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Die Ausarbeitung der betreffenden Gesetzentwürfe ist gleichzeitig mit der Novelle zum Reichs⸗Militärgesetz begonnen, und sie ist, wie Ihnen durch die Thronkede mitgetheilt worden ist, soweit gefördert, daß die Entwürfe jetzt dem Bundesrath vorliegen, sodaß zu hoffen steht, daß sie binnen kurzem dem Reichstag vorgelegt werden können.
Bei der Frage, wo die Steigerung der eigenen Reichseinnahme zu suchen sein möchte, welche durch diese Mehrausgaben nothwendig wurde, ist leitend gewesen der Gedanke, daß es richtig sei, den Kreis von Einnahmen, welche die Reichsverfassung und der Besitzstand dem Reiche zuweisen, nicht früher zu erweitern, bevor die innerhalb dieses Kreises liegenden Einnahmen voll ausgebaut seien, und die Reichs⸗ verwaltung ist der Meinung gewesen, daß vor allem be⸗ züglich eines der innerhalb dieses Rahmens liegenden Steuer⸗ objecte das Maß der Leistungsfähigkeit noch nicht an⸗ nähernd erreicht sei, nämlich in Bezug auf das Bier. Wir haben denn auch eine Erhöhung der Einnahmen aus dem Bier in erster Linie in Aussicht genommen und die Vorlage, welche zur Zeit im Bundesrath berathen wird, nimmt in Aussicht, im Gebiete der Brau⸗ steuergemeinschaft eine Verdoppelung der jetzigen Steuersätze der Brausteuer eintreten zu lassen. Sie nimmt daneben in Aussicht, dem Vorgange Bayerns folgend, die kleineren Brauereien zu entlasten und zur Deckung der dadurch entstehenden Ausfälle die ganz großen Brauereien schärfer heranzuziehen. Sie nimmt ferner in Aussicht eine entsprechende Erhöhung des Eingangszolls auf fremde Biere von 4 auf 6 ℳ ‚eine Verminderung der den Bundesstaaten für die Erhebung der Brausteuer zufließenden Kosten von 15 auf 10 %. Die Bundesstaaten würden dadurch voraussichtlich immer noch mehr erhalten, als was sie bisher erhalten haben, obwohl die Kosten, welche sie für die Controle und Erhebung aufzuwenden haben, sich kaum wesentlich steigern dürften. Endlich nimmt die Vorlage in Aussicht die Einbeziehung von Elsaß⸗Lothringen in das Brausteuergebiet bei dieser Gelegenheit.
Ein zweites Gesetz beabsichtigt die Stempelsätze der Nr. 4 des Tarifs, zur Zeit ein Zehntel und zwei Zehntel pro Mille, auf das Doppelte zu erhöhen. Man hat bei Einführung dieser Stempel⸗ steuer die Befürchtung ausgesprochen, daß das Geschäft dadurch wesentlich leiden würde, gewisse Kategorien des Geschäfts dadurch überhaupt aus Deutschland gedrängt würden. Diese Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet, der Verkehr hat sich an die Abgabe gewöhnt, und es ist kaum anzunehmen, daß selbst eine Verd oppelung dieser Abgabe einen wesentlichen Rückgang der Geschäfte zur Folge haben würde.
Eine dritte Vorlage beabsichtigt dann Mehreinnahmen zu ziehen aus der Besteuerung des Branntweins. Diese Vorlage geht davon aus, daß die Erfahrungen es höchstwahrscheinlich machen, daß nach Verlauf eines kurzen Zeitraums die Wirkung der Differenzirung des doppelten Steuersatzes von 50 und 70 ℳ für die Preisbildung, also die Wirkung der Contingentirungsmaßregel für das Brauereigewerbe, vollständig verschwinden werden, wenn wir die Gesetze nicht ändern. Wenn wir der neuen Vertheilung die Erhöhung der Bevölkerungs⸗ ziffer zu Grunde legen, so wird voraussichtlich in kurzer Zeit der Zustand eintreten, daß das Contingent höher ist als der Inlandsconsum. Die Erkenntniß dieser Wahrscheinlichkeit macht es nach der Auf⸗ fassung der Reichsverwaltung den verbündeten Regierungen zur Pflicht, die Thatsache dem Reichstag mitzutheilen und eine entsprechende Herabsetzung des Contingents in Vorschlag zu bringen. Diese Herab⸗ setzung ist in Aussicht genommen in Norddeutschland von 4 ½ auf 4 1 pro Kopf der Bevölkerung; es ist weiter in Aussicht genommen eine Veränderung der Contingentirungsperiode von drei auf fünf Jahre, entsprechend den Volkszählungsperioden, den Wahlperioden, eine
Revision einzelner Gesetzesvorschriften, auf die ich heute noch nicht ein⸗
gehen möchte, und endlich eine Erhöhung des Steuersatzes um 5 ₰,
1 lso von 50 ₰ auf 55, welche der Reichskasse eine Mehreinnahme
von etwa 12 ½ Millionen sichern könnte.
Die Mehreinnahmen, welche aus diesen drei Gesetzen zu erwarten sein werden, stellen sich auf ungeszähr 58 Millionen, sie würden also dasjenige decken, was die neue Militärvorlage sofort an dauernden
Nehrausgaben im Gefolge hat.
