Auslandes, der Reichskanzler, die Generalität, die Chefs des Civil⸗, des Militär⸗ und des Marinecabinets, die Staats⸗ Minister und der des Evangelischen Ober⸗ Kirchenraths, der inister des Königlichen Hauses, Vertreter der Präsidien beider Häuser des Landtags, der Präsident der Ober⸗Rechnungskammer, der Präsident des Reichsgerichts und der Ober⸗Reichs⸗Anwalt, die Staassecretäre des Reichs⸗Schatzamts und des Auswärtigen Amts, die stimm⸗ führenden Bundesrathsbevollmächtigten der evangelischen Fürsten und freien Städte, sowie Vertreter der Stadt und des Kreises Wittenberg.
Die Stadt hatte zu ihrem Ehrentage ein festliches Ge⸗ wand angelegt. Vom Bahnhof aus war die in die Stadt führende Straße zu beiden Seiten mit Masten eingefaßt, die mit Guirlanden umwunden waren und von denen Fahnen in den deutschen Farben flatterten. Am Ein⸗ gange zur Stadt, dicht vor dem Lutherhause, war eine reich bekränzte und geschmückte Ehrenpforte erbaut, vor dem Lutherhause eine Tribüne für die Allerhöchsten Herr⸗ schaften und deren Gäste errichtet, von der aus Seine Majestät den historischen Festzug in Augenschein nehmen wollte. In der Collegienstraße, die vom Lutherhause beim Marktplatz vorbei nach der Schloßkirche führt, hatte sich jedes Haus mit Fahnen, Kränzen und Guirlanden geschmückt. Der Marktplatz, auf welchem die Standbilder Luther's und Melanchthon’s vor dem Rath⸗ hause stehen, war von einer Reihe hoher mit Guirlanden ver⸗ bundener Masten umgeben; ander südlichen Front des Rathhauses war für die fürstlichen Gäste ein Podium errichtet, das gleich⸗ falls in würdiger Weise decorirt war.
Schon in der Frühe entfaltete sich bei herrlichem sonnigen Wetter ein reges Leben. Von den geladenen Fürstlichkeiten waren etwa in der zehnten Stunde Ihre Königlichen Hoheiten die Prinzen Friedrich Heinrich und Joachim Albrecht von Preußen sowie der Großherzog von Sachsen und der Großherzog von Oldenburg, Ihre Hoheiten der Herzog von Sachsen⸗Altenburg und der Herzog von Anhalt sowie Seine Durchlaucht der Fürst von Schwarzburg⸗Sondershausen ein⸗ getroffen und hatten sich alsbald nach dem Podium vor dem Rathhause begeben. Bei der Anfahrt daselbst wurden Höchst⸗ dieselben von dem Minister der geistlichen ꝛc. Angelegenheiten Dr. Bosse und dem Präsidenten des Evangelischen Ober⸗ Kirchenraths Dr. Barkhausen begrüßt. Am gestrigen Abend waren Ihre Durchlauchten der Fürst zu Waldeck und Pyrmont, der Fürst zu Schwarzburg⸗Rudolstadt, der Fürst Reuß älterer Linie sowie in Vertretung des Fürsten Reuß jüngerer Linie Seine Durchlaucht der Erbprinz ngeneffer Seine Maäjestät der König von Württemberg war durch den gestern Abend er⸗ folgten Tod Ihrer Majestät der Königin Olga am Erscheinen behindert und hatte sich deshalb genöthigt gesehen, die bereits angetretene Fahrt nach Wittenberg zu unterbrechen.
Um 11 Uhr Vormittags erfolgte die Ankunft Ihrer Majestäten mittels Sonderzuges. Mit Allerhöchstdenselben zugleich trafen ein: Seine Königliche Hoheit der Prinz Heinrich von Preußen, Ihre Königliche Hoheit die Prinzessin Friedrich Leopold von Preußen, Seine Königliche Hoheit der Prinz Albrecht von Preußen, Regent des Herzogthums Braunschweig, in Vertretung des Herzogs von Sachsen⸗Meiningen Seine Hoheit der Erbprinz, Ihre Königliche Hoheit die Erbprinzessin von Sachsen⸗ Meiningen, in Vertretung des Großherzogs von Baden Seine Königliche Hoheit der Erbgroßberzog, Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Hessen, Ihre Königlichen Hoheiten der Erbgroßherzog und die Erbgroßherzogin von Oldenburg, in Vertretung des Großherzogs von Mecklenburg⸗Schwerin Seine Hoheit der Herzog Johann Albrecht, ferner Seine Hoheit der Herzog Ernst Günther zu Schleswig⸗Holstein, für den Fürsten zu Schaumburg⸗Lippe Seine Durch⸗ laucht der Prinz Adolf, für Ihre Majestät die Königin von Großbritannien und Irland Seine Königliche Hoheit der Herzog von York, für Ihre Majestät die Königin⸗Regentin der Niederlande der Ober⸗Mundschenk Baron van Harden⸗ broek, für Seine Majestät den König von Dänemark Seine Hoheit der Prinz Johann zu Schleswig⸗Holstein⸗ Sonderburg⸗Glücksburg und für Seine Majestät den König von Schweden und Norwegen Seine Königliche Hoheit der Kronprinz von Schweden und Norwegen.
ls Vertreter des Großherzogs von Mecklenburg⸗Strelitz war der Staats⸗Minister von Dewitz, für den Herzog von Sachsen⸗Coburg⸗Gotha der Wirkliche Geheime Staatsrath und Staats⸗Minister Strenge entsandt. Außerdem waren be⸗ reits gestern Abend der Bürgermeister von Lübeck Dr. Behn, der Bürgermeister von Bremen Dr. Pauli und der Bürgermeister von Hamburg Dr. Mönckeberg eingetroffen.
Am Bahnhof fand kein officieller Empfang statt. Als die Majestäten in die Stadt einfuhren, ertönte von allen Thürmen Glockengeläute. Zuerst fuhren Ihre Majestät die Kaiserin und Königin, von der Menge mit Jubel und aus den Fenstern mit Tücherschwenken begrüßt, um das Rathhaus herum nach der Schloßkirche; in dem folgenden Wagen saßen die drei ältesten Kaiserlichen Prinzen. Ihre Majestät begaben Sich direct in die Sacristei der Schloßkirche, wo Allerhöchstdieselbe von dem Unter⸗Staatssecretär D. von Weyrauch, dem Ministerial⸗Director Dr. Bartsch, dem Ober⸗Consistorial⸗Rath Hubert und dem Ober⸗Consistorial⸗ Rath Döblin empfangen und unter Vorantritt der Oberinnen der deutschen Diakonissenhäuser auf den für Allerhöchstdieselbe auf der südlichen Empore zwischen Altar und Kanzel hergerichteten Platz geleitet wurden.
