1892 / 74 p. 7 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 25 Mar 1892 18:00:01 GMT) scan diff

man das Ausland * stellen, als Deutschland, denn in Frankreich

sei die Mouillage declarationsfrei, und da dieselbe durch die Chemie nicht nachzuweisen sei, wäre den in Frankreich vorgenommenen Mouillagen der Verkehr in Deutschland gestattet, den hier vor⸗ genommenen aber nicht. Er bitte den Abg. Dr. Bürklin, seinen Antrag zurückzuziehen, um das Zustandekommen des ganzen Gesetzes nicht zu gefährden; denn die etwaige Annahme dieses Antrages würde Viele veranlassen, gegen das Gesetz zu stimmen.

Abg. Rickert (dfr.): Er bitte den Abg. Dr. Bürklin ebenfalls, seinen Antrag zurückzuziehen. Er bestreite, daß in Bezug auf die Zulässigkeit der Mouillage eine Rechtsunsicherheit bestehe, nachdem das Reichsgericht sie für zulässig erklärt habe, und auch die Praris zeige, daß sie keinen Nachtheil bringe. Es handele sich bei der Mouillage nicht bloß um Danzig, sondern um den Weinhandel im ganzen Norden Deutschlands, und diesen würde man zum Vortheil des Aus⸗ landes schädigen. Diese Frage sei von weittragender Bedeutung, die sich Abg. Dr. Bürklin nicht ganz klar gemacht habe, so daß, wenn ein solcher Antrag gestellt werde, eine commissarische Berathung des⸗ selben nothwendig erscheinen müßte. Er hoffe aber, daß Abg. Dr. Bürklin seinen zurückziehen werde.

Abg. Dr. Bürklin (nl.): Den Wünschen auf Zurückziehung des Antrags könne er vorläufig nicht entsprechen. Er würde gern auch die Meinung der anderen Seiten des Hauses hierüber vernehmen. E sei höchst befremdet darüber, daß man über die Einbringung des An⸗ trages sehr erstaunt sei. Der Wunsch nach Erlaß eines Weingesetzes sei nirgends so hervorgetreten, wie in Danzig infolge des bekannten Weinprozesses, und dort habe man der Unsicherheit auf dem Gebiete der Mouillage ein Ende gemacht sehen wollen. Daß eine Rechts⸗ unsicherheit hierüber doch vorhanden sei, bewiesen die Motive der Vorlage. Abg. Dr. Bamberger habe mit seiner Verwahrung, keine Kirchthurmspolitik zu treiben, einen Refler auf ihn (Redner) werfen wollen, als ob er solche treibe; aber er habe mit seinem Antrage nicht allein im Interesse des Südens handeln wollen, wenn⸗ gleich er zugebe, daß durch Annahme desselben auch der Süden große Vortheile haben werde. Daß das Ausland davon Vor⸗ theile haben werde, sei deshalb unrichtig, weil nach dem Wortlaut des französischen Gesetzes die Mouillage dort verboten sei. Uebrigens sei der Einführung der Weine, an denen in Frankreich die Mouillage vorgenommen sei, durch den Zoll eine genügende Schranke gesetzt. eenn man hier von Einzelinteressen rede im Gegensatz zum Gesammtinteresse, so sei doch schließlich das Gesammtinteresse nichts Anderes als die Summe der Einzelinteressen und die Abstimmung werde ergeben, für welche Einzelinteressen sich die Mehrheit erkläre.

Abg. Graf Behr (Rp.): Dem Wunsch des Abg. Dr. Bürklin, noch die Meinung anderer Seiten des Hauses zu hören, entsprechend, äußere er sich dahin, daß er ihn bitte, seinen Antrag zurück zu ziehen aus den von anderer Seite schon vorgebrachten Gründen. In Norddeutschland sei die Mouillage durchaus nöthig, ihr Verbot oder, was dem gleichkäme, ihr Stellen unter Declarationszwang würde nur dem Ausland Vortheil bringen, denn es würde aus dem Aus⸗ lande Wein, mit dem dort die Mouillage vorgenommen sei, herbei⸗ führen. Er bitte also den Abg. Dr. Bürklin, seinen Antrag zurück zu ziehen, oder das Haus, ihn abzulehnen.

Abg. Dr. Bamberger (dfr.): Er habe durchaus nicht daran

edacht, den Abg. Dr. Bürklin der Kirchthurmspolitik zu zeihen. Der

einzoll sei nicht hoch genug, um den ausländischen Wein fern zu halten, wenn die Mouillage in Betracht komme. Daß die Mit⸗ glieder hier die Einzelinteressen vertreten und durch die Abstimmung dem wichtigsten Einzelinteresse zur Geltung helfen sollten, könne er durchaus nicht zugeben. Alle sollten das allgemeine Interesse ver⸗ treten, und jede Industrie, die nicht gegen das Gesetz verstoße, habe Anspruch darauf, gleichmäßig hier vertreten zu werden.

Abg. Rickert (dfr.): enn Abg. Dr. Bürklin durch die Ab⸗ stimmung constatiren wolle, wo das Hauptinteresse liege, so solle er sich doch die schwache Besetzung des Hauses ansehen; eine Consequenz Fise Besetzung müßte eigentlich sein, daß er seinen Antrag zurück⸗ ziehe, denn die Abstimmung würde heut ein Zufallsresultat zu Tage Lasse es Abg. Dr. Bürklin heut zur Abstimmung kommen,

fördern. ig komm die geschäfts⸗

so würde man sich vielleicht dadurch gezwungen sehen, ordnungsmäßig zulässigen Consequenzen zu ziehen.

Damit schließt die Debatte. Bei der Abstimmung über den Antrag Buͤrklin ergiebt sich die Beschlußunfähigkeit des Hauses. Es stimmen für denselben 80, gegen denselben 101 Mitglieder. Die Verhandlung muß abgebrochen werden.

Vice⸗Präsident Graf Ballestrem setzt die nächste Sitzung auf heute Nachmittag 2 ½ Uhr an.

Schluß 2 Uhr

203. Sitzung vom Donnerstag,

Am Tische des Bundesraths der Staatssecretär Freiherr von Marschall.

Die zweite Berathung des Entwurfs eines Gesetzes, be⸗ treffend den Verkehr mit Wein wird fortgesetzt.

Die nochmalige Abstimmung über den Antrag Bürklin ergiebt die Ablehnung desselben: auch der Antrag Gröber wird abgelehnt und § 4 mit dem zweiten Antrag Bürklin, sonst aber unverändert angenommen. Nach § 5 sollen die Vor⸗ schriften der §§ 3 und 4 auf Schaumwein keine Anwendung finden.

