1891 / 293 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 12 Dec 1891 18:00:01 GMT) scan diff

Deutscher Reichstag. 138. Sitzung vom Freitag, 11. Dezember, 1 Uhr.

Am Tische des Bundesraths der Reichskanzler von Caprivi, die Staatssekretäre Dr. von Boetticher, Frei⸗ herr von Maltzahn und Freiherr von Marschall, sowie die Königlich preußischen Staats⸗Minister von Heyden und Thielen.

Die erste Berathung der Handelsverträge wird fort⸗ gesetzt.

Sctaatssekretär Freiherr von Marschall:

Mieine Herren! Der letzte Redner des gestrigen Tages hat, zumal am Schlusse seiner Ausführungen, so lebhafte Angriffe gegen die Vorlage der verbündeten Regierungen und ich darf sagen gegen die verbündeten Regierungen selbst erhoben, daß ich zu einer kurzen Erwiderung das Wort zu nehmen berufen bin. Ich möchte aus den Darlegungen des Herrn Grafen Kanitz zunächst herausgreifen eine Behauptung, die mir charakteristisch erscheint für seine wirth⸗ schaftliche Gesammtauffassung, die Behauptung, daß die Denkschrift, welche die verbündeten Regierungen zur Begründung der Handels⸗ verträge dem Reichstag vorgelegt haben, erkennen lasse „einen liberal⸗freihändlerischen Geheimrathsstil“. Diese Denkschrift ist in der handelspolitischen Abtheilung meines Amts ausgearbeitet worden. Bevor sie dem Herrn Reichskanzler zur Genehmigung unterbreitet wurde, hat sie meine Kontrole, meine Durchsicht passirt. Ich habe also das Recht, das Epitheton eines liberalen freihändlerischen Ge⸗ heimraths auch auf meine Person zu beziehen. (Heiterkeit.) Ich werde mich bemühen, diesen Vorwurf mit Ruhe und Ergebung zu tragen.

Nun, meine Herren, gestatten Sie mir, daß ich Ihnen in zwei Worten den Inhalt der Denkschrift wiedergebe. Sie schildert die handelspolitische Konjunktur Europas, sie geht dann ein auf eine Schilderung unserer Zollverhältnisse und bekennt sich unbedingt und rückhaltlos zur Zollreform des Jahres 1879, indem sie ausspricht, daß es damals nothwendig gewesen war, Umkehr zu halten und einzutreten für den Schutz der nationalen Arbeit durch mäßige Zölle. Dieses Festhalten an dem Programm von 1879 ist nicht zweimal, sondern drei⸗, viermal in der Denkschrift hervorgehoben. Und so, meine Herren, darf ich wohl fragen, wenn das, was in der Denk⸗ schrift steht, den Namen „freihändlerisch“ verdient, wo fängt dann bei dem geehrten Herrn der „Schutzzoll“ eigentlich an? (Heiterkeit.) Es wäre sehr wünschenswerth gewesen, wenn der Herr Graf Kanitz sich hierüber ausgelassen hätte. So bin ich nur auf Vermuthungen angewiesen, und ich gelange zu der Konklusion, daß bei dem Herrn Abgeordneten der Schutzzoll überhaupt erst beim Getreidezoll von 5 anfängt. (Sehr gut! links.)

Der Herr Vorredner ist damit meines Erachtens ungerecht ge⸗ wesen gegen verschiedene Herren seiner eigenen Partei. Ich erinnere daran, daß im Jahre 1879, als die verbündeten Regierungen einen Zollsatz für Weizen von 1 und für Roggen von 50 vorschlugen, der Herr Abg. Graf von Mirbach es als eine große That angesehen hat, daß es ihm gelang, im Reichstag den Roggenzoll von 50 auf 1 zu erhöhen, und ich weiß, daß 1885, als die Getreide⸗ preise weit niedriger standen als heute, damals ein Schutz von 3 für Weizen und Roggen als genügend erachtet wurde. Die Männer, die zu jener Zeit mit Eifer und Erfolg für die Landwirthschaft ein⸗ getreten sind, werden eine gewisse schmerzliche Empfindung nicht zurückdrängen können, wenn sie aus dem Munde des Herrn Abg. Grafen Kanitz hören, daß sie eigentlich damals die Pfade des ödesten Freihandels gewandelt sind. Sie werden sich damit zu trösten wissen, daß sie es damals nicht besser gewußt haben. Aber eine ernste Konsequenz ziehe ich doch aus der Darlegung des Herrn Grafen Kanitz: sie zeigt, daß, während die verbündeten Re⸗ gierungen unverbrüchlich festhalten an den Grundlagen der Zoll⸗ reform von 1879 im Sinne eines mäßigen Schutzes der nationalen Arbeit, der Landwirthschaft und der Industrie, für den Herrn Abg. Grafen Kanitz diese Zollreform längst ein überwundener Standpunkt ist, und daß er heutzutage Ansprüche an den Schutz der nationalen

Arbeit, soweit sie die Landwirthschaft angeht, stellt, die nach meinem Dafürhalten keine Regierung, sie mag einer Richtung angehören, welcher sie wolle, jemals wird bewilligen können.

Der Herr Abg. Graf Kanitz hat uns dann Enthüllungen über einen geheimen Plan des Jahres 1886 gegeben; er hat uns mit⸗ getheilt, daß damals ein tückischer Plan gewisser ungarischer Groß⸗ grundbesitzer bestanden habe, eine Ermäßigung der Getreidezölle Deutsch⸗ lands herbeizuführen. Der ungarische Magnat, der ungarische Korn⸗ händler, der sich vergnügt die Hände reibt über den deutsch⸗ österreichischen Vertrag, ist ja eine typische Figur in einem Theile der Presse, und ich war darauf vorbereitet, daß er uns auch im Reichstag vorgestellt werden würde. Ich gebe zu, daß durch das geheimnißvolle Dunkel, in das die Sache gekleidet ist, sie einen ge⸗ wissen Reiz hat; aber wenn das richtig ist, was der Herr Abg. Graf Kanitz mittheilt, wenn wirklich in Kreisen der ungarischen Groß⸗ grundbesitzer die Absicht und der geheime Plan bestanden hat, die deutschen Getreidezölle unter das Niveau von 1886 herabzudrücken, so hat der Herr Abg. Graf Kanitz allen Anlaß, der Regierung dafür Dank zu wissen, daß sie jenem Plan so entschiedenen, erfolgreichen Wider⸗ stand entgegengesetzt hat, und jener Zweck nicht nur nicht erreicht ist, sondern die Getreidezölle des Handelsvertrages über das Niveau des Jahres 1886, nämlich auf 3,50 festgesetzt sind. Wir können also den ungarischen Großgrundbesitzer wieder verschwinden lassen, ohne daß unsere Diskussion wesentlich Noth leidet.

