1892 / 114 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 14 May 1892 18:00:01 GMT) scan diff

es doch für nöthig, nochmals die Behauptungen zu beweisen, daß die Führer der Saarbrückener Arbeiterbewegung Ende 1889 zweifellos auf dem Standpunkt eines neunstündigen Arbeitstages inelusive Ein⸗ und Ausfahrt standen. Unter dem 2. Dezember 1889 ist seiteris dieser Führer eine öffentliche Erklärung an alle Bergleute und Bürger des Saar⸗Kohlenreviers erlassen worden, ein Schriftstück, welches damals einigermaßen Aufsehen erregte. Bezüglich der Schichtdauer ist hier

gesagt:

Was die Schichtdauer betrifft, so sind in dieser Hinsicht unsere Wünsche größtentheils erfüllt. Auf vielen Gruben wird mit Ein⸗ und Ausfahrt neun Stunden gearbeitet.

Es heißt dann weiter:

Kameraden und Mitbürger des ganzen Kohlenreviers! Wir verlangen nichts Unbilliges, wir stellen keine übertriebenen For⸗ derungen. Ein mäßiger, für das Auskommen der Familie hin⸗ reichender Lohn, eine neunstündige Schichtdauer wenn das uns

ugesagt und in die Arbeitsordnung eingetragen wird letzteres

verweigert die Behörde bis jetzt dann Kameraden und Mit⸗ bürger ist Ruhe und Frieden hergestellt, dann wird man keinen treueren, fleißigeren, gehorsameren Knappen finden, als den an der Saar.

Das ist dem Wortlaute nach so unzweifelhaft klar, daß daran nichts zu deuteln ist. Ferner fand am 13. September des Jahres 1889 die Besprechung einer Deputation der Bergleute aus Saar⸗ brücken, Wagner, Beerwanger und Thome mit mir als Ober⸗ Präsidenten der Rheinprovinz statt, über die ein Protocoll auf⸗ genommen ist. Ich gestatte mir den auf die Schichtdauer bezüglichen Passus vorzulesen:

Auf Befragen bezeichneten die genannten drei Bergleute über⸗ instimmend:

a. als ihre Forderungen:

1) die Einführung der neunstündigen Schicht gleichmäßig auf allen Gruben einschließlich Ein⸗ und Ausfahrt.

Meine Herren, ich muß danach meine Behauptung aufrecht er⸗ halten und wenn in einer einzelnen Versammlung vorher die Forderung eines achtstündigen Arbeitstages vorgebracht ist, so will ich die Thatsache ja nicht bestreiten; ein Gewicht ist ihr nicht beizulegen. In der verlesenen Erklärung sowohl wie in der verlesenen Ver⸗ handlung, ist zweifellos als Forderung der Bergleute der neunstündige Arbeitstag verlangt worden.

Der Artikel wird bewilligt, ebenso der Rest des Gesetzes ohne Debatte.

Die Abgg. Hitze, Dasbach und Gen. haben folgende Resolution beantragt: 8

Das Haus der Abgeordneten wolle beschließen:

Die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, dem Landtag thunlichst bald einen Gesetzentwurf, betreffend die Abänderung der Bestimmungen des Titels VII des Allgemeinen Berggesetzes vom 14. Juni 1865 („Ueber die Knappschaftsvereine“*), speciell nach der Richtung hin vorzulegen, daß 1 t

11) die Knappschaftsältesten und die von diesen zu wählenden 1““ aus der Mitte der Arbeiter und Berginvaliden in geheimer Wahl gewählt werden; 1“

2) gegen die Entscheidung des Vorstandes, betreffend die In⸗ validisirung, ein Recurs an ein Schiedsgericht zugelassen wird, welches je zu gleichen Theilen aus gewählten Vertretern der Werks⸗ besitzer bezw. Repräsentanten und der Knappschaftsmitglieder unter dem Vorsitze eines obrigkeitlichen Commissars gebildet wird;

3) den Mitgliedern die bereits erworbenen Ansprüche für den Fen des Ausscheidens aus ihrer Beschäftigung gegen Zahlung einer

eecognitionsgebühr erhalten bleiben.

Abg. Letocha (Centr.) begründet diese Resolution mit dem Hin⸗ weis, daß das Bedürfniß zu der hier gewünschten Regelung schon längst hervorgetreten seik(.

Abg. Dr. Ritter (freicons.): Die Materie, die in dieser Re⸗ solution berührt werde, sei eine so umfangreiche und schwierige, daß die Antragsteller selbst sich hätten sagen müssen, daß sie bereits in der ersten Lesung hätte berathen werden müssen. Diese Resolution in die dritte Lesung in das Haus zu een, halte er nicht für zweck⸗ mäßig. Deshalb gehe er auf die Materie überhaupt nicht ein, son⸗ dern erkläre formell, daß seine Freunde und er gegen die Resolution stimmen würden. . 3 1 Ss

Abg. Hitze (Centr.): Seine Partei habe bereits in der Commission beantragt, die geheime Abstimmung für die Wahl der Knappschafts⸗ ältesten einzuführen. Die Majorität habe es aber nicht für angemessen gehalten, diese Frage gelegentlich dieses Gesetzes zu regeln. Daß diese Resolution den Herren nicht gerade angenehm sei, glaube er; sie enthalte aber in keinem einzigen Punkte weitergehende Forderungen, als sie bereits in anderen Gesetzen erfüllt seien. Geheimwahl be⸗ stehe auch nach diesem Gesetze bei den Ausschüssen. Ferner sei sie vorgesehen für die Krankenkassen, und es sei nur consequent ge⸗ wesen, daß sie im Reichstag auch für die Knappschaftskassen verlangt worden sei. Da habe man aber auf das preußische Berggesetz ver⸗ tröstet. Nachdem nun in der Commission der Versuch mißlungen ei, die Sache im Gesetz selbst zu regeln, sei es nur natürlich, daß 22 vn5⸗ wenigstens in einer Resolution ihre Wünsche festlege.