Abg. Weiß⸗Eßlingen (nl.) will nur die Vorschriften des 1 3 auf Schaumweine nicht ausgedehnt wissen; dagegen beantragt Abg. Gröber (Centr.), von den Vorschriften der §§ 3 und 4 nicht nur Schaumwein, sondern auch Obstwein und weinähnliche Getränke überhaupt auszunehmen. 1 8

Director des Kaiserlichen Gesundheitsamts Köhler: Der Antrag Gröber bezüglich des Obstweins sei der Tendenz nach berechtigt; die Vorlage komme aber dieser Tendenz auch entgegen. Bedenklich aber sei die Erstreckung des Antrags auf weinähnliche Getränke überhaupt, worunter auch alle Kunstweine einzubegreifen seien.

Abg. Gröber (Centr.) läßt die Worte seines Antrags „und weinähnliche Getränke überhaupt’ fallen.

Abg. Weiß⸗Eßlingen (nl.): Durch die Bestimmungen dieses Paragraphen werde die reelle Schaumweinfabrikation aufs empfindlichste geschädigt. Die reelle Schaumweinfabrikation arbeite nach der fran⸗ zösischen Methode, sie mache von den Surrogaten, die hier in Frage kämen, überhaupt keinen Gebrauch, während dieser Paragraph den Surrogaten entschieden Vorschub leiste. Es sei ihm peinlich, bei diesem Gegenstand zu sprechen, da er an eine große Anzahl von Mitgliedern dieses Hauses Schaumwein verkaufe, indessen müsse er sich im Interesse der gesammten reellen Schaumweinfabrikation gegen diesen Paragraphen erklären und um Annahme seines Antrags bitten.

Director des Kaiserlichen Gesundheitsamts Köhler spricht sich gegen diesen Antrag aus. Die deutsche Schaumweinfabrikation sei noch sehr jung und könnte doch in die Lage kommen, Süßstoffe zu

ebrauchen, welche in § 4 verboten seien. Dem solle man nicht chon jetzt Schranken entgegenstellen.

Abg. Rickert (dfr.) bittet den Abg. Gröber, es angesichts der Besetzung des Hauses nicht zu einer Abstimmung über seinen Antrag kommen zu lassen. Es werde ihm ja genügen, wenn vom Bundes⸗ rathstische und aus der Mitte des Hauses erklärt sei, 8. auch Obstwein nicht den Vorschriften der §§ 3 und 4 unterliegen solle.

Abg. Weiß⸗Eßlingen (nl.) bleibt dabei, daß in der reellen Schanmweinfabrikation die hier aufgeführten Stoffe nicht benutzt würden. Man wisse nichts von Alaun, nichts von Kochsalz, nichts von Bouquetstoffen, nichts von Gummi u. s. w.

Director des Kaiserlichen Gesundheitsamts Köhler weist darauf hin, daß nach dem Antrage Weiß auch nicht der Cognac zur Cham⸗ . es, ʒe ate verwendet werden dürfe, der doch auch Bouquetstoffe enthalte.

Abg. Dr. Bamberger (dfr.): Er bitte den Nen ena, nicht so weit zu gehen, daß der Begriff der Legitimität auch noch beim Cham⸗

pagner

* 8

latz greife. timem Champagner sei ihm unerfindlich. 1

§ 5 wird unter Ablehnung beider Anträge unverändert angenommen.

Nach § 6 ist die Verwendung von Saccharin und ähn⸗ lichen Süßstoffen bei der Herstellung von Schaumwein oder Obstwein einschließlich Beerenobstwein als Verfälschung im Sinne des Nahrungsmittelgesetzes anzusehen.

Abg. Stadthagen (Soc.) beanstandet den Ausdruck „ähn⸗ lichen Süßstoffen“ als mangelhaft und für den Richter unbrauchbar.

Director des Kaiserlichen Gesundheitsamts Köhler erklärt die Fassung für vollständig correct und ausreichend.

§ 6 wird angenommen. .

Niach § 7 wird mit Gefängniß bis zu sechs Monaten und mit Geldstrafe bis zu 1500 oder mit einer dieser Strafen bestraft

1) wer den Vorschriften der §§ 1 oder 2 vorsätzlich zuwider⸗

handelt; 2) wer wissentlich Wein, welcher einen Zusatz der im

§ 3 Nr. 4 bezeichneten Art erhalten hat, unter Bezeichnungen feilhält

oder verkauft, welche die Annahme hervorzurufen geeignet

sind, daß ein derartiger Zusatz nicht gemacht ist. 1

Die Abgg. Dr. Bamberger (dfr.) und Dr. Bürklin (nl.) bean⸗ tragen, statt der gesperrten Worte zu setzen: „welche besagen.“

Abg. Gröber will statt Ziffer 2 Folgendes setzen: „2) Wer wissentlich eine Mischung von Rothwein und Weißwein als Rothwein oder unter einer anderen Bezeichnung feilhält oder verkauft, welche die Annahme hervorzurufen geeignet ist, daß eine solche Mischung nicht stattgefunden hat; 3) Wer wissentlich entsäuerte oder mit einem Zuckerzusatz versehene Weine unter Bezeichnungen feilhält oder ver⸗ kauft, welche die Annahme hervorzurufen geeignet sind, daß der Wein nicht entsäuert oder nicht mit einem uckerzusaßz versehen worden ist.“

Abg. Schenck (dfr.) spricht sich gegen die Nr. 2 des § 7 aus und beantragt ihre Streichung. Das Strafgesetzbuch gebe ausreichenden Schutz gegen die Uebertretungen, welchen diese Bestimmung des § 7 vorbeugen solle. b

Commissar für das Kaiserliche Gesundheitsamt Geheimer Regierungs⸗Rath Dr. Sell bittet, den § 7 unverändert anzunehmen. Das Schicksal des Gesetzes sei nicht abzusehen, wenn diese Nr. 2 ganz gestrichen werde. Das Strafgesetzbuch gewähre keinen aus⸗ reichenden Schutz.

Abg. Dr. Bamberger (dfr.): Der hier eingeführte indirecte Declarationszwang sei auf Grund eines Compromisses zu stande ge⸗ kommen. Er könne sich mit dieser Art der Beilegung der Frage aber nicht befreunden und wünsche die Streichung der ganzen Be⸗ stimmung. Sollte das nicht zu erreichen sein, so bitte er wenigstens die kautschukartigen Worte „welche die Annahme hervorzurufen geeignet sind“ zu ersetzen durch die positive Fassung „welche be⸗ sagen“. In der freien Commission sei fast allseitiges Einverständniß über die Vorzüge dieser Fassung vorhanden gewesen.

