸗ richte trifft man hier und da auf solche statistische Nachrichten, hauptsächlich über die Lohnverhältnisse in dem betreffenden Bezirk, jedoch nur auf ganz wenige, die durch regelmäßige Wiederholung oder systematische Bearbeitung sich als bedeut⸗ same Anfänge zur statistischen Erfassung der hier in Betracht kommenden Aufgabe erweisen. So haben wir in den Jahresberichten der Handelskammer zu Bochum seit 1876 regelmäßige Angaben über die durchschnittlichen Tage⸗ löhne der dortigen Bauhandwerker und Bauhandlanger gefunden und in denjenigen der Handelskammer zu Leipzig seit 1869 Mittheilungen über den niedrigsten und höchsten Wochenverdienst eines Gasanstalts⸗Arbeiters in den Gas⸗ bereitungs⸗Anstalten des Bezirks. In Halberstadt ist neuer⸗ dings eine „Enquete zur Feststellung der wirthschaftlichen Lage der Fabrikarbeiker im Handelskammerbezirk“ unternommen worden. Diese, im Jahre 1890 veranstaltete Enquete er⸗ streckte sich über 276 Betriebe verschiedenartigster Industrie⸗ zweige mit 37 913 Arbeitern, und die bis jetzt nur vorläufigen Mitteilungen in dem 1891 erschienenen Handelskammerberichte erstrecken sich auf die Zahl der Arbeiter nach einigen Kate⸗ hrien und die Höhe der durchschnittlichen Akkord⸗ und Tage⸗ öhne.
Auf dem Gebiete der Landwirthschaft ist eine groß angelegte Arbeiterstatistik vom Kongreß deutscher Landwirthe im Jahre 1872 ins Werk gesetzt worden, die auch zu sehr beachtenswerthen Ergebnissen geführt hat. Der genannte Kongreß setzte damals eine Kommission zur Prüfung der wirthschaftlichen Lage der ländlichen Arbeiter ein, und diese stellte zwei Fragebogen auf. Vom Fragebogen K, Löhne be⸗ treffend, wurden 11 000 Exemplare an landwirthschaftliche Vereine, hervorragende Landwirthe und sonstige Sach⸗ verständige versendet. Im Frühjahr und Sommer liefen davon 1392, also 12 Proz., wieder ein. Die Antworten rühren größtentheils von landwirthschaftlichen Vereinen, zum kleineren Theil von Gemeinde⸗ und Staats⸗ beamten her. Vom Fragebogen B, der über die sonstigen Verhältnisse der ländlichen Arbeiter Auskunft erbat, konnten 716 ausgefüllte Exemplare in Bearbeitung genommen werden. Diese ist von dem Professor der Landwirthschaft Dr. von der Goltz, damals in Königsberg, jetzt in Jena, mit großem Ge⸗ schick und Fleiß ausgeführt worden. Anfang 1875 war die umfangreiche Arbeit fertig und wurde unter dem Titel „Die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reich“ veröffentlicht. Zuerst wurde ein umfangreiches Tabellenwerk über Löhne und Jahresverdienst der Tagelöhner und des Gesindes nach Staaten und größeren Verwaltungsbezirken gegeben, und dann folgte eine Be⸗ arbeitung der Ergebnisse in drei Abschnitten: männliche Hand⸗ arbeiter, weibliche Handarbeiter, Gesinde. Die Zahlen an und für sich sind natürlich heut nicht mehr zutreffend, aber die Arbeit bleibt methodisch vorbildlich. Ohne hier auf den In⸗ halt eingehen zu können, wollen wir es uns nicht versagen, ein paar gemeingültige Beobachtungen, die sich aus der Be⸗ arbeitung ergaben, hier mitzutheilen: Erstens bezüglich des Lohnes der weiblichen Handarbeiter stellte sich heraus, daß er in Deutschland durchschnittlich etwas mehr als die Hälfte von dem Tagelohn der männlichen betrage, aber das Verhältniß in den einzelnen Gebieten des Reichs ein sehr verschiedenes sei. Norddeutschland weist einen relativ besonders hohen, Süddeutschland einen besonders niedrigen, der Süd⸗ osten einen solchen auf, der