Recurs an ein Schiedsgericht sei bereits im Unfallversicherungs⸗ und im Alters⸗ und Invalidengesetz vorgesehen, und die dritte For⸗ derung sei im Saarbrücker Revier realisirt. 8

. Schmieding (nl.): Auch er verstehe nicht, wie man in der dritten Lesung im letzten Augenblick eine Resolution von so eminenter Tragweite habe vorlegen können. Diese Frage erfordere ein eingehendes Studium, und niemand werde in der Lage sein, sich die Con⸗ equenzen dieser Resolution vollständig klar zu machen. Gerade die

ücksichtnahme auf das Haus hätte die Antragsteller bestimmen sollen, wenn sie es wirklich ernst meinten und nicht einen agitatorischen Zwech im Auge hätten, mit der Resolution jetzt nicht hervorzutreten; deshalb lehnten seine nde aus rein formalen Gründen ein Eingehen auf die Resolution ab. Er persönlich erkläre, daß er mit der Resolution in manchen Punkten einverstanden sei. Aber er sei durchaus ein Gegner des geheimen Wahlrechts bei der Wahl der Aeltesten, wie er überhaupt ein abgesagter Feind alles Geheimen sei. Er wünsche die Einführung der Oeffentlichkeit in allen unseren Staatsinstitutionen. In dem Verhältniß zwischen Arbeitnehmer werde die geheime Wahl nur eine Q iß⸗ trauens bilden. Heute drängten sich schon viel mehr Elemente zwischen Arbeitgeber und Arbeiter, als wünschenswerth sei, und die Ein⸗ führung der geheimen Wahl werde nur den Einfluß der Social⸗ demokraten verstärken. 8 .“ Iite (Centr.): Er möchte bloß wissen, wie seine Partei es mit Antrage hätte machen sollen. Sie habe doch be⸗ reits in der den Antrag auf geheime Abstimmung bei der Wahl der Knappschaftsältesten gestellt, dort sei man aber darüber birweggegangen⸗ es sei ihr also geschäftsordnungsmäßig nur übrig blieben, die Sache bei der dritten Lesung vorzubringen. Das habe 8 um so eher gedurft, als die Herren ja immer behaupteten, sie seien in dieser Materie so .* Wie sollten sie also in dieser einfachen Frage, nachdem sie die Resolution gelesen, nicht so⸗ fort ein absolutes Urtheil abgeben?! Seine Partei könne doch nicht mmer vom Reichstag zum Landtag und vom Landtag wieder zum Reichstag mit dieser Sache laufen.

Abg. von Bockelberg (cons.): Er erachte die Materie als viel als daß sie hier am Schluß einer ohnehin schweren

handlung noch zur Erledigung gelangen könne. Dadur solle

aber nicht die Meinung hervorgerufen werden, als bekämpften seine Freunde alle in der Resolution enthaltenen Punkte, sie seien z. B. für die Zulassung des Recurses an die Schiedsgerichte. Er wolle aber nicht auf diese Specialitäten hier näher eingehen, er sehe die - nicht für spruchreif an und bitte deshalb, die Resolution ab⸗ zulehnen.

Abg. Dr. Lieber (Centr.): Die Behauptung des Abg. Schmieding, daß seine (des Redners) Freunde das Haus hier plötzlich mit der Resolution überfallen hätten, weise er zurück. Das 5 müsse die schwierigsten Vorlagen in einer durch die Geschäftsordnung bestimmten kurzen Frist studiren, und hier handele es sich um eine Materie, die dem Abg. Schmieding wohl bekannt sein müsse. Er gebe ja auch selbst zu, daß er über alle Punkte der Resolution sich ein abschließendes Urtheil gebildet habe, nur über die geheime Wahl nicht, und auch hierüber sei sein Urtheil thatsächlich fertig er lehne eben das geheime Wahlrecht ab, weil es die Cultur schädige, aber das Deutsche Reich mit seinem geheimen Wahlrecht sei doch F auch eine Culturerrungenschaft! In Bochum sei schon jetzt i den Wahlen der Knappschaftsältesten durch Uebereinstimmung der Bergleute und ⸗Besitzer das geheime Wahl⸗ recht eingeführt, der Abg. Echmieding, der Abgeordnete für Bochum, kenne nicht einmal die in seinem heimischen Revier herrschenden Verhältnisse! Seine Partei begnüge sich mit einer Resolution, um die Verhandlungen in dritter Lesung nicht unnütz zu belasten, aber die Sache sei schon in der zweiten Lesung ganz bekannt gewesen. Er erwarte, daß der größte Bergwerksbesitzer in Preußen auf seiner Seite stehen und die widerstrebenden Elemente mit sich fortreißen werde; er erwarte eine dahin gehende Erklärung vom Minister umso⸗ mehr, als in einer vom 21. Juli 1890 datirten Verfügung des Königlichen Ober⸗Bergamts Breslau für die Grube „Luise“ die geheime Wahl für die Knappschaftsältesten angeordnet sei⸗

Minister für Handel und Gewerbe Freiherr von Berlepsch:

Meine Herren! Ich kann dem Herrn Vorredner nicht dahin folgen, im gegenwärtigen Augenblick die Stellungnahme der König⸗ lichen Staatsregierung zu der gestellten Resolution zu kennzeichnen. Ich kann es nicht für richtig halten, in diesem Stadium der Ver⸗ handlungen eine bindende Erklärung abzugeben. Zunächst ist das Abgeordnetenhaus aufgefordert, einen Beschluß zu fassen, die König⸗ liche Staatsregierung um eine Gesetzesvorlage zu ersuchen. Ich werde abwarten, ob dieser Beschluß gefaßt wird, ohne daß ich damit aus⸗ drücken will, daß, wenn dieser Beschluß nicht gefaßt wird, daran die Folgerung zu knüpfen wäre, daß die Staatsregierung sich den in dieser Resolution gestellten Wünschen gegenüber durchaus ablehnend verhielte.

Abg. Meyer (dfr.): Die Angelegenheit sei keineswegs neu, aber wenn der Abg. Schmieding so für die Oeffentlichkeit sei, so möge er dafür sorgen, daß auch die Preisringe und Kartelle ihre Verhand⸗ lungen und Correspondenzen öffentlich führten. Das beste Mittel für den socialen Frieden sei die freiheitliche Ausbildung des Coalitions⸗ rechts und hierzu solle auch die Resolution dienen.

Abg. Hitze (Centr.): Die ganze Resolution sei zum theil formell, zum theil ihrem Inhalt nach schon lange bekannt; die hier ge⸗ stellten Forderungen seien oftmals, bei verschiedenen Gelegenheiten gestellt worden. Wenn das Haus die Resolution jetzt ablehne, so e. es dem Verdacht Raum, daß es das geheime Wahlrecht ekämpfe, und damit werde es das größte Mißtrauen bei den Arbeitern erregen.