Abg. Dr. Osann inl.): Mit dem indirecten Zwang nach § 7 Nr. 2 sowohl die Handelskammer in Mainz als auch die Conferenz der Weininteressenten in Wiesbaden einverstanden gewesen. Er halte ihn für unbedingt nothwendig. Durch das „wissentlich“ werde zu er⸗ kennen gegeben, daß nur derjenige, der seinen Nebenmenschen mit solchen Bezeichnungen belügen wolle, wie jeder andere Fälscher bestraft werden solle. Das Strafgesetzbuch reiche hier nicht aus; der Fälscher würde nur civilrechtlich zn fassen sein.

Abg. Dr. Bamberger (dfr.): Diese Ausführungen ließen sich ebenso gut für den absoluten Declarationszwang geltend machen. Die Handelskammer verlange die Abkehnung des 5 7, 2.

ie Zustimmung der Mainzer Handelskammer sei nur eine theilweise gewesen.

Abg. Dr. Lingens (Centr.) hält es mit dem Abg. Dr. Osann für nothwendig, eine solche Compromißbestimmung in das Gesetz auf⸗ zunehmen, und würde sich genöthigt sehen, das Gesetz abzulehnen, wenn diese Vorschrift gestrichen würde.

Abg. Gröber (Centr.): Die Beseitigung des Declarations⸗ zwanges sei ihm die Consequenz der Anschauung des Abg. Dr. Bam⸗ berger, nicht aber der Majorität des Hauses. Das Centrum könne nicht für den Entwurf stimmen, wenn § 7, 2 gestrichen werde. Auch für den Abänderungsantrag Bamberger könne es nicht stimmen; es müsse vielmehr darauf sehen, daß das Verbot so scharf wie möglich formulirt werde, und dem solle durch seinen Antrag Genüge geschehen.

Director des Kaiserlichen Gesundheitsamts Köhler erklärt sich gegen sämmtliche Amendements.

Nachdem die Abgg. Dr. Osann (nl.) und Schenck (dfr.) nochmals ihren Standpunkt vertreten haben, wird § 7 unver⸗

ändert angenommen.

§§ 8—13 werden unverändert genehmigt.

Die Fortsetzung der zweiten Berathung der allgemeinen Rechnung für 1884/85, welche in Verbindung mit dem von den Abgg. Dr. Pieschel (nl.) und Genossen eingebrachten Gesetzentwurf, betreffend die justificirenden Cabinetsordres, er⸗ folgen sollte, wird auf Antrag des Abg. Dr. Meyer⸗-⸗Berlin (dfr.) von der Tagesordnung abgesetzt.

Desgleichen wird die über die Wahl des achg Möller (6. Arnsberg) (nl.) von der Tagesordnung ab⸗ gesetzt. 3

Der Antrag Rickert auf Ueberweisung der Petition des Waldeck⸗Vereins in Friedland in Mecklenburg auf reichsgesetz⸗ liche Regelung des Vereins⸗ und Versammlungsrechts an den Reichskanzler zur EE heute nochmals zur Abstimmung gebracht, da er am Mittwoch nur handschriftlich vorlag. Der Beschluß vom Mittwoch, den Antrag Rickert anzunehmen, wird bestätigt.

Darauf werden Berichte der Petitionscommission berathen.

Neunzehn gleichlautende Petitionen aus Mitteldeutschland mit zahlreichen Unterschriften nehmen ihren Ausgangspunkt von der Be⸗ hauptung, daß am 26. Mai 1890 der Redacteur Boshart von Gotha zur Verbüßung einer mehrmonatigen Gefängnißstrafe in das gemeinschaftliche thüringische Gefängniß zu Ichtershausen eingeliefert und in diesem in unangemessener, kränkender und gesundheits⸗ gefährdender Weise behandelt worden sei. Die verlangen Verbesserung des Strafvollzuges und differentielle Behandlung der Gefangenen. 8

Die Commission hat Uebergang zur Tagesordnung beschlossen.

Abg. von Strombeck (Centr.) beantragt, diese Petitionen dem Bundesrath zur Berücksichtigung in der Richtung zu überweisen, daß bereits vor der in Erwägung gezogenen Reform des Vollzugs der Freiheitsstrafen die wichtigsten Grundsätze bezüglich der Beschäftigung, Bekleidung, Beköstigung und sonstigen Behandlung der Straf⸗ und Untersuchungsgefangenen im Wege der Reichsgesetzgebung thunlichst festgestellt würden.

Der Antrag wird von den Abgg. Dr. von Bar (dfr.) und Prinz zu Carolath (b. k. F.) befürwortet und vom Hause angenommen.

Die Petition des Aufsichtsraths des internationalen Vereins der Gasthofsbesitzer wird nach kurzer Befürwortung durch den Abg. Goldschmidt (dfr.) dem Reichskanzler zur Erwägung überwiesen.

Die Firmen Mohr u. Co. und Konrad Haas Söhne zu Mann⸗ heim petitioniren wegen Fert gäbtgaum aus Holzverkaufsverträͤgen in den occupirten Landestheilen während des deutsch⸗französischen Krieges.

Ein Antrag Clemm auf Berücksichtigung wird abgelehnt, nach⸗ dem sich Staatssecretär Freiherr von Maltzahn dagegen aus⸗ gesprochen, der Commissionsantrag auf Uebergang zur Tagesordnung angenommen.

Eine Anzahl von Petitionen, betreffend die Revision beziehungs⸗ weise Aufhebung des Invaliditäts⸗ und Altersversicherungsgesetzes, werden dem Reichskanzler als Material überwiesen; dasselbe geschieht mit den Petitionen reffend die dehnung der Gewerbeordnung

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1

auf die Fischerei.

Ein Unterschied zwischen legitimem und illegi⸗

Prã

Hierauf vertagt sich das Haus.

Schluß 5 ¼ Uhr. Nächste Sitzung Sonnabend 12 v (Zweite Berathung der Nachtragsforderung für die hr. stellung in Chicago; dritte Lesung des Reichshaushalts⸗Etats)

Entscheidungen des Ober⸗Verwaltungsgerichts.