Seine Majestät der Kaiser und König, Allerhöchstwelcher die Uniform des Regiments Gardes du Corps angelegt hatten, begaben Sich nach der Ankunft in Begleitung des Fürsten zu Stolberg⸗ Wernigerode unter dem Jubel der Menge nach Markt⸗ platz, wo eine Ehrencompagnie des Infanterie⸗Regiments Graf Tauentzien von Wittenberg Nr. 20 aufgestellt war. Seine Majestät verließen den Wagen vor dem Platz, um die Ehrencompagnie, deren Musikcorps das „Heil Dir im Siegerkranz“ spielte, abzuschreiten und alsdann den Parademarsch abzunehmen. Hierauf näherten Sich Seine Majestät dem Aufgang zum Podium am Rathhause, auf dem die Fürsten und deren Vertreter bereits versammelt waren, während auf dem weiten Marktplatz im Halbkreise vor der südlichen Front des Rathhauses der Reichkanzler, das Staats⸗ Ministerium, die Generalität, die Directoren des Prediger⸗ Seminars, die Vertreter der evangelischen Kirchenregierungen und Vertreter der Stadt und des 5 Wittenberg Auf⸗ stellung genommen hatten. Dort wurde Allerhöchstderselbe von dem Bürgermeister der Stadt Wittenberg Dr. Schild, der von den Mitgliedern des Magistrats und der Stadtverordneten⸗
Kaiser Friedrich's Majestät, mit einer Hingebung und
Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster Kaiser und König!. Aller⸗ gnädigster Kaiser, König und Eure Kaiserliche und Königliche Majestät haben mit Allerhöchstihren Durchlauchtigsten Gästen Einzug bei uns gehalten, um die erneuerte Schloßkirche zu einem Heiligthum der gesammten evangelischen Christenheit zu weihen. Welch wunder⸗ bare Wege hat Gott unser Volk geführt seit dem Tage, an welchem Kaiser Karl V. in diese Stadt einzog, bis heute, wo Eure Kaiserliche und Königliche Majestät durch die Weihe der Kirche, in welcher die Gebeine Luther's ruhen, dem Werke und den Manen des Reformators huldigen. Die Geschichte der Schloß⸗ kirche ist mit Recht eine Deutsche Reichs⸗ und Kirchen⸗ geschichte im verjüngtem Maßstabe genannt worden, an sie ist das Gedächtniß dreier edler Fürstenhäuser geknüpft. Besonders aber haben die Gnadenerweisungen nicht aufgehört, seitdem Wittenberg unter des erlauchten Hohenzollernhauses ruhmvollem Scepter steht. Davon zeugen unsere Bauten, davon unsere Denkmäler. Und nun erhält diese Stadt, und mit ihr die ganze evangelische Christenheit heute noch das kostbare Geschenk der herrlich erneuerten Schloßkirche. Geruhen Eure Kaiserliche und Fbaigfhe. Majestät, huldreichst zu gestatten, daß ich meinen allerunterthänigsten Willkommensgruß mit dem ehrerbietigsten Danke für dieses Geschenk verbinde!
Seine Majestät der Kaiser erwiderte hierauf, wie Er nur das Werk vollendet habe, zu welchem Allerhöchstsein Groß⸗ vater den Grund gelegt und welches Kaiser Friedrich mit allen Fibern seines Herzens gefördert habe. eide Kaiser hätten das Werk nicht mehr vollendet gesehen. Indem Er jetzt das schöne Gotteshaus der evangelischen Christenheit über⸗ gebe, hoffe Er, daß es dieser wie der Stadt Wittenberg eine Mahnung zur Gottesfurcht, zur Königstreue und Loyalität sein werde. Alsdann reichten Seine Majestät dem Bürger⸗ meister dankend die Hand und betraten darauf das Podium zux Begrüßung der Fürsten.
Nunmehr erfolgte die Huldigung der auf dem Markt⸗ platz Versammelten, die vor ihrem Kaiser und König sich tief verbeugten, während Seine Majestät Sich in huldvoller Weise verneigten.
Es war 11 ½ Uhr geworden, als von hier aus unter Glockengeläute der feierliche Kirchgang seinen Anfang nahm. Den Zug, der sich durch ein Militärspalier bewegte und von einem militärischen Detachement geschlossen wurde, eröffneten die zeitigen Directoren des Wittenberger Prediger⸗Seminars, Superintendent Quandt, Pro⸗ fessor Reinecke und Professor Schmidt; hinter diesen schritten zunächst die Hof⸗ und Domprediger Vieregge und Faber sowie der Verfasser der officiellen Festschrift (Friedrich der Weise und die Schloßkirche von Wittenberg) Consistorial⸗ Rath D. Köstlin aus Halle. Sodann folgten unter Führung des Ersten General⸗Superintendenten der Provinz Sachsen D. Schultze, sowie der General⸗Superintendenten Ober⸗Consistorial⸗Rath Braun II. aus Berlin und Wirklicher Ober⸗Consistorial⸗Rath D. Erdmann aus Breslau, die übrigen preußischen General⸗ Superintendenten, der Feldpropst und der Abt von Loccum; es schlossen sich an die Vertreter der evangelischen Kirchen⸗ regierungen, der Rector, der Universitätsrichter und die vier Decane der Universität Halle⸗Wittenberg (der nicht evan⸗ gelische Decan der medizinischen Facultät wurde durch einen evangelischen Professor dieser Facultät ver⸗ tretenz; der Kreisausschuß des Kreises Wittenberg, die Vertreter der Stadt Wittenberg und die evangelischen Geistlichen von Wittenberg, das Festcomité, die Generalität, die Staatssecretäre des Deutschen Reichs, der Präsident des Reichsgerichts und die Bundesrathsbevollmächtigten; der Präsident der Ober⸗ Rechnungskammer und Vertreter der Präsidien beider Häuser des Landtags; die Chefs des Civil⸗, des Militär⸗ und des Marine⸗ cabinets; das Staats⸗Ministerium, der Minister des Königlichen Hauses, die inactiven Staats⸗Minister und der Präsident des Evangelischen Ober⸗Kirchenraths. Alsdann nahten die hohen Fürstlichen Gäste nebst ihrem Gefolge, und zum Schluß Seine Majestät der Kaiser und König, von Allerhöchstseinem Gefolge begleitet. Sobald Seine Majestät Sich dem Platz vor der Thesen⸗ thür, neben der für Allerhöchstdenselben ein Zelt (mit der Inschrift Nisi Dominus frustra) errichtet war, näherten, intonirten die auf dem Thurme der Schloßkirche aufgestellten Bläser das alte Lutherlied: „Ein’' feste Burg ist unser Gott“. Alsbald betraten Seine Majestät und die Fürstlichen Gäste das Zelt, während die anderen Theilnehmer an dem Kirchgang sich in der Reihenfolge, wie sie gekommen, zur anderen Seite der Thesenthür und gegenüber dem Zelt im Halbkreise auf⸗ gestellt hatten. Die den Bau leitenden und ausführenden Architekten hatten zwischen der Thesenthür und dem Kaiserlichen Zelt Aufstellung genommen, rechts und links vor dem Aufgang zum Zelt der Minister der geistlichen, Unterrichts⸗ und Medi⸗ zinal⸗Angelegenheiten Dr. Bosse, sowie der Präsident des Evangelischen Ober⸗Kirchenraths, Wirkliche Geheime Rath Dr. Barkhausen. Auch zahlreiche Geistliche sowie Vertreter studentischer Corporationen aus Halle hatten sich hier ver⸗ sammelt.
