Deutscher Reichstag. 127. Sitzung vom Donnerstag, 26. November, 1 Uhr.
Am Tische des Bundesraths der Staatssekretär Dr. von Boetticher.
Die zweite 3z des Krankenkassengesetzes wird fortgesetzt, und zwar beim §. 53, nach dem die Arbeit⸗ geber berechtigt sind, die für die Arbeiter gezahlten Eintritts⸗ gelder und Beiträge vom Lohne abzuziehen. 8 8
Abg. von der Schulenburg beantragt, den §. 53 dahin zu fassen, daß die Arbeiter verpflichtet sind, sich die Eintritts⸗ gelder und Beiträge bei der Lohnzahlung abziehen zu lassen. Streitigkeiten in dieser Angelegenheit sollen von dem Gewerbe⸗ gerichte entschieden werden.
Der Antragsteller bemerkt zur Begründung: Den ersten Theil seines Antrages habe er gestellt, weil die bisherige Fassung Zweifel darüber lasse, ob die Arbeiter sich den Abzug gefallen lassen müßten. Der zweite Theil aber fülle eine in der Vorlage enthaltene Lücke aus, indem er Bestimmung treffe über das im Falle eines Streites einzuschlagende Verfahren; die Verbindung dieses Punktes der Vorlage mit den kürzlich geschaffenen Gewerbeschiedsgerichten sei nach der ganzen Natur der letzteren wohl empfehlenswerth, und er bitte, auf diese bequeme Weise die Lücke zu beseitigen. Sctaatssekretär Dr. von Boetticher:
Ich kann, was die materielle Bedeutung des Antrags des Herrn Abg. von der Schulenburg⸗Beetzendorf anlangt, keinen Unterschied zwischen seinem Antrag und der betreffenden Fassung der Vorlage finden. In der Vorlage ist gesagt, daß die Arbeitgeber be⸗ rechtigt sind, Abzüge zu machen wegen der von ihnen für die Arbeiter geleisteten Zahlungen. Damit ist selbstverständlich auch die Verpflichtung für die Arbeiter ausgesprochen, sich diese Ab⸗ züge gefallen zu lassen. Es kann also nach meiner Ueberzeugung nach dem Wortlaut der Vorlage kein Zweifel über die Verpflichtung der Arbeiter obwalten, die von dem Arbeitgeber eingezahlten Beiträge beim Empfang des Lohns zu erstatten. Aber weil kein Zweifel dar⸗ über ist und der Antrag des Herrn von der Schulenburg materiell ganz dasselbe sagt wie die Vorlage, so habe ich Nichts dagegen, daß, wenn das Haus der Fassung des Herrn von der Schulenburg den Vorzug giebt, diese Fassung in das Gesetz aufgenommen wird.
Was den zweiten Antrag anlangt, die Einfügung eines Absatzes 3, welcher das Verfahren in Streitfällen regeln soll, so bin ich mit diesem Antrag einverstanden. Der §. 120 a der Gewerbeordnung existirt nicht mehr, und es ist ganz zweckmäßig, an dieser Stelle an diejenigen Bestimmungen anzuknüpfen, welche schon in dem Gesetz über die Gewerbegerichte vorgesehen sind.
Abg. Spahn: Er bitte, den Antrag Schulenburg für jetzt ab⸗ zulehnen Sein erster Theil sei überflüssig und sein zweiter Theil würde die üble Folge haben, daß danach das erst in dieser Session geschaffene Gesetz über die Gewerbegerichte schon wieder geändert werden müßte; er würde den Mangel an Bestimmungen über das Streitverfahren insofern nicht beseitigen, als die Angehörigen des Landheeres und der Marine diesen Gerichten nicht unterworfen seien, für sie also auch keine Bestimmungen getroffen würden. Die Regelung dieser Frage werde besser einem späteren Stadium der Gesetzgebung überlassen.
Der Antrag von der Schulenburg wird darauf abgelehnt, der Kommissionsvorschlag angenommen. 8
Nach §. 55a, der von der Kommission eingefügt ist, kann die höhere Verwaltungsbehörde auf Antrag von dreißig be⸗ theiligten Versicherten anordnen, daß auch weitere als die von der Kasse bestimmten Aerzte und Apotheken in Anspruch ge⸗ nommen werden können, wenn durch die von der Kasse ge⸗ troffenen Anordnungen eine dem Bedürfniß der Versicherten entsprechende Gewährung der Kassenleistungen nicht gesichert ist.
Abg. Dr. von Dziembowski beantragt, daß die Verwaltungs⸗ behörde schon auf Antrag von zwanzig Betheiligten diese Bestim⸗ mung zu treffen habe; im Falle einer Ablehnung sollten die Gründe angegeben werden. Der Antragsteller führt aus, daß ein solches Kor⸗ rektiv gegenüber dem Aerztezwange nothwendig sei. Die Zahl von dreißig Betheiligten sei etwas hoch gegriffen und die ganze Be⸗ fugniß allzusehr in das Belieben der Behörde gestellt. Daß bei der Ablehnung eines solchen Antrags die Gründe angegeben werden müßten, sei selbstverständlich. Sonst werde die Ablehnung große Unzufriedenheit hervorrufen.
Abg. Hitze hält ebenfalls ein solches Korrektiv, wie §. 55 a. es bietet, für nothwendig; es sei vielleicht auch angemessen, die Zahl der Personen, die einen solchen Antrag stellen müßten, auf zwanzig zu vermindern. Nothwendig sei aber, damit das Korrektiv wirksam werde, daß die letzte Bestimmung: „wenn durch die von der Kasse getroffenen Anordnungen eine dem Bedürfnisse der Versicherten ent⸗ sprechende Gewährung der Kassenleistungen nicht gesichert ist“, gestrichen werde; die Behörde solle den Anträgen nachgeben, „sofern nicht die Vermögensinteressen der Kasse entgegenstehen“.
Staatssekretär Dr. von Boetticher:
Ich werde mich über die Frage der freien Aerztewahl nicht weiter äußern. Ich halte die freie Aerztewahl für ein schönes Ideal, was aber praktisch nicht durchzuführen ist, und ich möchte die Anhänger der freien Aerztewahl, die jetzt darauf hinstreben, daß sie in die Gesetz⸗ gebung eingeführt werde, auf den Trost verweisen, der darin liegt, daß das Bessere der Feind des Guten ist, daß durch unsere Kranken⸗ kassengesetzgebung doch in Bezug auf die ärztliche Fürsorge für die arbeitende Bevölkerung sehr viel geschehen ist und daß der Zustand in Bezug auf die Zuziehung der Aerzte zur Behandlung von Krank⸗ heiten ein wesentlich besserer geworden ist als der Zustand, der vor dem Krankenversicherungsgesetz bestanden hat.