Gegen eine ertheilte Ansiedelungsgenehmigung war Ei spruch erhoben, weil zu dem betreffenden Grundstücke kein ordens. licher Weg führe, sondern nur ein den Einsprechenden gehörfat⸗ Privatweg. Durch Bescheid und Erkenntnisse erster und vvese Instanz abgewiesen, weil die Klage unzulässig sei, machten die Eier sprechenden noch geltend, daß ihre Klage jedenfalls nach § 127 ff de⸗ Landesverwaltungsgesetzes hätte behandelt werden müssen, da sie dieselbe als Eigenthümer des Weges angestellt hätten und 5 durch die Zulassung der Ansiedelung in ihren Rechten gekräntt seien. In dem die Revision zurückweisenden Erkenntnisse vom 11. Dezember 1891 (Nr. IV 1177) spricht das Königliche Ober⸗ Verwaltungsgericht IV. Senat aus, daß die im § 14 des Ansiedlungsgesetzes zur Bedingung gemachte Zugänglichkeit der neuen Ansiedlung vom Standpunkt der gemeinen Wohlfahrt aus lediglich Gegenstand der öffentlichen Fürsorge und damit ausschließlich dem Befinden der Polizeibehörde unterstellt sei; es stehe deshalb nur der Polizeibehörde, nicht aber den sonst etwa bei einer Ansiedlung Interessirten das Recht zu, den Mangel der Zugänglichkeit eines Ansiedlungsplatzes als Grund zur Versagung der Genehmigung geltend zu machen. Im weiteren aber wird dargelegt, daß die polizeiliche Thätigkeit sich auf die Wahrnehmung des öffentlichen Interesses zu beschränken habe, und wenn die Polizei auch unter Umständen berufen sei zum Schutze gefährdeter Privatrechte einzutreten und der Einzelne ein erhebliches Interesse daran haben könne, daß die Polizeibehörde in bestimmter Richtung gegen einen Dritten eine Thätigkeit entwickele so sei doch im allgemeinen ein subjectives, durch die Rechtsmittel der §§. 127 ff. L.⸗V.⸗G. geschütztes und erzwingbares Recht des Einzelnen auf die nach seiner Ansicht erforderliche polizeiliche Thätigkeit dem be⸗ stehenden Rechte fremd. Nur auf einzelnen bestimmten Gebieten sei den rtgisen der Einzelnen neben dem öffentlichen Interesse ein besonderer Rechtsschutz im Streit⸗ ꝛc. Verfahren eingeräumt. Das⸗ selbe sei aber genau abgegrenzt und die Controle des darin geschaffenen Rechtszustandes in der Regel lediglich der polizei⸗ lichen Fürsorge überlassen. Zu diesen Ausnahmegebieten (der sogenannten Popularklage) gehöre die Gründung neuer Ansiedelungen, bezüglich deren das Gesetz den Interessen der Einzelnen 15 ff.) neben dem öffentlichen Interesse 14) einen besonderen Rechtsschutz gewähre. Deshalb könne das betreffende Verfahren sich nur innerhalb des Rahmens des Ansiedelungs⸗ gesetzes abspielen, den Betheiligten ständen aber die Rechtsmittel der §§ 177 ff. des L.⸗V.⸗G. nicht zu. Außerdem könnten aber auch die Ansiedelungsgenehmigung und der etwaige Einsprüche abweisende Bescheid überhaupt nicht als polizeiliche Verfügungen im Sinne der citirten § 127 ff. erachtet werden, und es sei nicht abzusehen, inwiefern hier in die Rechtssphäre der Eigenthümer eingegriffen sei, denn durch die Ertheilung der Ansiedelungsgenehmigung sei den Ansiedlern noch keineswegs das Recht gegeben, den Privatweg zu benutzen; versuchten sie dieses etwa, so hätten die Eigenthümer immer das Recht, diese Benutzung, auch mit Anrufung des ordentlichen Richters, zu hindern.

In einem Streite zwischen dem Wegefiscus und der Wege⸗ polizeibehörde bezw. den mitverklagten Gemeinden über die Unterhal⸗ tung einer Brücke, welche im Zuge eines Weges lag, der bis zum Bau einer varallel laufenden, hie und da allerdings ca. 7 km entfernten Chaussee Landstraße im Sinne des § 11I1 15 A. L.⸗R. gewesen war, handelte es sich nur um die Frage, ob die Landstraße ihre rechtliche Eigenschaft als solche verloren habe, und insbesondere, ob dies durch den Bau der die beiden Endstädte verbindenden Chaussee geschehen sei. Das Erkenntniß des Königlichen Ober⸗Verwaltungsgerichts Vierter Senat, vom 27. November 1891 (IV 1117) spricht aus: das Allgemeine Landrecht enthalte keine ausdrückliche Vorschrift in dem Sinne, daß es rechtlich möglich sei, einer Landstraße diese ihre rechtliche Eigenschaft lediglich durch einen Ausspruch der Landes Polizeibehörde, wonach sie, weil entbehrlich, als solche aufgegeben werde, mit der Wirkung zu entziehen, daß sie von da ab als gewöhn⸗ licher Communicationsweg von den dazu Verpflichteten zu unterhalten sei. Dagegen sei allerdings der Staat nach § 4 II 15 A. L.⸗R. besonders ermächtigt, die Land⸗ und Heerstraßen, so wie er es zum gemeinen Besten dienlich finde, zu verändern und zu verlegen und zwar derart, daß durch neue Straßen oder Straßen theile ein Ersatz bestehender geschafeen werde, sodaß die letzteren insoweit aufhörten Landstraßen zu sein und mit ihrer Beseitigung auch die Unterhaltungspflicht des Fiscus fortfalle. Werde die Landstraße selbst zu einer Oauses umgestaltet, so sei die Sache klar. Wenn aber Chaussee und Landstraße auseinanderliegen, so müsse noch der Umstand hinzutreten, daß die Landstraße auch that⸗ 1 aufgehört habe, Landstraße im Sinne des Allgemeinen Land⸗ rechts zu sein. Das könne aber nur dann eintreten, wenn die neben ihr angelegte Chaussee denjenigen allgemeinen, über das locale Interesse hinausgehenden Hauptverkehr, welchem die Landstraße ge widmet gewesen, aufgenommen habe, gleichviel ob diese Aufnahme bei Anlage der Chaussee ausdrückliche Bestimmung gewesen sei, oder sich nur stillschweigend thatsächlich vollzogen habe.