Nunmehr trat Staats⸗Minister Dr. Bosse hervor und richtete an Seine Majestät folgende Ansprache zur Uebergabe des Schlüssels:
Eure Majestät stehen hier im Angesichte des Gotteshauses, an dessen Thür D. Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen angeschlagen hat. Die Stätte, auf der wir stehen, die Kirche, auf welche Eure Majestät hier blicken, ist heiliges Land. Sie ist die Wiege der deutschen Reformation. Die Stürme der Zeiten sind darüber hingezangen. Zwei⸗ mal hat der Krieg die Grundvesten dieses Gottteshauses erschüttert. Es hatte schwer gelitten und war hin⸗ fällig geworden. Gott aber hat es erhalten als ein Zeugniß für die Lebenskraft der evangelischen Kirche.
Aus Anlaß der vierhundertjährigen Wiederkehr des Geburtsjahres Luther's faßte des in Gott ruhenden Kaisers und Königs Wilhelm des Ersten Majestät den hochherzigen Entschluß, das ehrwürdige Bau⸗ denkmal in einer der Würde seiner geschichtlichen Bedeutung ent⸗ sprechenden Gestalt zu erneuern.
Diesen Gedanken hat Eurer Majestät Hochseliger Herr Vater, K b reue ohne Gleichen unablässig gepflegt und der künstlerischen Ausführung ent⸗ gegengeführt.”
Beiden unvergeßlichen Herrschern wird dafür von allen evangelischen Herzen tiefer Dank gezollt. 1
In pietätvoller Liebe haben Eure Kaiserliche und Königliche Majestät das Erbe Allerhöchstdero großer Vorfahren nicht nur als Schirmherr der evangelischen Landeskirchen Preußens, sondern auch als Erneuerer dieses Gotteshauses übernommen.
als je steht heute das Denkmal der Reformation, die Ruhestätte Luther’'s und Melanchthon's, vor unseren Augen, eine unvergleichliche Zierde für diese altberühmte Stadt, ein weit in die Lande hinaus⸗
Gott hat Eurer Majestät das Werk gelingen lassen. Herrlicher
Die erneuerte Schloßkirche erharrt nunmehr des Befehls Eurer Majestät, um aufs neue die kirchliche Weihe zu empfangen als eine heilige Stätte, an welcher Gottes Wort rein und lauter gepredigt und die heiligen Sacramente einsetzun ee verwaltet werden sollen.
Eure Majestät bitte ich als Allerhöchstdero Minister der geist⸗ lichen Angelegenheiten ehrfurchtsvoll um die Allergnädigste Erlaubniß, daß der Meister, dessen bewährter Hand Eure Majestät das Werk der baulichen Erneuerung anvertraut haben, den Schlüssel der Thesen⸗ thür überreichen dürfe, um dieses Heiligthum für den Weiheact und den gottesdienstlichen Gebrauch wiederum öffnen zu lassen.
Nachdem Seine Majestät die Erlaubniß ertheilt hatten, ge⸗ ruhten Allerhöchstdieselben aus der Hand des bauleitenden Architekten, Geheimen Ober⸗Bauraths Adler den Schlüssel zu übernehmen und ihn sodann mit Worten des Dankes und der Genugthuung über das vollendete Werk dem Präsidenten des Evangelischen Ober⸗Kirchenraths zu überreichen, welcher mit folgender Ansprache dankte:
Allerdurchlauchtigster Großmächtigster Kaiser und König! Aller⸗ nädigster Herr! Mit tiefem ehrfurchtsvollen Danke nehme ich den Schlüssel aus Eurer Majestät Händen in Empfang, welcher das in fäüchem Kve; erneuerte Heiligthum der evangelischen Kirche er⸗
iecßen soll.
Ist dieses Kleinod den evangelischen Landeskirchen Deutschlands ein Unterpfand der treuen Fürsorge, mit welcher Eure Majestät und die evangelischen Fürsten Deutschlands Ihres hohen Amtes als Pfleger Hüter und Schirmer des evangelischen Glaubens zu walten eflissen sind, so soll es den Dienern der evangelischen Kirche Wahr⸗ zeichen und Mahnung sein, in treuem Eifer auf dem Grunde des Wortes Gottes und in dem Sinne der gottbegnadeten Reformatoren fortzuarbeiten, um die Seelen dem Herrn zu gewinnen.
Und laut und hell soll der Mahnruf hinausschallen in das evangelische Volk: Haltet fest in deutscher Treue, in deutscher Frömmig⸗ keit am Glauben der Väter an Jesum Christum den Gekreuzigten und Auferstandenen, fleißigt Euch erbarmungsreicher, duldsamer Liebe gegen alle Mitbrüder, getröstet Euch der “ Hoffnung auf das den bußfertigen Sündern in Christo Jesu allein durch Gottes Gnade verheißene ewige Leben.
Das walte Gott in Ewigkeit. Amen!