Ich will mich nur mit einigen Worten über die beiden Anträge der Herren von Dziembowski und Hitze⸗Spahn äußern, und da will ich gleich sagen, daß ich mich für beide Anträge nicht sehr erwärmen kann. Ich glaube auch nicht, daß die Herren Antragsteller damit etwas wesentlich Besseres schaffen, als es durch den Kommissions⸗ beschluß gegeben ist. Meine Herren, der Kommissionsbeschluß beruht ganz einfach auf der Erwägung, daß es sehr gut und nützlich und namentlich für die Mitglieder der Krankenkassen angenehm sein kann, wenn über den Kreis derjenigen Aerzte hinaus, die von der Kranken⸗ kasse engagirt worden sind, noch weitere Aerzte im Falle eines vor⸗ handenen Bedürfnisses zur Behandlung der Krankenkassenmitglieder zugezogen werden.
Mir gefällt an dem Kommissionsvorschlage auch nicht recht die Vorschrift, daß auf Antrag von 30 Mitgliedern die Behörden in Bewegung gesetzt werden sollen, um die Frage zu prüfen, ob durch die Disposition der Krankenkassen ausreichend für das Interesse der Mitglieder gesorgt ist. Denn, meine Herren, wir wissen ja Alle, wie leicht es heut zu Tage ist, Unterschriften zu erhalten. Für jeden Antrag, den man beabsichtigt, mache ich mich anheischig, eine Anzahl von Unterschriften zu erhalten, wenn er nur irgend einen Sinn hat und nicht von vornherein thöricht ist. Ja, es giebt sogar thörichte Anträge, für die Unterschriften zu haben sind. (Heiterkeit)) Aber ich
gebe zu, daß jede Zahl, die man bezüglich der Antragsteller vorschreibt, immerhin einen gewissen Werth hat, die höhere Zahl natürlich einen höheren Werth, als die niedrigere Zahl. Und die höhere Zahl glaube ich um deshalb empfehlen zu sollen, weil es ja bekannt⸗ lich, namentlich in großen Städten, Krankenkassen mit einer außer⸗ ordentlich großen Zahl von Mitgliedern giebt, und wenn man die Zahl niedrig greift, die Folge sein kann, daß nun die Behörden unausgesetzt in Bewegung gesetzt werden, um deßwillen, weil ein Paar Mitglieder nicht mit den Dispositionen des Krankenkassenvorstandes zufrieden sind, indem sie vielleicht einen bestimmten Arzt unter die Zahl derjenigen aufgenommen zu sehen wünschen, welche von dem Krankenkassenvorstand für die Pflege der Krankenkassen⸗ mitglieder engagirt sind. Nun aber stellt der Antrag des Herrn von Dziembowski und auch der Antrag des Herrn Hitze nicht etwa die Berücksichtigung einer solchen An⸗ regung aus der Mitte der Krankenkassenmitglieder in das subjektive, gewissenhafte und sachgemäße Ermessen der Behörde, die darüber ent⸗ scheiden soll. Diese beiden Anträge verlangen, daß ein solcher Antrag nur abgelehnt werden kann aus ganz bestimmten Gründen. Das, meine Herren, hat aber seine Bedenken. Wenn die Herren wollen, daß eine gewisse Direktive gegeben und ein Zwang durch das Gesetz statuirt wird, indem bei dem Vorliegen gewisser Verhältnisse dem Antrage stattgegeben werden muß, dann würde ich es für über⸗ flüssig halten, daß die höhere Behörde noch damit befaßt wird; ich würde es dann für ausreichend halten, einfach die Vorschrift dahin zu geben, daß der Krankenkassenvorstand einem solchen Antrage, wenn er von 30 Mitgliedern gestellt wird, stattzugeben hat, sofern nicht die⸗ jenigen Gründe vorliegen, welche das Gesetz für eine Ab⸗ lehnung zuläßt. Dann würden Sie nur in denjenigen Fällen die vorgesetzte Behörde in Bewegung zu setzen nöthig haber, in welchen das Petitum abgelehnt wird; nur hier bliebe der höheren Behörde die Prüfung anheimgegeben, ob die Ablehnung zu Recht oder zu Unrecht geschehen ist,
Was die vorgesehenen Gründe der Ablehnung anlangt, so will der Herr Abg. von Dziembowski die Behörde ausdrücklich ver⸗ pflichten, diese Gründe den Petenten anzugeben. Ja, wenn Herr von Dziembowski sich damit einverstanden erklärt, daß §. 55 a im übrigen und abgesehen von seinen beiden Amendements in der von der Kommission vorgeschlagenen Fassung verbleibt, dann ist es für die vorgesetzte Be⸗ hörde außerordentlich leicht, die Gründe anzugeben, — aber, wie mir scheint, auch überflüssig. Denn diese Gründe ergeben sich schon aus dem Gesetze selber dahin, daß das Petitum abzuweisen ist, wenn eine dem Bedürfniß der Versicherten entsprechende Gewährung der ärztlichen Leistungen gesichert ist. Und darüber, ob eine solche Ge⸗ währung der ärztlichen Hülfe gesichert ist, wird immer das subjektive Ermessen entscheiden können. Die Angabe der Gründe wird sich also auf die Mittheilung zu beschränken haben: wir sind der Meinung, daß dem Bedürfniß der ärztlichen Leistungen Genüge geschehen ist.
Anders liegt die Sache freilich bei dem Antrage Hitze. Danach soll vorgesehen werden, daß die Ablehnung der Ausdehnung der ärzt⸗ lichen Hülfe zulässig ist, wenn die Interessen der Vermögenslage der Kasse nicht entgegenstehen. Ja, meine Herren, was sind Vermögens⸗ interessen der Kasse? Es giebt, wie ich Ihnen schon neulich auszufüh⸗ ren die Ehre hatte, eine ganze Reihe von Kassen, die aktives Ver⸗ mögen überhaupt nicht haben, und bei denen die Vermögensinteressen der Kasse sich dabin charakterisiren lassen werden, daß es die Inter⸗ essen der Mitglieder an der Höhe der Beiträge sind. Selbstverständ⸗ lich kann man beispielsweise theurere Aerzte engagiren, wenn man die Mehrkosten für diese theureren Aerzte aufzubringen bereit ist. Man kann aber ebenso gut sagen: weil die Heranziehung fernerer Aerzte theurer ist, deshalb sind wir Angesichts der Fassung des Antrags Hitze⸗Spahn berechtigt, das Petitum auf Erweiterung des Kreises des ärztlichen Personals abzulehnen, denn die Mitglieder würden höher belastet werden.