Was nun den außerordentlichen Etat für 1893/94 betrifft, so haben Sie aus den Ihnen vorliegenden Anleihegesetzen ersehen, daß
ine Anleihe von 168 Millionen nothwendig sein wird; es kommt
dazu diejenige Anleihe, welche im Falle seiner Genehmigung das
Reichs⸗Militärgesetz zur Folge haben wird. So ergiebt sich für die Etatsverwaltung des Jahres 1893/94 ein Anleihebetrag von über 200 Millionen Mark, und es erschien nun bei dieser Sach⸗ lage nicht wohl angängig, auch die unbedingt nothwendige, nament⸗ lich im Interesse der Einzelstaaten und Preußens nothwendige Verstärkung der Betriebsmittel der Reichskasse auch, was ja an sich zulässig sein würde, ganz auf Anleihemittel zu verweisen. Es wird Ihnen deshalb vorgeschlagen, von den hierfür nothwendigen 71 Millionen auf Anleihemittel nur diejenigen 4 Millionen zu nehmen, welche zur Verstärkung der Betriebsfonds der Reichs⸗Postverwaltung bestimmt sind, weil es sich hier um ein Bedürfniß nicht des gesammten Reichs, sondern einer engeren Finanzgemeinschaft handelt, dagegen die übrigen 67 Millionen dem freien Bestande des Reichs⸗Invalidenfonds zu ent⸗ nehmen. Ich kann damit meine einleitenden Bemerkungen schließen und Sie nur bitten, dem Etat und den übrigen Ihnen gemachten Vor⸗ lagen eine eingehende und wohlwollende Prüfung angedeihen zu lassen. Abg. F ritzen⸗Düsseldorf (Centr.): Auf die angekündigten Steuergesetze gehe er nicht ein. Der auf der Tagesordnung stehende Gesetzentwurf wegen Abänderung des Gesetzes, betreffend die Gründung und Verwaltung des Reichs⸗Invalidenfonds, habe mit dem Etat eigentlich nichts zu thun. Wegen der gegen ihn erhobenen staatsrechtlichen Be⸗ denken verdiene er eine sevarate Behandlung und es würde sich deshalb empfehlen, ihn vorläufig von der Tages⸗ ordnung abzusetzen. Der Etat selbst sei nicht nach den Zahlen zu beurtheilen, die er enthalte, sondern nach den Ver⸗ hältnissen, unter denen er aufgestellt sei. Diese Verhältnisse ergäben allerdings ein ziemlich gedrücktes und trübes Bild. Handel und In⸗ dustrie lägen darnieder, die großen Betriebsgesellschaften würfen nicht mehr Dividenden ab wie in früheren Jahren, sondern hätten vielfach Deßicits. Die Handelsverträge, welche im Anfange dieses Jahres ab⸗ geschlossen seien, hätten, wie es scheine, ihre Wirksamkeit noch nicht recht entwickeln können. Noch trüber sei das Bild im kleinen Ge⸗ werbe und Handwerk. Der Abg. Bebel habe vor einigen Jahren hier ausgesprochen, daß das Handwerk unrettbar verloren sei. Er stehe auf diesem pessimistischen Standpunkte nicht. Solle aber das Kleinhandwerk und Handwerk nicht dauernd dem Siechthum ver⸗ fallen, dann müsse man seinen berechtigten Forderungen zu Hilfe kommen, und es werde in diesem Reichstage ni t an Anregungen eehhlen, welche dazu zwingen würden, dazu Stellung zu nehmen. an habe allerdings auch einige lichte Seiten zu ver⸗
zeichnen. In der günstigen Ernte dieses Jahres babe sich so recht die Kraft und edeutung der Landwirthschaft für das Vaterland gezeigt. (Zustimmung.) Sie habe augenscheinlich die Schärfe der Krisis wesentlich abgestumpft. Die Mittel, welche auf dem heimathlichen Boden in diesem Sommer entsprossen seien, seien nicht allein dem Landmann zu gute gekommen, sondern sie seien in Tausenden von Kanälen in alle Schichten des Volks geflossen, sie hätten die Wohlfahrt und Kaufkraft gefördert und so günstig auf Handel und Gewerbe eingewirkt. Eine weitere Lichtseite sei, daß sich voraussichtlich in Nord⸗Amerika ein Umschwung in der Zollgesetzgebung anbahnen werde. Die Zollsätze, welche den Exvort zu nichte gemacht hätten, würden zwar nicht aufhören, aber doch wesentlich herabgemindert werden. Im Colonial⸗Etat befinde sich gegen das Vorjahr eine kleine Minderausgabe für Südwest⸗Afrika. Wenn seine Partei diesem Etat auch in diesem Jahre zustimme, so leiteten sie hierbei nicht materielle Ge⸗ sichtspunkte allein, sondern wesentlich ideale Gesichtspunkte. Sie wünsche, daß den Sklavenjagden ein Ende gemacht und daß in jenem dunklen Erdtheil Christenthum und Civilisation verbreitet werde. Bedeutende Mehrausgaben würden für das Reichsheer und die Marine verlangt. Man werde diese Ausgaben eingehend zu prüfen haben. Müsse man für das Landheer beinahe unerschwingliche Ausgaben machen, so könne das Reich unmöglich ähnliche Aufwen⸗ dungen für die Marine machen. Es könne in Bezug auf die Marine unmöglich mit anderen Seemächten concurriren. Er komme zu dem Etat der Reichsschuld. Das Reich habe hiernach eine Schuld von annähernd 1860 Millionen Mark zu verzinsen; die Zinsen be⸗ trügen 95 966 000 ℳ Eine solche Reichsschuld sei an sich noch nicht besonders besoranißerregend, aber es komme hinzu, daß einmal die⸗ jenigen Betriebe des Reiches, welche gewinnbringend seien, abgesehen von der Reichsbank, die Reichspost⸗ und Eisenbahnverwaltung an Reingewinn nur etwas über 30 Millionen, also noch nicht die Hälfte der Zinsen für die Schuld einbrächten. Dann aber seien die Reichs⸗ schulden vollständig ohne Tilgung, im Gegentheil, das Reich nehme immer neue Anleihen auf. In dieser Beziehung stehe das Deutsche Reich schlechter da als alle anderen Staaten Europas. Frankreich habe eine amortisable Schuld, welche in regelmäßigen Perioden zurück⸗ gezahlt werde, selbst Spanien tilge in bestimmten Zwischenräumen. In Oesterreich habe man eine große Anzahl von Schulden, welche regelmäßig ausgeloost und zurück ezahlt würden. Wenn man auf Rußland blicke, so biete sich dort ein noch viel günstigeres Bild; es gebe keinen Staat in Europa, der relativ so viel für die Tilgung seiner Schulden aufwende wie er. Da müsse sich doch jedem denkenden Menschen die Frage aufwerfen, wohin dieses Borgsystem führen solle. Es sei nur fraglich, was zuerst ein Ende nehmen werde, das Geld des Gläubigers oder der Credit des Schuldners. Aber wenn die Ueberweisungen sich so verminderten, daß sie den Matrikularbeiträgen gleichkämen, wenn die letzten Kräfte der Steuerzahler des Volks mobil gemacht würden, wie solle man da herauskommen? Da sehe er nur drei Möglichkeiten. Entweder werde es zu einer allgemeinen Abrüstung kommen mit Einsetzung eines europäischen Schiedsgerichts; derartige Bestrebungen seien schon vielfach aufgetreten, und er könne ihnen seine Achtung und Theilnahme nicht versagen, aber sie schienen ihm doch verfrüht, und das Ziel in absehbarer Zeit nicht zu erreichen; die zweite Möglichkeit wäre ein europäischer Krieg. Allerdings, was daraus werde, könne niemand voraussagen. Es würden Völker um ihre Existenz ringen, vielleicht einige sich so stark erweisen, daß sie Europa eine Zeit lang die Dictatur des Friedens aufzwingen könnten. Die Aussicht sei jedoch sehr zweifelhaft. Das dritte wäre, daß Europa eine Beute der Socialdemokratie oder der Anarchisten würde. Die erstere biete ja noch eine gewisse sociale Ordnung; aber wenn die Verhältnisse einmal soweit kämen, daß alles drüber und drunter gehe, dann werde es nicht die Socialdemokratie sein, sondern die Partei der Anarchisten, welche die Zügel an sich reiße. Er schließe mit dem Wunsche, daß das Reich ein gütiger Himmel vor diesen Zuständen bewahren möge.
Vice⸗Präsident Graf von Ballestrem: Der Vorredner habe beantragt, die Berathung des Gesetzes betr. den Reichs⸗ Invalidenfonds, von der Tagesordnung abzusetzen.
Das Haus ist damit einverstanden.