Abg. Dr. Hammacher (nl.): Ein namhafter Theil seiner Freunde erkläre sich für den Antrag. Der Abg. Schmieding habe namentlich gegen den ersten Theil desselben Einwendungen erhoben, der Abg. Lieber habe aber mit Recht darauf hingewiesen, daß jener sich im Widerspruch befinde mit den Grubenbesitzern vom Nieder⸗ rhein, wo fast überall durch Uebereinstimmung zwischen Gruben⸗ besitzern und Arbeitern die geheime Wahl der Knappschaftsältesten v. sei. Den zweiten und dritten Punkt erkläre der Abg. Schmieding eigentlich für zutreffend, denn sie enthielten nur die Uebertragung reichsgesetzlicher Bestimmungen auf die Verhältnisse der Bergarbeiter. Er bedaure, daß die Gesetzgebung es lange versäumt habe, in den Knappschaftskassen auf ein befriedigendes Ver⸗ hältniß zwischen Arbeitgebern und Alrbeitern hinzuwirken, und leider habe auch die socialpolitische Gesetzgebung des Reichs der Entwickelung der Knappschaftskassen entgegengewirkt. Werde eine Reform dieser Materie einmal in die Hand genommen werden, so sei ein wesentlich der Aenderung bedürftiger Punkt ihre wirthschaftliche Grundlage. Da die Leistungen der Knappschaftskassen erhöht seien, müßten naturgemäß auch die Beiträge erhöht werden, während jetzt eine solche Erhöhung nur durch die Uebereinstimmung der Arbeiter und Arbeitgeber erreicht werden könne. Er bitte die Regierung, auch diesen schwachen Punkt zu beseitigen.

Abg. Schmieding (nl.): Er stimme gegen die Resolution

nur aus formalen Gründen. Dem Abg. Lieber, der das Deutsche Reich für eine Errungenschaft des geheimen Wahlrechts ansehe (Widerspruch), erwidere er, daß das Deutsche Reich, soviel ihm be⸗ kannt, dem Erfolge der Waffen des deutschen Volkes unter Führung seines Kaisers seine Entstehung verdanke. Die Nummer 1 der Resolution wird darauf in nament⸗ licher Abstimmung mit 147 gegen 126 Stimmen angenom⸗ men. Für dieselbe stimmen das Centrum, die Freisinnigen, die Polen und von den Nationalliberalen mit dem 1 Hammacher die Abgg. Bartmer, Dürre, von Eynern, Fegter, Francke⸗Tondern, Friedberg, Grimm⸗Wiesbaden, vom Heede, Holtermann, Knauer, Krause, Ludowieg, Mevyer⸗Heiligenloh, Rimpau, Sander, Sattler, Schaffner, Seyffardt⸗Magdeburg, Wallbrecht und Weber⸗Halberstadt; ferner die Abg. Cremer⸗ Teltow und Bork.

Der übrige Theil der Resolution wird gleichfalls an⸗ genommen.

Die zum Gesetzentwurf eingegangenen Petitionen werden durch die Beschlüsse des Hauses für erledigt erklärt.

Es folgt die dritte Berathung des Gesetzentwurfs über die Erweiterung, Vervollständigung und bessere Aus⸗ rüstung des Staats⸗Eisenbahnnetzes.

Eine Generaldebatte wird nicht beliebt. Beim § 1 bemerkt Abg. Knebel (nl.): Im Interesse der Fortentwickelung der Stadt Köln und des Verkehrs sei es dringend wünschenswerth, daß der Umbau des Bahnhofs und der Geleiseanlagen etwas beschleunigt werde. Die Umbauarbeiten böten ein großes Hinderniß, und es ent⸗ spreche einem dringenden Bedürfniß, daß die dort bestehenden Ueber⸗ gangsverhältnisse nun bald endgültig geregelt würden.

Minister der öffentlichen Arbeiten Thielen:

Meine Herren! Ich kann nur bestätigen, daß die Schmerzen, die der Herr Abg. Knebel vorgetragen hat, in Wirklichkeit vorhanden sind. Es sind das aber Schmerzen, die mit einer derartigen Uebergangs⸗ periode, wie sie sich augenblicklich in Köln vollzieht, unvermeidlich verbunden sind. Auch die Eisenbahnverwaltung hat das drin⸗ gendste Interesse, diese Uebergangsperiode thunlichst abzukürzen, und ich freue mich, von Herrn Knebel zu hören, daß in der Stadt Köln anerkannt wird, wie die Eisenbahnverwaltung hierzu das ihrige nach besten Kräften thut. Es ist zu hoffen, daß unter den gegenwärtigen Verhältnissen einzelne der seitherigen Geleis⸗ verbindungen, die für den städtischen Verkehr sich als besonders störend erweisen, in kürzerer Zeit beseitigt werden können. Wann der letzte Rest sich wird beseitigen lassen, sich zur Zeit noch nicht

übersehen; aber das alles geschehen wird, um diese Periode thunli abzukürzen, davon, meine Herren, können Sie sich überzeugt halten.

Abg. Ludowieg (nl.): Mit großer Freude habe seine Partei die Absccht der Regierung begrüßt, die unkerelbische Eisenbahn mi einem zweiten Geleise auszustatten. Aber es scheine 8z als man dort in einem gar zu langsamen Tempo vorgehe. In diesem Jahre solle nur die Strecke Harburg Buxtehude in Angriff nommen werden, das sei nur der fünfte Theil der ganzen Stn. Danach werde ein Zeitraum von mindestens sechs Jahren verstreichen.“ bis die ganze Linie mit einem zweiten Geleise versehen sein werde. Harburg sei für die Reisenden der Hamburger Packetfahrtgesellschaf von und nach Amerika gewissermaßen ein Entrée, man solle daher dafür sorgen, daß die Amerikaner beim Eintritt in das deutsche Vaterland einen guten Eindruck von unserem Staatseisenbahnspstem bekämen. Zudem habe die Bahn den Charakter einer Localbahn schon verloren, indem sie 2 auch Bremerhaven verlängert sei. Außerdem werde die Bahn für den sonen⸗ und Güterverkeit eine höhere Bedeutung erhalten, sobald der bereits in Angriff ge⸗ nommene Umbau des Harburger Staatsbahnhofs vollendet sein werde; dann würden die Schnellzüge von Hannover resp. Berlin nach Hamburg mehr über Harburg geleitet werden, um den Verkehr zwischen Curhaven und Hamburg zu erleichtern. Diese Punkte ließen es nothwendig erscheinen, die Bahn für den großen Verkehr, den si dann zu bewältigen habe, so bald wie möglich auszurüsten.