Nun hat aber dieser Antrag noch eine ganz besondere und — ich glaube — in Ihrem Sinne bedenkliche Seite. Nehmen Sie folgenden Fall: es sind bei einer großen Krankenkasse zehn Aerzte engagirt und diese zehn Aerzte erhalten ein bestimmtes Fixum nach Verabredung mit dem Krankenkassenvorstand; es sind an dem Orte, wo die Krankenkasse residirt, eine Reihe jüngerer Aerzte, die sich sehr nach Praxis sehnen und denen es als ein begehrenswerthes Loos erscheint, auch als Aerzte in der Krankenkasse fungiren zu können⸗ Diese jüngeren Aerzte treten mit Mitgliedern der Krankenkasse in Verbindung und machen ihnen klar, daß das Honorar, das die Krankenkasse an ihre engagirten Aerzte bezahlt, viel zu hoch ist, und daß sie selbst, die nicht zur ärztlichen Fürsorge für die Krankenkassen⸗ mitglieder herangezogenen Aerzte, mit der Hälfte des Satzes zufrieden sein würden, den die engagirten Aerzte bekämen. Daß ein solches procedere möglich ist und auch die Wahr⸗ scheinlichkeit des Erfolges, namentlich bei großen und zahlreich bevölkerten Krankenkassen, für sich hat, darüber kann unmöglich ein Zweifel sein, — und dann haben Sie ein Unterbietungsverfahren, welches im Interesse des ärztlichen Standes äußerst bedenklich erscheint.
Also, meine Herren, lassen Sie es beim Kommissionsvorschlage, die Anträge führen Sie nicht weiter, und lassen Sie wenigstens das subjektive Ermessen der höheren Behörde frei darüber entscheiden, ob Anlaß vorliegt, einem solchen von 20 oder 30 Mitgliedern gestellten Antrag stattzugeben, dann haben Sie wenigstens eine verantwortliche Instanz, die angefaßt werden kann, wenn sie etwas verfügt, was nicht den Interessen der Kasse entspricht. Mit Ihren Anträgen schaffen Sie keine Besserung nach meiner Ueberzeugung, im Gegentheil, Sie bringen sowohl die Kassen wie die Aerzte in eine bedenkliche Lage.
Abg. Eberty: Er sei diesmal i r Punkten mit 28 errsesegtenae E“ — Dr. Virchow sei der Meinung, daß die Durchführung der durchaus freien Arztwahl ein schönes Ideal sei, das nie erreicht werden würde. Man könne sich aber, wie in vielen menschlichen Dingen, bestreben diesem Ideal möglichst nahezukommen. Als in Berlin die Agitation für die freie Arztwahl, nicht von den Kassen, sondern ausschließlich von den Aerzten ins Werk gesetzt worden sei, habe die Vereinigung von 61 Ort⸗krankenkassen beschlossen, daß vom 1. Januar 1892 ab für ihre Mitglieder in den Fällen, wo die Behandlung der Kranken nicht im Krankenhause, sondern zu Hause erfolge, in bestimmten Ab⸗ schnitten der Stadt die Wahl unter mindestens drei bis sechs Aerzten freistehe, und dies nur bei einer Mehrumlage von 40 ₰ für den Kopf und das Jahr. Aber durch Gesetz auszusprechen, es solle jedes Mitglied die Befugniß haben, sich selbst einen Arzt zu wählen, das könne er nicht für berechtigt halten. Das Kämpfen um die Höhe des
Aerztehonorars zwischen den Kassen einerseits und den ärztlichen Vereinigungen andererseits würde zu den allerschlimmsten Preis⸗
koalitionen Veranlassung geben, ja für die allerärgerlichsten und häß⸗ lichsten Dinge den Ausgangspunkt bilden können, was seine Partei vermeiden möchte. Wie die sogenaunte freie Aerztewahl finanziell auf die Kassen wirke, darüber einige Zahlen Die große hiesige Kasse der Buchdrucker habe beschlossen, die Aerzte frei wählen zu lassen; in Folge dessen sei sie im vorigen Jahre aus dem Gewerkskrankenverein in Berlin ausgetreten. Als sie dem Gewerkskrankenverein 1890 an⸗ gehört, habe sie in einem Vierteljahr für Heilmittel 1614 ℳ aus⸗ gegeben, in dem entsprechenden Quartal des Jahres 1891 4225 ℳ, an Krankengeld 1890: 19 386 ℳ, für das Vierteljahr 1891: 25 110 ℳ, an Aerztehonorar 1890: 1258 ℳ, 1891: 4818 ℳ Die Herren bedienten sich der Zahl von 21 Aerzten und 10 Spezia⸗ listen, darunter sei auch Herr Dr. Kanitz, der in seinen (des Redners) Augen kein Arzt sei, und ein Homöopath. Aehnlich lägen die Verhältnisse bei den Schuhmachern und Schnei⸗ dern. Was heiße denn Arzt des Vertrauens? Das könne auch ein nichtapprobirter Arzt sein, ein Homöopath u. s. w. Solche Aerzte könnten der großen Mehrheit der Kasse aufgedrungen werden, wenn nur eine geschickte Agitation in Szene gesetzt werde. Es sei ja mög⸗ lich, daß man sich die Sache bis zur dritten Lesung überlege und statt einer festgesetzten Zahl eine Verhältnißzahl, oder ¼ oder 16 der Kassenmitglieder einführe, damit die Rechte auch der Minderheit ge⸗ wahrt blieben. Die Kommission habe hier die Bestimmungen so getroffen, wie sie innerhalb der Grenzen des Möalichen, Zweck⸗ mäßigen, des Ausführbaren und Wünschenswerthen lägen, er bitte also, es in allen Punkten bei den Kommissionsvorschlägen zu belassen
Abg. Möller: Der vorliegende Paragraph sei aus einer An regung des Abg. Stoetzel hervorgegangen, der bemerkt habe, daß be gewissen Knappschaftskassen in unangemessener Weise für die Aerzte wahl gesorgt sei. Jedenfalls, wenn ihm (dem Redner) auch Spezial⸗ fälle nicht mitgetheilt seien, könnten solche ungünstigen Verhältnisse eintreten. Er sei auch ein Freund der freien Aerztewahl, die er nicht für unerreichbar halte. In Krefeld und, wie er höre, auch in anderen Städten sei die freie Arztwahl durchgeführt; damit müsse freilich eine Ehrenrathskontrole der Aerzte verbunden sein, damit nicht etwa im Interesse einzelner Apotheken eine Vertheuerung der Behandlung eintrete Grundsätzlich sei er gegen den Paragraphen überhaupt, weil er nur i wenigen Fällen ein Bedürfniß erfülle, in vielen Fällen aber mißbräuchlich angewandt werden könne. Diese Mißbräuche würden aber durch di Annahme der gestellten Anträge noch vermehrt werden. Allenfall könnte er dem Eventualantrag Hitze beitreten, aber besonderen Werth brauche man auch auf ihn nicht zu legen. Der Antrag Dziembowsk sei ihm absolut unannehmbar; wollte man den in ihm liegenden Gedanken durchführen, dann wäre es in der That besser, einen Pro zentbetrag der Kassenmitglieder zu bestimmen. Unter diesen Um könne er sich nur für die Annahme des unveränderten §. 55 erklären.