Abg. Richter (dfr.): Es sei ein alter und wohlbegründeter Gebrauch des Hauses, bei der ersten Berathung des Reichshaushalts⸗ Etats an der Hand desselben einen Blick zu werfen auf die Etats⸗ ziffern und die allgemeine politische Situation. Den Mittelpunkt solcher Betrachtungen bilde ge enwärtig die neue Militärvorlage. Es sei niemals, so lange der Reichstag bestehe eine Vorlage in diesem Umfange an das Haus gelangt; es handele sich um eine Erhöhung der Friedenspräsenzstärke um mehr als 100 000 Mann, um eine Steigerung der ordentlichen Ausgaben um 64 Millionen Mark. Es sei nicht seine Ab⸗ sicht, jetzt schon über die Erhöhung dieser Präsenzstärke im einzelnen zu sprechen, aber er halte es für geboten, angesichts dieser Vorlage über die Wehrverhältnisse, wie sie sich bis jetzt gestaltet hätten, und über die Finanzverhältnisse, angesichts deren solche Vorlagen gemacht würden, sich näher auszusprechen. Auch der Reichs⸗Schatzsecretär habe in seinen einleitenden Worten bereits einen Blick geworfen auf das Programm der neuen Steuern, welches mit der Vorlage zusammen⸗ hänge. Er (Redner) müsse auch der neulichen Rede des Reichskanzlers gedenken, nicht in Bezug auf die Begründung im einzelnen, aber wohl in Bezug auf seine allgemeinen Betrachtungen über die auswärtigen Verhältnisse und die Finanzfragen. Der Reichskanzler Fürst Bismarck habe es früher einmal als ein Recht für sich in Anspruch genommen, sich selbst zu widersprechen. Aber auch er habe von diesem Recht nie⸗ mals in so drastischer Weise Gebrauch gemacht, wie der gegenwärtige Reichskanzler, wenn man seine Rede vom 24. November 1892 mit der vom 27. November 1891 vergleiche. Damals habe der Reichskanzler vor einem Militär⸗Pessimismus gewarnt. Desselben Pessimismus, vor dem er damals gewarnt;, habe er sich in seiner neulichen Rede schuldig gemacht. Jene Beunruhigungsbacillen, vor denen er im vorigen Jahre gewarnt, hätten bei seiner neulichen Rede hervorgewuchert. Die Zahlenwuth, über die er gespottet, er habe sie in seiner neulichen Rede stark in Anwendung gebracht. Damals habe er ausdrücklich bei dem Halbdunkel, welches naturgemäß über auswärtige Verhältnisse verbreitet sei, gewarnt, sich — machen zu lassen. Man erfahre, daß die neue Militärvorlage in ihrer Entstehungsgeschichte weit zurückgreife, und der Reichskanzler habe schon 1891 der Militärvorlage Erwähnung ethan, welche er bringen würde. Habe sich in den auswärtigen Werhältnifen seit 1891 der⸗ artiges geändert, daß dieselbe Methode, welche der Reichskanzler damals weit von sich gewiesen habe, jetzt als angebracht erscheine? Allerdings habe der Reichskanzler bei der Erwähnung der Vorgänge von 1870 darauf hingewiesen, wie leicht ein Krieg ausbrechen könne. Aber diese Möglichkeit sei ja schon seit 1870 vorhanden und sie sei seit 1891 nicht gesteigert. Allerdings habe er gesprochen von dem Freudenfeuer, dessen Funken sich über das eigene Gehöft verbreiten könnten. Aber die Begegnung von Kronstadt habe schon vor der Zeit der vorjährigen Rede stattgefunden. Damals habe der Reichskanzler sich in Osnabrück beeilt hervorzuheben, daß darin nichts Beunruhigendes liege, und auch 1891 habe er der Kronstädter Begegnung erwähnt als eines solchen Ereignisses, das die Möglichkeit des Krieges nicht um einen Zoll näher rücken könnte, im Gegentheil, daß ein Staat mit Selbst⸗ bewußtsein, Frankreich, mehr für Erhaltung des Friedens bürge, als eine nervöse Gereiztheit eines Staats, die nur im Gefühl der eigenen Schwäche liege. Der Reichskanzler habe hervorgehoben, daß die Vor⸗ lage eine große Bedeutung für die Gegenwart gar nicht habe, daß sie ihre volle Wirkung erst in 24 Jahren haben könne. Ins Leben treten solle ja die Vorlage erst Oktober 1893; sie werde in der Uebergangs⸗ zeit eber eine Schwächung als eine Stärkung der Heeresorganisation herbeiführen; aber die Vorlage knüpfe ja auch gar nicht an die Verhältnisse des Augenblicks an. Hätten sich denn nun die Ver⸗ hältnisse seit 1891 geändert dahin, daß die Militärorganisationen der an⸗ deren Staaten die Zukunft bedrohlich erscheinen ließen? Man sei ja in der Lage, zu vergleichen nach den Mittheilungen, welche die Militärverwaltung jetzt veröffentli t habe, mit denen von 1890. Die Aushebungen seien hiernach in Rußland eher schwächer als stärker im Vergleich zu 1890 angegeben, die Frankreichs hätten sich thatsäch⸗
lich als geringer herausgestellt. Wenn mat die Cadres vergleiche, so hätten zwar Rußland die Artillerie⸗ und Cavallerie⸗-, Frankreich die Infanterie⸗ und Cavalleriecadres vermehrt, aber auch Oesterreich seine Tavallerie⸗, Italien und Deutschland die Infanterie⸗, und alle drei ihre Artilleriecadres. Dem Plus von Frankreich und Rußland im Betrage von 7000 Mann stehe auf Seiten des Dreibundes ein Plus von 13 000 Mann gegenüber. Das seien doch keine Vermehrungen, die es rechtfertigten, die Sache jetzt anders anzusehen als 1890/91. Das neue französische Militärgesetz sehe allerdings eine Cadresvermehrung vor bei solchen Truppengattungen, wo die französische Armee schwächer sei als die deutsche. Das sei aber das Bezeichnende dieser Vorlage, daß sie trotz der Vermehrung einiger Cadres die Friedenspräsenzstärke nicht erhöhe, ja nicht einmal den Militär⸗Etat gegen früher erhöhe. Die französischen Blätter machten auch gar kein Hehl daraus, daß Frankreich an dem Ende seiner militärischen Leistungen angekommen sei. Die Defirits in den Cadres würden sich dort in jedem Jahre noch steigern, da die Geburtsziffer von Jahr zu Jahr erheblich abnehme, während die Sterblichkeitsziffer die Zahl der Geburten jetzt schon übertreffe. Wenn in diesen Veränderungen nichts liege, um große Neuformationen zu begründen, so würde nur übrig bleiben, den Stand von 1890 hier und jenseits der Grenzen in Vergleich zu ziehen. Dies habe aber zu den Resolutionen Veranlassung gegeben, in denen sich der Reichstag egen eine solche Neuorganisation verwahre. Wenn der Reichskanzler im Besitz von Nachrichten