Minister der öffentlichen Arbeiten Thielen:

Meine Herren! Ich brauche wohl nicht die Gründe hier weiter auseinanderzusetzen, welche die Veranlassung gewesen sind, daß nicht sofort das zweite Geleis in der ganzen Ausdehnung von Hamburg nach Cuxhaven gebaut worden ist. Zunächst ist diejenige Strecke in Angriff genommen, welche sich als die dringendste herausgestellt hat, von Harburg nach Buxtehude und damit verbunden die Erweiterung des Bahn⸗ hofs Burtehude, welche durchaus nothwendig ist für den vermehrten Verkehr und namentlich wegen der vielfachen industriellen Anlagen, die sich um den Bahnhof angesiedelt haben. Wenn der Herr Abg. Ludowieg hervor⸗ gehoben hat, daß die Linie Marburg— Cuxhaven aus einer stillen Nebenbahn allmählich zu einem Gliede der großen transatlantischen Route geworden ist, so ist das in gewissem Sinne richtig. Meine Herren, es geschieht von Seiten der Eisenbahnverwaltung alles, um den Amerikanern, die herüberkommen bezw. von Hamburg nach Amerika gehen, ein möglichst günstiges Bild von der preußischen Eisenbahnverwaltung zu geben; sie werden in Schnellzügen, in gut ausgestatteten Wagen von Hamburg bis Curhaven gefahren, und damit das möglichst schnell ge⸗ schieht, sind was der Herr Abg. Ludowieg wahrscheinlich nicht weiß auch zwischen Burtehude und Cuxhaven einzelne Kreuzungsstationen angelegt. Es ist beabsichtigt, das zweite Geleis bis dahin fertig zu stellen, daß der Hafen in Curhaven seitens der Hamburger Regierung ausgebaut ist. Anzuerkennen ist, daß von diesem Moment an sowohl der Güter⸗ als Personenverkehr wachsen werden, und ich hoffe, daß unsere finanziellen Verhältnisse es gestatten werden, dieser Absicht nachzukommen.

Die Vorlage wird darauf im einzelnen und schließlich im

ganzen unverändert angenommen.

„Ohne Debatte genehmigt das Haus in dritter Lesung den Gesetzentwurf wegen Regulirung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse in Neuvorpommern und Rügen (Antrag Drawe und Gen.).

Es folgt die zweite Berathung des Gesetzentwurfs über die Aufhebung von Stolgebühren sür Taufen, Trauungen und kirchliche Aufgebote in der evan⸗ gelischen Landeskirche der älteren Provinzen der Monarchie, und des Gesetzentwurfs über die a von Stolgebühren für Taufen und Trauungen in der evangelisch⸗lutherischen Kirche der Provinz Schleswig⸗Holstein.

Die Commission beantragt die unveränderte Genehmigung der Vorlage und schlägt außerdem folgende Resolution vor:

„Bei Annahme der verstehenden Gesetzentwürfe wird die Er⸗ wartung ausgesprochen, daß die Staatsregierung entsprechende

Gesetzentwürfe über die Ablösung der Stolgebühren für die übrigen

evangelischen Landeskirchen der Monarchie und für die katholische

Kirche vorlegen wird, sobald darüber die erforderliche Verständigung

mit den zuständigen Kirchenorganen erzielt ist.“

Abg. Dr. Langerhans (dfr.): Der Finanz⸗Minister habe noch vor einigen Tagen geäußert, daß wir uns einer außerordentlichen Spar⸗ samkeit befleißigen müßten, und habe das Haus aufgefordert, Er⸗ sparungsvorschläge zu machen. Hier liege ein ganz präciser Vorschlag vor. Man möge die 1 ½ Millionen sparen, die zur Aufhebung der Stolgebühren jährlich gefordert würden. Das vom Finanz⸗Minister für das laufende Jahr auf 24 Millionen bezifferte Deficit werde sich wahrscheinlich auf 40 Millionen steigern. Darum habe seine Partei bei Berathung des Eisenbahn⸗Etats auf die nothwendige Reform der Personen⸗ und Gütertarife verzichtet, weil solche Reformen doch immer Mehrausgaben bedängen. Du S nicht in allen evangelischen Kreisen werde die Aufhebung der Stolgebühren gewünscht, und die katho⸗ lische Kirche habe in dieser Beziehung gar nicht gedrängt. Den Haupt⸗ grund für das Gesetz, daß man dadurch eine größere Anhänglichkeit der ärmeren Leute an die Kirche erreiche, halte er nicht für richtig. Wenn er richtig wäre, würde er nur für die großen Städte zutreffen. In Berlin habe man übrigens die Stolgebühren aufgehoben, ohne daß der Staat etwas dazu gegeben habe. Wenn in Gemeinden im Osten unseres Vaterlandes die Stolgebühren so außerordentlich hoch seien, 12 bis 16 für die einfachste kirchliche Hand ung, so seien im Etat der Kirche genug Mittel gewährt, um in solchen Fällen einzuschreiten. Auch das koͤnne seine Partei nicht bestimmen, eine dauernde Aus gabe von 1 ½ Millionen in den Etat einzufügen. Früher habe das Haus eine andere Stellung gegenüber dieser Frage eingenommen. Der Umschwung sei daher gekommen, daß na ückgabe der Sperrgelder an die katholische Kirche aus evangelischen Kreisen viele Stimmen des Unwillens laut geworden seien, die gesagt hätten: „Was, Ihr schenkt der katholischen Kirche 16 Millionen und uns vergeßt Ihr Daraus sei dann die Meinung entstanden, daß die

irche nur durch Aufhebung der Stolgebühren zu retten sei, und da erst habe die General⸗Synode beschlossen, dieses Gesetz zu machen. Die Prediger hätten allerdings durch das Civilstandsgesetz Einbuße erlitten. Aber mit Ausnahme der Grund⸗ steuerentschädigung und der Entschädigung für die Reichsunmittelbaren sei es nie üblich gewesen, Entschädigungen an solche zu zahlen, die durch ein Gesetz geschädigt worden seien. Abgesehen davon, habe man in den Etat 5 Millionen zur Erhöhung der Gehälter der Geistlichen eingestellt. Das Interesse der Leute an der Kirche werde gerade dadurch geschädigt, daß man ihnen alles so bequem mache. seine Kirche und seine Religion nicht so viel werth sei, daß er ihr Opfer bringe, dem sei sie überhaupt wenig werth. Trotz aller Ab⸗ neigung gegen Doppelbesteuerung habe man der Kirche gestattet, Steuern zu erheben. Wozu wolle man jetzt noch eine Entschädigung, die durch allgemeine Steuern aufgebracht werde, zu denen auch die Angehörigen anderer Kirchengemeinschaften beitragen müßten? Es würde gerechter sein, den Kirchen allein die Besteuerung ihrer Mit⸗ glieder zu überlassen. 8 In B bestehe die