Abg. Dr. Langerhans: Große grundsätzliche Aenderungen des Gesetzes werde man, nachdem man mit seiner Berathung soweit ge kommen, nicht mehr vornehmen können. Also möge man sich begaügen mit dem Paragraphen und versuchen, die freie Aerztewahl durch anderweite Einrichtungen zu ersetzen. Allerdings sei dieser §. 55 a ein höchst merkwürdiger. Er lege der Behörde einen Nimbus bei, den sie bei so kleinen Dingen nicht brauche. Warum müsse sie einschreiten, wenn die Kassenverwaltung ohne Widerspruch und Streit einen anderen Arzt zu nehmen beschließe? Aber es sei auch willkürlich, wenn dreißig oder zwanzig von 3000 Mitgliedern einer Kasse den übrigen 2970 eine Aenderung in der Wahl des Arztes aufgeben dürften; andere dreißig verlangten wieder einen anderen und die wahre Mehrheit komme darüber doch nicht zum Ausdruck ihres Willens. Dadurch, daß man von Anfang an von der freien Aerzte⸗ wahl abgegangen sei, habe man eine Unzahl gesetzlicher Bestimmungen widerwillig und im Bewußsein ihrer Undurchführbarkeit schaffen müssen. Freilich so, wie sie der Abg. Eberty u. A. auffaßten, könne man die freie Aerztewahl nicht einführen wollen, man könne nicht sagen: „die Krankenkassen gestatten sie'. Nein, wenn man sie gestatte, könnten die Kassen überhaupt nur Kranken⸗ geld geben und jeder Einzelne möge sich danach ein⸗ richten. Aber das sei nun einmal eine abgemachte, todte Sache, auf die man jetzt nicht mehr zurückkommen dürfe, da das ganze Gesetz auf einem anderen Grunde aufgebaut sei. Nur eins noch: Man spreche immer über Aerzte, die sich so eifrig bewürben; jeder junge Arzt freue sich, wenn er eine solche Stelle bekommen könne. Aber wenn die Zwangsversicherung jetzt immer mehr ausgedehnt werde, dann werde sie bald die halbe Bevölkerung Deutschlands umfassen. Früher, als es kleine Kassen gegeben habe — er sei noch ein junger Arzt gewesen — sei er in solchen gewesen, nebenbei habe er noch Anderes zu thun gehabt, und das sei ganz gut ge⸗ gangen. Jetzt werde es vielfach die Hauptbeschäftigung sein. Die Kassenärzte würden die meiste Beschäftigung haben für einen so unzureichenden Lohn, daß es nicht zu verantworten sei: bis 1 ℳ für den Besuch; für 1 ℳ könne ein Arzt nicht einen Besuch machen, davon könne er nicht leben; auch nach der Taxe von 1815, vie darüber hinausgehe, könne er nicht leben und dem Anspruch genügen, daß er ein wissenschaftlich und gesellschaftlich gebildeter Mann sein solle. Damit werde der ärztliche Stand in unerhörter Weise herab⸗ gedrückt. Dabei seien die Anforderungen an einen bezahlten Arzt viel größer als an den Arzt seines Vertrauens, den man sich selbst suche. Bei der nächsten Novelle zum Gesetz werde man besser thun, die freie Arztwahl einzuführen, wie sie die freien Hülfs⸗ kassen früher gehabt und zum Theil heute noch hätten.
Abg. Wurm: Die Frage, ob ein Arzt gut behandelt habe oder nicht, könne nicht nach matkeriellen Bestimmungen entschieden werden, sondern nur nach dem subjektiven Empfinden des Einzelnen; es komme auf das Vertrauen der Kranken an, und darum könne ein „kluger Mann“ oder eine „weise Frau“ wirklich Erfolge haben, die ein Arzt nicht erreiche. Professor Forel habe selbst öffentlich gesagt, ¹ aller Patienten würden von selbst gesund, 3 der übrigen verfielen dem Tode oder blieben unheilbar, und bei den wirklich Geheilten müsse man sich immer fragen, habe man nicht mehr geschadet als genützt, und was sei es denn gewesen, das wirklich genützt habe? Professor Nothnagel habe sich auf der Naturforscherversammlung in Halle in demselben Sinne ausgesprochen. Damit sei das Todes⸗ urtheil über die Zwangsärzte gesprochen; denn zu dem Arzte, der ihm (dem Redner) aufgezwungen werde, habe er kein Vertrauen, und auf das Vertrauen komme es heutzutage sehr viel an, wo die Kunst des Arztes wesentlich in der Ertheilung von Verhaltungsmaß⸗ regeln bestehe. Hier aber bemühe man sich, ein neues Proletariat zu schaffen, nämlich die proletarisirten Aerzte. Der Zwangsarzt werde in einer ganz unwürdigen Weise bezahlt. Gerade in Berlin habe man Kassenärzten früher 1200 ℳ, jetzt 1500 ℳ bezahlt. Als es sich herausstellt habe, daß für einen gewissen Bezirk zwei Aerzte nöthig seien, seien sie endlich angestellt worden und jeder habe nun 1500 ℳ erhalten, während der früher angestellte keine entsprechende Zulage be⸗ kommen habe. Der Kassenarzt bekomme für den Besuch nicht einmal 1 ℳ, sondern viel weniger. Würde der Arzt das Rezept nicht selbst zum Kranken tragen, sondern durch einen Dienstmann hin⸗ schicken, so würden die Kosten verdreifacht werden. Ein Dienstmann sei in der That besser gestellt als ein Arzt. Eine sehr wichtige Frage sei auch die des Apothekenzwanges, über die man sich bei der Berathung des Antrages auf Verstaatlichung der Apotheken noch genauer auszusprechen haben werde. Man spreche von den Apothekern als Neunundneunzigern, aber sie verdienten weit mehr als 99 %. Eine halbjährliche Apothekerrechnung einer hannoverschen Krankenkasse habe er von einem Apotheker nachrechnen lassen; danach habe der Verkaufspreis der Heilmittel 269,83 „ℳ, der Kaufpreis nur 50 ℳ betragen, es seien also 437 % verdient worden: die Her⸗ stellungskosten in der Apotheke berechneten sich zu 159 ℳ, nach dem Werth der Arbeitskraft des Provisors betrügen sie nur 50 ℳ, die Tekturen, Gläser, Papier, Korken u. s. w. kosteten 81 ℳ, der Apotheker habe aber nur 21 ℳ Auslagen darauf gehabt, also wieder 288 % Verdienst. Dabei sei nach der Angabe hervorragender Aerzte der Werth der Heilmittel für die Heilung ein minimaler — da sei der Apothekenzwang doppelt ungerecht. Dem Kranken müsse die Wahl des Arztes und der Apotheke freigestellt sein. Den Grund
