1892 / 268 p. 2 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 11 Nov 1892 18:00:01 GMT) scan diff

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Ersatz gelcistet werden, als der Nachlaß durch den vorzeitigen Tod eine Verminderung erfahren hat. Währ nd einerseits beantragt war, diese Bestimmung ersatzlos zu streichen, eventuell den Erben des Getödteten nur dann einen Ersatzanspruch zu geben, wenn der Schuldige selbst durch das Erlöschen eines dem Getödteten zustehenden Rechts einen Vermögensvortheil erlangt habe, wurde andererseits befürwortet, auch die Arbeitskraft des Getödteten bei Berechnung des Schadens zu Gunsten der Erben in Ansatz zu bringen. Die Commission entschied sich unter Ablehnung der übrigen Anträge für die ersatz⸗ lose Streichung des § 722 Abs. 2. Ein weiterer An⸗ trag, den Schuldigen demjenigen gegenüber für ersatz⸗ pflichtig zu erklären, dem der Getödtete zu Lei⸗ stungen, insbesondere zur Zahlung einer Rente, für die Dauer seines Lebens verpflichtet war, wurde ebenfalls abgelehnt. Dagegen beschloß man, in Uebereinstimmung mit § 723 des Entwurfs, denjenigen Personen einen Anspruch auf Schadensersatz zu geben, denen der Ge⸗ tödtete kraft des Gesetzes Unterhalt zu ge⸗ währen verpflichtet war. Auch die Bestimmungen des § 724 über die Art und die Durchführung des nach § 723 zu leisten⸗ den Schadensersatzes fanden mit unerheblichen Aenderungen und unter Verweisung der prozessualen Normen in die Civil⸗ prozeßordnung die Zustimmung der Commission. Der § 725, welcher Ersatzansprüche Dritter wegen sonstigen durch die Tödtung ihnen entstandenen Schadens betrifft, wurde in Ver⸗ folg der zu § 704 ff. gefaßten Beschlüͤsse gestrichen. Die Vorschriften des § 726 über die Schadensersatzpflicht wegen widerrechtlicher Körperverletzung blieben im wesentlichen unbeanstandet. Dagegen wurde die besondere Bestimmung des § 727, welche im Fall widerrechtlicher Entziehung der Freiheit unter gewissen Voraussetzungen den Schuldigen auch denjenigen gegenüber für ersatzpflichtig erklärt, denen der Verletzte Unterhalt zu gewähren verpflichtet ist, gestrichen, weil für die Aufnahme einer solchen Vorschrift ein Bedürfniß nicht vorliege. An geeigneter Stelle soll jedoch mit Rücksicht auf die früher beschlossene Streichung des § 704 Abs. 2 Satz 2 zum Ausdruck gebracht werden, daß auch bei fahrlässiger widerrechtlicher Freiheitsentziehung dem Ver⸗ letzten ein Anspruch auf Schadensersatz zustehe.

Eine Ergänzung erfuhr der Entwurf durch die Aufnahme der Vorschrift, daß im Fall widerrechtlicher Tödtung oder widerrechtlicher Verletzung des Körpers oder der Gesundheit der Ersatzpflichtige, wenn der Verletzte kraft des Gesetzes einem Dritten zur Leistung von Diensten in dessen Hauswesen oder Gewerbe verpflichtet war, auch dem Dritten Schadens⸗ ersatz zu leisten habe. Dagegen wurden verschiedene Anträge, welche die Schadensersatzpflicht für solche Fälle besonders zu regeln bezweckten, in denen jemand einen anderen im Zweikampf oder mit dessen Einwilligung ge⸗

ö oder verletzt habe, abgelehnt. Angenommen wurde der Vorschlag, besonders auszusprechen, daß bei einer gegen die Person des Verletzten gerichteten widerrechtlichen Handlung als Vermögensschaden auch die Nachtheile anzusehen sind, welche aus der Handlung für den Erwerb und das Fort⸗ kommen des Verletzten entstehen. Im Hinblick auf die großen Schädigungen, welche jemand durch die Verbreitung unwahrer Nachrichten an seinem Credit, seinem Erwerb und Fortkommen erleiden kann, erachtete man ferner die Aufnahme der Be⸗ stimmung für nothwendig, daß die Verbreitung solcher unwahren Thatsachen auch dann zum Schadensersatz verpflichten soll, wenn derjenige, der sie behauptet oder verbreitet hat, ihre Unwahrheit infolge von Fahrlässigkeit nicht gekannt hat. Die Haftung soll jedoch nicht eintreten, wenn der Verbreiter oder der Empfänger der Nachricht ein be⸗ rechtigtes Interesse an der Mittheilung hatte. Neu hinzu⸗ gefügt wurde weiter die Vorschrift, daß, wenn ein Verschulden des Verletzten bei der Entstehung des Schadens mitgewirkt habe, auch die etwaigen Ansprüche dritter Personen nach Maß⸗ gabe des § 722 zu beschränken seien.