etwas unter dem für das Reich geltenden Verhältnisse bleibt. Als Hauptursache für diese Erscheinungen bezeichnet Goltz die Vertheilung des Grundbesitzes; der in Norddeutschland vorherrschende große und geschlossene mache es den Frauen schwerer möglich, die weiten Wege zur Arbeit zurückzulegen, sodaß das Angebot von Arbeit gering sei und auf die Lohnhöhe in günstigem Sinne wirke, während der im Südwesten vorhandene Kleinbesitz die gegentheilige Wirkung habe; auch die örtlichen Gewohnheiten wirken mit. Bezüglich der Gesindelöhne geht aus Goltz’ Unter⸗ suchungen hervor, daß sowohl Lohn als Kost auf größeren Gütern für männliche Dienstboten höher stehen, als auf kleineren. In den einzelnen Bezirken weichen die Löhne viel mehr von einander ab als die für die Kost aufgeführten Werthe, und in Bezug auf die Beköstigung des Gesindes findet in Deutsch⸗ land von Norden und Osten ein beträchtlicher Fortschritt nach Süden und Westen statt. Ein männlicher Dienstbote wird ungefähr ebenso hoch bezahlt wie ein männlicher Tagelöhner; der weibliche Dienstbote aber kommt dem Arbeitgeber fast um ein Drittel theurer zu stehen als der weibliche Tagelöhner. Im nördlichen und namentlich nordöstlichen Deutschland sind die Tagelöhne im Verhältniß zu den Gesindelöhnen hoch, “ und besonders südwestlichen Deutschland relativ niedrig.
Von den Vereinigungen, welche die Interessen des Bergbaues vertreten, thut sich der Oberschlesische Berg⸗ und Hüttenmännische Verein durch Thätigkeit auf dem Gebiete der Lohnstatistik hervor; und was andere gewerbliche Vereini⸗ gungen von Arbeitgebern betrifft, so sei hier noch auf das „Jahrbuch der Baupreise Berlins“ aufmerksam gemacht, das von 1879 an eingehende Nachrichten über die Verdinglöhne aller Arten von Bauhandwerkern seines Bezirks bringt, ein Seitenstück zu der bekannten „Série des prix“ von Paris.
Was von Seiten der Arbeitnehmer fuͤr die Arbeiter⸗ statistik bei uns geschieht, möge in einem weiteren Artikel ge⸗ zeigt werden.
Zur Arbeiterbewegung.
Ueber die Lohnbewegung unter den deutschen Buch⸗ druckergehülfen liegen bedeutsame Nachrichten nicht vor. Der Vorstand des Vereins der Berliner Buchdrucker und Schriftgießer veröffentlicht ein an die Einwohner Berlins gerichtetes Flugblatt, in welchem 73 Berliner Firmen mit Namen aufgeführt werden, die die Gehülfenforderungen be⸗ willigt haben; außerdem wird bemerkt, daß von den an der Kündigung betheiligten 2600 Gehülfen mehr als die Hälfte, nämlich 1400, in Thätigkeit sind. Wir fügen folgende Mit⸗
A. Z.“ an: theile Sh in Pest haben in einer am Sonntag abgehaltenen Versammlung, welcher auch ein Schriftsetzer aus Leipzig
Schildberg frei geblieben.
beiwohrte, beschlossen, die Strikebewegung ihrer Berufsgenossen in Deutschland moralisch und materiell zu unterstützen, und sich ver⸗ pflichtet, während der Dauer des Strikes in Deutschland 2 % ihres Lohnes diesem Zwecke zu opfern.
Eine am 21 d. M. in Leipzig abgehaltene, von etwa 100 Per⸗ sonen besuchte Versammlung der Bauschlosser beschloß der „Leipz. Ztg.“ zufolge nach Anhörung des Vortraces eines Herrn Pranke, dem deutschen Metallarbeiter⸗Verbande als Einzelmitglieder, dagegen dem hiesigen Allgemeinen Metollarbeiter⸗Verein nicht beizutreten, sondern den Fachverein der Bauschlosser beizubehalten. Die dem Metallarbeiter⸗Kongreßbeschlusse entgegen durch den Former Schwarz bewirkte Gründung eines besonderen deutschen Former⸗Verbandes erfuhr eine sehr scharfe Kritik.