für den vom Gesetz ausgesprochenen Zwang enthülle der Antrag
in drastischer Weise. Die Bevölkerung sei zu arm, um die 8* 2* für einen Arzt aufzubringen, die Massen seien proletarisirt, die Aerzte würden es ebenfalls. Die Verstaatlichung der Aerzte sei das einzige Mitlel zur Abhülfe, sonst könne man allerdings die freie Arzt⸗ wahl nicht durchführen, denn sonst würden sich nur die billigeren Kräfte zur Verfügung stellen, nicht aber die Professoren. Ein Konkurrenzkampf sei bei den heutigen sozialen Zuständen zwischen den Aerzten unvermeidlich. Der Arbeiter habe felbst ein Interesse daran, daß der Arzt gut bezahlt werde, denn nur ein gut bezahlter Arzt könne dem Kranken die nöthige Fürsorge widmen. Aber die Rezepte des Arztes allein hülfen dem Arbeiter noch nicht, dazu gehöre das Rezept, das einmal der Kaiser Joseph von Oesterreich gegeben habe: so und so viele Gulden und Beefsteaks; nur eine Besserung der Lebensverhältnisse könne helfen. Die Würde des ärztlichen Standes, von der so viel gesprochen werde, könne nur der verstaatlichte Arzt wahren. Wenn man frage, wie denn bei der Verstaatlichung der Aerzte bestimmt werden solle, an welchen Arzt sich ein Kranker zu wenden habe, so heiße das künstlich Schwierigkeiten hineintragen. Eine ähnliche Institution besitze man ja schon in den Militärärzten. Der Einzelne wähle sich einfach seinen Arzt selbst, da werde kein Konkurrenzkampf eintreten. Man habe ja auch schon die Ver⸗ staatlichung der Aerzte der Seele; wenn auch der eine Beichtvater einem lieber sei als der andere, so finde doch kein großer Zusammen⸗ fluß von ihnen an bestimmten Stellen statt, es regele sich Alles von selbst, und so werde es auch bei den verstaatlichten Aerzten sein. Jedenfalls würde dann dem Unfug ein Ende gemacht werden, daß die Leistungen der Aerzte so schlecht bezahlt würden, daß sie ihre Pflichten nicht gewissenhaft erfüllen könnten, denn darunter leide nicht nur der Arzt, sondern auch der kranke Arbeiter. Der Antrag Hitze verbessere wenigstens die Kommissionsfassung. Die Kosten einer voll⸗ ständig freien Aerztewahl könnten allerdings von den Kassen nicht getragen werden, es sei aber nicht Geld genug da, um dem Arbeiter die nöthige Fürsorge zu gewähren. Die Unzufriedenheit werde durch solche Zwangsmaßregeln im großen Maße geschürt.
Abg. Dr. Hirsch: Die Sozialdemokraten nützten ihrer Sache nicht durch Verquickung dieser Frage mit dem utopischen Zukunfts⸗ bild der Verstaatlichung der Aerzte. Man habe es lediglich mit der Gestaltung der Dinge auf Grund der heutigen Staats⸗ und Gesellschaftsordnung zu thun. Das Streben nach freier Aerzte⸗ wahl gehe nicht allein von den Aerzten aus, die ihre materielle Lage verbessern wollten, sondern von den Versicherten selbst, die, so lange er denken könne, über die Behandlung Seitens der Zwangs⸗ kassenärzte klagten. Uebrigens sei das Streben der Aerzte, die nicht die nöthige Protektion hätten, um Kassenärzte werden zu können, nach Beschäftigung durchaus berechtigt. Die Kassenärzte hätten in ihren Sprechstunden funfzig, sechzig und mehr Personen zu untersuchen und müßten, um ihre Familie zu erhalten, noch nebenbei eine Praris haben. Da sei eine maschinenmäßige Behandlung des Kranken natürlich Da sei es erklärlich, wenn die Kranken sich an den ersten besten Quacksalber wendeten, wenn sie von dem wissenschaftlich Mann nicht die nöthige Hülfe erhielten, und daß sie das
ertrauen zur Wissenschaft selbst verlören. Manche Kassenärzte ver⸗ ständen sich nicht dazu, den Kranken im Hause zu besuchen. Es sei wenigstens schon anerkannt, daß eine Besserung in dieser Hinsicht nothwendig sei. Wenn die freie Aerztewahl in Krefeld, Magdeburg und Leipzig schon möglich sei, könne sie auch für das ganze Deutsche Reich eingeführt werden. Seine Partei wende sich mit ihren Anträgen immer an den Staat, aber zuerst müßten die Kassen selbst auf eine freie Aerztewahl hinwirken. Ihre Mitglieder hätten ja selbst bei den Vorstandswahlen das letzte Wort zu sprechen. Die jetzige Regelung sei nur ein Anfang zur Besserung; nur wenn die Kassen sich selbst ablehnend verhielten, müßte der §. 55a eintreten. Alle Wünsche ließen sich natürlich nicht befriedigen, es bleibe Alles noch Stückwerk. Er vermisse aber in dem §. 55 a — und er behalte sich einen entsprechenden Antrag für die dritte Lesung vor —, daß man hierbei von der Vorrichtung der Generalversammlung der Kassen ganz abgesehen habe. Erst wenn auf diesem naturgemäßen Wege nichts zu erreichen sei, müsse die Be⸗ hörde eintreten. Mit dieser Aenderung könnte seine Partei für §. 55 a stimmen. Von den Anträgen Dziembowski und Hitze habe ein jeder auch seine Mängel, und er köane sich heute noch nicht entschließen, für welchen der beiden er schließlich stimmen solle. Mehr und mehr müsse man eine Annäherung an die freie Aerztewahl erreichen.
Abg. Hitze will die Regelung den Kassen allein nicht über⸗ lassen, denn die Minderheit müsse auch gegenüber der Mehrheit der Arbeiter geschützt werden Redner vertheidigt das Zwangskassen⸗ system gegen die erhobenen Angriffe; es müsse mit der Thatsache gerechnet werden, daß die Verhältnisse der Arbeiter eben beschränkt seien. Der Vergleich der Verstaatlichung der Aerzte mit derjenigen der Aerzte der Seele treffe nicht zu, denn Geistliche seien keine Staatsbeamten. em Staatssekretär erwidere er, daß er (Redner) es für kein Unglück ansehe, wenn jüngere Aerzte genommen würden. Es stehe Jedem frei, sich einen billigeren Arzt zu nehmen.