Die Bestimmung des § 728, nach welcher dem Verletzten in gewissen Fällen auch wegen eines anderen Schadens als eines Vermögensschadens eine billige Geldentschädigung zugesprochen werden kann, wurde sachlich gebilligt: ein Vorschlag, die Vorschrift auch auf Ehrverletzungen auszudehnen, fand keine Zustimmung. Die besonderen Vorschriften der §§ 729 bis 733 über die Schadensersatzpflicht wegen Beschädigung durch Ausgießen und Auswerfen von Sachen aus einem Gebäude u. s. w. (actio de effusis et dejectis) wurden ge⸗ strichen. Zu § 734, der die Haftung für Schadensersatz wegen Beschädigung durch Thiere regelt, wurde abweichend von dem Entwurfe beschlossen, daß der Besitzer solcher Thiere, die nicht zu den Hausthieren gehören, für den durch sie ange⸗ richteten Schaden unbedingt haften soll, er sich von der Ersatzpflicht also nicht durch den Nachweis soll befreien können, daß er es an gewissenhafter Beaufsichtigung der Thiere nicht habe fehlen lassen. Bei Hausthieren dagegen soll der Besitzer von der Haftung befreit sein, wenn er die im Verkehr erforder⸗ liche Sorgfalt beobachtet hat; doch soll den Besitzer in dieser Hinsicht die Beweislast treffen. Ein Antrag, die Bienen den Hausthieren gleichzustellen, wurde abgelehnt. Der Absatz 2 des § 734 über die Haftung desjenigen, der für den Besitzer des Thieres die Aufsicht über dasselbe übernommen hat, wurde sachlich gebilligt. 8 8

Nach der im Reichs⸗Eisenbahnamt aufgestellten Nach⸗

weisung über die im Monat September d. J. auf deutschen Bahnen (ausschließlich der bayerischen) bei den Zügen mit Personenbeförderung vorgekommenen Verspätungen haben auf 36 größeren Bahnen bezw. Bahnnetzen mit einer Gesammtbetriebslänge von 36 816,60 km von den fahrplanmäßigen Zügen überhaupt sich ver⸗ spätet: 806 Schnellzüge, 1214 Personenzüge und 203 zur veionen⸗ sowie zur Güterbeförderung gleichzeitig dienende Züge, zusammen 2223. Von den fahrplanmäßigen Zügen mit Personenbeförderung wurden geleistet: 15 455 989 ug⸗ kilometer, 305 548 729 Achskilometer gegen 16 048 960 Zu und 329 359 645 Achskilometer im Vormonat un gegen 15 046 652 Zug⸗ und 311 871923 Achskilometer in demselben Monat des Vorjahres. Von den Ver⸗ Feangen wurden 866 durch das Abwarten verspäteter An⸗ chlußzüge veranlaßt, sodaß den aufgeführten Bahnen nur 1357 Verspätungen sur Last fallen, gegen 2374 im Vormonat und 3469 in demselben Monat des Vorjahres. Von den auf eigener Bahn vorgekommenen 1 Million 1 mithin

n vo Verspätungen entfallen auf Zugkilometer 88, 1 Million Achskilometer 4, auf 1 Million Zugkilometer 143 = 62 v. H.

weniger als im Monat September des Vorjahres und 60 = 41 v. H. weniger als im Vormonat, und auf 1 Million Achskilometer 7 = 64 v. H. weniger als im Monat September des Vorjahres und 3 = 43 v. H. weniger als im Vormonat. Infolge der Verspätungen wurden 1244 An⸗ schlüsse versäumt (gegen 3559 in demselben Monat des Vor⸗ jahres und 1818 im Vormonat). Bei 7 Bahnen sind Zug⸗ verspätungen und bei 10 Bahnen Anschlußversäumnisse nicht vorgekommen. In der Nachweisung sind die Ba nen, auf denen Zugverspätungen vorkamen, nach der Verhältniß⸗ fahh (geometrisches Miitte wischen der Anzahl der von den fahrplanmäßigen, der eförderung dienenden Zügen auf 1. Million Zugkilometer und der auf 1 Million Achs⸗ kilometer entfallenden eigenen Verspätungen geordnet. Danach nehmen die Bahnen im Bezirk der Königlichen Eisenbahn⸗ Direction (linksrheinische) zu Köln, die Marienburg⸗Mlawkaer Bahn und die Hessische Ludwigsbahn die ungünstigsten Stellen ein. Wird die Reihenfolge der Bahnen statt nach der Anzahl der Verspätungen nach der Anzahl der Anschlußversäumnisse bestimmt, so treten die Neustrelitz⸗Warnemünder Bahn, die Bahnen im Bezirke der Königlichen Eisenbahn⸗Direction (links⸗ rheinische) zu Köln und die Hessische Ludwigsbahn an die ungünstigsten Stellemn.

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Aus Anlaß unrichtiger bezw. ungenauer Mit⸗ theilungen in der hiesigen Tagespresse über Vor⸗ gänge im Bereiche der Staats⸗Lotterie⸗Verwaltung hatte die Königliche General⸗Lotterie⸗Direction bereits früher wiederholt Gelegenheit genommen, einzelnen Zeitungs⸗Redac⸗ tionen gegenüber den Wunsch auszusprechen, Nachrichten, welche die Staats⸗Lotterie betreffen, erst dann zu veröffentlichen, wenn ihre Richtigkeit an amtlicher Stelle constatirt ist. Da dieser Wunsch nicht überall genügende Beachtung ge⸗ funden hat und infolge der dadurch hervorgerufenen Beunruhigung des betheiligten Publikums Unzuträg⸗ lichkeiten und Weiterungen für die Lotterie⸗Verwaltung ent⸗ standen sind, erklärt der Vorgesetzte der General⸗Lotterie⸗ Direction, Geheime Ober⸗Finanz⸗Rath Marcinowski in einer uns in Abschrift vorliegenden, unter dem 10. d. M. an mehrere hiesige Zeitungs⸗Redactionen gerichteten Zuschrift sich wiederholt bereit, dafür Sorge zu tragen, daß den Vertretern der u die amtlich zulässige Information nicht vorenthalten werde.

Dem Kaiserlichen Gesundheitsamt vom 10. bis 11. November Mittags gemeldete Cholerafälle:

In Hamburg 1 Neuerkrankung.

Seine Königliche Hoheit der Erbgroßherzog Baden, Commandeur der 4. Garde⸗Infanterie⸗Brigade, ist von Urlaub hier wieder eingetroffen.