Abg. Simon von Zastrow (cons.): In Berlin e Ablösung der Stolgebühren, wie sie für das ganze Land angestrebt werde, bereits seit mehreren Jahren, und sie habe den erhofften Er⸗ folg in vollem Maße gehabt. Berlin habe diesen Zustand durch eigene

strengung erreicht. Was aber einer Stadt wie Berlin leicht sei,

den armen Gemeinden, namentlich in der Diaspora, sehr

bwer. Die Herren von der Linken hätten sich damals gegen die Auf⸗ hebung der Stolgebühren in Berlin gesträubt und stimmten in Con⸗ uenz dieses Verhaltens auch 8 ven das vorliegende Gesetz. Der Fmang müsse sie aber eines eren belehren; denn die Zahl der Taufen sei in Berlin von 65 auf 86 % gestiegen, die Zahl der kirch⸗ lichen Trauungen von 24 auf 64 % In jetziger sei es ganz be⸗ sonders wichtig, daß die ärmeren Leute die Zugehörigkeit zu den beiden o tkirchen aufrecht erhielten. Für den armen Mann sei die ühr eine so hohe, daß er sich 23 Hinzutreten anderer Gründe, bei der allgemeinen Gleichgültigkeit von der Kirche fernhalte. Das Wahren des finanziellen Interesses sollte der Abg. Langerhans irklich dem sparsamen Finanz⸗Minister überlassen. Die Geistlichen mhielten aus der Entschädigungssumme keinen Pfennig; den armen Kirchengemeinden werde dieser gegeben. Die Geistlichen, die über 6000 Einkommen bezögen, erhielten Entschädi⸗ ung. Ihm würde es viel lieber sein, wenn jede Kirchengemeinschaft 8 sich allein im stande sei, diese Entschädigung zu leisten, aber das sei nicht der Fall. Die Mitglieder der katholischen Kirche hätten kein Interesse an dem Gesetz; um so anerkennenswerther sei es von diesen Herren, daß sie dennoch für dasselbe stimmten. ür ihn sei es schmerzlich, daß die eigenen Confessionsgenossen diese Entschädigung verweigerten, während die Herren vom Centrum sie gewährten. .

Minister der geistlichen ꝛc. Angelegenheiten Dr. Bosse:

Meine Herren! Im allgemeinen glaube ich, daß die Bedenken des Herrn Abg. Dr. Langerhans, die ich ja von seinem Standpunkte aus wohl verstehen kann, zutreffend widerlegt sind von dem Herrn Vorredner, dem ich dafür sehr dankbar bin. Ich bitte nur um die Erlaubniß, mit zwei Worten noch auf einige Punkte zurückkommen und die Ausführungen des Herrn Vorredners ergänzen zu dürfen.

Zunächst glaube ich nicht, daß der Herr Abg. Dr. Langerhans die finanzielle Wirkung des Gesetzes unter dem richtigen Gesichtspunkte angesehen hat. Die Vorlage ist in der That nichts Anderes, nach meiner Meinung und Ueberzeugung, als ein Eintreten des Staats zu Gunsten der kleinen Leute, und zwar gerade der kleinen Leute, die den beiden anerkannten christlichen Kirchen angehören und die keine Steuer⸗ kraft haben. Und für diese sollen diejenigen, die die Zuschläge zur Einkommen⸗ steuer zu zahlen haben, soll also der Staat eintreten.

Auch über die Entstehung dieser Vorlage sind die Annahmen des Herrn Abg. Dr. Langerhans nicht ganz zutreffend. Sie ist nicht erst so kurzen Datums, wie er angenommen hat, sondern jede General⸗ synode hat bisher Anträge im Sinne dieser Vorlage angenommen; und ich darf mir vielleicht gestatten, auch noch daran zu erinnern, daß die Vorlage im gewissen Sinne die Erfüllung eines Vermächtnisses unseres Hochseligen Kaisers Wilhelm's I. ist, der vom Erlaß des Civilstandsgesetzes an es als eine dringende Pflicht des Staats empfunden und im Auge behalten hat, daß in der Weise, wie eszhier die Vorlage versucht, geholfen werde. Auch nach dieser Seite hin, glaube ich in der That, daß wir eine Art von Pietät zu üben haben, um im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit durch die Vorlage zu wirken. Ich kann daher dem hohen Hause nur die Annahme der

Vorlage empfehlen.

Abg. von Eynern (nl.): Die erste und zweite General⸗Synode habe sich ausdrücklich dafür ausgesprochen, daß keine allgemeine landes⸗

etzliche Regelung dieser Materie stattfinden solle. Die dritte

eral⸗Synode habe dann einen anderen Standpunkt eingenommen und diese Gesetzesvorlage gemacht. Der größte Theil seiner politischen Freunde werde für die Vorlage stimmen, obwohl sie hinsichtlich einzelner Bestimmungen Bedenken hätten. Er für seine Person werde egen die Vorlage stimmen. Auch er möchte als Volksvertreter den Finanz⸗Minister in den Summen, die er für bestimmte Zwecke zur Verfügung habe, controliren können, und er finde, daß der Be⸗ trag von 1 ¼ Millionen für diesen Zweck die Summe überschreite, die für nothwendig gehalten worden sei, als man die Re⸗ gierung aufgefordert habe, die Regelung der Stolgebühren in die Hand zu nehmen. Nach 1885 habe das Staats⸗ Ministerium den Beschluß gefaßt, daß es unthunlich sei, nach der damaligen Forderung des Ober⸗Kirchenraths 750 000 in den Etat für diesen Zweck einzustellen. Heute fordere man das Doppelte, obwohl die Finanzlage des Staats nach dem Zeugniß des inanz⸗Ministers sich verschlechtert habe. Er befürchte auch, daß es i dieser Forderung nicht bleiben werde. Die General⸗Synode habe resolvirt, daß es ebenso nothwendig sei, auch die Stolgebühren für Leichenbegängnisse abzulösen, und sie habe überhaupt gegen den Landtag eine seltsam feindselige Stellung eingenommen. Der General⸗Superintendent Dr. Schulze habe an jene Resolution ge⸗ cissermaßen die Drohung geknüpft, die evangelische Kirche lasse sich nicht in die Bande eines parlamentarischen Mitregiments schlagen. Aehnlich hätten sich die Synodalen Stöcker und von Kleist⸗Retzow äußert, während doch sämmtliche Parteien seit Jahrzehnten müht seien, der evangelischen Kirche gerecht zu werden. Ein anderer Grund, der ihn veranlasse, dieser Vorlage skeptisch gegen⸗ überzustehen, sei der Vertheilungsmodus der 1 ½ Millionen. Es eiße im Gesetz, daß diejenigen Gemeinden, die mehr als 4 % irchensteuerzuschläge zur Einkommen⸗ und Klassensteuer zahlten, ücksichtigt werden sollten. Danach erhalte die Heimathprovinz des Herrn von Kleist⸗Retzow, der sich am lebhaftesten für die Ab⸗ löfung interessirt habe, von den 1 ½ Millionen 222 400 ℳ, die Rhein⸗ provinz dagegen nur 16 000 Das könne seine Heimath sich nicht so ruhig gefallen lassen. Dort seien schon früher in einzelnen Ge⸗ meinden die Stolgebühren aufgehoben worden. Dadurch seien die Kirchensteuern außerordentlich hoch gestiegen. Nun meine er, wenn man diese 1 ½ Millionen nicht bloß als Ablösungsgebühr ansehen dürfe, sondern auch als Zuschüsse an arme Gemeinden, dann dürfe man die Rheinprovinz und Westfalen nicht schlechter behandeln a die östlichen Provinzen. Nach dem vorliegenden Vertheilungsmaßstabe aber würden das Rheinland und Westfalen gewissermaßen dafür ge⸗ straft, daß sie das Gute schon früber gethan hätten als andere Pro⸗ vinzen. Vate dieses Gesetz einer Commission vorgelegen, so würde sicher worden s Finanz⸗Minister Dr. Miquel:

Meine Herren! Der Herr Abg. von Eynern war einer der eifrigsten Förderer und Vertreter desjenigen Beschlusses, auf Grund dessen das fragliche Gesetz vorgelegt ist. (Hört, hört! rechts.) In der Sitzung vom 6. Juni 1890 hat er eine lange, ausführliche Rede über die Sache gehalten, und er hat namentlich das Staats⸗Ministerium dazu aufgefordert, ja nur nicht mit dieser Sache zu zögern, vor allen Dingen nicht, wenn auch die Stolgebühren in der katholischen Kirche zur Ablösung kommen sollten, die vorab zu bewirkende Ablösung der Stolgebühren in der evangelischen Kirche mit Rücksicht auf die katholische Kirche hintanzustellen. Ich hätte daher von diesem seinem Standpunkte, den er anscheinend noch im wesentlichen bei⸗ behalten will, indem er sagt: im Princip bin ich noch für die Ab⸗ löfung, gewünscht, daß er nicht einfach concludirt hätte: dies Gesetz, so wie es vorliegt, gefällt mir nicht, folglich stimme ich gegen die Ab⸗ lösung der Stolgebühren, sondern daß er die erforderlichen Amende⸗ ments zur Beseitigung der Mängel eingebracht hätte, welche er be⸗ zeichnet; aber die Gründe, die er nun anführt, gehen viel weiter; sie beziehen sich nicht auf einzelne Mängel, wenigstens nicht im wesentlichen, sondern er plaidirt gegen die Ablösung

Stolgebühren überhaupt, indem er sagt: wie können

ein besserer Vertheilungsmaßstab für den Westen durchgesetzt

wir solche Summen hier bewilligen, während ja schon von gewisser Seite so erhebliche neue Forderungen seitens der Kirche gegen den Staat angekündigt sind? Das ist ein Grund, der nicht gegen eine ein⸗ zelne Bestimmung des Gesetzes gerichtet ist, sondern das Gesetz selbst angreift. 28.

Meine Herren, nun ist diese Gefahr aber doch nicht vorhanden; in der officiellen Motivirung des Kirchengesetzes, um dessen Ausführung es sich hier handelt, wird zwar anerkannt, daß auch noch andere Stol⸗ gebühren in der evangelischen Kirche erhoben werden, deren Beseitigung wünschenswerth sei, aber ausdrücklich erklärt, das möge man lediglich der provinzialkirchlichen Regelung vorbehalten, und es ist damit also jeder Anspruch auf Zuschüsse des Staats für diese Zwecke auch seitens der⸗ Kirche abgelehnt worden. Es kommt aber auch hinzu, daß in der Staats⸗ regierung die Absicht, weitergehende Zuwendungen für den hier in Rede stehenden Zweck auf Grund der Resolution des Landtags für die Kirche auszuwerfen, durchaus nicht besteht. Es könnte also in dieser Beziehung der Herr Abgeordnete sich wohl beruhigen.

Nun ist aber der Hauptgrund seiner Abneigung gegen das Gesetz in der vorliegenden Fassung wohl allerdings die Rücksicht auf seine Heimathsprovinz. Er beklagte es, daß die Rheinprovinz zu schlecht bei der Sache wegkäme, daß die Hauptvortheile den östlichen Pro⸗ vinzen zufielen. Meine Herren, in dem vorliegenden Gesetzentwurf ist ein Vertheilungsmodus auf die einzelnen Provinzen gar nicht vor⸗ handen. Wenn die eine oder die andere Gemeinde, oder die eine oder die andere Provinz thatsächlich mehr bekommt aus diesen 1 ½ Millionen, so geht das daraus hervor, daß dort das Be⸗ dürfniß größer ist. Wenn Herr von Eynern sich darüber beklagt, daß am Rhein die Stolgebühren schon jetzt abgelöst seien, und nun die⸗ jenigen Gemeinden, welche diese Gebühren abgelöst haben, nichts be⸗ kommen, so ist diese Stolgebührenablösung auf dem linken Rheinufer schon in der französischen Zeit durchgeführt worden, und man kann doch darauf nicht mehr zurückkommen. Solche Fälle kommen in den anderen Provinzen auch vor, wo die Gemeinden in keiner Weise von diesen Zuwendungen Vortheil haben. Es sollen ja nur diejenigen Gemeinden, welche behufs Ablösung der Stolgebühren mehr als 4 % Steuern aufzubringen haben, eine Unterstützung erhalten. Natur⸗ gemäß trifft das gerade bei wenigen bemittelten Gemeinden, die schwach dotirte Pfarren haben, die sehr wenig Einkommen aus eigenem Vermögen besitzen, die den größten Theil bisher aus Stolgebühren haben aufbringen müssen, am stärksten zu, und das ist gerade vom Standpunkte des Staats das richtige. Wenn der Staat solche Zuwendungen machen will, so muß er sie da machen, wo das dringendste Bedürfniß und die geringste Möglichkeit ist, sich selbst zu helfen. Das ist überhaupt die ganze Bedeutung des Gesetzes, wie der Herr Cultus⸗Minister schon im wesentlichen erschöpfend dargestellt hat, daß, nicht bloß wenn man die Provinzen vergleicht, sondern auch die einzelnen Gemeinden, denen diese Zuwendungen zu gute kommen, ja die einzelnen Personen in diesen Gemeinden, gerade die unbemitteltsten hier vorzugsweise ent⸗ lastet werden. Ich glaube daher, die Bedenken mögen ja thatsächlich richtig sein, daß die Rheinprovinz verhältnißmäßig nach der Ein⸗ wohnerzahl weniger bekommt, als die übrigen Provinzen. Das wird aber bei vielen Gesetzen, stattfinden. In der Weise kann man die Stellung des Staats nicht auffassen, daß man alle Zuwendungen des Staats nach der Kopfzahl ohne Rücksicht auf das vorhandene Bedürfniß vertheilt.