Abg, von der Schulenburg: Er sei für die Streichung des ganzen Paragraphen, weil er überflüssig und unklar sei. Dieser Paragraph enthalte einen Schrei nach der Polizei, aber die Kranken⸗ kassen seien ein Stück Selbstverwaltung der großartigsten Art und könnten dabei erreichen, was der Paragraph wolle. Unklar sei der Paragrapb, weil ein Bedürfniß von Versicherten schwer festzustellen sei: gerade bei der Wahl des Arztes sprächen Antipathieen und Sympathieen mit. Was heiße ferner „weitere Aerzte“? Es solle heißen „mehr Aerzte“, es könnten aber auch Naturärzte darunter ver⸗ standen werden. Er bitte also, den Paragraph abzulehnen.
Abg. Eberty: Die Zwangskassenärzte in Berlin hätten keines⸗ wegs eine geringere Qualifikation, als andere Aerzte sie hätten. Das Beste sei hier gerade gut genug für die Arbeiter. Wenn man nur Vertrauensärzte haben wollte, so würde man schließlich dahin kommen, nur durch Suggestion zu heilen. In dieser Frage spiele ein gut Theil Uebertreibung und vielleicht Mißvergnügen solcher Herren
mit, die bezüglich eines Wunsches nach einer Krankenarztstelle nicht glücklich gewesen seien. Ganz unbegründet sei die Behauptung, daß die Zwangskassenärzte Hunger litten. Ein junger Berliner Kassenarzt fange mit 500 Thalern an und habe nur einige Stunden des Tages zu thun. Durchschnittlich erhalte jetzt der Krankenkassen⸗
arzt 1950 ℳ Die Zahl der Gewerksärzte sei seit 1885 mehr als
verdoppelt worden, und die Aerzte würden im nächsten Jahre genau das Doppelte von dem erhalten, was sie 1885 bekommen hätten.
Entkleide man die Sache des Nebels und Dunstes der Agitation, so
stelle sich heraus, daß keineswegs Hungerlöhne gezahlt würden. Ehe man die freie Aerztewahl gesetzlich einführe, wolle seine Partei doch
erst den Berliner Versuch abwarten. Abg. Singer: Der Abg. Eberty stehe der Berliner Verwaltung u nahe, als daß man es ihm übelnehmen könnte, wenn er sie bei
jeder Gelegenheit in ein günstiges Licht stelle. Aber er habe des
Guten zu viel gethan, und es sei unvorsichtig von ihm gewesen, das
Loblied dieser Einrichtungen in Gegenwart von Leuten zu singen, welche die Dinge auch kennten. Daß die Kassenärzte in Berlin nach neun Jahren mehr Gehalt bekämen, werde hier keinen Eindruck machen. In Folge der Vertheuerung der Lebensbedürfnisse hätten Staat und Gemeinden eben die Lage ihrer Beamten verbessern müssen. Die Berliner Krankenkassenärzte könnten nur dann eine MNebenpraxis ausüben, wenn sie gewissenlos genug seien, um die ihnen
von den Kassen auferlegte Pflicht zu vernachlaͤssigen. Es sei ihm
nicht etwa von jungen Aerzten, die keine Stelle hätten erhalten können,
sondern von alten Aerzten versichert worden, daß die Stelle eines Vrantenkassenarzttg die volle Zeit eines Mannes in Anspruch nehme. er Nebel und Dunst, von dem der Vorredner gesprochen habe, liege
also ganz wo anders. Bei der Vergebung der Krankenkassenarztstellen
in Berlin sprächen Rücksichten mit, die weit über das hinaus⸗
gingen, was man vernünftiger und anständiger Weise eigentlich erwarten müßte. Die Stellen seien auch vergeben worden an
Leute, die es ga Eö“ bie sar nicht nöthig hätten, einen anderen Erwerb zu
8 n diese Praxis nur hineinbegäben, um nachher in
Kreise in kommen, nen sie besser bezahlt würden. Also so engel⸗
rein, wie der Abg. Eberty die Dinge in Berlin geschildert habe, seien sie leider nicht.
Abg. Eberty: Diese Art der Taktik des Abg. Singer überlasse er der Beurtheilung des ganzen Reichstags. Er (Redner) für seine Person werde sich auf eine derartige sachliche Behandlung niemals einlassen. Bei Allem, was er gesagt habe, bleibe er. Jeder Ein⸗ richtung, auch den Berliner Einrichtungen, hafteten Mängel und Fehler an Er für seine Person stehe auch in dieser Frage nur als Vertreter der Interessen der arbeitenden Klassen und keiner andern hier. Der Abg. Singer habe dann dunkle Andeu⸗ tungen darüber gemacht, wie es bei den Wahlen der Krankenkassen⸗ ärzte zugehe. Man habe mit allen zu Gebote stehenden Mitteln — er (Redner) selbst habe eine direkte amtliche Einwirkung hierauf nur in beschränktem Maße — gesucht, dahinter zu kommen, ob unlautere Mittel zur Erlangung dieser Stellen angewendet worden seien, und zur Ehre der Aerzte und Kassenmitglieder stelle er fest, daß auch nicht eine einzige dieser dunkeln Behauptungen irgendwo Gestalt gewonnen habe. Trotzdem bitte er den Abg. Singer, ihm (dem Redner) alle die Thatsachen, die ihm objektiv bekannt seien, mitzutheilen, er werde sie weiter verfolgen.
Bei der Abstimmung wird §. 55a angenommen unter Streichung des Passus: „Wenn durch die von der Kasse getroffenen Anordnungen eine dem Bedürfniß der Versicherten entsprechende Gewährung der Kassenleistungen nicht gesichert ist.“
Zum §. 56 beantragen die Sozialdemokraten, den frühe⸗ ren §. 56 beizubehalten, wonach die Krankengelder nicht ver⸗ pfändet, nicht übertragen, nicht gepfändet und nur auf ge⸗ schuldete Beiträge aufgerechnet werden dürfen. Die Vorlage will die Aufrechnung auch gegen Eintrittsgelder und Geld⸗ strafen gestatten und außerdem die Unterstützungsansprüche in zwei Jahren verjähren lassen.
Abg. Molkenbuhr empfiehlt den Antrag, weil das Gesetz den Kranken die Unterstützungsgelder in erster Linie sichern müsse.
Der Antrag der Sozialdemokraten wird abgelehnt.
Abg. Rintelen beantragt die Einschaltung eines §. 57 aa, wonach in Fällen, in denen ein Kassen⸗ mitglied innerhalb der ersten drei Wochen seiner Zugehörigkeit zu einer Kasse an einem Leiden erkrankt, zu dem schon während seiner Zugehörigkeit zu einer anderen Kasse der Grund gelegt war, die gegenwärtig betheiligte Kasse die für und Unterstützung dieses Mitgliedes verauslagten Kosten von der Kasse soll einziehen können, der der Betreffende früher angehörte, um Abschiebungen von Mitgliedern, bei denen eine Erkrankung zu erwarten ist, und hierdurch hervor⸗ gerufene Schädigungen der Kassen zu vermeiden.