Der Inspecteur der 2. Cavallerie⸗Inspection, General⸗ Lieutenant von Rosenberg, à la suite des Husaren⸗Regiments von Zieten (Brandenburgisches) Nr. 3, hat sich mit Urlaub nach Schlesien begeben.

Der Chef der Marinestation der Nordsee, Vice⸗Admiral Valois ist zur Abstattung persönlicher Meldungen hier ein⸗ getroffen.

Der General⸗Stabsarzt der Armee Dr. von Coler, Wirklicher Geheimer Ober⸗Medizinal⸗Raͤth, Chef des Sanitäts⸗Corps und der Medizinal⸗Abtheilung des Kriegs⸗ Ministeriums, ist von Urlaub hierher zurückgekehrt.

Der Bevollmächtigte zum Bundesrath, Fürstlich schwarz⸗ burg⸗sondershausensche Staats⸗Minister Petersen ist von hier abgereist.

Der Regierungs⸗Rath Dr. Schmidt⸗Schwarzenberg zu Minden ist an die Königliche Regierung zu Cassel versetzt worden. 8

Der Regierungs⸗Assessor Fink ist mit der Vertretung des Landraths von Hellmann zu Lissa, Regierungsbezirk Posen, ”] der bevorstehenden Reichstagssessio beauftragt h“ 1

8 Altona, 10. November. Der Ober⸗Bürgermeister Dr. Giese hat, wie der „Hamb. Corresp.“ berichtet, folgende Bekanntmachung erlassen:

„Seine Majestät der Kaiser und König haben mir kefohlen, der Bevölkerung der Stadt Altona kundzugeben, daß Seine Majestät für das harte Geschick, welches infolge der Cholera die Stadt Altona betroffen, lebhafte Theilnahme hegen und der Hebung der wirthschaftlichen Lage der Stadt besondere Fürsorge zuwenden. daß aber Allerhöchstderselbe auch von der Bevölkerung erwartet, daß sie ihrerseits mit Energie die Erwerbsthätigkeit zu fördern bestrebt

sein werde.“

Dresden, 10. November. Seine Majestät der König und Seine Königliche Hoheit der Prinz Georg haben sich heute Nachmittag von Schloß Thallwitz, wo sie seit Dienstag Abend als Gäste Seiner Durchlaucht des Fürsten Reuß j. L. weilten, über Berlin nach Königs⸗Wu sterhausen begeben, um, einer Einladung Seiner Majestät des Kaisers folgend, an den morgen dort stattfindenden Hofjagden theil⸗ zuneh J“

Oesterreich⸗Ungarn

Eine Lösung der ungarischen Ministerkrisis ist bis jetzt noch nicht erfolgt. Der Kaiser empfing gestern Mittag den Grafen Szapary, sodann Koloman Tisza in einer drei⸗ viertelstündigen und Koloman Szell in einer fünfviertel⸗ stündigen Audienz. Schließlich wurde auch noch der Präsident des ungarischen Abgeordnetenhauses Bauffy empfangen. Die Audienz für den ungarischen Finanz⸗Minister Dr. Wekerle ist auf heute anberaumt. Nach einer Meldung des „D. B. H.“ wäre auch der Fürst⸗Primas von Ungarn, Erzbischof Vaszary telegraphisch zum Kaiser berufen worden. Die „Budapester Correspondenz“ glaubt annehmen zu sollen, daß nach der Lage der Verhältnisse das ungarische Minister⸗Präsidium zu⸗ nächst dem bisherigen Unterrichts⸗Minister Grafen Csaky oder dem Finanz⸗Minister Dr. Wekerle und, falls letzterer

11“ 1““

nicht als

schwerwiegenden mit der aufreibenden

unvereinbar finden sollte, dem vormaligen Minister Szell angeboten werden könnte. Im allgemeinen 2. Dr. Wekerle als die geeignetste Persönlichkeit für die Uebernahme des Minister⸗Präsidiums, und vielseitig wird angenommen, daß er lassen werde, den Posten zu übernehmen.

Die Verhandlungen mit Italien über die Durch⸗ führung der Weinzoll⸗Clausel sind dem 88 zufolge nunmehr in einer beide Theile befriedigenden Weise zum Abschluß gelangt. Der italienische Vertreter General Director Miraglia wird in den nächsten Tagen nach Rom zurückkehren.

die Cumulirung der umfangreichen, Geschäfte des Finanz⸗Ministeriums Thätigkeit des Minister⸗Präsidenten

sich noch bewegen

GSroßbritannien und Irland.

Aus Anlaß der Dynamit⸗Explosion in Paris weist die, Times“ in einem längeren Artikel darauf hin, daß der Vorfall gerade zu einer Zeit sich ereignet habe, wo man glaube, daß Gladstone und seine Collegen die Zweckmäßig⸗ keit der Freilassung einiger irischen und irisch⸗ amerikanischen Dynamitarden erwögen. Der Artikel schließt mit der Erklärung: „Es sei schwer zu glauben, daß irgend ein aus englischen Staatsmännern bestehender Körper, welchem politischen Drucke er auch ausgesetzt würde, einen solchen Augenblick wählen sollte, Wum die Wirkung heilsamer Bestrafung der Urheber solcher Gewaltthätigkeiten abzuschwächen. Es würde ein der gemeinsamen Civilisation versetzter Schlag sein, eine Amnestie auf Verbrecher auszudehnen, die Verbrechen gleichen Cha⸗ rakters wie das, welches Paris in Bestürzung versetzt habe, in England geplant und ausgeführt hätten.“