Auf Grund des § 13 ff. Tit. 15 Th. II. des Allg. Land⸗ rechts waren die betreffenden Gemeinden und Gutsbezirke zur Her⸗ stellung einer Land⸗ und Heerstraße herangezogen. Da dieselben die Dienste nicht leisteten, wurden letztere verdungen und der dafür aus⸗ egebene Betrag durch Verfügung des Königlichen Regierungs⸗ Pecsidenten auf die Gemeinden und Gutsbezirke nach Landbesitz ver⸗ theilt und die einzelnen Pflichtigen aufgefordert, die auf sie fallenden Beträge in bestimmter Frift zu zahlen. Die Pflichtigen er⸗ hoben hiergegen auf Grund des § 130 des Landesverwaltungs⸗ gesetzes Beschwerde beim Königlichen Ober Präsidenten und gegen den ablehnenden Bescheid Klage beim Ober⸗Verwaltungs⸗ gericht. Der Vierte Senat des Königlichen Ober⸗ Verwaltungsgerichts entschied am 18. Dezember 1891 (Nr. IV 1197) aus formellen Gründen, daß der Bescheid des König lichen Ober⸗Präsidenten aufzuheben und die Beschwerden an den Königlichen Regierungs⸗Präsidenten abzugeben, damit sier als Ein sprüche nach § 56 des Zuständigkeitsgesetzes behandelt würden. Der Gerichtshof führte aus, daß der Regierungs⸗Präsident die Anordnung aus § 13 cit. nicht als Communal⸗Aufsichtsbehörde, sondern als Landes⸗Polizeibehörde erlasse. Sei aber die eine Anordnung wie vorliegend enthaltende Verfügung eine polizeiliche, so sei sie eine wegebaupolizeiliche im Sinne des 56 des denn der Wortlaut des § 13 cit., nach dem es sich um Anordnungen „bei Unterhaltung und Besserung der Wege. handele, decke sich inhaltlich mit den Anordnungen des cit. 8 56. Daß der Regierungs⸗Präsident hier zu einer wegepolizeilichen Thätigkeit berufen Fei widerspreche auch nicht dem 59 der Kreis⸗ ordnung, denn der § 13 cit. stelle sich als ein besonderes Gesetz im Sinne dieses Paragraphen dar, durch welches wegepolizeili Functionen anderen Behörden als dem Amtsvorsteher übertragen sind, und daß diesen ihre Befugniß in dem bisherigen Umfange verbleibe, sei in § 55 Zust.⸗Ges. noch besonders hervorgehoben. Anders würde die Sache liegen, wenn der Regierungs⸗Präsident die Dienste bezw. die Geldsummen nur vertheilt und der Wege⸗ olizeibehörde (Amtsvorsteher) überlassen hätte, die Leistung den flichtigen aufzugeben, was an sich zulässig erscheine. Dann läge nur eine innerdienstliche, mit einem Rechtsmittel überhaupt nicht C. greifbare Regelung vor, und die Pflichtigen könnten dann erst gegen die Anordnung des Amtsvorstehers, durch welche auch die Regelung mitgetheilt werde, Rechtsmittel (Einspruch Klage) einlegen, wo 5 swesello⸗ auch über den Inhalt der Regelung des egierung identen materiell mit zu entscheiden sein würde.

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zum Deutschen Reichs⸗Anzeiger und Königlich Preußischen Stnuts⸗Arzeiger

Berlin, Freitag, den

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25. März

1892.

No. 24.

8 Preußischer Landtag. . Herrenhaus. 5 Sitzung vom Donnerstag, 24. März.

Der Sitzung wohnen der Vice⸗Präsident des Staats⸗ Ministeriums, Staats⸗Minister Dr. von Boetticher, der Minister des Innern Herrfurth, der Justiz⸗Minister Dr. von Schelling, der Finanz⸗Minister Dr. Miquel und der Minister für Landwirthschaft ꝛc. von Heyden bei..

In die Matricelcommission werden die bisherigen Wütgieder Dr. Dernburg, Prinz zu Hohenlohe⸗Ingel⸗ singen, von Winterfeldt⸗Menkin, Graf Zieten⸗ Schwerin auf Vorschlag des Wirklichen Geheimen Raths von Kleist⸗Retzow durch Zuruf wiedergewählt.

Als Mitglieder für die Staatsschuldencommission werden ebenfalls auf Vorschlag des Wirklichen Geheimen Raths von Kleist⸗Retzow die Herren von Klützow, von Pfuel und der Kammergerichts⸗Präsident Drenkmann durch Zuruf gewählt. 1 G 90 Der Bericht über die Ausführung des § 6 des Ge⸗ setzs vom 9. Mai 1890, den weiteren Erwerb von Privateisenbahnen für den Staat, wird auf Antrag der Eisenbahncommission durch Kenntnißnahme für erledigt erklärt.

Es folgt der Gesetzentwurf, betreffend die Kosten Königlicher Polizeiverwaltungen in Stadtge⸗

inden. 1s § 1 sollen die Städte mit Königlicher Polizeiverwaltung zu den Kosten der Polizei nach Maßgabe der Einwohnerzahl Bei⸗ träge an den Staat zahlen, und zwar: 3 b

a. Die Stadtgemeinde Berlin je 2,0 ℳ, b. die Stadt⸗ gemeinde Cassel je 0,32 ℳ; ferner c. die Städte mit mehr als 5 000 Einwohnern je 1,50 ℳ, d. mit mehr als 40 000 bis 75 000 Einwohnern je 1,10 ℳ, e. mit 40 000 und weniger Einwohnern 3 ”nee die Verwendung dieser Beiträge, insbesondere auch zur Vermehrung der Landgendarmerie behufs Ausdehnung der Thätigkeit derselben auf die zu Landkreisen gehörigen Stadtgemeinden und behufs Verstärkung derselben in den Vororten der einen eigenen Kreis bildenden Städte mit communaler Polizeiverwaltung soll der Etat jährlich Bestimmungen treffen. 8

Ober⸗Bürgermeister Becker beantragt, an Stelle von c, d, e zu setzen: c) je 1,20 ℳ, d) je 0,90 ℳ, e) je 0,60 ℳ; und ferner die gesperrt gedruckten Worte zu streichen. ¹

In der Generaldiscussion beantragt der Berichterstatter der Commission für communale Angelegenheiten Ober⸗Bürger⸗ meister Struckmann die unveränderte Annahme der Vorlage