Dieser Antrag wird abgelehnt.
Gegen 5 Uhr wird die Verhandlung abgebrochen.
Nr. 47 des „Centralblatts der Bauverwaltung“, herausgegeben im Ministerium deröffentlichen Arbeiten, vom 21. November hat folgenden Inhalt: Geschichte des Eisenbahn⸗ Geleises. — Landhaus Charlottenau bei Zehlendorf. — Protestan⸗ tischer Kirchenbau. — Vermischtes: Technische Sekretäre und König⸗ liche Bauschreiber in der allgemeinen Bauverwaltung. — Aus dem Reichshaushalt für 1892/93. — Preisbewerbung für den Entwurf zum Bau eines Thurmes für die altstädtische evangelische Kirche in Thorn. — Preisbewerbung für Entwürfe zu einer Hofscheune. — Preisbewerbung um ein Schlachthaus mit Schlachtviehmarkt in Jassy. — Ueber Langer'sche Brückenträger. — Themsetunnel bei Blackwall. — Selbstthätige Kupplungen und durchgehende Bremsen an Güter⸗ wagen in Nord⸗Amerika.
Statistik und Volkswirthschaft.
Zur Arbeiterbewegung.
Zur Lohnbewegung unter den deutschen Buch⸗ druckern scheibt, wie wir nach dem „Vorwärts“ mittheilen, der „Correspondent für Deutschlands Buchdr. u. Schriftg.“:
Am vergangenen Montag fanden unter Vorsitz des Herrn Dr. Freund, Magistrats⸗Assessors in Berlin, Besprechungen zwischen den Herren Büxenstein und Häbringer einerseits, Döblin und Ph. Schmitt andererseits, über einen etwaigen Friedensschluß im Buchdruckgewerbe statt. Von den Prinzipalen wurde vorgeschlagen, die Gehülfen sollten die Arbeit zu den alten Bedingungen aufnehmen und dann sollte nochmals die Tarifkommission zusammentreten. Dieser Vorschlag fand eine durch⸗ aus unzweideutige Ablehnung. Die Herren Prinzipale konnten sich aber überzeugen, daß die Gehülfen keineswegs unnahbar sind, und so hatte die Besprechung das eine Resultat, daß man in Prinzipals⸗ kreisen demnächst zu geeigneteren Vorschlägen kommen dürfte.
Aus Liegnitz wird der „Voss. Ztg.“ telegraphisch gemeldet, daß die ausständigen Handschuhmacher dort auf Geheiß des Central⸗ vorstandes der Fachverbände die Arbeit wieder aufnahmen. Dreizehn Gehülfen wurden aber nicht wieder eingestellt.
Aus Hanau wird der „Frkf. Ztg.“ geschrieben, daß unter den ausständigen Arbeitern der Kohn’'schen Diamantschleiferei, namentlich den verheiratheten, bereits ein recht fühlbarer Nothstand eintritt. Die Unterstützungen sind niedrig bemessen, und es ist darum an die Genossen die Aufforderung ergangen, im Interesse der Ausständigen Sammlungen zu veranstalten. Trotz alledem blieb die in den Lokal⸗ blättern publizirte Aufforderung zur Wiederaufnahme der Arbeit bis jetzt erfolglos. Die Arbeiter behaupten, der Geschäftsführer habe einige ihm unliebsame Persönlichkeiten maßregeln wollen und so die Uebrigen zur Arbeitseinstellung veranlaßt. Die Ausständigen machen die Wiederaufnahme der Arbeit von der Entlassung des Geschäfts⸗ führers abhängig, doch dürfte wohl der in Antwerpen wohnhafte Ge⸗ schäftsinhaber, dessen Eintreffen erwartet wird, jenem Ansinnen kaum entsprechen. (Vgl. Nr. 277 d. Bl.).
Ueber den Bergarbeiterausstand im Norden Frank⸗ reichs liegen folgende Telegramme des Wolff'schen Bureaus vor:
„Aus Paris wird berichtet, daß nach einer telegraphischen Mit⸗ theilung Basly's die Grubenarbeiter im Departement Pas de Calais sich weigern, das von den Bergwerksgesellschaften vorgeschlagene Schiedsgericht anzuerkennen. — Ein Telegramm aus Lo urches meldet, daß gestern Vormittag in den Kohlengruben von Douchy (Departement du Nord) ein allgemeiner Ausstand ausgebrochen sei. — Seit Mittwoch treffen in Roubaix und Tourcoing zahlreiche Sendungen deutscher und belgischer Kohlen ein. Im Kohlen⸗ becken von Pas de Calais ist in der Nacht zum Donnerstag kein bemerkenswerther Zwischenfall eingetreten. Dagegen ist in einigen Kohlengruben des Departement du Nord, wo der Theilausstand fort⸗ dauert, eine lebhafte Erregung bemerkbar. 5 —
Wie der „Frkf. Ztg.“ aus Brüssel berichtet wird, ist auf der Kohlengrube „Produits“ in Flénu (Becken des Borinage) ein Ausstand eingetreten; 480 Bergleute legten die Arbeit nieder und fordern eine Lohnerhöhung. 1
In Lyon ist gestern der neunte Kongreß der nationalen Arbeiter⸗Partei eröffnet worden; es sind 284 Arbeitersyndikate vertreten. Den Vorsitz führt der neue Deputirte von Lille, Lafargue
Kunst 8 Wissenschaft.
Gesammt⸗Uebersicht der im Prüfungsjahr 1890/91 bei den Königlich preußi⸗ schen medizinischen und pharmazeutischen Prüfungs⸗ Kommissionen geprüften Doktoren und Kandidaten der Medizin und Kandidaten der Pharmazie.