Frankreich. Die Nachforschungen der Polizei nach den Urhebern des Dynamit⸗Attentats sind bis jetzt ohne Erfolg geblieben. Der Deutsche, dessen Verhaftung gemeldet wurde, ist gestern dem Untersuchungsrichter vorgeführt, jedoch durch die Zeugen 8 diesenige Person recognoscirt worden, die am Tage der Explosion in dem Geschäftsgebäude der Bergwerksgesellschaft von Carmaux Nachfrage hatte und dabei von jenen Zeugen beobachtet worden war. Nach einem der „Schles. Ztg.“ zugegangenen Telegramm ist

zösischen und ausländischen worden; außerdem wurden Broschüren, Sprengstoff⸗Recepte zur Herstellung von Bomben, die nach funden. Er bleibt in Gefangenschaft, obgleich seine Unschuld an dem Attentat erwiesen ist. Was die Polizei in ihren Nachforschungen hauptsächlich behindert, ist, wie der „Köln. Ztg.“ geschrieben wird, der Um⸗ stand, daß seit der Abschaffung des Staatsstreichgesetzes von 1852 die Kaffee⸗, Bier⸗ und Weinwirthe und Gasthaushalter der Ueberwachung der Polizei entzogen sind. Es sei aber be⸗ kannt, daß ein Theil dieser Leute allen Verbrechern Unterkunft gewähre. So wisse man auf der Präfectur mit Bestimmtheit, daß einige Anarchisten, auf die man gefahndet habe, nur mit Hilfe der Wirthe hätten entwischen können. Unter diesen Umständen sei es sehr möglich, daß die Regierung den Kammer: vorschlagen werde, zu der Kaiserlichen Gesetzgebung zurück⸗ zukehren; freilich sei die Aussicht, daß ein solches Gesetz die Einwilligung der Kammer finde, sehr gering, da die Wirthe, besonders in der Provinz, zu den Hauptmachern der Wahlen gehörten. Baron Reille soll dem genannten Blatte zufolge der Ansicht sein, daß die italienischen Anarchisten die Hand im Spiele gehabt hätten, da viele der Drohbriefe, die er erhalten habe, in Städten an der italienischen Grenze auf⸗ gegeben worden seien.

In dem gestern abgehaltenen Ministerrath erstattete der Minister⸗Präsident Loubet ausführlichen Bericht über die 1sen Zwischenfälle in Carmaux. Es habe sich ergeben, daß die Regierung das Herausstecken rother Fahnen nicht gestattet habe; eine einzige rothe Fahne, die sichtbar gewesen, sei von dem Polizei⸗Commissar entfernt worden. Die Arbeiter hätten die dreifarbigen Fahnen zusammengerollt getragen, in der Art, daß abwechselnd die rothe oder die anderen Farben sichtbar geworden seien. Die von den Bergarbeitern beim Beginn des Strikes organisirten Patrouillen hätten sich nach dem bezüͤg⸗ lichen Erlaß des Präfecten nicht wieder sehen lassen.

In der gestrigen Sitzung der Deputirtenkammer stellte der Minister⸗Präsident Loubet, nachdem zuvor die Berathung der verschiedenen Interpellationen über die Panama⸗ Angelegenheit auf den 17. d. M. anberaumt worden war, den Antrag, den Bericht über den Gesetzentwurf, der die Strafen für Preßvergehen, welche sich auf Auf⸗ reizung zum Mord und zur Plünderung be⸗ ziehen, erhöht und verschärft, auf nächsten Mittwoch festzuseten. Bernis (Rechte) erwiderte, die bestehen⸗ den Gesetze seien vollständig ausreichend, sie hätten nur in Carmaux angewendet werden sollen. (Lärm auf der Linken, Beifallsäußerungen auf der Rechten.) Der Minister⸗Präsident

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Loubet entgegnete, die Freiheit der Arbeit sei in Carmaux gesichert gewesen, aber kein Arbeiter habe arbeiten wollen. Zugleich forderte er die Kammer azuf, der Regierung Waffen zu geben gegen die Verbreitung der anarchistischen Theorien. Vilfeu (Rechte) machte der ö zum Vor⸗ wurf, daß sie den Socialisten Culine vorgestern in Freiheit gesetzt habe. (Lärm auf der äußersten Linken). Der Justiz⸗ Minister Ricard erwiderte, Culine habe eine zahlreiche Familie und habe daher um Entlassung aus der Haft nachgesucht; übrigens sei seine Entlassung nur bedin⸗ gungsweise erfolgt. Cassagnac erklärte, die Regierung sei unfähig, die öffentliche Meinung zu beruhigen; denn sie hätte sich unter dem Druck der Abgeordneten von der äußersten Linken nöthigen lassen, die Verurtheilten von Carmaux zu begnadigen. Clémenceau protestirte gegen diese Aeußerung. Der Minister⸗ Präsident Louübet erklärte darauf, daß er sein Verlangen, die Berathung der Vorlage auf Mittwoch festzusetzen, Vegrracee. und stellte die Vertrauensfrage. (Lebhafte ewegung.) Der Antrag Loubet's wurde sodann mit 298 gegen 182 Stimmen angenommen. Im weiteren Verlaufe der Sitzung wurde der Gesetzentwurf über die Reform der Ge⸗ tränkesteuer berathen. Der Deputirte Daumer brachte einen Abänderungsantrag ein, wonach sämmt⸗ liche zu Gunsten des Staats erhobenen Steuer auf Wein, Bier und Apfelwein aufgehoben werden sollen Der Finanz⸗Minister Rouvier bekämpfte den Antrag; gleich

gehalten

übrigens bei ihm eine ausgebreitete Correspondenz mit fran- Anarchisten zu Tage gefördert Placate und

Aussage der amtlichen Fachleute höchst gefährlich sind, ge⸗

wohl wurde die Inbetrachtnahme des Antrags mit 349 gegen 8

195 Stimmen beschlossen. Der Generalberichterstatter für das

Budget erklärte, der Antrag Daumer werde einen Fehlbetrag von 88 Millionen im Budget zur Folge haben. Die Fort⸗ setzung der Berathung wurde darauf vertagt. 11“