wäre über zukünftige Militärorganisationen, welche er glaube der Oeffentlichkeit vorenthalten zu müssen, so müßte er doch den Ministern von Oesterreich und Italien Mittheilung dar⸗ über machen, es müßte sich dort ein ähnliches Streben zeigen wie hier. Was geschehe aber dort? Der österreichische Minister⸗Präsident habe die Lage so geschildert, daß er es für erechtfertigt erkläre, wenn es sich mit einer sehr mäßigen Steigerung 8 Wehrkraft begnüge. In Italien halte man eine Erhöhung über den gegenwärtigen Stand hinaus nicht für nöthig. Italien sei französischen Landungsversuchen weit mehr ausgesetzt als die deutsche Küste, und Oesterreich sei in alle Fragen, die sich auf der Balkanhalbinsel entspinnen könnten — und dort liege ja schließlich der Gegensatz der Interessen —, weit mehr verwickelt als Deutschland. Wenn auch die nähere Untersuchung der Wehrverhältnisse in den Bereich der Verhandlung über die Militärvorlage falle, so glaube er doch schon jetzt einige allgemeine Verwahrungen einlegen zu müssen gegen die Darstellungen, mit denen der Reichskanzler neulich die Vorlage eingeleitet habe. Er habe von einer militärischen Suprematie gesprochen, die Deutschland 1870 über Europa besessen und die es jetzt verloren habe. Die Thatsache sei ihm (dem Redner) neu gewesen. Hätte Deutschland eine solche Supre⸗ matie 1870 besessen, so hätte Luxemburg nicht geräumt werden die Hohenzollern hätten nicht auf den Thron von Spanien verzichten brauchen und Rußland hätte sich nicht einseitig vom Pariser Frieden lossagen können. Eine Militärsuprematie glaube seine Partei auch gar nicht be⸗ rechtigt zu sein anzustreben. Das würde der Gleichberechtigung und dem Selbstbestimmungsrecht der europäischen Völker widersprechen. Er glaube auch, der Ausdruck sei nur unglücklich gewählt, und er habe dem Reichskanzler Gelegenheit geben wollen, jetzt darauf zurückzu⸗ kommen. Verwahren müsse er sich zweitens gegen die Art, wie der Reichskanzler die Verhältnisse des Dreibundes im allgemeinen beur⸗ theile. Er stelle es so dar, als wenn Italien keine andere Bedeu⸗ tung hätte, als Oesterreich den Rücken zu decken, und als ob Oester⸗ 2u trotzdem es dann seine ganze Kraft gegen Rußland wenden könne, doch nicht für Deutschland die Möglichkeit eines russischen Krieges vermindere. Dann wäre es unrichtig, die Schaffung des Dreibundes als ein so Koßes Verdienst des Fürsten Bismarck hin⸗ zustellen, wie das der Rei skanzler gethan habe; dann lege ja der Dreibund dem Deutschen Reich mehr Verpflichtungen auf, als wenn es gus eigenen Mitteln auf seine eigene Kraft sich verlassen müsse. Er verwahre sich gegen eine solche Unterschätzung der Bedeutung des Dreibundes. Ferner müsse er sich verwahren gegen die⸗ jenige Methode, mit der der Reichskanzler im Wider⸗ spruch zu seiner vorjährigen Rede die militärischen Kräfte Deutschlands und der anderen Staaten geschätzt habe. Nichts sei einseitiger, als nach den Ziffern der Kriegsarmeen die Wehrkräfte eines Staats zu berechnen. 1891 habe er gesagt: „Ich glaube, daß es keine Nation giebt, die für eine künftige Kriegsführung so gute Chancen aufweist, wie die deutsche“; und neulich habe er gesagt: „Wir sind zu alt, zu schwach, zu lose in Bezug auf unsere Heerks⸗ formation“. Wenn damals der bestimmt ausgesprochene Glaube ein so entgegengesetzter von dem heutigen gewesen sei, welche Autorität könne man dann noch den heutigen Versicherungen des Reichskanzlers schenken? Der Reichskanzler habe gesagt: „Bedenken Sie wohl die Gefahr, welche für Deutschland vom Ausland entsteht, wenn Sie die Militärvorlage ablehnen; es könnte das Ausland daraus entnehmen, daß Deutschland nicht gewillt ist, sich ferner zu vertheidigen’. Wenn es hier zu einer Ablehnung komme, dann sei es nicht die Ablehnung dessen, was nothwendig sei, sondern es geschehe aus dem Vollbewußt⸗ sein, daß Deutschland stark genug in der gegenwärtigen Rüstung sei, um sich des Feindes damit zu erwehren, und auch in dem Bewußt⸗ sein, daß Deutschland nachgerade stark genug sei, um das, was für es selbst in Betracht komme, selbstaavig überlegen zu können. Wenn das parlamentarische Votum für das Ausland so viel bedeute, dann hätte der Reichskanzler selber überlegen müssen, welche Chancen eine Vorlage im Hause haben könne, die sich so in Wider⸗ spruch setze mit den Ansichten, die dasselbe Haus noch im Sommer 1890 in Resolutionen gefaßt habe. Wenn das Ausland seine Rede ernst nehme, dann habe der Reichskanzler das Ausland geradezu ein⸗ geladen, Deutschland jetzt mit Krieg zu überziehen. Aber er [Redner) möchte auch vermeiden, daß auf das eigene Volk diese Ausführungen des Reichskanzlers einen falschen Eindruck hervorriefen; um so mehr, als er fürchte, daß die Tonart, die er bier angeschlagen habe, in verstärktem Maße bald in der ganzen 88 ergebenen Presse Nachklang finde. Alle Kreisblätter im preußischen Staat seien, Dank den Bemühungen des preußischen Uümne ger Prlstdenten Grafen Eulenburg, angefüllt mit Artikeln für die neue Militärvorlage, mit Hinweisen auf Frank⸗ reich und Rußland, alles, um das Volk graulich zu machen. Wenn man den Schilderungen des Reichskanzlers glaube, so wäre seit 1871 nur Stückwerk geschaffen. Der Reichskanzler gebe nicht dem Reichstag dafür die Schuld und entschuldige auch seine Vorgänger, indem er sage, dieselben hätten zu sehr den wirthschaftlichen und finanziellen Interessen, den bürgerlichen Verhältnissen? echnung getragen. Seiner Partei seien diese Vorgänger, Graf Roon, von Kameke Bronsart von Schellendorf, Moltke, nicht so vorgekommen, als wenn sie zu sehr geneigt gewesen wären, die finanziellen Rüsssichten über die militärischen zu setzen. Sie habe den entgegengesetzten Eindruck gewonnen und und manchen Strauß darüber ausgefochten, und sie habe mit Recht, wie sich jetzt berausstelle, darüber geklagt, daß man nicht früher die zweijährige Dienstzeit n fübrt habe. Der Reichs⸗ kanzler frage: „Jene Kämpfer von 1870/71 haben ihr Blut hin⸗ gegeben, ihr