Ich möchte daher das Haus bitten, sich durch diese Bedenken nicht abhalten zu lassen, das Gesetz, dem eigenen Beschluß des hohen Hauses entsprechend, zur Annahme zu bringen.

Abg. Dr. Lieber (Centr.): Seine Partei stimme einhellig für die Vorlage (Beifall rechts), ohne auf die finanziellen und innerkirchlichen Fragen näher einzugehen. Das ordnungsmäßige Zu⸗ standekommen der Kirchengesetze genüge ihr vollkommen. Daß die katholische Kirche nicht gleichzeitig berücksichtigt werden könne, darüber sehe sie hinweg, weil sie sich überzeugt habe, daß das jetzt nicht möglich sei und weil sie die berechtigte Forderung der evan⸗ gelischen Kirche nicht unerfüllt lassen wolle. Sie nehme an, daß, wenn eine Vereinbarung mit den Bischöfen über die Ablösung der Stolgebühren nicht zu stande komme, der Staat der Kirche ein anderes Aequivalent bieten werde.

Minister der geistlichen ꝛc. Angelegenheiten Dr. Bo se:

Meine Herren! Ich kann namens der Königlichen Staats⸗ regierung die Erklärung abgeben, die mein Herr Commissarius bereits in der Commission abgegeben hat, daß die Resolution, soweit es sich um die Ablösung der Stolgebühren auch in der katholischen Kirche handelt, den Absichten der Königlichen Staatsregierung entspricht und daß demgemäß die Absicht besteht, sobald die Verständigung mit den Kirchenbehörden eingetreten sein wird, auch eine entsprechende Vor⸗ lage bezüglich der katholischen Kirche zu machen. (Bravo!)

Ein Vertagungsantrag wird abgelehnt.

Abg. von Benda (nl.): Die Staatsregierung sei seit dem Jahre 1888 schon mit diesem Gegenstand beschäftigt, aber seiner Erledigung hätten viele, namentlich finanzielle Widerstände im Wege gestanden. Als Mitglied der Generalsynode könne er bestätigen, daß diese womöglich noch weiter gehende Wünsche in Bezug auf Ablösung der Stolgebubhken ausgesprochen habe, und so bitte er das Haus, der Vorlage zuzustimmen.

Abg. von Eynern inl.): Dieser Wunsch des Abg. von Benda werde ja voraussichtlich in Erfüllung gehen; aber wenn er (Redner) für eine Vorlage zum Zwecke einer Ablösung eingetreten sei, so brauche er doch diese Vorlage darum nicht zu unterstützen. Er freue sich über die Ausführungen des Ministers, wonach durch diese Vorlage die Resolution, soweit sie die evangelische Kirche anlange, als erfüllt anzusehen sei, und daß keine weiteren Geldforderungen hierfür an das Haus gestellt werden sollten, wenn auch die General⸗ synode in einer Resolution, im Anschluß an eine längere Rede des Herrn von Kleist⸗Retzow, weit erheblichere Anforderungen an den Staatssäckel gestellt habe.

Finanz⸗Minister Dr. Miquel: 1

Meine Herren! Ich kann doch den Schluß der Debatte nicht ein⸗ treten lassen, bevor ich ein dem Herrn Abg. von Eynern unter⸗ gelaufenes völliges Mißverständniß aufgeklärt habe. Die Aeußerungen, welche in der Generalsynode gefallen sein sollen, nämentlich diejeni⸗ gen Aeußerungen, welche der Herr Abg. von Eynern vorgelesen hat, fielen nach meiner Kenntniß lediglich in der Debatte über die größere Selbständigkeit der evangelischen Kirche und hatte mit einer Geld⸗ forderung der Kirche an den Staat auch nicht den geringsten Zu⸗ sammenhang. (Hört! hört!) Damit fällt also diese Seite der Sache völlig weg. Aber zweitens, in der allerdings von der General⸗ synode angenommenen Resolution, in welcher die Nothwendigkeit oder die Zweckmäßigkeit ausgesprochen wird, auch andere Stolgebühren, namentlich die Beerdigungsgebühren und die Beichtgebühren, aufzuheben, ist von einer Mitwirkung des Staats bei dieser Thätigkeit der Kirche nicht die Rede auch, soweit ich mich

erinnere, nicht einmal von irgend einem Redner in der Diskussion ausgesprochen worden. Man kann sogar das Gegentheil ersehen, weil die Generalsynode ausdrücklich in dieser Beziehung eine provinzielle Regelung fordert. Es wäre aber auch, wie ich garnicht anstehe zu sagen, wohl nicht die Aufgabe des Staates, eine Mitwirkung ein⸗ treten zu lassen bei der Ablösung der bezeichneten Stolgebühren. Bei den Taufen, Trauungen und Aufgeboten war ein Zusammenhang mit der staatlichen Gesetzgebung festzustellen, bei den übrigen kirchlichen Gebühren nicht; da muß sich die Kirche selbst helfen, wie ich über⸗ haupt der Meinung bin, daß soweit es irgend möglich ist, die Kirche auf ihre eigenen Füße sich stellen muß auch in diesen finanziellen Fragen.

Darnach wird die Debatte geschlossen, beide Vorlagen und die Resolution werden genehmigt.

Ohne Debatte erledigt das Haus darauf noch in zweiter Berathung den Gesetzentwurf über die Gemgährung einer⸗ Staatsrente für Stolgebührenentschadigungen in der evangelisch⸗lutherischen Kirche der Provinz Hannover. 8

Schluß nach 4 ¼ Uhr.

Statistik und Volkswirthschaft.

uUunfallversicherung.