Rußland und Polen. *

St. Petersburger Zeitungen hatten vor einiger Zeit ge⸗ meldet, der frühere Finanz⸗Minister Wyschnegradski werde nach seiner Rückkehr nach St. Petersburg an verschie⸗ denen Berathungen über finanzielle Fragen theilnehmen. Dem gegenüber hört die deutsche „St. Petersburger Zeitung“, daß der Gesundheitszustand Wyschnegradski's zwar ein sehr guter sei, seine Betheiligung an Commissionssitzungen jedoch von ärztlicher Seite wie von Seiten der Familienangehörigen nicht gewünscht werde. b

Der Commandeur des II. Armee⸗Corps, General⸗ Lieutenant und General⸗Adjutant des Kaisers, Baron Driesen, der sich in Mariampol (Gouvernement Suwalki) zur Truppenbesichtigung aufhielt, ist nach einer Meldung des „W. T. B.“ daselbst vorgestern plötzlich am Herzschlage ver⸗ storben.

Italien.

Der Großfürst⸗Thronfolger von Rußland ist gestern aus Athen in Bari eingetroffen und bei der Ankunft von dem Divisions⸗Commandeur empfangen worden. Im Laufe des Nachmittags besuchte er die Basilika von St. Nikolas, wo ihn der gesammte Clerus erwartete. Heute gedenkt der Großfürst die Reise nach Wien fortzusetzen.

Spanien. Der König und die Königin von Portugal sind, wie telegraphisch gemeldet wird, gestern in Madrid ein⸗ getroffen und von der Bevölkerung lebhaft begrüßt worden. Die Straßen waren mit Fahnen geschmückt. In dem König⸗ lichen Palais fand zu Ehren der hohen Gäste ein Diner zu 120 Gedecken statt. 8 Wie der „Imparcial“ wissen will, wären die zwischen Spanien und der Schweiz, sowie zwischen Spanien und Schweden geführten Handelsvertrags⸗Verhandlungen nunmehr zum Abschluß gelangt. 8—

6 Portugal. Bei der gestrigen Abreise des Königs und der Königin nach Madrid fand dem „W. T. B.“ zufolge in

Lissabon eine Kundgebung statt, bei der wiederholt die Rufe: „Hoch das Vaterland!

Nieder mit dem englischen Bündniß!“ gehört wurden. Neun Personen wurden verhaftet: unter diesen befanden sich der republikanische Abgeordnete Abreu, drei republikanische Journalisten und ein Sergeant. In maß⸗ gebenden⸗- Kreisen wird der Demonstration übrigens keine weitergehende Bedeutung beigemessen. v

Schweden und Norwegen. Die erste Abtheilung des schwedischen Reichstags⸗ ausschusses zur Vorberathung der Armeereorganisa⸗ tionsvorlage stimmte nach einer Meldung des „W. T. B.“ den wichtigsten Bestimmungen der Vorlage zu, wünschte jedoch verschiedene Ersparnisse und lehnte die Bildung eines Festungs⸗ Artillerie⸗Corps in Karlsborg ab. Als tägliche Löhnung für jeden zum Heeresdienst Einberufenen wurden 50 Oere vor⸗ geschlagen. 8 Amerika. 8 Die gestern in New⸗York eingegangenen Nachrichten machen

es wahrscheinlich, daß der bisher republikanische Staat Ohio

zu den Demokraten übergegangen ist. Den neuesten Schätzungen zufolge würden im Wahlcollegium abge⸗

geben werden: für Cleveland 290, für Harrison 1 Weaver 26 Stimmen. 18

Gesundheitswesen, Thierkrankheiten und Absperrungs⸗ Maßregeln. Cholera. Die Beiträge, welche für die in⸗ eingegangen sind,

Hamburg, 10. November. olge der Cholera⸗Epidemie Nothleidenden haben die Höhe von drei Millionen Mark erreicht.

St. Petersburg, 10. November. Das heute ausgegebene Cholera⸗Bulletin für die letzte Woche meldet das fast gänzliche

Erlöschen der Epidemie in den Städten. In den Gouverne⸗

nents Jekaterinoslaw, Kursk, Lublin, Ssaratow, Ufa

und Tschernigow kamen in der abgelaufenen Woche mehr als je

100, in Tambow und Cherson mehr als 300, in Bessarabien 453, in Podolien 561, im Bakugebiet 691 und in Kiew 1020 Cholera⸗Erkrankungen vor. Etwa die Hälfte der Erkrankten ist der Krankheit erlegen.

Durch Bekanntmachung des Königlich dänischen Justiz⸗Ministeriums vom gestrigen Tage ist die unter dem 1. September 1892 (vergl. „R.⸗A.“ Nr. 216 v. 13./9. 92.) angeordnete Absperrung der dänischen Landesgrenze aufgehoben worden.

Doch dürfen Personen, die ungewaschene Leibwäsche, Wollenzeug oder gebrauchte Bettwäsche mit sich führen, keine anderen Wege als die Eisenbahnlinien über Vamdrup und Vedsted sowie die Landstraßen über Obbekjaer, Foldingbro und Taps benutzen.

Die mit den Eisenbahnen über Vamdrup und Vedsted kommen⸗ den Reisenden haben sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Personen, welche an asiatischer Cholera, Cholerine oder Diarrhöe leiden, werden zurückgehalten und in den dazu eingerichteten Räumlich⸗ keiten beobachtet oder behandelt.

Die zur Zeit bestehenden Verbote gegen die Einfuhr von Waaren, sowie die angeordnete Desinfection verbleiben auch fernerhin

in Kraft. Columbien. b

Die atlantischen Häfen Columbiens, welche bisher für sämmt⸗ liche Provenienzen Europas geschlossen waren, sind nunmehr für An⸗ künfte aus England wieder geöffnet worden.