Der geehrte Herr Vorredner hat dann über unser Exportinteresse gesprochen und das Verhältniß desselben zur Sicherung des inlän⸗ dischen Marktes. Er hat, wie ich glaube, in mißverständlicher Weise Aeußerungen aus dem Buche des Herrn von Schraut citirt. Meine Herren, gewiß soll man nicht das Exvportinteresse über das Inter⸗ esse der Sicherung des einheimischen Marktes stellen; aber darum handelt es sich jetzt nicht. Es handelt sich heute darum, ob wir über der Sicherung des einheimischen Marktes durch Schutzzölle die Gefahren übersehen, welche unserm Exportinteresse drohen, und ob wir nicht bei Zeiten Vorsorge treffen sollen, daß dieses wichtige Interesse vor Schädigung bewahrt wird. Denn der Export das kann man sagen, ohne der Gefahr zu unterliegen, als Freihändler betrachtet zu werden ist ein wichtiger Faktor unseres ganzen wirth⸗ schaftlichen Lebens, und ein wesentlicher Rückgang desselben würde

gerade dieser Theil der Ausführungen des Herrn Abg. Grafen von Kanitz erstaunt hat; denn, wer fortwährend von dem Schutz der nationalen Arbeit spricht, der sollte denn doch auch anerkennen, daß dieser Schutz nicht einseitig gewisse Theile der nationalen Arbeit, sondern die Arbeit in ihrer Gesammtheit treffen muß, und ich meine, die Arbeit für den äußeren Markt ist auch eine nationale Arbeit.

So wenig ich mit den Ausführungen des Herrn Vorredners einverstanden bin, so bin ich ihm doch in einer Beziehung zu Dank verpflichtet, weil er von Neuem in mir die Richtigkeit der Lehre bekräftigt hat, daß es in menschlichen Dingen keinen Satz giebt, der so richtig ist, und kein System, das so unanfechtbar ist, daß es nicht durch Uebertreibung und durch einseitige Verfolgung in die extremsten Konsequenzen von Grund aus ruinirt und zu Schanden ge⸗ macht werden kann. (Sehr richtig!) Und die andere Konsequenz, die ich allerdings mit einem argumentum e contrario ziehe, ist die, daß auch in handelspolitischen Dingen in erster Reihe Noth thut ein ver⸗ ständiges Maßhalten. Ich spreche es ganz offen aus auf die Gefahr hin, dem Herrn Grafen v. Mirbach etwas wenig Angenehmes zu sagen: in Deutschland wird das Schutzzollsystem ein gemäßigtes sein, oder es wird nicht sein. (Sebr richtig!) Nur dann, wenn es gelingt, die mittlere Linie zu ziehen zwischen den kollidirenden Interessen aller Produktionszweige, nur dann, wenn es gelingt, einen billigen Ausgleich zu finden, der allen Produktionszweigen, der Landwirthschaft, der Industrie, der Arbeit für den inneren und den äußeren Markt, der Erzeugung von Halbprodukten, von Ganzfabrikaten und von Roh⸗ produkten, Licht und Luft giebt, nur dann wird das Schutzzollsystem in Deutschland dauernden Bestand haben. (Sehr wahr!)

Ich darf an einen Vorgang erinnern, der meines Erachtens eine ernste Warnung enthält. Es war im Jahre 1876, als auf autonomem Wege unsere Eisenzölle aufgehoben wurden; es war das eine Kraftprobe der damaligen Richtung unseres Zollsystems, und nach zwei Jahren war der Umschwung da. Was giebt nun dem Herrn Grafen von Kanitz eine Garantie dafür, daß, wenn heute nach seinen Wünschen eine Kraftprobe, eine Belastungsprobe mit den Getreidezöllen von 5 gemacht wird, dann nicht auch in kurzer Zeit ein Umschwung nach der entgegengesetzten Richtung eintritt? (Sehr richtig!) Ja, meine Herren, es bedarf keiner großen Prophetengabe, um zu sagen, daß die Tage des Schutzzolls in Deutsch⸗ land von dem Augenblick an gezählt sein werden, wo die Er⸗ kenntniß in weiten Kreisen der Bevölkerung sich Bahn bricht, daß für einen wichtigen Faktor unseres wirthschaftlichen Lebens, für den Export unter der Herrschaft dieses Systems kein Raum ist. Ich glaube, dies wäre aufs Tiefste zu bedauern.

Der geehrte Herr Vorredner hat dann den verbündeten Regierungen den Vorwurf gemacht, daß sie so leichthin auf ihre Tarifautonomie verzichten; er hat dabei die Begriffe Schutzzoll und Tarifverträge insofern in Gegensatz gebracht, als, wenn ich ihn richtig verstanden habe, er sagte, wer eine richtige Schutzzollpolitik treibt, könne niemals eigentlich einen Tarifvertrag schließen. Ich habe diese Darlegung mit Erstaunen gehört; denn diese Argumente stammen eigentlich aus dem freihändlerischen Lager, sie waren eine der gewichtigsten Waffen, mit denen man seiner Zeit den Schutzzoll bekämpft hat. Wer die Zollverhandlungen der letzten 12 Jahre im Reichstag durchgeht, wird finden, daß die Freihändler nicht müde wurden in dem Versuch, den Schutzzoll dadurch ad absurdum zu führen, daß sie ihm entgegenhielten: Mit dem Schutzzoll kommt ihr niemals zu Tarifverträgen, ohne Tarifverträge können wir den Export nicht schützen, das führt zu einem bellum omnium contra omnes. Und die Anhänger der Schutzzölle haben damals erwidert: Nein, auch wir wollen Tarifverträge, laßt uns nur Zeit; wir wollen uns rüsten, wir wollen uns wappnen, damit wir Etwas in der Hald haben zu bieten, wenn der Moment gekommen ist, Handels⸗ und Tarifverträge abzuschließen. Ja, meine Herren, auch in dem ersten Schreiben des damaligen Herrn Reichskanzlers an den Bundesrath im November 1878 wird als einer der Zwecke der Zollreform bezeichnet, daß damit Kompensationsobjekte für spätere Tarifverhandlungen geschaffen werden sollen.

Meine Herren, nunmehr ist der Moment gekommen, wo es sich darum handelt, jene Prophezeiung der Schutzhändler zu Schanden zu machen. Wir sind gerüstet, alle die Staaten, in die zu exportiren wir angewiesen sind, tragen die gleiche Rüstung; in kurzer Zeit wird dieser Krieg Aller gegen Alle beginnen, wenn wir nicht bei Zeiten Vorsorge treffen, daß wir einen Theil der Rüstung ablegen unter der Voraussetzung, daß Seitens des Auslandes das Gleiche geschieht. Ich begreife ja, daß manche Herren sich in der Rüstung, die wir heute haben, wohlfühlen; ich meine aber, wer einen Blick auf das große Ganze hat, kann keinen Ausgenblick darüber im Zweifel sein, nach welcher Seite hin die Wahl getroffen werden muß.