wollt nicht einmal Geld geben? Wenn jemals ein Aus⸗ spruch eines Reichskanzlers ungerechtfertigt gewesen sei dem Reichstag gegenüber, so sei es dieser gewesen. Seine Partei sei nicht ver⸗ antwortlich für die ganze Summe der milttärischen Aufwendungen seit 1870, aber sie sei. immerhin für so viel verantwortlich, daß auch sie den Anspruch habe, eine solche ungerechtfertigte Frage zurückzuweisen. Gerade an diesem Etat sehe man, welche Aufwendungen für mili⸗ tärische Zwecke gemacht seien. Wenn diese Summen auch nur an⸗ nähernd bewilligt würden, dann habe man in Deutschland seit 1870 12 Milliarden ausgegeben. Der Militär⸗Etat betrage heute 428 Millionen, damals nur 240 Millionen. Das Ordinarium habe sich im Verhältniß verdoppelt. Der Marine⸗Etat sei von 12 auf 48 Millionen gestiegen, habe sich also vervierfacht. Wodurch sei es möglich Frgeen. diese dauernden Lasten zu bestreiten? Nur dadurch, daß die Reichssteuern in so r reede h großem Umfang erhöht worden seien, namentlich in den letzten dreizehn Jahren. 1878/79 hätten die Reichssteuern und⸗Zölle Brutto 264 Millionen, 1891/92 431 Mil⸗ lionen betragen. Der Reichskanzler habe gemeint, Deutschland habe in den französischen Milliarden ein Haar gefunden. Die Armee habe darin sicher kein Haar gefunden, sie habe neue
Gewehre, neue Geschütze, neues Kriegsmaterial erhalten und die Mittel zum Umbau von 12 Festungen darin gefunden. Von den deutschen Festungen spreche der Reichskanzler nicht, und doch habe es 1871 geheißen, daß Metz im deutschen Besitz allein eine deutsche Armee aufwiege. Die russischen Cavalleriemassen würden die deutsche Mobilmachung so wenig stören, wie 1870 die französische Cavallerie. Sie würden gegenüber dem kleinkalibrigen Gewehr und der an der Fstarenze stationirten deutschen Cavallerie nicht weit kommen. Man wisse genau, daß an den bedrohten Punkten der Grenze die Mobil⸗ machung nicht mehr nach Tagen zähle, sondern nach Stunden. Von den 4 französischen Milliarden hätten Heer und Marine von vorn⸗ herein 3 Milliarden für ihre Zwecke verbraucht. Nur 1 Milliarde sei für civile Zwecke und die Einzelstaaten übrig geblieben. Die Einzelstaaten hätten diese Milliarden zum großen Theil wieder ver⸗ wendet zu Eisenbahnbauten, die weit mehr im Interesse der Militär⸗ verwaltung gelegen hätten als im bürgerlichen. Zur Aufwendung der französischen Milliarden seien noch weiter Schulden gekommen. Wenn der Reichstag die Anleihen genehmige, die in diesem Etat verlangt würden, dann habe das Reich bereits die zweite Milliarde Schulden über⸗ schritten. In den letzten 6 Jahren hätten sich die Reichsschulden vervierfacht, jetzt würden wieder 197 Millionen in dem Extra⸗ ordinarium für Wehrzwecke verlangt. Man möge sich doch der großen Credite erinnern, die für Kriegsmaterial gerade in den letzten Jahren bewilligt seien. Man habe ein neues Gewehr zu verschiedenen Malen den Truppen gegeben, und sei dabei den anderen Staaten nicht nach⸗ gebinkt, sondern ihnen voraus gewesen. Gegen eine solche Beschaffung habe der Reichstag keinen Einspruch erhoben. Neue Festungscredite seien hinzugekommen, eine ganze neue Flotte sei seit 1888 im Bau begriffen für 200 Millionen, große Artilleriecredite seien bewilligt. Es gebe nicht 50 Offiziere im Heere, nicht 5 Mitglieder im Reichs⸗ tage, die vollständig die deutsche Wehrkraft zu übersehen im stande seien. Es sei richtig. auch Frankreich und Rußland hätten die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, aber 1870 habe Deutschland noch keine Verbündeten gehabt, und Oester⸗ reich⸗Ungarn und Italien hätten jetzt auch die allgemeine Wehrpflicht. Vollständig durchgeführt sei die allgemeine Wehrpflicht in Deutsch⸗ land im Kriege 1870 auch noch nicht gewesen. Es sei unrichtig, daß das Deutsche Reich im Verhältniß nicht so stark sei wie früher Preußen. In seiner großen Rede habe 1888 Fürst Bismarck die neuen Landwehrsoldaten zweiten Aufgebots als eine Armee von Triariern bezeichnet, vom besten Material, das man überhaupt habe. Heute bezeichne der Reichskanzler den Landwehrmann von 32 Jahren als einen „alten“ Mann. Die Spitze an den bekannten Artikeln zur Verunglimpfung der Landwehr habe der Reichskanzler möglichst abzu⸗ schwächen versucht. Aber im großen und ganzen habe er die Ent⸗ rüstung über diese officiösen Artikel für ungerechtfertigt erklärt. Der Reichskanzler habe die Landwehr die wacklige Spitze einer Pyramide genannt. Er (Redner) sei umgekehrt der Meinung, daß die Landwehr die Krönung in dem großen Gebäude der allgemeinen Wehr⸗ pflicht bedeute. Sonst hätte man nicht in Rußland und in Frankreich sich beeilt, den deutschen Landwehrmann unter anderem Namen zu copiren. Da der Reichskanzler zum ersten Male in der Oeffentlichkeit von den vierten Bataillonen gesprochen habe, brauche er (Redner) sich in dieser Beziehung keinen Zwang aufzuerlegen. Gerade darin sehe er den Unterschied der Stärke von heute und 1870/71. Heute ständen hinter jedem In⸗ fanterie⸗Regiment drei Reserve⸗Bataillone und dahinter folgten erst zwei Landwehr⸗Bataillone. 1870/71 habe man keine Reserve⸗ Bataillone gekannt; da hätten hinter den Linien⸗Bataillonen sogleich die zwei Landwehr⸗Bataillone gestanden. und die zwei Landwehr⸗ Bataillone habe man nicht einmal 1870/71 completiren können, weil die allgemeine Wehrpflicht noch nicht in vollem Maße durchgeführt gewesen sci. Der Reichskanzler meine, diese Reserve⸗Ba⸗ taillone beständen aus Landwehrleuten, das sei auch nicht ganz richtig. Diese Reserve⸗Regimenter seien gemischt aus Landwehr und Reserve. Nach dem Generalstabswerk habe die deutsche Kriegs⸗ stärke 1870/71 im höchsten Stande 1 350 787 Mann betragen. 1890 habe die Militärverwaltung die Kriegsarmee angegeben auf 2 900 000 Mann. Jetzt komme man auf vier Millionen und darüber auch ohne Erhöhung der Friedenspräsenzstärke. Und dazu kämen noch die Millionen der Kriegsarmeen dec Verbündeten. Die 57 Millionen Mark, habe der Reichskanzler gesagt, seien nicht unerschwinglich. Damit seien aber die Neuforderungen für das Heer nicht erschöpft. Dieser Etat erhöhe die Matrikularbeiträge ur⸗ 35 Millionen Mark, was zu 6 waus den Mehrausgaben für Heer und Marine folge, denn der Ueberschuß des Vorjahres sei von 15 auf 4 Millionen zurückgegangen, weil Heer und Marine ihren Etat um 8 ½ Millionen überschritten hätten. Die Erhöhung der Schulden⸗ zinsen um fünf Millionen sei auch eine Folge extraordinärer Auf⸗ wendungen für Heer und Marine. Trotz aller Absichten der Spar⸗ samkeit werde sich in diesem Etat nichts Echebliches streichen lassen; die Sparsamkeit eines einzelnen Etats sei überhaupt nicht entscheidend für die Finanzlage, sondern die gesammte gesetzliche Organisation. Auch ohne Militärvorlage würden die Ausgaben für Heer und Marine in den nächsten Jahren außerordentlich wachsen. Mit Erstaunen habe