Darauf übergab Präsident Dr. Barkhausen den Schlüssel dem Superintendenten Quandt etwa mit folgenden Worten: „Auf Befehl Seines Majestät des deutschen Kaisers und Königs von Preußen, des Schirmherrn und Bauherrn dieses Gottes⸗ hauses, und kraft des mir übertragenen Amtes als Vorstehers der höchsten kirchenregimentlichen Behörde dieser Lande, über⸗ gebe ich Ihnen, als dem berufenen Diener am Worte diesen Schlüssel, um die Thür des erneuerten Gotteshauses zu öffnen. Möge diese Pforte Allen, welche durch dieselbe eintreten, werden zur Thüre zum Himmelreich. Amen!“
Nunmehr öffnete Superintendent Quandt die Thesenthür, und unter den Klängen der vom Kosleck'schen Bläserchor vor⸗ getragenen Festhymne trat der Zug in derselben Reihenfolge, wie er vom Marktplatz gekommen, durch die Thesenthür in das Gotteshaus. Die General⸗Superintendenten nahmen um den Altar Aufstellung; vor den Altar traten die General⸗ Superintendenten D. Schultze, D. Braun und D. Erd⸗ mann; in den reichgeschnitzten und mit Wappen verzierten Chorstühlen, rechts und links vom Altar im Chor, nahmen die Fürstlichkeiten Platz; rechts am Altar die Vertreter der vier ausländischen Fürsten, links vom Altar, zwischen diesem und dem Fürstengestühl Seine Majestät der Kaiser und König auf dem für Allerhöchstdenselben bestimmten Kaiserstuhl; ferner vor dem Fürstengestühl links der Reichskanzler, der Minister der eistlichen ꝛc. Angelegenheiten Dr. Bosse mit dem Präsidenten r. Barkhausen und den übrigen Mitgliedern des Staats⸗ Ministeriums sowie der Fürst zu Stolberg⸗Wernigerode; vor dem Fürstengestühl zur Rechten die Generalität, im Schiff links hinter dem Grabmal Melanchthon’'s das Fürstliche Gefolge, rechts hinter dem Grabmal Luther’s die Vertreter der Kirchenregierungen; dahinter und auf der Empore saßen die übrigen zu dem Weiheact Geladenen; im Chor und in dessen Nähe hatten auch die Oberinnen der deutschen Diaconissen⸗ häuser, welche vorher Ihre Majestät auf die Empore geleitet hatten, Platz erhalten.
Nachdem die Hymne verklungen, stimmte die Gemeinde den Choral: „Komm,, heiliger Geist, Herre Gott“ an, worauf der Erste General⸗Superintendent der Provinz Sachsen D. Schultze folgende Weiherede hielt:
Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Hohe Festversammlung! Theure evangelische Brüder! In ernster, tiefbewegter Zeit ein Tag des Heils! und die Glocken läuten's weit durch das Land, und in der betenden Gemeinde tönt es wieder „Ein’' feste Burg ist unser Gott!“ 1. Was weiland Friedrich Wilhelm IV. ahnungsvoll begonnen, als er die 95 Zeugen, aus Erz gegossen, in diesen hehren Tempel ein⸗ gefügt ; was der glorreiche Schöpfer deutscher Einheit als ein heiliges Vermächtniß zurückgelassen; was der Dulder auf dem Thron in den Tagen seiner Kraft kunstsinnig und begeistert in die Hand genommen: der Kaiserliche, erhabene Gebieter des Reichs, Dem's unter Gottes Gͤnade und Segen beschieden, das Werk in hochherziger Pietät zu för⸗ dern und glücklich zu vollenden, Er opfert es heute dem Herrn; und um Ihn geschaart, feiert das evangelische Deutschland, in seinen fürft⸗ lichen Häuptern und all seinen Ständen, ein Opfer des Danks und des Bekenntnisses, dem König der Könige zu Ehren, den Vätern in Christo zum Gedächtniß, den nachkommenden Geschlechtern zum Zeugniß: — ehrwürdiges Gotteshaus, Geburtsstätte deutscher Re⸗ formation und zugleich ihrer Helden Grab, von Alters her dem Volke heilig und nun verjüngt in wunderbarer Schöne, sei uns gesegnet, sei uns gegrüßt! In Deinem Schmuck ein Spiegel: was deutsche Kunst noch heute kann, — bleibt Deine Krone doch jene Thür, die einer ge⸗ fangenen Christenheit die Thür zur Freiheit ward; Dein höchster Rußm; das eherne Lutherwort, das allem Menschenruhm ein Ende setzt. Die Hammerschläge dort, sie zitterten durch die deutsche Seele nach. „Als wären die Engel Selbst Botenläufer gewesen“, so zog der Weckruf des deutschen Gewissens von Ort zu Ort, von Haus zu Haus; und heute noch, soweit die Kirche des Worts ihre Kinder unter ihre Flügel sammelt, ist dieses „Evangklium der Herrlichkeit und Gnade Gottes“ ihr höchster Schatz: „wWir werden ohne Verdienst gerecht, aus Seiner Gnade, durch die Erlösung, so durch Jesum Christum geschehen ist.“
8 (Röm. 3, 24.)
„Ohne Verdienst“; ein König läßt sich nichts abmarkten: er ver⸗ weigert entweder, oder er schenkt; — und Er, der ewige König, der immel und Erde in seinen Händen trägt? „Mein Haus ist ein Bet⸗ us, kein Kaufhaus“, spricht der Herr Herr. Daß die Gnade mit dem flehenden Sünder nicht um Werke handelt und sich mit Opfern nichts abhandeln läßt; daß die Vergebung unserer Sünden ein könig⸗ lich Geschenk: um Christi willen dem Glauben allein gegeben, und mit der ausgestreckten Hand des Glaubens allein genommen, — „von dem Artikel kann man nicht weichen noch nachgeben, es falle und Erde, oder was nicht bleiben mag!“ Dem Heiland seine
Kittlerkrone, die theuer erworbene: die Krone, die er mit Keinem theilt! auf dem Symbolum stehen wir, sterben wir. Ob Deutschland es mit einem tiefen Riß bezahlt, ob auch der
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8½ 8*
Versammlung umgeben war, durch folgende Ansprache begrüßt:
ragendes Zeugniß für den Bestand der evangelischen Wahrheit.
Schmerz um die vermißten Brüder nicht in uns vernarbt, — zwar,
Reformation war ein ddiese Welt hineingesprochen; und es von allen Zungen und aus allen
wir balten fest und unverbrüchlich an dem Credo der Apostel, das
die Getrennten noch mit uns eint, aber treu nicht minder und fest an dem Bekenntniß unserer Väter, das uns um des Gewissens willen trennt; bis einst die Ewigkeit es lehren und verklären wird: die Wort, das Gott, der Allerhöchste, Selbst in
Sprachen in Einem Chor erschallen wird: Gerecht allein aus Glauben. “ . In dieser Gewißheit hat unsere theure evangelische Kirche nicht nur den Trost für ein zerbrochenes Sünderherz, den einigen Trost im Leben und im Sterben; sondern es rauschen in ihr auch die Brunnen, aus denen Kraft und Jugend quillt; Genesungskräfte für eine
kranke Welt.
„Ist Jemand kühn, so bin ich auch kühn!“ darf der Protestantis⸗
mus mit dem Avpostel sprechen. Er gab der Obrigkeit ihr göttlich Siegel zurück; dem Volke seine Bibel, der Schule ihren Katechismus,
das güldene Kleinod; dem Hause seine Ehre, dem Gewissen sein heilig Recht. In diesem „Allein aus Gnaden“ ist Alles unser: die Ge⸗ bundenheit in Gott wird wahre Freiheit; was Verarmung scheint: der Verlust an allem eigenen Ruhm, ist uns Gewinn; im Frieden Gottes haben wir die Waffen wider Unzufriedenheit und finstres Grollen.