Der Herr Vorredner hat dann am Schlusse seiner Darlegungen gesagt: „Die demokratische Presse triumphirt über die Niederlage der Agrarier“. Ich muß sagen, daß, wenn ich Demokrat wäre was ich nicht bin (Seiterkeit links), ich dann am Allermeisten trium⸗ phiren würde, wenn die Anschauungen des Herrn Abg. Grafen Kanitz im Reichstag zur Geltung kämen. (Sehr richtig! links.)

Er hat dann weiter gesagt, daß er sich nach seinem Gewissen nicht auf Transaktionen einlassen könne das ist seine Sache.

Er schloß dann mit den Worten: „Die landwirthschaftliche Be⸗ völkerung soll aber wissen, daß sie noch nicht ganz verlassen ist.“ In diesen letzten Worten liegt ein Vorwurf gegen die verbündeten Re⸗ gierungen, den ich mit aller Entschiedenheit zurückweise. Die ver⸗ bündeten Regierungen sind sich der hohen Bedeutung der deutschen Landwirthschaft vollauf bewußt, und sie werden stets nach ihren Kräften Alles thun, was das Interesse der Landwirthschaft erheischt. Allerdings die Vorschläge, die der Herr Abg. Graf Kanitz gestern gemacht hat, erkennen sie als solche nicht an, die diesem Interesse dienen. Es ist eine eigenthümliche Ironie, daß

der Herr Abg. Graf von Kanitz in dem ersten Theil seiner Rede den verbündeten Regierungen einen schweren Vorwurf daraus macht, daß sie den Landwirth nicht im ungestörten Besitz seines Getreide⸗ zolles von 5 lassen, und im zweiten Theil der Rede dann den verbündeten Regierungen einen Vorwurf daraus macht, daß sie nicht vor sechs Monaten die Getreidezölle suspendirt haben. Ja, er ver⸗ langt heute noch die Suspension der Getreidezölle. Ich glaube, die deutsche Landwirthschaft wird sich doch zweimal besinnen, ehe sie auf den Vorschlag des Herrn Grafen von Kanitz eingeht; ich meine, die deutschen Bauern sind verständig genug, zu wissen, daß ein

1“ 1“ 8 dessen Wiedererlangung sie keine andere Garantie besitzen, als die

Ueberzeugung des Herrn Abg. Grafen von Kanitz. Das, meine Herren,

sind Experimente, die, soweit ich mit landwirthschaftlichen Dingen ver⸗

traut bin, der Landwirthschaft unmöglich frommen können, die ihr

im Gegentheil zum größten Schaden gereichen müssen.

hat der

Soweit ich landwirthschaftliche Verhältnisse kenne,

Landwirth ein dringendes Interesse daran, einen stabilen mäßigen Schutzzoll auf seine Produkte zu genießen. Interesse, einen hohen Schutzzoll zu haben, der abhängig ist von den Konjunkturen des Weltmarktes und der sofort bei einer natürlichen oder künstlichen Veränderung der

Er hat aber keinerlei

Getreidepreise eintritt, unter lärmender Agitation aufgegeben wird und unter Hader und Streit

und gleichen Agitationen wiedererworben werden muß. (Sehr richtig! links.) Einen solchen Zustand des Herauf⸗ der Abhängigkeit des Schutzzolles von den Wechselfällen des Welt⸗ marktes würde ich für einen solchen halten, der für die Land⸗ wirthschaft der allerverderblichste und gefährlichste ist.

und Heruntergehens,

Ich resümire mich also dabin, die verbündeten Regierungen sind 8

bereit, Alles zu thun für die Landwirthschaft, was in ihren Kräften

steht, und sie erachten einen Schutzzoll, wie er durch die Verträge gewährt ist, von 3,50 für einen nothwendigen, aber auch hin- reichenden

Schutz; aber sie können sich nicht entschließen, den Vorschlägen des Herrn Abg. Grafen von Kanitz näherzutreten, weil

sie in der Ausführung derselben einen schweren Schaden für die Landwirthschaft erblicken würden.

(Lebhaftes Bravo.) Abg. Broemel: Seine Parteigenossen ständen den Verträgen

zustimmend gegenüber, nicht als ob sie sie für die Erfüllung aller

berechtigten Wünsche hielten, sondern weil die Regierung mit ihnen

den richtigen Weg betreten habe und die Hoffnung gebe, sie werde auch in Zukunft auf diesem Wege fortschreiten. n sie den Verträgen und ihrer Besprechung mit einer gewissen Ruhe

Darum ständen

gegenüber. Kaum eine der am Regierungstisch gefallenen Aeußerungen habe sich an die Gegner der bisherigen Wirthschaftspolitik, aber viele und sehr scharfe an deren Anhänger gewendet. Der Reichskanzler und der Staatssekretär des Auswärtigen Amts hätten sich dagegen ver⸗ wahrt, daß man die Regierung oder die den Vertragsentwürfen bei⸗ gegebene Denkschrift als auf liberal⸗freihändlerischem Boden stehend auffasse; aber der Staatssekretär habe erklärt, man müsse in der Schutzzollpolitik Maß halten und er (Redner) verstehe das so, daß bei Gelegenheit der Erneuerung der Handelsverträge die Schutzzölle auf ein richtiges Maß heruntergebracht werden müßten. Die Erfahrung zeige, daß, wenn irgendwo, bei Zöllen das principiis obsta berechtigt sei; denn der Anfangs als statistische Gebühr erhobene geringe Getreidezoll wachse allmählich auf das Zehnfache! Der Reichs⸗ kanzler sei auch in der Kritik der früheren Zollpolitik sehr offen und entschieden gewesen; er habe gemeint, die Anfangs befriedigende Wirkung der Zölle habe sich dann, als auch die anderen Staaten ebenso gründlich und rücksichtslos zum Schutzzollsystem übergegangen seien, in einen schweren Schaden verkehrt. Man könnte sich freuen über diese Beurtheilung der Sachlage durch eine schutzzöllnerische Re⸗ gierung. Die Verhältnisse und die Nothwendigkeit, den Bedarf an fremden 1 Erzeugnissen mit den Erzeugnissen des eigenen Landes zu bezahlen, habe der Reichskanzler richtig dargestellt, aber diese Auffassung hätten die Gegner der Schutzzölle schon immer gehabt. Bei dem bestehenden Schutzzollsystem sei zu befürchten gewesen, daß der bevorstehende Ablauf der Handelsverträge neue Schutzzölle hervorrufen würde, welche die wirthschaftliche Arbeit Europas schwer geschädigt hätten; dem habe keine Regierung ruhig entgegensehen dürfen; man hab 3 sich entschließen müssen, das System zu ändern, wenn man von Deutschland und dem größten Theil Europas die schwersten Folgen habe abwenden wollen. In der Verlegenheit, in der sich Alles befunden habe, hätten Regierung, Parlamente und Interessenten nach einem Manne gerufen, der die Initiative ergriffe, und daß Deutsch⸗ land diese Initiative ergriffen habe, gereiche dem Lande zum Stolz Der Reichskanzler habe bei allem Interesse für die Land wirthschaft zugegeben, daß 1887 ein schwerer Fehler gemach sei, der, wenn man ihn nicht bald beseitigte, das Reich selbst ge fährde. Allerdings hätten bei diesem Fehler die Agrarier wesent lich mitgewirkt, sie hätten ja die Klinke der Gesetzgebung in de Hand gehabt, aber schließlich sei damals die Vorlage von der Reichs regierung selbst gekommen, und darum würden die Verträge, wenn sie auch noch viel unvollkommener wären, als sie seien, einen Segen für die wirthschaftliche und soziale Lage bedeuten, weil sie der bis herigen Interessenpolitik eine Schranke setzten und vor der Möglichkei schützten, daß eine andere Regierung etwa wieder solche agrarisch Forderungen stelle. Auch hier wie in anderen Punkten habe die Re gierung die Erbschaft der früheren Regierung antreten müssen, abe hier sei am schwersten Besserung zu schaffen gewesen, weil dazu nich die Aenderung der Gesetzgebung genüge, sondern mit den Verhältnissen des Auslandes gerechnet werden müsse, und überall die Lehre vom Schutze der nationalen Arbeit, wie sie Fürst Bismarck aufstelle, in anderen Ländern Wurzel gefaßt habe. Wenn eine selbst auf schutz zöllnerischem Boden stehende Regierung andere ebenfalls schutzzöllnerische Regierungen zu Verträgen, in denen Zollherabsetzungen enthalten seien, veranlassen wolle,zso sei das eine schwere Aufgabe, und ihre Durchführung verdiene die höchste Bewunderung. Die Stellung de Schutzzöllner freilich zu den Zöllen und ihrer Aufhebung charakterisir am Besten die Antwort eines Schutzzöllners auf die Frage, ob ein nun dreißig Jahre bestehender Zoll nicht endlich seine Wirkung ge⸗ than habe und aufgehoben werden könne: „un 1 unter dem ich geboren und aufgewachsen bin, hoffe ich