In Hanau hat, wie der „Vorwärts“ berichtet, das Personal der Cohn’'schen Diamantschleiferei, einer der größten des dortigen Platzes, die Arbeit eingestellt.
Ueber den Bergarbeiter⸗Ausstand im Departe⸗
ment Pas de Calais liegen heute folgende Meldungen des „W. T. B.“ vor: Gestern ruhte, wie aus Lens berichtet wird, die Arbeit voll⸗ ständig im ganzen Kohlenbecken, Marles allein ausgenommen, wo etwa 100 Arbeiter weiter arbeiteten Die Nacht vorher war ziemlich unruhig verlaufen; es berrschte große Aufregung, sodaß Gendarmerie⸗ und Kavallerie⸗Abtheilungen mehrfach genöthigt waren, Anhäufungen der Ausständischen zu zerstreuen, welche sich namentlich an den Eingängen zu den Gruben gebildet hatten, in denen die Arbeit nicht eingestellt worden war. Heute Nacht erfolgte am Eingange in einem der Stollen eine Explosion von zwei Dvnamitpatronen. In Angres bei Lievin fanden gestern zwischen Strikenden und Berg⸗ leuten, welche arbeiten wollten, Zusammenstöße statt. Von den Ruhe⸗ störern wurden drei verhaftet.
Nach Empfang der Meldungen über den Beschluß der Bergarbeiter vom 22. d. M (siehe Nr. 276 des „R.⸗ u. St.⸗A.“*) entsandte der Minister für öffentliche Arbeiten Ives Guyot den Chef seines Kabinets Sebillot nach Douai, um Namens der Regierung von dem Comité der Bergwerkbesitzer die Er⸗ nennung von fünf Delegirten zu fordern, welche mit den Delegirten der Arbeiter eine Schiedsgerichts ⸗Kom⸗ mission bilden sollten. Wenn die Delegirten der Arbeiter und der Gesellschaften zu keiner Einigung kommen könnten, so bliebe ihnen noch die Ernennung eines Schiedsrichters offen. Herr Sebillot berichtete dem Minister, das Comité der Bergwerksbesitzer werde am Mittwoch zusammentreten, um in der Frage des Schieds⸗ gerichts Beschluß zu fassen.
Der Pariser Gemeinderath hat 12 000 Fr. zur Unter⸗ stützung der Strikenden im Pas de Calais bewilligt.
In einer gestern abgehaltenen Sitzung des Kongresses der belgischen Bergarbeiter in Seraing wurde der „Frkf. Ztg.“ zufolge ein stürmischer Zwischenfall zwischen der Presse und der Ver⸗ sammlung hervorgerufen durch einen hämischen Zwischenruf Seitens eines klerikalen Redacteurs. Die beantragte Ausweisung des Journalisten unterblieb jedoch. Hierauf wurden Maßnahmen berathen zur Einschränkung der belgischen Kohlenproduktion während des fran⸗ zösischen Strikes. Weiterhin wurde eine Widerstandskasse für künftige Strikes begründet. — Der Kongreß ist, wie weiter gemeldet wird, von 60 Delegirten besucht. Präsident ist der Lütticher Sozialist Galere Guillaume. Es sind Glückwunschschreiben von eng⸗ lischen und böhmischen Bergleuten eingelaufen Auf Antrag der Delegirten aus Charleroi war in der geheimen Morgen⸗ sißung beschlossen worden, auch Nachmittags für die Debatten über die bei Verweigerung des allgemeinen Stimmrechts zu er⸗ greifenden Maßnahmen die Oeffentlichkeit auszuschließen. In der gestrigen Nachmittagssitzung wurden demnach die Journalisten und Gendarmen aus dem Saale entfernt. Die geheime Sitzung war sehr stürmisch Die Bergleute des Hennegaus machten den Genter und Brüsseler Arbeitern Vorwürfe, daß Letztere sie bei dem letzten Ausstand im Stich gelassen hätten. Folgende Tages⸗ ordnung wurde angenommen: „Der Kongreß der Bergleute beschließt, mit neuer Kraft den Feldzug für das allgemeine Stimmrecht fort⸗ zusetzen; er wird im Juli 1892 sich zu einem neuen Bergarbeiter⸗ Kongreß vereinen und fordert die Arbeiterpartei, falls die konstituirende Kammer das allgemeine Stimmrecht ablehnt, auf, einen außerordentlichen Kongreß zu berufen, der den allgemeinen Ausstand beschließen soll.“
In Lüttich sprach am Sonntag Abend, wie der „Frkf. Ztg.“ berichtet wird, der Sozialtstenführer Defnet vor einem großen Auditorium von Arbeiterfrauen, um dafür zu agitiren, daß die Frauen sich den Syndikaten anschließen.