Auch Schiffe, welche aus den Vereinigten Staaten von Amerika kommen, werden eien neuerdings zugelassen. 8 arokko. Der Gesundheitsrath zu Tanger hat in Ergänzung seines Be⸗ schlusss vom 14. Oktober 1892 vergleiche „Reichs⸗Anzeiger“ Nr. 254 vom 26. Oktober 1892 verfügt, daß Schiffe aus ver⸗ seuchten Häfen, welche die in Gibraltar vorgeschriebene Beobachtungs⸗ quarantäne (21 Tage einschließlich der Reise) bereits durchgemacht haben, I in den w zugelassen werden, nachdem sie zunächst Tanger selbst angelaufen haben. 28

885 Zulassung unter denselben Beschränkungen für Passagiere und Ladung wie in Gibraltar. (Die Einfuhr von Gütern in Säcken und Ballen sowie von Wollenwaaren ist in Gibraltar un⸗ bedingt verboten.)

Kach marokkanischen Häfen bestimmte Schiffe aus Hamburg thun gut, zunächst in einem spanischen Hafen am besten Vigo die⸗ jenige Quarantäne zu absolviren, welche erforderlich ist, um in

(7 Tage.) Dieselben dürfen alsdann

Spanien zugelassen zu werden. Diesel i ulassung in Marokko rechnen.

bisherigen Praxis auch auf

Handel und Gewerbe:

In letzter Zeit ist in der französischen Presse öfters von einer künstlichen Seide, der sogenannten soie de Chardonnet die Rede gewesen, welche angeblich eine Umwälzung in der französischen Seidenindustrie hervorzubringen bestimmt ist. Es handelt sich um einen von dem Ingenieur de Chardonnet erfundenen, aus Cellulose, besonders Cellulose vom Fichtenholz hergestellten Stoff, der dem wirklichen Seiden⸗ stoff ähnlich ist und denselben angeblich überall ersetzen kann, wo nicht die Anwendung von ganz besonders haltbaren Stoffen norhwendig erscheint. Bereits auf der 1889 er Pariser Ausstellung sind Proben dieser Erfindung vorgezeigt worden und haben das Interesse der Sachverständigen erregt. Seitdem hat der Erfinder das Verfahren weiter zu verollkommnen gesucht und es scheint, daß ihm in der That Verbesserungen seiner Erfindung gelungen sind. In Besancon ist eine Fabrik für die Herstellung des Fabrikats eingerichtet worden, und zur weiteren Ausdehnung dieses Betriebes soll sich vor kurzem unter dem Titel: „Société Universelle pour la fabrication de la Soie de Chardonnet“ eine Actiengesellschaft mit einem Kapital von 25 Millionen Francs gebildet haben. Auch in der Schweiz soll das Patent, welches auf die Erfindung genommen ist, ausgebeutet werden.

Die Ansichten der Sachverständigen über den Werth der Ersindung sind getheilt. Während einzelne Geschäftsleute erwarten, daß die Cellulose⸗ Seide dem jetzigen Fabrikate starke Concurrenz machen und namentlich die billigeren Sorten allmählich verdrängen wird, sagen andere dem Chardonnet'schen Stoff eine nur beschränkte Verwendung voraus und behaupten, daß derselbe höchstens dazu dienen könne, einfachere Seiden⸗ gewebe herzustellen, oder in Verbindung mit echter Seide verwandt zu werden. Aber selbst, wenn die Chardonnet'sche Seide nur in be⸗ schränktem Maße verwendbar sein sollte, dürfte die Erfindung doch die volle Aufmerksamkeit der an. der Seidenindustrie betheiligten Kreise verdienen.

Antwerpener Getreidehandel. (Vergl. „R.⸗Anz.“ Nr. 245 vom 17. Oktober.)

Die Vorräthe an Getreide in Antwerpen zu Ende Oktober betrugen nach angestellten Schätzungen in: Roggen. Mill. Kg.

Der Import nach Antwerpen auf dem Fluß⸗ und Seewege stellte sich in dem Monat Ende September bis Ende Oktober in Roggen auf 1 Mill. Kg., davon aus den Vereinigten Staaten von Amerika.. Mill. Kg. 1XX“ 8 Weizen: 88 ½ Mill. Kg., davon aus 66P161661616616116öI den Vereinigten Staaten von Amerika . . 26 2

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Niederlande Argentinien Brasilien eeee“ Gerste: 17 ½ Mill. Kg., davon aus: ’eeee Rußland. Deutschland Türkei Niederlande. Oesterreich . Bulgarien . EECbC1uö1u“ . b116“ Hafer, Mais und Buchweizen: 15 ½ Mill. Kg. etwa 8 Mill. Kg. Mais), davon aus: Rußland. 1“ den Vereinigten Staaten von Amerika.. 3 Brasilien 3 ten 2% 5

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Deutschland Schweden Niederlande England Italien

Kartoffeln: 396 448 kg aus den Niederlanden.

Exportirt wurden von Antwerpen auf dem Fluß⸗ und Seewege

in demselben Zeitraum:

Roggen: 3 ¾ Mill. Kg., davon nach den Niederlanden 1““ ¼ Mill. Kg. 8111344*²n 8 8 *“ 4

Weizen: 23 ½ Mill. Kg., davon nach Deutschland Mill. Kg. 11414141“*“ . .

Gerste: 1 Mill. Kg., davon nach ““ a“ Mill. Kg. kc44*“

Hafer, Mais und Buchweizen: 8 ¼ Mill. Kg., davon nach

5 Mill. Kg.

den Niederlanden .. 16““” 5

Deutschland .. Kartoffeln: 77 780 kg, davon nach Brasilien.