zu sterben.“ Die vorliegenden Verträge seien recht eigentlich de Ausdruck dafür, daß nunmehr solche Sonderansprüche in den Hinter⸗ grund geschoben würden und das allgemeine Interesse wieder als aus⸗ schlaggebend anerkannt werde. Die Frage, ob Deutschland bei diesen Verträgen gut gefahren, sei eine völlig müßige. Seine Partei freue sich jeder Zollherabsetzung im Auslande und im Inlande. Sie bedauere höchstens, daß man in beiden Beziehungen nicht noch weiter gekommen sei. Der Abg. Graf von Kanitz habe bemängelt, daß der Zoll⸗- tarif für gewisse Industrien zu sehr herabgesetzt und demnach die be⸗ treffenden Erwerbszweige in empfindlicher Weise der ausländischen Konkurren preisgegeben worden seien. Er möge sich beruhigen Die betreffenden Industrien könnten auch ohne jeden Schutzzoll auf dem inländischen Markt jede ausländische Konkurrenz sehr wohl bestehen. Im Jahre 1890 seien für 6 Millionen Porzellanwaaren ein⸗ geführt, dagegen für 30 Millionen ausgeführt; in Glaswaare hätten die Einfuhr 9 Millionen, die Ausfuhr 42 Millionen betragen

Der Abg. Graf von Kanitz habe namentlich auch den neuen Zolltarif für Getreide bemängelt und gemeint, daß bei den hohen Produktionskosten der Getreidebau in Deutschland nicht mehr lohnend sei. Die Berechnung von Produktionskosten auf diesem Gebiet sei äußerst schwierig und unsicher. Es seien vor einigen Jahren weitgehende Erhebungen darüber in der Provinz Hannover vorgenommen worden, deren Ergebnisse in einer Schrift des Professors Drechsler vorlägen. In vierzehn Wirthschaften hätten bei Weizen die Pro⸗ duktionskosten 130 192 betragen, bei Roggen hätten sie von 105 bis 191 geschwankt, bei Hafer zwischen 107 165 Daraus ergebe sich, daß ein Getreidepreis, der für eine Wirthschaft gar nicht mehr lohnend sfei, für die andere noch ein sehr rentabler Preis sein könne, und daß das Bestreben einer Zollpolitik, die den Preis künstlich hinaufschrauben wolle, darauf hinauslaufe, auch den unfleißigsten und unwirthschaftlichsten Betrieben von Staatswegen eine Prämie zu gewähren. Wie kämen denn die Produktionskosten überhaupt zu Stande? In allen diesen Fällen sei nach dem sachverständigen Urtheil seiner Parteigenossen der Werth des Grund und Bodens mit außerordentlich hohen Ansätzen eingestellt, in Folge

Millionen.

alle produzirenden Kreise und nicht zum Mindesten die Land⸗ wirthschaft in Mitleidenschaft ziehen. Ich muß sagen, daß mich

Schutzzoll von 3,50 in der Hand für sie werthvoller ist, als der Schutzzoll von 5 ℳ, den sie erst preisgeben sollen und bezüglich

dessen spiele die Verzinsung des Grundwerthes eine viel größere Rolle als das, was der Landwirth an die Arbeiter bezahle. Die