„Wer hier am meisten glaubt, der wird am meisten schützen. Nur.
an dem Strom der Gnade kann die Todeswunde heilen, daran die Völker heut zu verbluten drohen; nur so aus Nacht und Dunkel der Morgen tagen, da Brüder einträchtig bei einander wohnen: daß, wer da niedrig ist, sich seiner Höhe rühme, und wer da reich ist, sich rühme seiner Niedrigkeit.
Kirche des Evangeliums! auch Du, die Er reich gemacht, rühme Dich Deiner Niedrigkeit! Der Tag von Wittenberg, der Tag des Bekenntnisses, sei auch ein Tag der Beichte: „Du, Herr, bist gerecht, wir aber müssen uns schämen.“ Aber die Wahrheit soll fröhlich das Haupt aufheben; und durch die Gnade entsündigt, werfen wir Panier auf: „Der Herr, der unsere Gerechtigkeit, ist unsere Stärke!“ Aus Brand und Feuersgluthen war die Herrlichkeit dieses neuen Hauses größer, denn die des ersten war; in Gottes heiligen Flammen geläutert, wird auch die Kirche an Haupt und Gliedern herrlicher erstehen. Die alte Thesenthür, sie ist zerfallen. Auf, Volk des Herrn! ziehe Macht an, Macht des Glaubens, daß ihr Lutherzeugniß in die Tafeln des deutschen Herzens eingegraben bleibe, daß Ströme des Lebens und der Liebe sich von diesem Tag ergießen! Und wenn heut' Deine 15.— sich um die Losung schaaren: „Ich und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen“; wenn sie, wie einst die Fürsten am Tag von Augsburg, nun mit dem Kaiserlichen Haupt an ihrer Spitze, sich zu dem großen Evangelium bekennen: „gerecht aus Gnaden durch den Glauben“, — es sei auch unser Gelübde vor aller Welt, und in des Herrn Kraft wollen wir es halten.
Dein sind wir, Du Gott unserer Väter, Dein bleiben wir auch! Amen.
Und so, kraft meines Amts und aus der Vollmacht, die mir vom Kaiser, unserem Könige, dem erhabenen Schirmherrn unserer Kirche,
hierzu verliehen ist, übergebe ich dieses Haus zum Tempel dem drei⸗
einigen Gott in Seinen Dienst; und Alles, was beten kann, stimme betend in die Weihe mit ein:
Barmherziger, gnädiger Gott, wir danken Deiner großen Güte, daß Du vormals an diesem Ort ein Gedächtniß Deiner Wunder gestistet, und daß Du uns gegeben hast, dies Haus Dir neu zu auen. Wir bitten Dich von ganzem Herzen: mache Dich nun auf zu dieser Deiner Wohnung, mit den Mitteln Deiner Gnade; laß Deiner heiligen Taufe Werk an diesem Taufstein kräftig walten, laß Dein alleinseligmachendes Wort auf dieser Kanzel erschallen, decke diesen Altar mit den gnadenreichen Gaben Deines Tisches, heilige diese Orgel durch die Lieder Deines Lobes, daß also dies Haus Dein Haus werde. Nimm auch nicht weg. Du treuer Gott, von dieser Stätte das Regiment Deines Gesalbten, erhalte Dein Wort und Saecrament lauter und rein an diesem Ort, und alles Volk, das Du jetzt und künftig Dir hier sammelst, erleuchte und heilige, daß es Deine Behausung werde in dem Heiligen Geist.
Gedenke nach Deiner Güte des Kaiserlichen Bauherrn, und wie Er Dir das Haus zugerichtet hat, so baue Du Ihm Sein Haus und fülle es mit Gnade und mit Frieden. “
Segne auch den Baumeister dieses Hauses, und Alle, die mit Rath und That an demselben geholfen und gearbeitet haben.
Und Alle, die als Deine Gemeinde an dieses Haus gewiesen sind, sonderlich die zukünftigen Prediger Deiner Wahrheit, weide
ier mit Deinem Wort, sende allzeit treue Hirten und Lehrer an
diese Stätte und gieb den Worten Kraft und Segen, hier und draußen, daß diese Stadt, daß unsre ganze Kirche, unterm Schutz unsers geliebten Kaisers sich baue, wie vor Alters, zu einer Stadt auf dem Berge. Du starker, barmherziger Gott, der Du verheißen hast: „Bittet, so wird euch gegeben“, erhöre solch unser Gebet um Deines Namens Ehre willen, durch Jesum Christum Deinen Sohn, unsern Herrn. Amen.
Als der Geistliche das Weihegebet begann, kniete die ganze Gemeinde nieder; zugleich sang der Domchor in leisen Tönen die Hymne von Bortnianski: „Du Hüter Israel's“, während die Glocken der Schloßkirche und der benachbarten Gemeinden die Vollziehung des Weiheacts verkündeten.