er in der Thronrede gelesen: „Die Bundesstaaten werden in den
ihnen gebührenden Ueberweisungen eine mehr als ausreichende Deckung für die allen gemeinsamen Matrikularbeiträge vom Reich empfangen.“ Die Matrikularbeiträge betrügen 356, die Ueberweisungen 349 Millionen Mark. Die Matrikularbeiträge 1 also um 7 Millionen höher als die Ueberweisungen, werde in der Thronrede gesagt, daß 349 Millionen
als ausreichend seien, um 356 Millionen zu decken. Der Staat, Preußen, habe 1891/92 ein Deficit von
42 Millionen, und der neue Etat sei nicht günstiger. Die preußische Thronrede sage: Eine Wendung zum besseren sei nicht eingetreten; die neuen Ausgaben seien auf das allernothwendigste zu FescHensen; die Ausgaben für Culturzwecke könnten keine Erhöhung erfahren, und bei habe der Reichskanzler gesagt, jedes Volk habe eine Culturauf⸗ gabe zu erfüllen. Die Mehrforderungen für Heer und Marine be⸗ schränkten die Culturaufgaben. Man wolle zu neuen Reichssteuern übergehen, und der Staatssecretär Freiherr von Maltzahn habe das Programm entwickelt. Er sei mit dem Hut in der Hand in Süd⸗ deutschland herumgereist von einem Finanz⸗Minister zum andern und habe sich nach deren besonderen Geschmackrichtung für neue Steuern erkundigt, und so sei die Speisekarte entstanden. die er jetzt vorlege. Aber selbst sein herausgerechnetes Plus reiche mit den 58 Millionen noch nicht für die erforderlichen 64 Millionen der neuen Militär⸗ vorlage aus. Das Tabacksteuerproject habe man aufgegeben, nachdem s die Leute beunruhigt, Werthverschiebungen und wilde Speculation hervorgebracht habe, weil man es nicht mehr brauche. Die neue Bier⸗ steuer bringe 30 Millionen, mehr als die Hälfte der ganzen erforderlichen Summen. Der Reichskanzler nehme es leicht, weil es nicht bis an den Ausschank komme und die Consumenten nichts merkten. Woher kämen denn die 30 Millionen? Würden sie die Brauereien bezahlen, so würden nach der Berechnung des Herrn Rösicke die besteingerichteten,
größten Brauereien durchschnittlich ihre Dividende von 5 ½ auf 1 ½ kürzen müssen, das wäre eine Vernichtung des Anlagekapitals um 72 %, oder meine der Reichskanzler, die Ausschänker würden es be⸗ zahlen. Die Ausgaben für Bier könne man doch nicht als Luxus bezeichnen, den man leichten Herzens durch neue Steuern schmälern könnte. Selbst Autoritäten der Regierung erklärten es für das beste und sicherste Mittel gegen die Branntweinpest, ein nicht zu theueres und gesundes Bier. Durch solche Vertheuerung verschlechtere man die Qualität des Bieres und erschwere dessen Concurrenz mit dem Branntwein. In diesem Etat würden 731 Millionen Mark Brutto aus Zöllen und Verbrauchssteuern vom deutschen Volk aufgebracht, das mache pro Kopf 14 Ejährlich, oder 70 ℳ für eine Familie von fünf Personen. Die scharfe Einkommensteuer in Preußen habe ergeben, daß 7⁄0 der preußischen Bevölkerung, d. h. 21 Millionen unter den 30 Millionen, mit einem Einkommen unter dem steuerpflichtigen Betrag von 900 ℳ fürlieb nehmen müßten. Die Unfallversicherung ergebe, daß E nur 2 ℳ Tagelohn be⸗ zahlt würden. Daß eine Wendung zum Bessern nicht wahrnehm⸗ bar sei, zeigten die Oktober⸗Ergebnisse, die nicht einmal nachgeholt hätten, was durch die Cholera gestört sei. Im Gegentheil seien die
Oktober⸗Einnahmen Preußens niedriger gewesen als im Vorjahre. Dasselbe ersehe man aus den Ergebnissen der Stempel⸗Einnahmen. Diese Situation sei nicht so vorübergehend, wie manche annähmen. Man habe seit 1890 eine anhaltende Depression zu bekämpfen. Im ersten Halbjahr 1892 sei die Zahl der Konkurse um 1503 größer gewesen als der Durchschnitt der erstet Halbjahre seit 1890. Die Kapital⸗ und Steuerkraft Deutschlands sei durch die großen Fordermngen für militärische Zwecke in den letzten Jahren gewiß schon erheblich in Frage gestellt. Gehe es nun noch weiter, so werde trotz vermehrter Soldaten durch die erschütterte Kapitalkraft auch zuletzt die Wehrkraft des Landes nicht gestärkt, sondern geschwächt werden, und dies zu verhindern, halte er für eine gebieterische und patriotische Pflicht. Von diesem Standpunkte aus werde seine Partei die Militärvorlage demnächst in nähere Berathung ziehen.
Reichskanzler Graf von Caprivi:
Der Herr Abg. Richter hat im Beginn seiner Rede mich in einer Weise angegriffen, die die denkbar schärfste war, der ich aber irgend eine Berechtigung nicht zuerkennen kann. Er hat die Behauptung aufgestellt, ich folgte dem Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heilige⸗ und mir wäre heute schwarz, was mir gestern weiß gewesen wäre. (Widerspruch von links.)
Der Herr Abgeordnete hat, indem er dies sagte, sich auf meine Rede vom vorigen Jahre gestützt und diese als Beweis angeführt, aber nur diejenigen Stellen aus dem Zusammenhang gerissen, die ihm etwa passen konnten. Ich muß nun um die Erlaubniß bitten, auf diese Rede vom vorigen Jahre zurückzukommen. Ich habe in dieser Rede vom vorigen Jahre an einer Stelle wörtlich Folgendes gesagt:
Wenn ich eine Truppe zu führen hätte und wüßte: sie soll sich
morgen schlagen, — dann würde ich das Bestreben haben, sie
heute Nacht ruhig schlafen zu lassen.