in Papier und Pappen die Einfuhr 3 Millionen, die Ausfuhr 57

voertraue darauf, daß diese Verträge

Rentabilität des landwirihschaftlichen Betriebes sei also in erster Linie abhängig von dem Werth des Grund und Bodens. Vom Bundesrath sei früher anerkannt worden, doß die Getreidezölle viel weniger die Wirkung hätten, die landwirthschaftliche Arbeit zu schützen, als die Rente des ländlichen Grundbesitzes hochzuhalten. Für seine Partei sei die Herabsetzung der bestehenden deutschen Schutzzölle in vieler Hinsicht nicht genügend, wenn sie auch gern anerkenne, daß geschehen sei, was in den Kräften der Regierung gestanden habe. Der Zoll für Sohlleder und Treibriemenleder sei von 36 auf 30 ermäßigt worden mit der Begründung, daß die deutsche Ger⸗ berei diese Ermäßigung wohl werde tragen können, und durch den Vertrag mit Oesterreich⸗Ungarn werde doch auch der Zoll auf Gerber⸗ lobe im Betrage von 50 für den Dopvpelzentner aufgehoben, d. h. nichts Anderes, als die Reichsregierung erkenne selbst an, daß der Zoll auf Gerberlohe eine Belastung der deutschen Gerberei sei, und in gleicher Weise sei der Zoll auf Sohlleder eine Belastung der dentschen Schuhwaarenfabrikanten, der Zoll auf Treibriemenleder sei eine Belastung der ganzen maschinellen Erwerbsthätigkeit. Wenn er die Verträge richtig verstehe, so sei der Vertragstarif mit Oester⸗ reich⸗Ungarn identisch mit dem Vertragstarif mit Italien und der österreichische Vertragstarif mit Deutschland identisch mit dem österreichischen Vertragstarif mit Italien, sodaß zwischen den drei Ländern auch auf wirthschaftlichem Gebiet eine ganz besondere Einigung bestehe. Dazu kämen noch die Verträge mit Belgien und der Schweiz. Die Konsequenzen der Verträge würden nicht zu vermeiden sein. So werde die Frage der Verzollung der im Inlande vorhandenen aus⸗ ländischen Waaren einer Regelung bedürfen. Er halte diese Verträge nicht für den Abschluß, sondern in Wahrheit für den Anfang einer Zollreform. Es könne der Reichsregierung nicht verborgen geblieben sein, daß auch die eigenen Zölle eine Erschwerung der gewerblichen Thaͤtigkeit seien. Das gelte auch von den Getreidezöllen. Der Reichskanzler wolle in diesem Punkte keine weiteren Konzessionen machen, er thue, so weit es gehe, freundlich mit den Agrariern, ohne dafür Dank zu ernten. Seine Partei gebe zunächst sehr gern mit dem Reichskanzler in Bezug auf die Herabsetzung der Getreidezölle, sie wolle auch sehr gern mit dem Abg. Grafen von Kanitz die Getreidezölle vorläufig suspendiren, und sei dann wieder entschlossen, mit dem Reichskanzler zu gehen, der doch meine, wenn diese Zoͤlle einmal suspendirt seien, dann seien sie auf Nimmerwieder⸗ sehen suspendirt. Im Grunde aber vertraue sie nicht auf Personen, sondern auf den natürlichen Gang der Entwickelung. Die Be⸗ völkerungsziffer in Deutschland sei seit 1879 um 13 ½ % gestiegen. Am Schluß des Jahrhunderts würden voraussichtlich 56 Millionen Menschen auf deutschem Boden sein, und es werde auch dem Abg. von Kardorff nicht einfallen zu behaupten, daß man diese Volksmenge mit eigenem Brotkorn werde versorgen können. Deutschland werde also auf das Ausland angewiesen sein. Der Reichskanzler selbst habe anerkannt, daß die Getreidezölle eine Last für das Land seien. Er habe zwar nur gesprochen von den Opfern, die dem Lande auferlegt seien, er möge aber nur ganz ruhig von den Opfern sprechen, die dem konsumirenden Volke auferlegt würden. Menschen, nicht der abstrakte Staat brächten Opfer. Er a. 2 neue Verträge mit anderen Staaten zur Folge haben würden. Die anderen Staaten, auch Frank⸗ reich, würden sich auf die Dauer nicht isoliren können, ohne eine weit⸗ gehende Schädigung der eigenen wirthschaftlichen Interessen zu erfahren. Der Reichskanzler habe seine Rede mit einer Rundschau auf die Ent⸗ wickelung der anderen Staaten und Welttheile geschlossen. Man sollte sich freuen, daß auch die Reichsregierung sich den klaren Blick für die Entwickelung der Völker in der modernen Zeit offen erhalten habe. In diesen Verträgen liege das Anerkenntniß, daß eine gewisse Solidarität wirthschaftlicher Interessen zwischen allen Völkern vor⸗ handen sei. Die Verträge beruhten auf der Erkenntniß, daß ein wirth⸗ schaftlicher Bund zugleich ein politisches Band sei, bei dem die Her⸗ stellung des wirthschaftlichen Friedens zugleich eine Gewähr des politischen Friedens sei.

Abg. Graf von Kanitz (zur Geschäftsordnung): Er möchte den Präsidenten bitten, wenn es die Geschäftsordnung irgend gestatte, ihm das Wort zu geben, um die Ausführungen des Staatssekretärs Freiherrn von Marschall beantworten zu können. Es würde ihm schwer fallen, seine Erwiderung in dem Rahmen einer persönlichen Bemerkung anzubringen.

WC1“ vetzow: 8s bedauere, nach der Geschäfts⸗ ordnung dem Abg. Grafen von Kanitz zu einer sachlichen Erwideru jetzt das Wort nicht geben könne. 8 66

Abg. Dr. Böttcher: Auch er sei in der angenehmen Lage, die

Verträge mit Genugthuung begrüßen zu können. Seine Fraktion habe

8*

Einzelinteressen dem Gesammtwohl unterordne.

niemals aus der Handelspolitik eine Fraktionsfrage gemacht, weil eine große bürgerliche Partei, die sich uͤber ganz Deutschland und auf die verschiedenartigsten Berufszweige erstrecke, keine wirthschaftliche Partei sein könne, fondern bestrebt sein müsse, die Einzelinteressen dem Gesammtinteresse unterzuordnen. Daher habe seine Partei ihren Mitgliedern stets volle Freiheit in ihrer Stellungnahme zur Handels⸗ politik gelassen, natürlich unter der Voraussetzung, daß Jeder die Er habe sich gefreut,

8 daß der Reichskanzler gerade diesen Standpunkt betont habe. Er

träge durch Opfer am

(Redner) sei von vornherein in den wichtigsten Punkten ein Gegner

8

der bisherigen Zollpolitik gewesen, aber er behaupte zwar nur

für seine Person, aber wohl der Mehrheit seiner Parteigenossen zu finden —, daß die Zollpolitik auf die wirthschaftliche Entwickelung nachtheilig nicht gewirkt habe. In seinen letzten Konsequenzen müsse jedoch das Zoll⸗ system die Ausfuhr schädigen. Ob alle einzelnen Interessen bei den Verhandlungen über die Verträge genügend gewahrt seien, müsse man in zweiter Lesung eingehend prüfen. Hauptsächlich würden die Ver⸗ 1 : Getreidezoll und Weinzoll charakterisirt. Gegenüber dem Reichskanzler müsse er auch für andere Erwerbszweige als die landwirthschaftlichen die Eigenschaft staatserhaltender Elemente in Anspruch nehmen. Die Regierung müsse allerdings für die Existenz⸗ fähigkeit der Landwirthschaft sorgen. Er habe zwar immer gegen die Getreidezölle gestimmt, bekenne aber ebenso freimüthig, daß ein Schutz

ohne Widerspruch bei

der Landwirthschaft in deren Nothlage unentbehrlich sei. Ein Zoll von 3,50 sei ein genügender Schutz. Irgend ein Opfer müsse die

Landwirthschaft im Interesse der Gesammtheit bringen. Ein großer Theil seiner Parteigenossen habe mit ihm 1887 die Forderung

eines Zolles von 5 für hinausgehend über das Maß gehalten, das

und die zum seien, seine Fürsorge angedeihen lassen.

die Landwirthschaft verlangen könne. Die Landwirthschaft habe sich aber nun auf die hohen Zölle eingerichtet, und so begreife er die

Unruhe und Verstimmung in ländlichen Kreisen über die Verträge.