11X“X“X“ 1 3 In obigen Angaben für den Import und Export sind die auf der Eisenbahn beförderten Getreidemengen nicht einbegriffen, wobei zu bemerken ist, daß letztere insbesondere für den Export nicht unbe⸗ trächtlich sind.

Tägliche Wagengestellung für Kohl

6 an der Ruhr und in Oberschl

An der Ruhr sind am 10. d. M. gestellt 11 gestellt keine Wagen. 8

In Oberschlesien sind M. rechtzeitig gestellt 28 Wagen.

vW Verkehrs⸗Anstalten. .

Bremen, 11. November. (W. T. B.) Norddeutscher Lloyd. Der Schnelldampfer „Havel“ hat am 9. November Nach⸗ mittags die Reise von Southampton nach New⸗York fortgesetzt. Der Reichs⸗Postdampfer „Stettin“ ist am 10. November Morgens mit der für Australien bestimmten Post von Brindisi nach Port Said abgegangen. Der Postdampfer „Berlin“, vom La Plata kommend, hat am 10. No⸗ vember Morgens Las Palmas passirt. Der Reichs⸗Post⸗ dampfer „Bayern“, nach Ostasien bestimmt, ist am 10. No⸗ vember Nachmittags in Antwerpen angekommen. Der Reichs⸗ Postdampfer „Hohenzollern“ ist am 10. November Morgens in Port Said angekommen und hat nach Uebergabe der austra⸗ lischen Post an den nach Brindisi bestimmten Reichs⸗ ostdampfer „Danzig“ die Reise nach Genua fortgesetzt. Der Reichs⸗Post⸗ dampfer „Danzig“ ist am 10. November Morgens mit der austra⸗

n und Koks

sien. 15, nicht rechtzeitig

43, nicht

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gestellt

lischen Post vom Rei ostdampfer „Hohenzollern“ von Port

Said nach Brindisi abgegangen. Der Schnelldampfer „Lahn“, von New⸗York kommend, i * 10. November Morgens auf der Weser angekommen. Hamburg, 10. November. (W. T. B.) Hamburg⸗Ameri⸗ kanische Packetfahrt⸗Actien⸗Gesellschaft Der Postdampfer „Croatia“ ist gestern in St. Thomas eingetroffen. London, 10. November. (W. T. B.) Der Uniondampfer „Scot' ist auf der Heimreise gestern von Capetown abgegangen. 11. November. (W. T. B.) Der Union⸗Dampfer „Athenian“ ist am Mittwoch auf der Heimreise von abgegangen. u“

Theater und Musik.

Koönigliches Schauspielhaus.

Die Wiederkehr von Schiller's Geburtstag wurde gestern auf der Königlichen Bühne durch die Aufführung des „Fosco“ festlich begangen. Nach sechsjähriger Pause gelangte das Trauerspiel neu einstudirt und zum theil in neuer Inscenirung, die einen starken Ein⸗ fluß der Meiningen'schen Methode erkennen ließ, zur Darstellung. Die Scenenführung hielt sich in ihrer ganzen Ausführlichkeit eng an die erste und ursprüngliche Arbeit Schiller's; nur der dritte Act hatte einige bemerkenswerthe Kürzungen erfahren. Man konnte also die Wirkung des beinahe unverkürzten „Fiesco“ erproben. Der jugendliche Feuer⸗ geist des Dichters flammt hier noch in einer Menge dramatischer Scenen auf, seine reiche Phantasie schwelgt in üppigster, überschwäng⸗ licher Bildersprache; aber der große Vorwurf, das Herz mit dem staatsklugen Kopf in Widerspruch zu setzen, einen Mann durch die eigene anwachsende Größe und Macht tragisch zu verstricken und zu Falle zu bringen, gewinnt unter dem Beiwerk politischer Intrigue nicht so un⸗ mittelbare Gewalt über die Seele der Zuschauer, wie der Kampf rein menschlicher Empfindungen, der in den „Räubern“ und in der „Millerin“ tobt. Die vollendete Ausführung des großen Plans und die wirkliche Lösung eines ganz ähnlichen psychischen Räthsels gelingt dem Dichter erst in einem späteren Werke, als er Wallenstein wie hier Fiesco die Hand nach einer Krone ausstrecken läßt. Der Fiesco“ erscheint daher den Nachgebornen an einzelnen Stellen fast wie eine geniale, aber noch roh umrissene Skizze des „Wallenstein“; man ver gleiche nur den Monolog Fiesco's, als seine Entschließung zwischen dem Republikaner Fiesco und dem Herzog Fiesco schwankt, mit dem großen Monologe Wallenstein's vor dem Empfange des schwedischen Obersten.

Der dramatische Gehalt des „republikanischen“ Trauerspiels war durch die Regie in möglichster Vollendung herausgearbeitet und wiedergegeben. Einen blendenden Eindruck rief gleich beim Emporgehen des Vorhanges der prächtige Ballsaal mit seinen offenen Hallen nach den im bleichen Mond⸗ licht schimmernden Gärten hin hervor. Der hohe Treppenbau, die geschmückte Galerie der Halle gaben den Rahmen her für abgesonderte Scenen, die sich von dem bunten Gewirr, dem schwärmenden Tosen des Ballsaals bedeutungsvoll abhoben. Im letzten Act entwickelte sich der Straßenkampf, der unter nächtlichem Himmel um das Thomasthor tobt, zu packender scenischer Wirkung; die gährenden Leidenschaften stoßen heftiger aufeinander, Schüsse blitzen und knattern durch die Nachtluft und eine mächtige Bombe sprengt flammend und qualmend das Thomasthor.’ Unter den neuen scenischen Bildern verdient aus dem vierten Act der Schloßhof noch besonderer Erwähnung, dem die imposante Einfachheit des großen und schönen Hallenbaues einen vornehmen Reiz verlieh. .““