Die Landwirthschaftliche Berufsgenossenschaft Ober⸗ elsaß hat ihren Geschäfts⸗ und Verwaltungsbericht für 1891 ver⸗ öffentlicht. Es ergiebt sich daraus, daß im Laufe des Jahres 413 Un⸗ fälle angemeldet wurden, gegen 218 im Vorjahre; die Zahl hat sich somit fast verdoppelt. Die Ursache dieser starken Zu⸗ nahme liegt, wie der Bericht bemerkt, nur in dem Umstande, daß die Bestimmungen des landwirthschaftlichen Unfallversicherungs⸗ gesetzes in den Kreisen der ländlichen Bevölkerung immer mehr und mehr bekannt geworden sind, was alsdann auch zu einer häu⸗ figeren Verfolgung von Entschädigungsansprüchen, insbesondere auch bei leichteren Verletzungen, führte. Von den 413 angemeldeten Un⸗ fällen entfallen 355 auf landwirthschaftliche Betriebe, 56 auf forst⸗ wirthschaftliche Betriebe und 2 auf Gärtnereien. Von dem Vorstand sind 1891 im ganzen 392 Bescheide erlassen worden; unter diesen sind in 274 Fällen erstmalige Renten festgestellt, in 52 Fällen Ent⸗ schädigungen abgelehnt, in 66 Fällen laufende Renten abgeändert worden. Außerdem sind 55 angemeldete Unfälle nicht zur Entschädi⸗ hung gelangt, weil dieselben, infolge völliger Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit der Verletzten, vor Beginn der 14. Woche er edigt waren. An Unfall⸗Entschädigungen sind 42.642 gezahlt worden und zwar: a. für Erwerbsunfähigkeit: Kosten des Heilverfahrens 908,09 ℳ, Renten an Verletzte 36 658,92 ℳ, b. bei Todesfällen: Beerdigungskosten 1034 ℳ, Renten an Wittwen Getödteter 1400,70 Renten an Kinder Getödteter 1466,85 ℳ, Renten an Ascendenten 83,05 ℳ, c. bei Unterbringung im Krankenhaus: Renten an Kinder im Krankenhaus untergebrachter Verletzten 66,65 ℳ, Kur⸗ und Ver⸗ pflegungskosten an Krankenhäuser 1023,95 Die Zahl der beim Schiedsgericht eingegangenen Berufungen hat sich im Ver⸗ gleich zu den Vorjahren bedeutend erhöht; dieselbe beträgt 51 gegen 10 im Jahre 1890. Hierzu kömmen noch vier Fälle, welche aus dem Jahre 1890 als unerledigt übernommen worden sind. 50 dieser Fälle sind während des Jahres zur Erledigung elangt, so daß am Schluß desselben sich fünf derselben noch in der Schwebe befanden. In neun Fällen ist der Recurs an das Reichs⸗Versicherungsamt ein⸗ gelegt worden, und zwar in acht Fällen seitens des Vorstandes. Die Verwaltungs kosten der Genossenschaft beliefen sich auf 22 404 ℳ, um 7915 höher als 1890. Für das Jahr 1891 berechnet sich die Summe, welche im Jahre 1892 durch die Umlage zu erheben ist, auf rund 36 858 ℳ, nämlich: Unfallentschädigungen 42 628,56 ℳ, Ver⸗ waltungskosten 22 404,27 ℳ, Ausgabe⸗Ueberschuß aus 1890 3893,21 ℳ, Ausfälle der Umlagebeiträge pro 1890 47,75 ℳ, an die Gemeinden zu erstattende Portoauslagen für Einsendung der Umlagebeiträge und Rücksjendung der Heberollen ca. 240 ℳ, 4 % ige Vergütung an die Gemeinden für die Einziehung der Beiträge ca. 2500 ℳ, in Summaẽ 71 713,79 ℳ; hiervon sind in Abzug zu bringen die Einnahmen des Jahres 1891 mit 34 855,85 Der Beitraascosffizient hat sich für die Umlage 1891 von 1,13 pro 1000 Arbeitslöhne auf 1,60 erhöht. Durch die gründliche Revision der Unternehmer⸗Verzeichnisse wird sich die Zahl der ver⸗ sicherten Betriebe um mindestens 50 %, von 48 479, die das Genossenschaftskataster Ende 1890 aufwies, auf ungefähr 73 000, so mit um etwa 25 000 Betriebe erhöhen.

Zur Arbeiterbewegung.

Auf dem internationalen Metallarbeiter⸗Congreß, der in Brüssel im August 1891 stattfand, war zwischen den Abge⸗ sandten die Solidarität der Corporationen in allen Ländern vereinbart worden. Auf Grund dieses Uebereinkommens hat der Secretär der Nationalen Vereinigung der Metall⸗ arbeiter Belgiens an den Vertrauensmann der deutschen Metallarbeiter Segitz die Mittheilung ge⸗ langen lassen, daß die belgischen Arbeiter, wenn das allgemeine Stimmrecht (bei den politischen Wahlen) nicht bewilligt werde, entschlossen seien, den allgemeinen Ausstand zu proclamiren. Der belgische Secretär fragt nun, wie wir einer Nürnberger Correspondenz der Berliner „Volksztg.“ entnehmen, bei dem deutschen Vertrauensmann an, ob er im Falle des allgemeinen Strikes auf finanzielle Unter⸗ stützung rechnen könne. Ueber die ungünstige Antwort des deutschen Vertrauensmanns Segitz theilt die „Volksztg.“ Folgendes mit: . 1

Der Vertrauensmann erklärt dem belgischen Collegen, daß die Arbeitslosigkeit in der Metallindustrie eine große sei; in Berlin allein seien 10 000 Metallarbeiter arbeitslos und in Hamburg, Leipzig, Chemnitz, Frankfurt am Main, Dresden, München, Nürnberg und der Rheinprovinz stehe es nicht viel besser. Alles, was unter solchen Umständen aufgebracht werde, gehe drauf für Unter⸗ stützungen Arbeitsloser und Gemaßregelter, für Prozeßkosten und kleinere Strikes. Eine bedeutende Unterstützungssumme werde deshalb Deutschland nicht aufbringen. In Deutsch⸗ land, so äußerte Herr Segitz ferner, sei die Idee eines Generalstrikes unpopulär und undurchführbar. Die beschäftigungslosen hungernden Arbeiter würden nicht einen Augenblick zögern, die Strikenden zu er⸗ setzen und die opferwilligen Genossen würden auf der Landstraße liegen. Die belgischen Verhältnisse könne er nicht sicher beurtheilen, doch erwarte er sorgsame Erwägung aller Umstände. Was in der deutschen Arbeiter Kräften stehe, würden sie eventuell thun, viel ver⸗ sprechen könnten sie nicht.

Der rheinisch⸗westfälische Bergarbeiterverband wird, wie der „Köln. Ztg.“ aus Dortmund telegraphirt wird, als Abgesandte zum internationalen Bergarbeiter⸗Con greß nach London die Verbandsmitglieder Schröder und Bunte und den früheren 5 Möller schicken. b

Ueber Ausstände und Arbeitseinstellungen liegen heute folgende Mittheilungen vor:

In Düsseldorf befinden sich die Damenschneider der Firma Heinrich Scheuer nach einer Veröffentlichung im „Vorwärts“ wegen einer Werkstattordnung in Streitigkeiten und haben sämmtlich am letzten Sonnabend geköündigt.

In Barmen haben in der Fabrik von Püttmann u. Co. 8 Präger wegen Lohnkürzung die Arbeit niedergelegt.

Aus Hamburg wird dem „Vorwärts“ ferner berichtet, daß