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und befürwortete in längerer Darlegung der Materie diesen Antrag. Ober Bürgermeister Selke erklärt sich gegen die Vorlage, die man eigentlich als lex Eynern bezeichnen könne. Ein Grund, weshalb die Fegietung diesen Entwurf gemacht habe, sei nicht klar zu erkennen. Nur habe das Abgeordnetenhaus vor mehreren Jahren in einer Resolution verlangt, daß diese Angelegenheit anders“ geregelt werde. Das Gesetz von 1850, welches eine Ver⸗ theilung der Polizeikosten zwischen Staat und Städten nach per⸗ soönlichen und sächlichen Kosten festgesetzt habe, habe damit ein gesundes Princip aufgestellt und sich bisher so bewährt, daß eigenklich kein Grund zu einer Aenderung vorliege. Auch in Königsberg habe sich der jetzige Zustand durchaus bewährt, Confliete zwischen dem Magistrat und der Königlichen Polizeibehörde seien dort seit Jahrzehnten nicht vorgekommen. Des⸗ alb solle man es lieber beim jetzigen Zustand belassen. Die in §I festgesetzten Beiträge der Städte seien immer nur mehr oder minder willkürlich bemessen, gleichviel welche Zahlen man beschließe. der Staat solle etwa zwei Drittel der Polizeikosten und die Städte in Drittel tragen. Je mehr aber die Städte an Einwohnerzahl vüchsen, desto ungünstiger gestalte sich für sie das Verhältniß. Die Städte sollten nur bezahlen, ohne Einfluß auf die Verwaltung der Polizei zu haben;

; den großen Städten könne man die Polizei⸗ verwaltung ruhig selbst überlassen. Königsberg habe nach der Vor⸗ lage viel mehr zu bezahlen als bisher. Frankfurt a. M. erfahre demgegenüber eine nicht gerechtfertigte Berücksichtigung. Auch der jetige Zeitpunkt sei nicht geeignet für eine solche Belastung der Städte trotz der großen Ergebnisse der neuen Einkommensteuer; denn davon hätten die Städte ihrerseits keinen Vortheil, weil sie den Prozentsatz der Zuschläge zur Staatssteuer heruntersetzten. Da⸗ gegen liefere die Einkommensteuer dem Staat die Mböglich⸗ keit, mehr für die Polizei zu zahlen und auf eigene Kosten die Landgendarmerie zu verstärken. Anders dagegen würde es sein, wenn es wirklich zu einer Ueberweisung der Grund⸗ und Gebäudesteuer käme. Die Provinz Ostpreußen bedürfe der staat⸗ lichen Fürsorge besonders, da sie durch das Abschließungssystem Rußlands zu leiden habe. Er danke daher Seiner Majestät für das Wohlwollen, das Allerhöchstderselbe der Provinz und damit auch der Stadt Königsberg entgegengebracht habe durch die wiederholten Reisen dorthin. Diese Reisen seien nicht vergeblich gewesen, Seine Majestät habe dabei Land und Leute studirt und kennen gelernt. Die Sicherheitspolizei sei allerdings so sehr Sache des Staats, daß dieser den Städten, welche selbst auch die Sicherheitspolizei ausübten, noch einen Beitrag dafür zahlen müße, aber die Wohlfahrtspolizei solle man den Städten allein überlassen. Die Königliche Polizeiver⸗ waltung werde von den Städten nur als Last empfunden. Er werde gegen das Gesetz stimmen, das weder gerecht noch billig sei. 18 Minister des Innern Herrfurth: Ich glaube, darauf verzichten zu sollen, gegenüber den vielfachen 8 zahlreichen Angriffen, welche der vorliegende Gesetzentwurf seitens 9 geehrten Herrn Vorredners gefunden hat, noch einmal ausführlich i Gesichtspunkte darzulegen, von denen die Staatsregierung bei der Vorlage dieses Entwurfs ausgegangen ist; und zwar aus dem Grunde, wel diese Gesichtspunkte in den Motiven des Gesetzes, in der Dis⸗ uüssion des anderen Hauses, namentlich aber in der lichtvollen, klaren 8 arstellung des Herrn Referenten von vornherein ihre volle Begrün⸗ vung, jene Angriffe aber vollständige Widerlegung gefunden haben. Ich beschränke mich deshalb darauf, aus den zahlreichen Einwendungen 8 Herrn Vorredners diejenigen hervorzuheben, von denen ich glauben üchte, daß sie auf thatsächlich falschen Voraussetzungen beruhen. 18 Zunächst hat der Herr Ober⸗Bürgermeister Selke der Staats⸗ deg zum Vorwurf gemacht, sie habe eigentlich den Gesetzentwurf gar nicht aus eigener Initiative eingebracht und nicht mit ihren

genen Gründen motivirt, sondern der Entwurf sei weiter nichts als

nex Eynern“, und die Staatsregierung habe sich ohne weiteres die ründe dieses einzelnen Abgeordneten angeeignet. Meine Herren, der

Herr Ober⸗Bürgermeister scheint mir doch die Begründung nicht voll⸗ ständig gelesen zu haben, denn auf Seite 1 im zweiten Absatz dieser Begründung ist ausdrücklich namens der Staatsregierung aus⸗ gesprochen:

„Es erscheint als ein Bedürfniß, die in Beziehung auf die Kosten Königlicher Polizeiverwaltungen in Stadtgemeinden be⸗ stehenden Ungleichheiten, zu deren Beibehaltung ein innerer Grund nicht vorhanden ist, aufzuheben und diese Angelegenheit nach neuen gleichen Grundsätzen zu regeln, hierbei auch die Unzuträglichkeiten zu beseitigen, welche aus der bisherigen Gesetzgebung sich ergeben haben.“

Dabei ist in dem weiteren Verlauf der Begründung ausdrücklich hervorgehoben, daß die wesentlichsten dieser Unzuträglichkeiten darin bestehen, daß die größeren und reicheren Städte in Betreff der Be⸗ streitung der Kosten der Polizeiverwaltung ganz wesentlich bevorzugt werden vor den mittleren und kleineren Städten und vor dem platten Lande, und daß es ein Gebot der Gerechtigkeit sei, diese ungerecht⸗ fertigte Bevorzugung der größeren Städte zu beseitigen. Der Herr Ober⸗Bürgermeister Selke hat früher Bezug genommen auf eine Aeußerung meines hochverehrten Heren Amtsvorgängers aus dem Jahre 1883 und hat bedauert, daß derselbe heut nicht anwesend sei, um diese seine Aeußerungen wiederholen zu können. Ja, meine Herren, ich bedaure auch, daß derselbe heut nicht anwesend ist, denn ich glaube, er würde sich nicht auf diese einzelne gelegentliche Aeußerung vom Jahre 1883 bezogen haben, sondern auf die That vom Jahre 1887/88. Er hat nämlich dem Landtag einen Gesetzentwurf vorgelegt, der im wesent⸗ lichen in dem Grundprincip auf dem gleichen Standpunkt steht wie der vorliegende Entwurf und von demselben lediglich darin abweicht, daß er den Beitrag der Städte erheblich höher normiren wollte, nämlich auf die Hälfte der gesammten Kosten der Polizeiverwaltung. Ich glaube kaum, daß Herr Ober⸗Bürgermeister Selke damit einver⸗ standen sein würde, daß dieser Gesetzentwurf etwa den heutigen ersetze, denn dann würden die 22 Städte statt der 6 500 000 ℳ, die sie nach dem vorliegenden Gesetzentwurf zahlen sollen, nahe an 10 Millionen zu zahlen haben. (Hört! hört!)