In der Darstellung, die sehr viele ausgereifte Künstlerkräfte er⸗ fordert, vermißte man etwas von der harmonischen Abrundung, die sonst auf der Königlichen Bühne die widerstrebendsten Theile zu einem schönen Ganzen zu vereinen pflegt. Herr Matkowsky war agls Fiesco voll fürstlichen Anstandes, aber es fehlte ihm die gleißnerische, einschmeichelnde Form der Rede, die dem Fiesco alle Herzen gewinnen soll; seine Natürlichkeit wurde mehr Oberflächlichkeit, sodaß die Gestalt der festen Umrisse ermangelte und mehr schatten⸗ haft als plastisch hervortrat. Die schlaue Staatsintrigue steht dem Gestaltungstalente dieses Darstellers eben ferner, als der Herzton der Empfindung, der die letzte Scene mit der Gattin zu einer so tief ergreifenden machte durch den Sturm wilder Leidenschaft, die den letzten Aufzug überhaupt beherrscht. Mit überraschender Innerlich⸗ keit und mit heißem Temperament spielte Herr Purschian den jungen Bourgognino. Den rauhen, wollüstigen Gianettino gab Herr Keßler mit trotziger Geberde und derbem Ton. Herr Klein war ein Ehrfurcht einflößender Verrina, voll düsteren Grolles und von eiserner Willenskraft; er dämpfte auch etwas den durchdringenden, ge⸗ tragenen, hohlen Klang seiner Stimme, der sonst leicht seinen Ge⸗ stalten den Stempel der Eintönigkeit aufdrückt. Voll milder Hoheit führte Herr Nesper die Rolle des Andreas Doria durch, in dem das monarchische Princip inmitten der wild aufschäumenden Volksleiden⸗ schaften einen Triumph feiert; in stiller Größe steht er über dem Wechsel der Erscheinungen und sein edler Gerechtigkeitssinn, seine fürstliche Seelengröße unterjochen schwertlos selbst den stahlharten Republikaner Verrina. Den Mohren, dieses seltsame Gemisch von Bosheit und Humor, gab Herr Vollmer zum theil mit vorzüg⸗ lichem Gelingen; er arbeitete sich aber erst in seine Rolle hinein und war am natürlichsten, plastisch in der Bewegung und im Mienenspiel, als er sich in frecher Selbstgefälligkeit als Herr der Situation und als ein selbständiger geistiger Hebel der Verschwörung fühlt; die erste Scene mit Fiesco, der Erdolchungsversuch, gelangte nicht recht zur Wirkung. Frau von Hochenburger war empfindsam und fast zu thränenreich für die weichherzige Leonore. Fräulein Poppe gab ein prächtiges Bild der gefallsüchtigen, schönen Julia, dem sie in der letzten Scene, in dem Augenblick der tiefsten Demüthigung, ihrer Weiblichkeit, mit Recht Hobeit zund Würde bei⸗ mischte. Uneingeschränktes Lob verdient Fräulein’ Lazar, deren Bertha durch rührende Einfachheit und natürliche Wärme des Aus⸗ drucks fesselte.

Sing⸗Akademie.

In dem gestrigen Concert des Violinvirtuosen Herrn Waldemar Meyer kam ein seltener gehörtes Violinconcert von Goldmark zur Aufführung. Das Werk zeugt durchweg von Originalität der thema⸗ tischen Erfindung, die mit geschickter und geistvoller Art der Durch⸗ führung vereinigt ist. Das Andante ist eine Gesangscene von tief ergreifender Wirkung. Herr Mexyer trug das Concert mit wahrhaft entzückender Feinheit der Schattirungsweise und mit spielender Leichtigkeit in Ueberwindung der großen technischen Schwierigkeiten vor. Seiner Lei⸗ stung folgte rauschender Beifall, der auch dem Phantasiestück von Gernsheim, der Ballade von Moszkowski und einer Phantasie von Naprawnik zu theil wurde Fräulein Leopoldine von Spira aus München, welche sich hier zum ersten Mal hören ließ, besitzt eine umfangreiche und in der Höhe sehr wohlklingende Stimme, die jedoch noch nicht vollständig ausgebildet erscheint. Hoffentlich wird sie den gedrückten Kehlton beim Gebrauch der tiefen Töne, sowie das Detoniren noch durch fortgesetzte Studien zu beseitigen im stande sein. Aus ihren Gesangs⸗ nummern heben wir eine Arie aus „Wilhelm von Oranien“ von Eckert und Beethoven's Lied „Ich liebe dich“, die der Künstlerin im Ausdruck am besten gelangen, ganz besonders hervor. Sowohl der Concert⸗ geber als auch die Sängerin spendeten noch einige Zugaben, die das zahlreich versammelte Publikum dankbar entgegennahm. Das von Herrn Herfurth geleitete philharmonische Orchester sowie die sehr eracte Klavierbegleitung der Frau Bielen berg verdienen lobend erwähnt zu werden.

Im Friedrich⸗Wilhelmstädtischen Theater gelangt Offenbach's „Pariser Leben“ nur noch heute und morgen zur Auf⸗ führung. Am Sonntag geht als 6. Abend des Offenbach⸗Cyelus „Orpheus in der Unterwelt“ zum ersten Male in Scene.

Im Residenz⸗Theater spielte in letzter Zeit einige Male Herr Haack für den an einem leichten Unwohlsein erkrankten Herrn Hans Pagay die Rolle des Montesson in dem Blum⸗Toché'schen Schwank „Im Pavillon“ (Le Parfum). Seit den letzten Tagen hat

Herr Pagay die von ihm geschaffene Rolle wieder übernommen.