Bei den Prüfungs⸗Kommissionen zu
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Greifswald Königsberg
Berlin Bonn Breslau Göttingen Marburg Münster
I. Doktoren und Kan⸗ didaten der Medizin: aus dem Vorjahre .81 10,31 neu eingetreten. . [149 95/32 zusammen [230 105/ 65 27 davon bestanden† mit der Censur „genügend? 43 71 1 8 „gutt 1105 69/2 zusammen nicht bestanden bezw. zurück⸗ L“
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II. Kandidaten der Pharmazie: aus dem Vorjahre “ zusammen davon bestanden mit der Censur „genügend“ vöI . „sehr gut“ zusammen 21 32 2 22 10/ 11 20/49 nicht bestanden bezw. zurück⸗ “ 111““ 3——3 6 — 33
— Die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde setzt aus der ihrer Verwaltung unterstellten Mevissen⸗Stiftung für die Lösung folgender Aufgaben die unten angegebenen Preise aus:
1) Nachweis der im Anfang des 16. Jahrbunderts in Köln vor⸗ handenen Straßen und Plätze, sowie aller Befestigungen, öffentlichen Gebäude, Kirchen, Kapellen, Klöster und Wohnhäuser, nebst Entwurf eines möglichst genauen Stadtplans, auf Grundlage der gleichzeitigen Pläne und Ansichten, der Schreinsbücher und der Urkunden. Es wird der Wunsch ausgesprochen, die für das 16. Jahrhundert fest⸗ gestellten Straßen, Gebäude u. s. w. nach Möglichkeit zeitlich zurück zu verfolgen. — Die Arbeit ist einzusenden bis zum 31. Januar 1897 einschließlich. Preis 4000 ℳ, 8
2) Entwickelung der kommunalen Verfassung und Verwaltung Kölns von den Anfängen bis zum Jabre 1396. — Die Arbeit ist einzusenden bis zum 31. Januar 1894 einschließlich. Preis 2000 ℳ
3) Ursprung und Entwickelung der Verwaltungsbezirke (Aemter) in einem oder mehreren größeren Territorien der Rheinprovinz bis zum 17. Jahrhundert. — Die Arbeit ist einzusenden bis zum 31. Januar 1895 einschließlich. Preis 2000 ℳ
Die Bearbeitungen können unter dem Namen der Bewerber oder anonym mit einem Sinnspruch eingereicht werden. In letzterem Fall ist ein mit demselben Sinnspruch beschriebener versiegelter Zettel bei⸗ zulegen, der Namen, Stand und Wohnort des Verfassers enthält Die Entscheidung über die Verleihung der Preise erfolgt durch de Vorstand der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde; es is hierbei nach der Vorschrift der Stiftungsurkunde neben der Be herrschung des bearbeiteten Stoffes der Stil und die künst⸗ lerische Form der Arbeiten wesentlich mit in Betracht zu ziehen Erscheint keine der über eine Frage eingereichten Arbeiten preis⸗ würdig, so kann doch ein Honorar bis zur halben Höhe des Preises zugebilligt werden. Die preisgekrönten Arbeiten werden Eigenthum der Gesellschaft, die nicht preisgekrönten können binnen eines Jahres nach Veröffentlichung der Entscheidung zurückgefordert werden; ge⸗ schieht dies nicht, so werden sie ebenfalls Eigenthum der Gesellschaft. Die Arbeiten sind einzusenden an den Vorsitzenden der Gesellschaft .““ Geschichtskunde, Herrn Landgerichts⸗Direktor Raljen in Köln.
— Wie die Münchener „Allg. Ztg.“ hört, hat am Sonnabend bei Herrn Professor von Lenbach eine Versammlung von über fünfzig der bedeutenderen Künstler Münchens stattgefunden, um fü die Anbahnung einer Reformirung des dortigen Ausstellungs wesens bestimmte Gesichtspunkte festzustellen. Man hofft, auf diesem Wege der Ueberschwemmung der Münchener Ausstellungen mit mittelmäßigen Bildern, namentlich des Auslandes, vorzubeugen.
— In dem Garten des Schwarzviehhändlers Anton Ciazynski in Pleschen ist, wie die „P. Z.“ mittheilt, am 18. d. M. ein thönerner Topf, gefüllt mit alten Münzen, aufgefunden worden. Arbeiter, die in dem Garten einen Kartoffelschober anlegten, fanden beim Aus⸗ werfen der Erde in einer Tiefe von nur einem Fuß den hier vergra⸗ benen Schatz. Der Topf enthielt 38 noch ziemlich gut erhaltene Goldmünzen, 29 Silbermünzen von der Größe eines früheren Zweithalerstückes und gegen 1000 kleinere Silber⸗ münzen. Die größeren Silbermünzen sind noch gut er⸗ halten, das Gepräge ist deutlich zu erkennen, die kleineren mußten erst gereinigt werden. Die Münzen stammen sämmt⸗ lich aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Mehrere Geldstücke tragen die Jahreszahl 1564, also des Jahres, in dem Kaiser Maximilian II. Ferdinand I. auf dem deutschen Kaiserthrone folgte. Die Münzen sind theils deutsche beziehungsweise österreichische, theils polnische. Die meisten österreichischen tragen die Namen Ferdinand I. und Rudolf II; Münzen mit dem Namen Maximilian, also des Kaisers, der zwischen den beiden genannten regierte, sind nicht vor⸗ handen. Die polnischen Münzen scheinen etwas älteren Ursprungs zu sein, so trägt ein Goldstück die Zahl 1535.
— Im vorigen Monat wurden, wie man der „Frankf. Ztg. schreibt, in Abukir, wenige Meilen östlich von Alexandria, inter⸗ essante Alterthumsfunde gemacht. Unter der Leitung des ge⸗ lehrten Daninos Pascha, dem man die Entdeckang verdankt, werden die Ausgrabungen dort fortgesetzt, und Falls die Regierung die nöthigen Geldmittel bewilligt, können die Arbeiten an dem bisher von den Archäologen völlig unbeachteten Platze noch vieles Werth⸗ volle zu Tage fördern, besonders aus der griechisch⸗ römischen Periode. Zwischen vier und sechs Fuß unter der Oberfläche fand man drei Statuen in Rosengranit, zehn Fuß hoch, mitten unter Tempeltrümmern auf den Gesichtern liegend; von dem Tempel wurde ein Theil der Umwallung, Säulenreste und mehrere
ußbodenquadern bloßgelegt. Die Statuen stellen den hieroglyphischen Faßbohen⸗ zufolge König Ramses II., den Sesostris der Griechen, und die Königin Hentmara, seine Schwester und Gattin, sitzend dar; die dritte Figur zeigt Ramses II. stebhend; er trägt eine Tunika, Arm⸗ spangen, die Kriegskrone und einen Gürtel mit der Aufschrift: „Geliebt von Seth“. Mit der Linken hält er den Szepterstab, der in den Kopf seines Sohnes Menepta (des Pharao im Exodus der Bibel) ausläuft; das Zeichen Menepta's ist in den Stab gravirt. Auf der Thronsessellehne be⸗ findet sich ein Bas⸗Relief der Königin Hentmara im Profil; über ihrem Kopf steht die Inschrift: „Tochter des Königs, geliebt von ihrem Vater — Gemahl des Königs — des großen Lieblings des Seth“. Auf der Rückseite der Lehne ist das Königliche Banner des Ramses in vertiefter Arbeit zu sehen, sammt allen Titeln des Königs. Der Stil der drei Statuen ist derjenige der zwölften
Dynastie. Der Korrespondent der „Times“ in Kairo vermuthet,