Ich habe nach einer längeren Ausführung in diesen Worten zu⸗ sammengefaßt, daß ich nicht Willens wäre, die Nation zu beunruhigen, ohne daß eine Nothwendigkeit vorläge. Ich habe denselben Stand⸗ punkt in meiner letzten Rede festgehalten: ich habe Alles vermieden, was beunruhigen könnte. Wenn ich aber bei diesem militärischen Gleichniß stehen bleiben darf: ich habe nicht Alarm geschlagen, son⸗ dern ich habe die schlafende Truppe ruhig aufwecken lassen, weil ich wünsche, daß sie an die Gewehre tritt, daß sie namentlich aufgerufen wird, um festzustellen, ob sie noch stark genug ist; damit sie Waffen und Munition nachsieht und sich dann wieder zur Ruhe legt.
Ich habe in derselben Rede vom vorigen Jahre gesagt:
Ich will damit nicht sagen, daß unsere Armeeverwaltung nicht das Aeußerste einsetzen muß. Ich will aber nicht leugnen, daß, wenn es hart auf hart kommt, wir großen Gefahren ausgesetzt sind;
aber beunruhigen können wir uns immer noch später, so weit ist die Sache noch nicht.
Ich habe in derselben Rede weiter gesagt:
Denn wir Deutsche haben einen Factor, der uns hoffen läßt/ daß, wenn es noth wird, wir unsere Armee verstärken können: die steigende Bevölkerungsziffer. 8
Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß im nächsten Winter die Regierungen mit diesem hohen Hause in Verhandlung darüber eintreten werden, wie diese steigende Bevölkerungsziffer ausgenutzt werden kann, um auch unsere Wehrkraft eiktsprechend zu steigern.
Also ich bin mir im vorigen Winter darüber so klar gewesen, als ich mir heute bin, daß wir nicht am Ende der Entwickelung unserer Wehrkraft sind. Wenn ich im vorigen Jahre Sie nicht auf⸗ rufen, Sie nicht in der Ruhe habe stören wollen, so hatte das seinen Grund darin, das dies keinen Zweck gehabt hätte.
Ich habe Ihnen geschildert, wie im Jahre 1890 das Verdy'sche Project aufgestellt wurde, welche Schicksale es im preußischen Staats⸗ Ministerium gehabt hat, und habe Ihnen gesagt, daß Jahre — bis jetzt — darüber hingegangen sind, in denen dies Project weiterer Prüfung unterzogen wurde. Im vorigen Jahre war diese Prüfung noch nicht so weit gediehen, daß wir im stande gewesen wären, dem hohen Hause ein Project vorzulegen, auf dessen Annahme wir hoffen konnten. Da der Zustand im vorigen Jahre ein solcher war, habe ich mich gehütet, irgend ein unnöthig beunruhigendes Wort zu sagen Ich habe mich aber auch wohl gehütet, zu verschweigen, daß wir uns in einer Lage befinden, in der die Steigerung unserer Wehrkraft noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden darf.
Der Herr Abgeordnete hat mir unterstellt — und das ist nicht die einzige irrige Unterstellung in seiner langen Rede —, ich habe hier den Werth der italienischen Bundesgenossenschaft beruntergesetzt; ich hätte gesagt, Italien sei zu nichts da, als um Oesterreich den Rücken zu decken. Ich rufe das hohe Haus zum Zeugen dafür auf, ob ich das gesagt habe: der stenographische Bericht enthält kein Wort davon, und wenn der Herr Abgeordnete den Versuch machen will,
mich zu Aeußerungen über die Zukunftsstrategie des Dreibundes zu.
drängen, so hat er hiermit einen Fehlschlag gethan; das werde ich nicht thun. (Bravo! rechts.)
Der Herr Abgeordnete hat die Behauptung aufgestellt, ich habe einen ungerechten Ausspruch gegen den Reichstag gethan in Bezug auf dessen Verdienste um die Vermehrung, die Stärkung der deutschen Wehrkraft seit dem Jahre 1870. Den Ausspruch habe ich nicht gethan. Ich habe, als ich das vorige Mal die Ehre hatte, vor Ihnen zu sprechen, ausdrücklich hervorgehoben, daß wie von Seiten der Ver⸗ waltung, so auch von Seiten des Reichstags das Mögliche geschehen wäre, um die deutsche Wehrkraft in einen brauchbaren, tüchtigen Zu⸗ stand zu versetzen. Wenn ich das von dem Deutschen Reichstag gesagt habe, so kann ich das zu meinem Bedauern in einem solchen Umfange von der freisinnigen Partei nicht sagen. (Heiterkeit links.)
Mit Ausnahme des Jahres 1888 hat, so viel ich sehe, die frei⸗ sinnige Partei allen den Forderungen der verbündeten Regierungen, welche auf eine organische Stärkung unserer Wehrkraft abzielten, widerstanden. Die freisinnige Partei hat widersprochen der Fest⸗ setzung der Friedenspräsenzstärke in der Verfassung des Norddeutschen Bundes mit 15 Stimmen, — 2 waren dafür; dem Gesetz vom 9. Dezember 1871, betreffend die Friedenspräsenzstärke, hat die Ge⸗ sammtheit der freisinnigen Partei widersprochen; sie hat dem Militär⸗ gesetz widersprochen mit 32 Stimmen, während nur 8 dafür waren; sie hat dem Gesetz über die Ergänzung des Reichs⸗Militärgesetzes vom 6. Mai 1880 widersprochen in ihrer Gesammtheit; sie hat dem Gesetz, betreffend die Friedens⸗ präsenzstärke, vom 25. November 1886 widersprochen in der Gesammt⸗ heit; sie hat später geschlossen gegen denselben unveränderten Entwurf noch einmal gestimmt; sie hat nicht widersprochen dem Gesetz, be⸗ treffend Veränderung der Wehrpflicht, vom 11. Februar 1888; sie hat widersprochen dem Gesetz, betreffend Aenderung der Friedenspräsenz⸗ stärke im Jahre 1890, in ihrer Ges umtheit. daß,
wenn auch dies hohe Haus das vollste Recht hat, für sich in Anspruch zu nehmen, daß es nichts versäumt hat, was vog ihm für die Stärkung unserer Wehrpflicht gefordert wurde, das gleiche Verdienst doch nicht der freisinnigen Partei in demselben Maße zugesprochen werden kann. (Sehr richtig! rechts.)
Der Herr Abg. Richter gerirte sich hier als Vertreter des Hauses nach dieser Richtung. Ich glaube, das war nicht klug; die Rolle hätte er lieber nicht annehmen sollen. (Sehr richtig! rechts.)
In Preußen, nachdem der Conflict angefangen hatte und der dänische Krieg kam, hat ein Abgeordneter der freisinnigen Partei den Ausspruch gethan: Nun, right or wrong, my country! Recht oder Umecht, mein Vaterland! Das war schön und patriotisch von ihm; aber es kam drei Jahre zu spät. Im Jahre 1866 — und ich entsinne mich dessen noch mit Freuden — ging aus Breslau von frei⸗ sinnigem Munde der Ruf aus: Die preußische Demokratie wird immer da zu finden sein, wo Preußens Kriegsfahne weht. Das klang er⸗ hebend; nur kam es auch 6 Jahre zu spät. Die Reorganisatisn war 1861 angefangen worden, und wenn man auf die Freisinnigen gehört hätte, so wären Preußens Fahnen im Jahre 1866 nicht zum Wehen gekommen. (Bravo! rechts.)