Nachdem die Weihehandlung vollzogen, begann der eigentliche Festgottesdienst mit dem vom Domchor ge⸗ sungenen Psalm: „Jauchzet dem Herrn, alle Welt“, worauf die Gemeinde den Choral: „Ein’ feste Burg ist unser Gott“ anstimmte. Superintendent Quandt hielt die Liturgie, bei der die Bibelstelle Römer 5, 1 und 2 verlesen wurde. Nach dem abermaligen Gesang der Gemeinde bestieg der Hof⸗ und Dom⸗ vrecnger Vieregge die Kanzel und nahm das Wort zu folgender Predigt:
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da war, der da ist und der da kommt. Der Himmel ist sein Stuhl und die Erde seiner Füße Schemel, doch läßt er sich's gefallen, zu wohnen bei den De⸗ müthigen, und einzukehren, wo ihm treue Hände einen Altar bauen, und wo reine Herzen ihn anbeten im Geist und in der Wahrheit. Er fördere das Werk unserer Hände! er segne das Zeugniß der Lippen, die seinen Ruhm verkündigen! Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen! Halleluja! 88
Dies Gotteswort, welches als erster Predigttext an dieser er⸗ neuerten Stätte der Verkündigung laut werden soll, steht geschrieben im II. Mose, 3. Vers 4 und 5, also lautend:
„Da aber der Herr sahe, daß Moses hinging zu sehen, rief ihn Gott aus dem Busche und sprach: Mose, Mose! Und er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Tritt nicht herzu, ziehe deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, da du auf stehest, ist ein heiliges Land.“
Ein beiliges Land! Ist es nicht wirklich an dem, daß im gegen⸗ wärtigen Augenblick jeder unter uns sich getragen fühlt von der einen Empfindung: „wie heilig ist diese Stätte“! Was heilige Kunst ver⸗ mag, das ist in wundervoller Weise, in Kraft und Schönheit, in Würde und Anmuth, in Schlichtheit und Mannigfaltigkeit über dies Haus ausgegossen, und ob wir zum Bollwerk aufschauen, welches wie ein Sinnbild seiner eigenen Inschrift draußen emporragt: „Eine feste Burg ist unser Gott“!’ — ob wir den feinsten Zügen nachspüren, welche hier drinnen Zeugniß geben: „Ich schäme mich des Evangelii von Christo nicht“, überall freuen wir uns solcher heiligen Schöne, und unser Herz möchte lobsingen: „Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth!“ — Und was heilige Liebe erreicht, auch dafür steht dieses vollendete Gotteshaus als ein köstliches Denkmal da. Fürstenliebe hat es gegründet, gehegt und gepflegt, einst noch im irrenden Glauben, dann im geläuterten Glauben. Königsliebe konnte das Herz nicht davon losreißen, und Kaiserliebe, unsrer Kasser Liebe, hat es hinausgeführt. Und der Großahn, im stillen Sinnen des Alters, hat es geplant, und der Sohn, mit dem
weichen, dem freudigen Herzen, hat es angefaßt und gefördert, und der Enkel, auch hier der Väter getreuer Erbe, hat es m. end Thatkraft vollenden dürfen, so daß Er heute seine heilige Lust siebt an dieses Tages Feier, Bekenntniß und Gelöbniß! Und Gengssen seiner Freude sind heute mit der Kaiserin, seiner Gemahlin, die Glieder seines Hauses. Genossen sind alle die Fürsten und Herren, die Stände und Städte, die Geistlichen und Weltlichen, die seiner Ladung freudig ge⸗ folgt sind, Zeugniß zu geben, daß es noch etwas Großes ist um die Macht evangelischer Wahrheit, und daß es auch noch nichts Geringes ist um die Macht evangelischer Einheit. 8 Endlich — was heilige Erinnerungen werth sind, auch das drängt sich hier im engen Raume mit weltbewegender Fülle. Aus den Grüften redet es von dort her, wo der Askanier altersmorsche Särge durch Kaiserliche Pietät eine würdige Ruhstatt gefunden haben, bis dort hin, wo neben ihren fürstlichen Beschützern die geistesmächtigen Helden der Reformation von ihrer Arbeit und von ihrem Kampfe schlum⸗ mern. Die Steine zeugen es, die, mehr denn einmal, in des Vaterlands Wehe zusammengebrochen und in des Vaterlands Sieg erneuert worden sind. In unsern Ohren rauscht es aus diesem „Hochwald mächtiger Gestalten“, die, rings an den Pfeilern gereiht, selbst tragende Säulen sind im Geistesdome der Christenheit, fest auf dem einen Grunde, außer dem kein anderer gelegt werden kann, welcher ist Christus. In unsere Augen leuchtet es — vom Gewölbe oben bis zum Gestühl da unten, von den Emporen hier und aus den Fenstern dort — mit manchem sinnigen Wahlspruch, mit manchem beredtsamen Bild und Wappen. — Ist es nicht also: „Der Ort, da du auf stehest, ist ein heiliges Land“ — nach Kunst, nach Liebesbeweis und Erinnerung? Und doch sehen deine Augen fragend mich an: „O warum läßt du das tiefst., das entscheidende Wort unausgesprochen?“ und du hast Recht. Aber unausgesprochen ist dieses Wort bisher nur geblieben, nicht um ver⸗ gessen zu sein, sondern um aufgesvart zu werden als höchstes und bestes. Denn heiligen im eigentlichen Sinne — das vermag nicht der Menschen Thun und Geschick, sondern das ist die Sache Gottes des Herrn. Darum — ein heiliges Land in Wahrheit ist die Scholle noch nicht, wo Menschen ihr Größtes und Bestes, ihr Schönstes und Liebstes zusammengetragen haben, sondern das ist die Stätte allein, wo wir in unmittelbarer Erfahrung die Ueber⸗ zeugung davongetragen: „Gewißlich ist der Herr an diesem Orte!“ Und der Herr war an diesem Orte, als Luther's Hammerschläge jene Thorflügel schmiedeten zu Pforten der Gerechtigkeit, die da kommt „allein durch den Glauben“. Der Herr war an diesem Orte, als das lautre Wort, die Predigt der freien Gnade Gottes in Christo, der Dienst der unverfälschten Sacramente von hier seinen Ausgang nahm in alle Lande. Der Herr war an diesem Orte und hielt seine Augen offen über der Wiege, über der Kirche der Reformation. Und der Herr bleibt an diesem Orte, er wird fortfahren, sein Volk zu segnen von einer Stätte aus, wo er seines Namens Gedächtniß also gestiftet hat, wenn anders auch das Volk fortfährt bei seines Gottes Namen und Worte zu bleiben: „Herr ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnet“, wenn auch künftige Geschlechter, in reinem Verständniß und dankbarer Verbundenheit, hierher schauen und hierher pilgern werden mit dem gleichen Bekenntniß, welches heute unser Be⸗ kenntniß ist: Siehe, der Ort ist ein heiliges Land, wo wir erstens Gottes heilige Offenbarung in besonderer Klarheit erkennen, und zweitens Gottes heiligenden Mahnruf in besonderer Dringlichkeit vernehmen.
Und beides, dürfen wir getrost sagen, geschieht für jeden evan⸗ gelischen Christen hier. Allerdings wohnt der Heilige. nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind, und alles Vergängliche ist für die Fülle seiner Erscheinung nur ein Gleichniß, sei es der brennende Dornbusch wie dort auf dem Horeb, sei es ein ragendes Gotteshaus wie heute und hier.