Gesundheitswesen, Thierkrankheiten und Absperrungs⸗ Maßregeln.
Verbreitung der Tollwuth im Jahre 1890.
Nach dem im Kaiserlichen Gesundheitsamt bearbeiteten und im Verlage von Julius Springer hierselbst erschienenen fünften Jahresbericht uͤber die Verbreitung von Thierseuchen im Deutschen Reich hat die Tollwuth im Jahre 1890 gegen das Vorjahr nicht nnerheblich zugenommen. Es sind 44,8 Proz. Erkrankungsfälle überhaupt und 43,9 Proz. solche unter Hunden mehr gemeldet worden. Auch die räumliche Verbreitung der Seuche war größer. An⸗ steckungsverdächtige und herrenlose wuthverdächtige Hunde sind gleichfalls in größerer Zahl ermittelt. Von den ersteren sind mehr getödtet, dagegen weniger unter polizeiliche Beob⸗ achtung gestellt als in den Vorjahren. An der Tollwuth er⸗ krankt sind nachweislich 590 Hunde, 11 Katzen, 4 Pferde, 98 Rinder, 2 Schafe, 9 Schweine, zusammen 714 Thiere gegen 493 im Jahre 1889. Die Tollwuthfälle vertheilten sich auf 40 Regierungs⸗ ꝛc. Bezirke und 178 Kreise ꝛc. segen 35 und 152 im Vorjahre. Die meisten derselben sind wieder in den Regie⸗ rungsbezirken Königsberg, Gumbinnen, Marienwerder, Posen, Bromberg, Breslau, Liegnitz, Oppeln und in Oberfranken, außerdem in der Kreishauptmannschaft Bautzen ermittelt, wäh⸗ rend die im Vorjahre stark verseuchte Kreishauptmannschaft Zwickau diesmal nur schwach betroffen war. Von den einzelnen Kreisen ꝛc. wiesen verhältnißmäßig viele Tollwuthfälle nach Gumbinnen, Kronach, Zittau (je 21), Löbau in Sachsen (20), Lauban, Bautzen (je 17), Thorn, Schweidnitz (je 16), Briesen, Trebnitz (je 14), Strelno (13), Konitz (12), Frau⸗ stadt, Lissa, Löwenberg (je 11), Allenstein, Osterode in Ostpr., Birnbaum, Bromberg, Görlitz (je 10). Was die Verbreitung der Seuche speziell unter den Hunden betrifft, so gewährt die dem Jahresbericht beigegebene kartographische Darstellung der⸗ selben auf Tafel II im Allgemeinen ein ähnliches Bild, wie in den vorhergehenden Jahren; indeß tritt in Westpreußen, Schlesien und Königreich Sachsen die stärkere Verseuchung hervor. In den am meisten betroffenen Grenzgebieten gegen Rußland ist die Seuche mehr gegen Westen vorgedrungen. Ihr Hauptgebiet liegt etwa zwischen den Kreisen Neidenburg⸗Allenstein — Konitz⸗Flatow — Witkowo, mit dem Mittelpunkt in Thorn. Der im Vorjahre stark verseuchte Kreis Lyck ist erheblich schwächer, und Oletzko diesmal gar nicht betroffen. Von sämmtlichen an Rußland grenzenden Kreisen find gußer dem letztgenannten nur noch Wreschen und n Schlesien sind Hauptherde in Trebnitz und Schweidnitz entstanden, insbesondere aber ist an der böhmischen Grenze in Schlesien und Sachsen eine den be⸗ reits genannten Kreis Schweidnitz berührende und von dort aus