Andererseits müsse der Staat auch andere Erwerbszweige schützen im Interesse des Staats selbst. Den Weinbau habe der Reichskanzler auf eine andere Linie als den Getreidebau gestellt, weil er für die Ernährung des Volkes nicht dieselbe Bedeutung habe. Trotzdem müsse der Staat auch den Bevölkerungsschichten, die mit diesem hochwichtigen Produktionszweige befaßt seien und am Wenigsten zu den reichen Grundbesitzern gehörten, die vielmehr in saurer Arbeit einem harten Boden ihre Produkte abgewinnen müßten, größten Theil treue Anhänger des Staats Die Befürchtungen vor

der Konkurrenz der italienischen Weineinfuhr würden sich hoffentlich

als unbegründet erweisen. Man fürchte, daß die bisherige fran⸗ zösische Weineinfuhr intakt bleiben und die italienische Konkurrenz noch hinzukommen werde. Das befürchte er nicht, sondern stehe vielmehr auf dem Standpunkt des Reichskanzlers, daß man dem italienischen Wein auf deutschem Boden ein Schlachtfeld gegen den französischen bereiten müsse. Die Erleichterung der italienischen Weineinfuhr solle auch ein Mittel gegen die Kunstweinfabrikation und den übermäßigen Schnapsgenuß bieten. Brächte man es dahin, daß der Weinkonsum in großen Volksschichten Platz griffe, es wäre erfreulich. So oft er nach Italien oder Frankreich gekommen sei, habe er sich gefragt, woher es komme, daß dort viel weniger soziale Gährung zu finden sei. Das komme zum großen Theil vom Weingenuß. Der Wein erfreue des Menschen Herz, er mache heiter und genügsam. Der

Vertrag mit Italien fei durchaus günstig; dort könne man noch

weite Absatzgebiete erobern. Oesterreich und Italien müsse Deutsch⸗ land sich wirthschaftlich nähern, anstatt sie zu bekämpfen. Ein wirth⸗ schaftlicher Krieg zwischen politischen Bundesgenossen müsse auf die Dauer izun Verstimmungen führen. Unter dem Gesichtspunkt des patriotischen Interesses wolle seine Partei die Vorlage behandeln. Damit sich die Verträge auch in die Seele des Volks einlebten, wie der Reichskanzler wünsche, und um sie der Bevölkerung so klar legen zu können, daß sie sich von deren Nothwendigkeit trotz der Verletzung einzelner Interessen überzeuge, müsse man sie durchaus eingehend prüfen, und wenn selbst hier und da eine berechtigte Rüge kommen sollte, so wäre das nicht so schlimm, als wenn die Verträge äber's Knie gebrochen würden und dann nachher alle mögliche Agitation durchs Land gehe. Das möchte er in erster Linie vermieden wissen, weil es Aufgabe eines jeden rechtlichen Mannes sei, der Schwarzseherei im Lande entgegenzutreten. Er hoffe, daß bei gründlicher Prüfung für das Vaterland ein fruchtbares Werk geschaffen werde.