Und doch bleibt es richtig: „Gott war in Christo“; „das Wort ward Fleisch und wohnete unter uns, und wir sahen seine Herrlich⸗ keit als des Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahr⸗ heit.’ Im persönlichen Leben des menschgewordenen Gottessohnes auf Erden ist die Fülle der Gottheit leibhaftig, erscheinend, sich offenbarend: „Philippe, wer mich sieht, der siehet den Vater!“ Und ebenso bleibt es dabei: „Wie der Vater hat dem Sohne gegeben das Leben zu haben in ihm selber“, so ist dieses heilige, göttliche Leben in Christo das Licht der Welt, das Licht der Menschen geworden, und auch „der Sohn machet lebendig, welche er will“’. Und darum: wo seines Lebens Frucht, wo seines Geistes Kraft, wo seines Wortes Licht im persönlichen Leben eines erlösten Sünders sich besonders wirksam zeigt, da ist auch heute noch „beiliges Land“; da ist Gottes Offenbarung in besonderer Klarheit. Ist das nun etwa der Heiligen Dienst? Da sei Gott vor, daß wir hier den Dornbusch nicht mehr Dornbusch nennen sollten! Aber das ist Gottes Ehre, das ist die Herrlichkeit seiner Gnade und Wahrheit in Christo, daß seine Flamme auch im Dornbusch brennen kann, und daß der Dornbusch nicht verzehrt, sondern zum Leben erhalten wird. O, ihr wißt es wohl, wessen wir dabei vor allen gedenken müssen, zumal an dem heutigen Tage und an der gegenwärtigen Stätte. Zwar nicht eine Gedächtnißkirche Luther’s ist dieses Gotteshaus, sondern vielmehr ein Heiligthum der gesammten Reformation. Wer aber will es wenden, wenn. „Luther's mächtige Gestalt dabei ganz von selbst
unsern Herzen am nächsten steht. Immerhin — er war ein Dorn⸗ busch, — und wer hat die Dornen seiner Natur wohl schärfer empfunden als er selbst? Aber in diesem Dornbusch brannte des Herrn Flamme, und er ward nicht verzehrt, sondern erleuchtet und gereinigt, erwärmt und geheiligt, und da fing selbst der Dornbusch an, viele Früchte zu tragen, und vom Leibe dieses Gläubigen flossen Ströme des lebendigen Wassers. . Wir sehen ihn im Geiste, wie er dort an der Pforte den Hammer hebt; wie er ihn schmetternd niederfallen läßt auf eines Tetzel’s klingenden Ablaßkasten, auf alle die Rohrstecken priesterlicher Heils⸗ vermittelung, auf alle die thönernen Gefäße der Selbstgerechtigkeit und der Werkgerechtigkeit: „Es ist doch unser Thun umsonst au in dem besten Leben!“ Aber wir sehen ihn auch, wie er Nagel um Nagel fester einschlägt in den neu gefundenen Trost der Schrift: „Der Gerechte wird seines Glaubens leben“; wie er sich immer stärker, immer freudiger aufrichtet an der Erkenntniß: „Wir hoffen auch, durch die Gnade des Herrn Jesu Christi selig zu werden.“ Seht, das ist Glaube, das ist der uralte Christenglaube; das ist Gottes Flamme, leuchtend im Dornbusch. b “ Und wir hören Luther sich rüsten zum Zuge nach Worms, wie er sich wehrt gegen die eigenen Bedenken, gegen der Freunde Rath⸗ schläge, gegen der Feinde Anschläge: „Und wenn in Worms so viel Teufel wären wie Ziegel auf den Dächern, ich wollte doch hinein.“ Aber wir hören ihn auch ringen im Kämmerlein mit seinem Gott; und wir hören ihn dann vor Kaiser und Reich, vor Fürsten und Gewaltigen, vor Hohenpriestern und Schriftgelehrten bezeugen, die Hand fest auf Gottes Wort gelegt: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir!“ Seht, das ist das Gewissen, das ist das echte, rechte christliche Ge⸗ wissen, stark und furchtlos nach allen Seiten hin, aber unwiderstehlich gebunden 8 Gottes Wort, — das ist Gottes heilige Flamme, läuternd den Dornbusch. — Und buscht e sgaun endlich dieses Mannes Leben, wie es nach solchen Anfängen seinen Lauf genommen hat. Wir sehen ihn so ernst und wieder so innig, so mannhaft und wieder so kindlich, so trutziglich und wieder so demüthig, so leidvoll und wieder so frohgemuth. Wir sehen ihn im Streit mit der Welt und im Frieden und in der Freude seines Hauses; im Verkehr mit den Fürsten, im Verkehr mit dem Volk, ein Berather für alle; die Gelehrten meisternd, den Kindern ver⸗ traut und verständlich; im Leid gesüchtigt aber nicht getödtet, im Sterben gequält aber doch überwindend. — Seht, das ist Wandel, das ist echter, rechter Christenwandel, in der herzlichen Gebundenheit und zugleich in der herrlichen Freiheit eines Christenmenschen, eines Kindes Gottes, bei dem alles auf Eins bezogen wird, auf das Wort Gottes, alles von Einem getragen, vom Glauben an Jesum Christ, alles von
es mit jugendfrischer D
in den Vordergrund tritt; wenn sie, wie hier dem Centrum, so auch;
Und nun sagt an: wo in dem persönlichen Leben eines erlösten
und geheiligten Sünders die heilige Offenbarung Gottes so mit be⸗ — Klarheit vor uns steht, ist da nicht wirklich ein „heiliges Land“ und muß nicht auch von da aus Gottes heiligender Mahnruf 8 mit besonderer Dringlichkeit unserem Herzen vernehmbar sein?
Luther's Zeit hat es einst verstanden, was Gott durch diesen kräftigen Zeugen seiner Wahrheit ihr hat sagen wollen. Was die Wittenberger Nachtigall sang, das ist wie ein erlösendes Wort ge⸗
wesen für den Bann der gesammten damaligen Welt; das ist, wie auf Windesflügeln von Ort zu Ort, von Land zu Land getragen; das⸗hat se schnell, so allseitig seinen Widerhall gefunden, daß man
wohl meinen mochte, alles Volk müsse binnen kurzem evangelisch sein. Denn da sind sie gekommen von Morgen und Abend, von Mittag und Mitternacht, und sie haben die „Schuhe ausgezogen von ihren Füßen“; sie haben abgeihan das alte eigenwillige und eigen⸗ gerechte Wesen, den Staub und Moder der vergangenen † F 8 sie haben sich und ihre Zeit „erneuert im Geiste ihresHemüthes“. Zum Gleichniß des Ganzen ist da geworden, was hier in diesem Hause im Einzelnen geschab, wo die tausend und abertausend Reliquien, die eines Kurfürsten Frömmigkeit als Nothbelfer und Tröster, als Frömmigkeitsbeweise und Himmelsschlüssel hier gesammelt hatte, ihm nichts mehr galten und unter seinen Händen zerrannen, und statt dessen ihm Eins immer theurer und immer gewisser wurde: Das Wort Gottes, welches bleibet in Ewigkeit. Da hat die Kirche ein anderes Angesicht bekommen, als sie mit reinem Eifer und mit reinen Händen anfing Menschenseelen zu suchen und zu fangen zum ewigen Leben. Da hat das Staatsleben ein anderes Angesicht bekommen, als Reid und Streit der