Die Militärvorlage steht nicht auf der heutigen Tagesordnung, und ich will mich auch hüten, auf Einzelheiten einzugehen, am aller⸗ wenigsten auf Zahlen. Ich bin von der Zahlenwuth persönlich so wenig besessen, daß ich mich auch im Folgenden darauf gar nicht ein⸗ lassen werde. Aber ich muß doch einige Bemerkungen wenigstens richtig stellen, und zwar ist die wesentlichste darunter die, die er dahin zusammenzufassen suchte, daß ich eine falsche Darstellung von den Wirkungen dieses Gesetzes auf unsere Wehrkraft gegeben hätte.
Er hat mir hierbei vorgeworfen, ich hätte bei Vertheidigung dieser Vorlage unsere Schwächen zu sehr bloßgelegt. Ich möchte nun mal von Herrn Richter wissen, wie ich denn eigentlich diese Vorlage ver⸗ theidigen soll. Ueber die auswärtige Politik seine Wißbegier zu be⸗ friedigen, wird mir leider nicht überall möglich sein; über unsere Bundesgenossen noch mehr zu sprechen, ebenso wenig. Wie soll ich denn nun beweisen, daß unsere Kräfte ungenügend sind, als indem ich den Schleier von einigen Blößen, die unsere Organisation zur Zeit hat, wegziehe? Und ich werde mir er⸗ lauben, ihn jetzt noch etwas weiter wegzuziehen, weil ich eben sehe, daß mir kein anderes Mittel übrig bleibt. Ich bin so fest von der Nothwendigkeit einer Verstärkung unserer Wehrkraft überzeugt, daß ich selbst diesen Schaden in Kauf nehme in der Ueberzeugung, daß Sie schließlich doch der Vorlage zustimmen werden.
Wir haben — und das wird der Herr Abg. Richter ja zugeben — eine verstümmelte dreijährige Dienstzeit und eine verkrüppelte Wehrpflicht.
Das erstere Factum, daß die dreijährige Dienstzeit Formen an⸗ genommen hat, die auf die Dauer nicht haltbar. sind, ist, glaube ich, ziemlich allgemein anerkannt. Hier muß Wandel geschaffen werden. Der Herr Abg. Richter ist nun der Ansicht: gebt die zweijãhrige Dienstzeit, dann bekommt Ihr ohne weiteres mehr Soldaten. Weiter giebt er uns vielleicht noch einige kleine Compensationen in Bezug auf Patronenzahl u. dergl., aher auf eine Verstärkung scheint er nicht eingehen zu wollen.
Ja, wenn wir nun den Spieß umkehrten, wenn wir nun ein Paroli darauf böten und sagten: wir geben zu, der jetzige Zustand ist nicht erträglich, Ihr wollt uns aber die Compensationen nicht geben, deren wir zu bedürfen glauben — was bleibt uns dann übrig? Wenn wir einen Conflict nicht wollen, dann gehen wir auf die volle drei⸗ jährige Dienstzeit zurück, die verstümmelte wollen wir nicht länger, wir entlassen keine Dispositionsurlauber mehr, sondern schwächen unser Contingent um die jährliche Zahl der Dispositionsurlauber, gehen auf die vollen drei Jahre Dienstzeit zurück und fragen nicht, was aus Deurschland wird. (Bewegung links.) Das wäre ein durch⸗ aus verfassungsmäßiger, aber, glaube ich, überaus gefährlicher Weg; die verbündeten Regierungen werden, wie ich annehme, diesen Weg nicht betreten.
Die verstümmelte dreijährige Dienstzeit wirkt ja sehr verschieden sie wirkt auf Truppentheile mit einem starken Etat anders als auf solche mit schwachem Etat; sie wirkt anders in ländlichen Districten, sie wirkt anders in großen Städten. Aber darüber, daß sie nach⸗ theilig wirkt, und daß da Abhilfe geschaffen werden muß, ist, glaube ich, kein Zweifel. Und wenn wir die Abhilfe in der zweijährigen Dienstzeit zu finden glauben, so geschieht dies — das wiederhole ich nochmals — immer nur unter der Voraussetzung, daß wir die Compen⸗ sationen bekommen, die wir nöthig halten.
Nun scheint der Herr Abgeordnete — und ich muß deshalb noch einmal darauf zurückkommen — doch nicht ganz gefaßt zu haben, welchen Werth wir auf die Verjüngung legen. Wir haben jetzt einen Zustand, bei welchem nach Ausweis der Ihnen vorgelegten gedruckten Resultate des Ersatzgeschäfts für 1891 etwa 88 000 Mann der Reserve überwiesen worden sind und 15 000 verfügbar blieben, rund 100 000 Mann, von denen 15 000 etwa zu einer Reserveübung eingezogen werden; die anderen gehen militärisch ganz leer aus. Es entsteht also ein Zustand, welcher bewirkt, daß gegen 100 000 Leute jähr⸗ lich — d. h. eine Million und zweimalhunderttausend Leute, wenn ich auch nur die ersten 12 Jahre der Wehrpflicht in Betracht ziehe, ohne zu dienen zu Hause bleiben. Von diesen Leuten mag im Laufe der Mobilmachung Mancher herangezogen werden als Ersatz reservist, auch als Landsturmmann, aber er wird erst später heran⸗ gezogen, er wird herangezogen werden, wenn die erste Entscheidung gefallen, das erste Blut geflossen ist. Seine Ausbildung wird, wenn man sie auch noch so sehr beschränkt, immer eine gewisse Zeit er⸗ fordern. Es bleibt also bestehen, selbst wenn ich diese 100 000 auf 60 000 reducire, indem ich annehme: man hat bisher in die Ersatz⸗ reserve eine große Anzahl von Leuten geschrieben, deren körperliche Beschaffenheit es mehr räthlich macht, sie lieber zu Hause zu lassen, — daß immer 60000 Mann jährlich übrig bleiben würden, die nicht herangezogen werden.
Was ist die Folge? Wir brauchen einmal eine größere Truppen zahl, um den Zukunftskrieg zu bestehen. Es werden also für diese jungen Leute, die unsere jetzige Organisation, um einen trivialen Aus⸗ druck zu gebrauchen, hinter dem Ofen sitzen läßt, alte Leute heran gezogen., Das ist ein Fehler militärisch, wirthschaftlich und finanziell.
Es ist ein Fehler militärisch, alte Leute heranzuziehen, wenn man jüngere hat. Und da ich hier wieder das Wort „alte Leute“ gebrauche, so will ich sagen, daß ich es in dieser Debatte ein für alle Mal in militärischem Sinne gebrauche. In militärischem Sinne ist ein Mann von zweiunddreißig Jahren ein alter Mann,