Abg. von Kardorff: Er glaube ja nicht, daß der Widerspruch seiner Partei das Zustandekommen der Handelsverträge hindern werde; aber er sei ein alter, unverbesserlicher Schutzzöllner und babe schon 1873 als solcher der damals noch freihändlerischen Regierung mit höchstens zwanzig Genossen Widerstand geleistet. So stehe er auch der jetzigen Regierung, die er auf diesem Punkt bekämpfe, im Uebrigen durchaus nicht oppositionell gegenüber. Von den gestern vom Reichs⸗ kanzler citirten Brochüren habe er keine einzige verfaßt, wie er denn überhaupt nie anonym schreibe; ebensowenig habe er je den Be⸗ fähigungsnachweis für das Gewerbe, dessen Schutzherr der beilige Crispin sei, fordern können. Von den gestern vom Reichs⸗ kanzler vorgetragenen wirthschaftlichen Gesichtspunkten differire er in vielen Beziehungen; er stehe ganz auf dem Stand⸗ punkt des Abg. Grafen von Kanitz und sage mit Adam Smith, die Landwirthschaft sei der wichtigste Faktor des Staates, und der gute innere Verkehr sei hundertmal wichtiger als jede Ausfuhr. Es sei nicht nothwendig, die Zollautonomie aufzugeben, man hätte die Zölle nach Belieben gestalten und auf Grund dessen dann Handelsverträge abschließen sollen. Er sei auch im Sommer für die Suspension der Zölle gewesen, die er den neuen Verträgen vorziehe. Die enormen Getreidepreise würden schon im Frübjahr sinken, wenn die ameri⸗ kanischen Getreidemassen hierher kaämen allerdings die für Roggen nicht. In den Motiven zur Vorlage stehe der ihn befremdende Satz, Deutschland sei ein Industriestaat. Es wäre bedauerlich, wenn Deutschland wirklich sich zu einem Industriestaat entwickelte wie England, das seine ganze Landwirthschaft preisgegeben habe; das würde gleichbedeutend sein mit dem Verzicht auf die Weltmachtsstellung. Die wirthschaftliche Unter⸗ bilanz, die der Reichskanzler beklage, werde von den Freihändlern als ein Zeichen von Reichthum des Landes hingestellt; er (Redner) meine, wenn daneben noch andere Zeichen wirthschaftlichen Niederganges vorhanden seien, müsse man diese allerdings für den Niedergang mit⸗ verantwortlich machen. Der Reichskanzler habe dann gemeint, die Währungspolitik könne der Landwirthschaft nicht helfen Er (Redner) glaube im Gegentbeil, wenn Deutschland eine internationale Remone⸗ tisirung des Silbers mit Ausschluß Englands bewerkstelligen könnte, könnte es auf die ganzen Getreidezölle verzichten; das sei ja eben der Schaden der Landwirthschaft, daß, während die Industrie mit Gold⸗ währungsländern verkehre, jene auf den Verkehr auch mit Ländern mit unter⸗ werthiger Valuta angewiesen sei, z. B. Rußland, Rumänien. Der schlechte Rubelcurs repräsentire eine so hohe Ausfuhrprämie, daß da⸗ gegen auch der Kornzoll von 5 noch nicht ankommen könne. Deutschland müsse die Initiative ergreifen, sich mit dem lateinischen Münzbund und Nord⸗Amerika vereinen und müsse wieder ein festes Cursverhältniß zwischen Gold und Silber herstellen, gleichgültig, welches dies sei. Dies sei das einzige Mittel zur Beseitigung der Kornzölle, ihre jetzige Herabminderung werde nur die Agitation auf die völlige Beseitigung stärken, und schließlich werde diese Beseitigung wirklich eintreten müssen. Das würde Deutschland zu den englischen und irischen Zuständen führen, wo die Landwirthschaft sehr darniederliege. Er sehe die Sache nicht so tragisch an, wie der Abg. Graf von Kanitz, aber schlimm gehe es der Landwirthschaft; wenn es auch schwer sei, die Produktionskosten genau zu berechnen, so sage die Thatsache ge⸗ nug, daß Ländereien, die Jahrhunderte hindurch ihre Bewohner ge⸗ nährt hätten, jetzt aufgeforstet würden. Der Reichskanzler habe ge⸗ sagt, für die Aufhebung des Einfuhrverbots amerikanischer Schweine sei eine Erleichterung der Zuckerausfuhr erreicht. Das sei ja sehr wichtig, aber hier habe man die Interessen des kleinen Mannes, des Schweinezüchters, preisgegeben gegenüber denen der leistungsfähigeren Zuckerproduktion. Nebenbei gesagt, sei die verlangte Untersuchung des Schweinefleisches am Schlachtort garnicht durchführbar, denn dazu müßte man in Chicago mindestens 400 Fleischbeschauer haben, und er bezweifle, daß so viele dort seien. Auf die Nachunter⸗ fuchung bei der Landung habe man, als zu theuer und zu umständlich, verzichtet; er begreife nicht, wie man das verantworten wolle. Dann hätte man auf die hiesige Fleischschau ebenso gut verzichten können. Für den kleinen Landwirth sei die Geflügelzucht sehr wichtig, diese bätte man durch einen neuen Gänsezoll gegen Oesterreich schützen sollen, es seien aber sogar solche Ermäßigungen eingetreten, daß sie die deutsche Landwirthschaft indirekt schädigten. Ihm sei aufgefallen, daß in der Denkschrift nichts stehe, ob Oesterreich seine Zuckerprämie fortbestehen lasse. Deutschland habe die seinige aufgehoben; begreiflicher Weise suche die Regieruung den Export nach Amerika zu fördern, aber dies hätte nicht auf Kosten der deutschen Schweineproduktion geschehen sollen, während Oesterreich seine Exportprämie fortbestehen lasse. Es sei ihm auch nicht bekannt geworden, wie das mit den bekannten österreichischen Eisenbahnrefaktien geworden sei. Er möchte darüber um Auskunft bitten. Der Reichskanzler habe versichert, daß Sach⸗ verständige bei der Festsetzung der Verträge zugezogen worden wären. Es sei ihm (dem Redner) nur aufgefallen, daß bei der Holzindustrie nicht nach Festmetern, sondern gleichzeitig nach Kilogrammen gerechnet werde, und daß die Kilogrammsätze nicht mit dem Festmetersatz über⸗ einstimmten. Dieser Punkt würde auch in einer Kommission, die seine Partei beantragen werde, erledigt werden müssen. Nun sage man, die Landwirthschaft müsse ja ein Opfer bringen, aber das Absatz⸗ gebiet der Industrie werde sich erweitern. Man könne ja bis jept nicht wissen, wie die Industrie im Allgemeinen darüber denke. Von einem der bedeutendsten schlesischen Eisenindustriellen werde nun aber ge⸗ schrieben, daß die deutsche Eisenindustrie über die Resultate der Ver⸗ tragsverhandlungen enttäuscht sei. Wenn wirklich das Absatzgebiet durch die Zollermäßigung sich für Deutschland erweitere, so dürfe man doch nicht vergessen, daß die Meistbegünstigungsklausel England, Frankreich u. s. w. in den Stand setze, alle die Vortheile, welche die deutsche Industrie von dieser Absatzerweiterung habe, vorweg zu nehmen. Nach Italien kämen England und Frankreich viel leichter als Deutschland, und sie würden ihm den Rang ablaufen. Nun sage man, wenn die Regierung diese Verträge nicht abgeschlossen hätte, so wäre es in einen Zollkrieg verwickelt worden. Diese Gefahr müsse er durchaus leugnen. Der Werth der österreichischen Einfuhr nach Deutschland betrage 598 Millionen Mark und der Werth der deutschen Ausfuhr nach Oesterreich nur 351 Millionen. Ein Interesse, einen Zollkrieg zu beginnen, hätte also doch nur Deutschland haben können und nicht Oesterreich. Aehnlich verhalte es sich auch mit Italien. Rußland nehme „vorläufig wenigstens an dem 3,50 Zoll nicht Theil, später würde es aber bei der Höhe seiner Einfuhr /10 der Ermäßigung als ein Geschenk bekommen und Oesterreich nur 110. Aehnlich stelle es sich mit dem Wein. Allerdings habe Italien ein Interesse, seinen Wein hier einzuführen, es partizipire aber bis jetzt an der Weinausfuhr nach Deutschland nur mit ½, Frankreich mit 6%, dieses erhalte also das sechsfache Geschenk von dem, was Italien erhalte. Ob man in Bezug auf die Landwirthschaft Sachverständige zugezogen habe, sei ihm doch zweifelhaft. Wie komme es, daß man den Haferzoll um 30 % herabgesetzt habe und den Gerstenzoll nur um 10 %. Oesterreich habe sehr wenig Interesse am Haferzoll, es führe nur 74 000 Doppelcenter Hafer hier ein, dagegen 2 600 000 Doppelcentner Gerste. Nach alledem könne er eine Herabsetzung der landwirthschaftlichen Zölle auf zwölf Jahre nicht bewilligen, nament⸗ lich nicht ohne eine Kompensation. Eine Herabsetzung auf fünf Jahre würde er sich allenfalls gefallen lassen.

Reichskanzler von Caprivi: .“ Aus der längeren, spannenden und seine persönlichen Verhältnisse auch gegenüber der Regierung berührenden Einleitung des Herrn Ab⸗ geordneten ist für mich nur ein Punkt übrig geblieben, den ich zu er⸗ wähnen habe. Er richtete an mich das Ersuchen, meine Meinung, daß er an der Broschüre „Ablehnen oder Annehmen!“ betheiligt sei, aufzugeben. Ich habe meines Wissens mit keiner Silbe gesagt, daß der Herr Abg. von Kardorff die Broschüre geschrieben habe; ich habe gestern nur gesagt, sie rühre, soviel ich wisse, von einem agrarischen Konsortium her. So weit hat aber der Herr Abg. von Kardorff das Agrarierthum nicht monopolisirt, daß ich annehmen müßte, daß er bei jeder Aeußerung desselben betheiligt sei. (Heiterkeit.)