Der Herr Ober⸗Bürgermeister Selke geht davon aus, die Ein⸗ richtung einer Königlichen Polizeiverwaltung sei für die städtischen Gemeinden eine große Last, und man müsse ihnen noch möglichst viel zugeben, wenn sie diese Last tragen sollten. Er exemplificirt auf einen Specialfall, indem er sagt: „Erinnern Sie sich, wie groß in der Stadt Elbing die Freude gewesen ist, als man ihr die Königliche Polizeiverwaltung abnahm und die communale wiedergab“. Ich habe nach dieser Richtung hin auch Erfahrungen gemacht, aber mit ent⸗ gegengesetztem Ergebniß; ich habe vier Städten mit Königlicher Polizeiverwaltung angeboten, die Polizei als communale zu über⸗ nehmen, und diese Städte haben dringend gebeten, es bei der Einrich⸗ tung der Königlichen Polizei zu lassen. (Hört, hört!) Ich glaube doch nicht, daß die Ansicht des Herrn Ober⸗Bürgermeisters Selke eine so allgemein gültige ist.

Er bemängelt in dem Gesetzentwurf ferner die Bestimmung über die Verwendung der Beiträge der Städte zur Vermehrung der Land⸗ gendarmerie, jedenfalls liege diese Verwendung in so weiter Ferne und sei es so zweifelhaft, ob überhaupt dieses Ziel erreicht werden könne, daß das kein Grund sein könne, den Gesetzentwurf anzunehmen. Es ist wiederholt sowohl in Ihrer Commission als im anderen Hause erörtert worden, daß allerdings § 1 Abs. 2 dieses Gesetzes keine dis⸗ positive Bestimmungen enthält nach der Richtung, daß bestimmte Summen zur Vermehrung der Landgendarmerie verwendet werden müssen. Aber die Staatsregierung hat mit voller Bestimmtheit erklärt, daß sie in den nächsten Etat, wo diese Summen als Ein⸗ nahme eingestellt werden, die Verwendung derjenigen Beträge, die nicht nothwendig sind, um die bisherigen Beiträge der Städte zu über⸗ nehmen, zum Zwecke der Vermehrung der Landgendarmerie vor⸗ schlagen werde, und Herr Ober⸗Bürgermeister Selke kann darüber beruhigt sein, daß dieses Versprechen eingehalten wird. Aller⸗ dings in einem Falle würde die Staatsregierung nicht in der Lage sein, das Versprechen zu erfüllen, nämlich wenn die die Anträge angenommen werden sollten, die Herr Selke mit unter⸗ schrieben hat; denn dann bliebe nicht so viel übrig, daß eine aus⸗ reichende Anzahl von Gendarmen würde angestellt werden können.

Er erklärt dann weiter, die Petition der Stadt Berlin, welche darauf hinausgeht, obligatorisch die gesammte Wohlfahrts⸗ polizei unwiderruflich nicht etwa dem Bürgermeister, sondern dem collegialen Magistrat zu überweisen, sei eigentlich der Stein der Weisen; die Anträge dieser Petition hätten angenommen werden sollen. Ich glaube allerdings, daß es ihm ganz erwünscht gewesen wäre, wenn die Staatsregierung diesen Standpunkt eingenommen hätte, denn, meine Herren, dann wäre er sicher gewesen, daß das Gesetz nicht zu stande gekommen wäre. Es ist darüber im anderen Hause kein Zweifel gewesen und so weit ich die Stimmung dieses hohen Hauses beurtheilen kannn, glaube ich, ist hier genau dasselbe der Fall, daß, wenn die Königliche Staatsregierung eine derartige Be⸗ stimmung hätte bringen wollen, sie nicht auf Annahme des Gesetzes würde haben rechnen können.

Herr Ober⸗Bürgermeister Selke bemerkt dann ferner, es sei in diesem Gesetz schablonisirt worden, nur für zwei Städte habe man individualisirt, das sei Cassel und Frankfurt a./M. und bei Cassel habe die Staatsregierung das mit der Angabe begründet, es liege ein Staatsvertrag vor, während von solchem Vertrag doch eigentlich nicht die Rede sein könnte.

Es ist aber unrichtig, daß für Frankfurt irgend eine individuelle Bestimmung in dem Gesetzentwurf getroffen worden ist. Für Frank⸗ furt finden sich solche Bestimmungen nicht, sondern lediglich in den Motiven ist davon die Rede, daß auch für Frankfurt ungeachtet der besonders hohen Kosten, welche der Staat für die Frankfurter Polizei aufwenden muß, kein besonders höherer Betrag ausgeworfen sei, weil die Stadt Frankfurt sehr große Ausgaben durch die Erbauung des Präsidialgebäudes gehabt hat, derselbe Grund, der auch für Berlin angeführt ist, bezüglich der übrigen Städte aber nicht rliegt

Zuschläge zu erhöhen, und

Was aber Cassel anbelangt, so liegt kein Staatsvertrag, sondern ein privatrechtlicher Vertrag zwischen Staat und Stadt vor, und zwar ein lästiger Vertrag, und daß die Staats⸗ regierung nicht von einem Vertrag, welcher titulo oneroso geschlossen wurde, zurücktreten, sondern daß sie dem Vertragstreue halten wird, das wird ihr doch nicht zum Vorwurf gemacht werden können.