beiden Schwerter aufhören durfte, als König des Glaubens Pfleger und Fürstinnen der lautern Frömmigkeit Säus ammen wurden und dankbare Unterthanen zu ihnen aufschauten als zu den Hütern ihrer herzlichsten Güter. Da hat die Schule ein anderes Antlitz bekommen, als Unterricht und Erziehung, um den einen Kern her: „weiset meine Kinder, das Werk meiner Hände, zu mir⸗, — sich erweitern und vertiefen, sich bereichern und heiligen konnten aus jedem Gebiete des Geistes. Da hat das Haus ein anderes Angesicht bekommen, als es vor Möncherei und Nonnerei sich nicht mehr zu schämen brauchte, wie vor dem Vollkommeneren; als Einer drinnen wieder sein konnte, Mann oder Weib, Vater oder Sohn, Mutter oder Tochter, Knecht oder Magd und durfte wissen: er es war in Christo, dann that er Gottesdienst daran. Und ein anderes Angesicht hat auch der einzelne Christ da bekommen, er, der nun seines allgemeinen Priesterthums sich bewußt werden durfte und hatte durch seinen Heiland einen freien Zugang zu Gottes Gnade und konnte kindlich, gläubig, ohne Vermittelung sprechen: „Abba, lieber Vater!“ Jawohl, ein neues Zeitalter hat seinen Aus gang genommen, von den Tagen der Reformation, — aber darum? — heißt es heute etwa nicht mehr: „Ziehe deine Schuhe aus!“? Wehe der Eigenart — oder vielmehr der eigenen Unart unserer Natur, daß wir selbst Gottes freieste Gnadengaben sobald als unsern Willkürbesitz betrachten und nun aus dem Unsern hinzuthun, was nicht taugt, fremdes Feuer auf den Altar tragen, mit staubigem Schuh auf den 11 Boden treten. O, wie viel Jammer ist der evangelischen Christenheit daraus erwachsen, daß man bald hier, bald dort die Schuhe nicht von den Füßen ziehn, das Eigensinnige nicht abthun mochte; den Streit mehr als den Frieden liebte, die Zerspaltung höher als die Einigkeit achtete! Wie viel Staub und Wirrniß tragen Unglaube und Aberglaube, Unweisheit und Afterweisheit oft selbst in das Heiligthum! Ja, wie viel Kehricht und Unrath wird von einem fündentrunkenen Geschlechte aus den Ecken gewirbelt, um die heilige Flamme zuzudecken, wo sie noch brennt im Dornbusch! Darum muß wohl ein solcher Tag wie der heutige mit besonderer Dringlichkeit mahnen: Du aber — ziehe Deine Schuhe aus! Bring' Opfer auf diesem Berge, wie Gott damals dem Moses zum Zeichen gab: Dankopfer, Selbst⸗ opfer! Tritt mit nacktem Fuß, ohne Compromiß und Vor⸗ behalt, an den Ort der Gerechtigkeit! und mit nacktem Fuße, ohne Unaufrichtigkeit und Selbstbetrug auf dem Boden der Wahr⸗ heit! und mit nacktem Fuß, mit voller Selbstverläugnung und Selbst⸗ hingabe auf den Fels des Heils! Reines Wort, fester Glaube, heiliges Leben, — siehe da, von Gottes Offenbarung in einem Menschenleben ist unsre Betrachtung ausgegangen; auf Gottes Offenbarung in deinem Menschenleben läuft sie am Ende wieder. hinaus. Und kommt solches der Welt nicht zu gute, o, Ihr Fürsten und Gewaltigen dieser Erde, gesegnet seid Ihr, denn es kommt Eurem Volk zu gute, und aus Einem können und sollen der Tausend werden, und wo Moses allein seine Schuhe ausgezogen, da hat nachher sein ganzes Volk FSkee und geopfert. Und kommt es etwa nicht einem ganzen Volk zu gute, gesegnet seid auch ihr Geringeren, wenn es eurem Umkreis, eurem Hause zu gute kommt. Und kommt es selbst seinem Hause nicht zu gute, so kommt es doch dir selbst, dem wahrhaftigen und ewigen Leben deines inneren Menschen zu gute, und gesegnet bist auch du. Denn deß darfst du gewiß sein: was dich also innerlich erbaut, das versetzt dich noch auf ein viel heiligeres Land, als Horeb war; das gliedert dich mit ein in einen unendlich herrlicheren Bau, als dieses Gotteshaus ist; das macht dich heimisch im Himmelreich und zu⸗ gehörig zu dem ewigen Dom, welcher droben sich vollendet. Dahinein führen nicht nur die ehernen Thore der Gerechtigkeit im Glauben, sondern die Perlenthore seliger Vollendung im Da heißt es nicht: „Ziehe deine Schuhe von deinen Füßen“, denn die Schuhe der irdischen Wanderschaft sind ganz abgethan, und selbst der Leib, den du als Staub im Staube zurückließest, ist dort erneuert und verherrlicht. Da spricht keine Stimme: „Tritt nicht herzu“, sondern vom Stuhle des Lammes geht ein seliger Ruf: „Komm her, du Ge⸗ segneter meines Vaters“. Da brennt keine Flamme mehr im Dornbusch, aber der Herr wird das ewige Licht sein. Dort ist keine Horebsfrage mehr übrig: wer bist du! wie heißt du? sondern wir erkennen ihn, wie wir selbst erkannt sind; indem wir ihn schauen, wie er ist, werden wir in höchster Erfüllung das uralte, apostolische „Reformationslied“ besiegeln: „Gelobet sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesu Christi, der nach seiner großen Barmherzigkeit uns wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Todten, — zu einem unvergänglichen und unbefleckten und unverwelk⸗ lichen Erbe, das behalten ist im Himmel!“ “ Amen! 8
nach dessen Beendigung der Kosleck'sche Bläserchor das Lied „Wilhelm von Nassauwe“ von der Empore ertönen ließ.
Für diejenigen Theilnehmer an der Feier, welche nicht
Zutritt zur Schloßkirche erhalten hatten, fand um 12 Uhr ein Festgottesdienst in der Stadtkirche statt, bei welchem der . 11.““ Hofprediger D. Frommel die Predigt ielt. MNNach Beendigung des Gottesdienstes in der Schloßkirche fuhren Beide Majestäten und die anwesenden Höchsten Herr⸗ schaften durch die Collegienstraße, von der Menge und den Spalier bildenden Kriegervereinen jubelnd begrüßt, nach dem Lutherhaus, wo von Allerhöchst⸗ und Höchstdenselben die (im amtlichen Theil veröffentlichte) Urkunde unterzeichnet wurde. Sie ist in gothischem Stil gehalten, zeigt in ihrem oberen rechten Theile die äußere Ansicht der Schloßkirche und das Bildniß Luther’s, auf der oberen linken Seite das Innere der erneuerten Schloßkirche, darüber das Wappen Seiner Majestät des Kaiers und Königs.
Nach der Unterzeichnung nahmen Ihre Majestäten und Allerhöchstderen Gäste nebst den Kaiserlichen Prinzen von der vor dem Lutherhause erbauten Tribüne die Huldigung des
Einem beherrscht, vom Gehorsam gegen Gottes gnädigen Vaterwillen,
historischen Festzug; entgegen, der von Bewohnern Wittenbergs und der Umgegend veranstaltet war. .“
Mit Gebet und dem Segensspruch schloß 8 —
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