Seine erste sachliche Aeußerung richtete sich, wie die des Heern Grafen Kanitz gestern, gegen die Anschauung, daß der innere Markt hinter den äußeren Markt zurückgssetzt werden sollte. Als der Herr Graf Kanitz seine gestrige Rede mit dieser Aeußerung begann, hatte ich das Gefühl, der Herr kämpft gegen Windmühlen; das Gefühl habe ich heute wieder gehabt. Weder in der Denkschrift noch in meinen, noch in des Herrn Staatssekretärs Aeußerungen ist ein Wort darüber vorgekommen, daß wir dem inneren Markt nicht seine volle Gerechtigkeit zu Theil werden lassen wollten. Worum es sich hier aber handelt, ist der Umstand, daß der innere Markt nicht mehr genügt, und daß wir deshalb einen geeigneten Export für nöthig halten.

Der Herr Abgeordnete ist auf die Bemerkung, die ich gestern schon widerlegt zu haben glaubte, zurückgekommen, daß wir doch besser zethan hätten, erst unseren Tarif autonom festzusetzen und dann uns aufs Handeln zu legen, das heißt also mit anderen Worten, erst uns einen höheren Tarif als den gegenwärtigen zu machen, dann zu han⸗ deln. Ich habe mir gestern anzudeuten erlaubt, daß, wenn wir dieses Verfahren eingeschlagen hätten, eine lange Zeit darüber hin⸗ gegangen sein würde. Diese Zeit würde von anderer Seite in derselben Weise benutzt worden sein. Beide hätten die Mauern, die sie umgeben, erhöht. Der Zollkampf oder, wenn dem Herrn Ab⸗ geordneten dieser Ausdruck nicht zusagt, der Wettbewerb hätte immer schärfere Formen angenommen, und es wäre dann voraussichtlich ein Zustand eingetreten, der es uns überhaupt unmöglich gemacht hätte, noch zu verhandeln. Wenn wir aber den Weg eingeschlagen hätten, dann bleibt der Herr Abgeordnete immer noch die Antwort darauf schuldig, was dann nachher, wenn wir diesen Weg einge⸗ schlagen hätten, geschehen wäre; denn ich habe noch keinen Measchen gesehen, der darauf eine genügende Auskanft gegeben hat. Denn was diesem Zustand von provisorischem Kampf der Herr Abgeordnete sieht ihn selbst nur als provisorisch an, er meinte, das wäre eine erste Maß⸗ regel, nachher sollten wir verhandeln folgen sollte, habe ich noch nicht ge⸗ hört. Sollten dem dann auch Tarifverträge folgen, dann sehe ich nicht ein, warum wir die Verträge nicht jetzt schon schließen; daß dann die Chancen günstiger gewesen sein würden, leugne ich entschieden, weil wir auf eingelebte Verhältnisse gestoßen wären. Wir haben bei den Verhandlungen mit Oesterreich schon jetzt manche Schwierigkeiten dadurch zu überwinden gehabt, daß seit der Zeit, in der wir das Schutzzollsystem treiben, in Oesterreich Ungarn Industrien entstanden sind, die noch vor 10 Jahren nicht existirten. (Sehr richtig! links.) Wir hätten eine Menge Dinge, die wir jetzt von Oesterreich⸗Ungarn erkauft haben, vor einigen Jahren umsonst haben können. (Hört, hört! links.)

Andere Industrien, ich weise auf den Veredelungsverkehr hin, sind uns überhaupt unmöglich geworden. Ich glaube also, daß die Behauptung, wir hätten durch Warten etwas gewonnen, nur dem Wunsche entspringt, daß Das nicht geschehen möge, was dem Herrn von Kardorff nicht recht ist; ob nachher etwas Besseres hätte geschehen können, ist mir fraglich, jedenfalls hat er eine Andeutung hierüber nicht gegeben. Es ist ihm dann unangenehm gewesen, daß in der Denkschrift ich habe sie jetzt nicht nachgeschlagen, aber ich acceptire die Aeußerung ohne Weiteres stände: Deutsch⸗ land ist ein großer Industriestaat geworden. Ich sehe darin weder etwas für Deutschland Verletzendes, noch Schädliches. (Heiterkeit links.) Die Landwirthschaft und ihre Stellung im Staatsleben wird dadurch in keiner Weise berührt; wenn sie berührt wird, wird sie höchstens verbessert, denn sie hat zahlreicheren Absatz. Daß übrigens unsere Industrie wächst, ist ein nicht abzuleugnendes und nach meiner Ansicht glückliches Faktum. Oh nun der Herr Ab⸗ geordnete den jetzigen Zustand mit dem Adjektivum groß oder mit irgend einem anderen bezeichnen will, überlasse ich ihm gern; ich bin der Meinung, wir sind durch das große Wachsthum unserer Industrie in einen Industriestaat hineingekommen; das ist ein Faktum, an dem die Bezeichnung, die man der Sache giebt, nichts ändert.

In Bezug auf meine Aeußerung über die Handelsbilanz hatte der Herr Abgeordnete die Güte, mich darauf aufmerksam zu machen, daß ich dadurch den Beifall der Freisinnigen nicht gefunden haben werde, ich habe auch den seinigen nicht gefunden. Ich muß aber gestehen, daß ich weder auf den seinigen noch auf den der Freisinnigen ge⸗ rechnet habe, sondern, daß über die Handelsbilanz geschrieben und ge⸗ sagt worden ist, was ich für die Wahrheit halte.

Der Herr Abgeordnete kam dann auf das Thema, über das wir ihn so oft und gern schon gehört haben, die Remonetisirung des Silbers. Ich glaube, daß das Eingehen auf diese Frage zur Zeit entbehrlich ist. Wenn ich mich nicht irre, schwebt die Frage etwa zwanzig Jahre, und ich sehe nicht die mindeste Wahrscheinlichkeit dafür, daß wir in der kurzen Spanne Zeit bis zum 1. Februar nächsten Jahres auch nur um einen einzigen Schritt in dieser Frage vorwärts kommen könnten. (Heiterkeit.) Ich will dem Herrn Abgeordneten das Bekenntniß machen, daß ich einen Theil meiner Muße dieses Sommers dazu benutzt habe, um mich einigermaßen in dieser Frag zu orientiren, und da habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß sie eine der schwierigsten von der Welt ist, daß sie sich nicht über das Knie brechen läßt und daß der Herr Abg. von Kardorff mi einigen wenigen politischen Freunden doch ziemlich isolirt dasteht (Sehr richtig! links.) Ich verkenne nicht, daß eine stärkere Strömun für die Verwendung des Silbers in dem Münzverkehr vorhanden ist, als sie noch vor 10, 15 Jahren da war. Daß diese Strömung aber so weit gehen sollte, jetzt die Frage mit Aussicht auf Erfolg in di Hand nehmen zu können, das bestreite ich, und ich will mich bemühen das Vertrauen des Herrn Abgeordneten in dieser Beziehung zu recht⸗ fertigen, wenn er die Güte haben will, mir noch einige Zeit für die Inangriffnahme dieser Frage zu lassen. Ich glaube, im Augenblick ist sie, sowohl was das Verhältniß zu England als zu anderen Staaten, auch zu Amerika angeht, nicht gerade reif, um weiter ge

führt zu werden. 88