Herr Ober⸗Bürgermeister Selke sagt dann ferner, diese ganze Sache sei zu einem unrichtigen Zeitpunkt in Anregung gebracht und die Behauptung, die anderwärks aufgestellt sei, gerade der jetzige Zeitpunkt sei der geeignete, träfe absolut nicht zu. Ich bestreite das durchaus. Gerade an der Hand der Zahlen, die der Herr Ober⸗ Bürgermeister Selke für seine eigene Stadt gegeben hat, behaupte ich, es ist jetzt der richtige Zeitpunkt für diese Neuregelung und zwar auch für die Stadt Königsberg gekommen. Wenn ich seine Zahlen richtig notirt habe, so belaufen sich in Königsberg die Mehr⸗ erträge an Staatseinkommensteuer auf 150 000 ℳ; Sie haben bisher an Gemeindesteuern 220 % der Staatspersonalsteuer aufgebracht, Sie würden also, wenn sie denselben Procentsatz beibehalten, 330 000 an Communalsteuern mehr einnehmen. Die Mehrkosten, welche dieses neue Gesetz Königsberg auferlegt, betragen 125 000 also bleiben der Stadt immer noch 200 000 zu neuen Ausgaben oder zur Ermäßigung des Steuersatzes übrig, ohne daß sie irgend etwas Anderes gethan hat als Gebrauch zu machen von den neuen Steuerquellen, welche der Staat der Stadt durch das Einkommen⸗ steuergesetz eröffnet.

Herr Ober⸗Bürgermeister Selke hat uns mit einer gewissen Emphase gesagt: Ja, wenn die Ueberweisung der Grund⸗ und Gebäudesteuer stattfände, da würde ich nichts dagegen zu erinnern finden, wenn man den Städten die vollen Kosten der Polizei auferlegte. Ich bin mit dem Herrn Finanz⸗Minister bereits in sehr eingehende Verhandlungen darüber eingetreten, in welcher Weise die Ueberweisung der Grund⸗ und Gebäudesteuer oder wenigstens einer sehr erheblichen Quote derselben an die communalen Verbände er⸗ folgen soll. (Hört, hört!)

Wir sind allerdings nicht auf den daß wir nun dabei etwa auch gleich abändern und den Städten die vollen Kosten der Polizei, wie Herr Selke vorschlägt, in Anrechnung bringen (Heiterkeit); ich bin aber sehr gern geneigt, diesen Gedanken in weitere Erwägung zu ziehen. (Heiterkeit.)

Ich möchte mich dahin resumiren. Mit großer Bestimmtheit er⸗ klärt Herr Ober⸗Bürgermeister Selke: Dieses Gesetz ist für die Städte weder gerecht noch billig. Ich fage, dieses Gesetz erfüllt aller⸗ dings eine Forderung der Gerechtigkeit. Es ist gerecht, daß die größten und reichsten Städte der Monarchie dasjenige, was ihnen bisher meines Erachtens in übergroßer Liberalität, zugewendet worden ist, nicht auf unbestimmte Zeit noch ferner auf Kosten aller übrigen Städte und des platten Landes genießen; und wenn ich die Summen ansehe, welche von ihnen gefordert werden, so kann ich nur sagen, das Gesetz ist für jene Städte nicht nur gerecht, sondern es ist sogar auch noch recht billig. (Lebhaftes Bravo!)

Graf von der Schulenburg⸗Beetzendorff ist für den Gesetzentwurf, der ein Compromiß über eine sehr schwierige Materie darstelle, und eine durchaus billige Scala für die Beiträge der Städte enthalte, dagegen seien die Anträge Becker unannehmbar. Selbst der Ober⸗Bürgermeister Selke sei nicht so sehr gegen das Princip des Ge⸗ setzes, wie gegen die Höhe der Beiträge.

Ober⸗Bürgermeister Zweigert hält das Gesetz für unannehm⸗ bar, weil es auf einem grundfalschen Princip beruhe. Schon nach altem römischen Recht habe der Mandant den Mandatar zu bezahlen. Wenn also die Städte die eigentlich dem Staat obliegende Polizeiverwaltung übernähmen, müßte der Staat logischer Weise ihnen dafür einen Beitrag leisten. Der jetzige Zeitpunkt sei keineswegs für eine größere Belastung der Städte geeignet, die Mehreinnahme aus der Ein⸗ kommensteuer solle vielen zur Deckung von Deficits dienen

Finanz⸗Minister Dr. Miquel:

Meine Herren! Wir haben hier eben einen Vertrete der Selbst⸗ verwaltung der Städte gehört, aber er will die Selbstverwaltung auf privatrechtlichen Gesichtspunkten des Mandatsverhältnisses von Staat und Commune begründen. Er hat sich auf das römische Recht in dieser Beziehung berufen, aber er wird als Kenner des römischen Rechts wissen, daß der Mandatar die ihm aufgetragenen Geschäfte nach dem Willen und der Instruction des Mandanten ausführen muß. Wie darin Selbstverwaltung liegen soll, wenn der Mandatar, die Städte, die in ihre Selbstverwaltung gezogenen Dienstzweige un⸗ bedingt und in allen einzelnen Bestimmungen nach den ertheilten In⸗ structionen der Staatsregierung durchführen soll, ist mir unerklärlich. Aber das ganze Bild ist falsch. Es handelt sich hier gar nicht um ein privatrechtliches Verhältniß, es handelt sich um eine seit Jahr⸗ hunderten kann man sagen in Deutschland und in Preußen bestehende Einrichtung, nach welcher die Städte einen gewissen Theil oder die ganze Polizeiverwaltung aus⸗ übten, allerdings nicht kraft eigenen Rechts, sondern als eine dem Staate immanente Befugniß, als eine staatliche Pflicht. Die Frage, die wir hier zu stellen haben, ist einfach die: an diesen histo⸗ risch hergebrachten Rechtszustand anknüpfend fragen: Sind nun die Lasten, welche aus der Polizeiverwaltung den Communen entstanden, auch gleichmäßig vertheilt? Das hat der Herr Vorredner gar nicht einmal zu beweisen versucht und es würde ihm auch nicht gelingen, und ich glaube, der Herr Minister des Innern hat schon in dieser Beziehung eine schlagende Widerlegung gegeben. Wenn nun der Herr Vorredner sagt, der Zeitpunkt sei nicht opportun, weil ja die Städte von dem Mehraufkommen der Einkommensteuer infolge der neuen Veranlagung keinen Vortheil hätten, indem sie das vergrößerte Deficit zu decken haben nun, wenn dieses Gesetz gemacht wurde zu einer Zeit, wo die neue Einkommensteuer nicht veran⸗ lagt wäre, so hätten die Städte die procentualen Zuschläge ganz anders erhöhen müssen. Heute aber sind sie mit Rücksicht darauf, daß die staatliche Veranlagung eine neue Steuerquelle der Bürgerschaft eröffnet (Zuruf: Nein!) nicht gezwungen, die procentualen erade aus diesem Gesichtspunkt halte ich

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Gedanken gekommen, dieses Gesetz wieder