1892 / 289 p. 2 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 06 Dec 1892 18:00:01 GMT) scan diff

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1 Bayern.

Seine Königliche Hoheit der Prinz⸗Regent ist am Sonntag Abend aus dem Spessart wieder in München ein⸗ getroffen. Seine Königliche Hoheit der Prinz Ludwig wird sich, einer Einladung Seiner Majestät des Kaisers fol⸗ gend, am 8. d. M. nach Hannover begeben, um an den Jagden in Springe theilzunehmen. v“

Sachsen.

Bei den gestern in Leipzig vorgenommenen Stadt⸗ verordnetenwahlen hat, laut Meldung des „W. T. B.“, die socialdemokratische Partei keinen einzigen ihrer Candidaten durchgebracht. Auf die Candidaten⸗ liste der vereinigten Ordnungsparteien fielen 8800, auf die⸗ jenige der socialdemokratischen Partei 5300, auf die Candidaten⸗ liste der sogenannten unabhängigen Bürger 1500 Stimmen. Von 22 000 Wahlberechtigten haben sich gegen 16 000 an der Wahl betheiligt.

Württemberg.

Ihre Majestäten der König und die Königin mit Ihrer Königlichen Hoheit der Prinzessin Pauline sind am Sonntag von Bebenhausen in Stuttgart eingetroffen und haben im Wilhelmspalast Wohnung genommen.

Reuß j. L. Nachdem die Ausschußberathungen abgeschlossen sind, wird der Landtag des Fürstenthums am 8. d. M. wieder

zusammentreten. Der dem Landtag zugegangene neue Gewerbesteuer⸗ Gesetzentwurf bezweckt, wie dem „Hann. Cour.“ mitgetheilt wird, eine bedeutende Entlastung der kleineren Betriebe. Etwa ein Drittel aller Gewerbetreibenden werden steuerfrei sein; die übrigen werden in drei Klassen eingetheilt. In der ersten Klasse (mehr als 20 000 Ertrag oder Betriebskapital von 150 000 und mehr) soll ungefähr 1 Proc. des jährlichen Ertrages als Steuer gezahlt werden, in der zweiten und dritten Klasse (4000 20 000 Ertrag oder 3000 15 000 Be⸗ triebskapital und 1500 4000 Ertrag und 3000 30 000 Betriebskapital) bleibt die Steuer unter diesem Procentsatz

Oesterreich⸗Ungar

Der Kaiser stattete gestern Nachmittag dem Kron⸗ prinzen von Dänemark einen Besuch ab, den dieser als⸗ bald in der Hofburg erwiderte. Sodann fuhr der Kronprinz bei den Palais der Erzherzoge vor und gab daselbst seine Karte ab. 8

Der Minister⸗Präsident Graf Taaffe beantwortete in der gestrigen Sitzung des österreichischen Abgeordneten⸗ hauses die Interpellation des Abg. Dr. von Plener über die Auflösung des Reichenberger Stadtverordneten⸗Collegiums sowie zwei auf denselben Gegenstand bezügliche Interpellationen des Abg. Prade. Graf Taaffe führte dem Abg. Dr. von Plener gegenüber aus:

Ein Recurs sei innerhalb der gesetzlichen Frist nicht eingebracht worden, daher habe er als Minister des Innern sich nicht instanzen⸗ mäßig mit der Angelegenheit befassen können. Jedoch stehe er nicht an zu erklären, daß er die Verfügung des Statthalters wegen der Auf⸗ lösung des Stadtverordneten⸗Collegiums billige und für in den Verhält⸗ nissen begründet erachte. Zu dieser Anschauung veranlasse ihn sein auf Grund von amtlich erhobenen Thatsachen gebildetes Urtheil über die Thätiakeit der aufgelösten Stadtvertretung. Alsdann führte der Minister⸗Präsident eine Reihe von Uebergriffen der Stadt⸗ vertretung gegenüber der Statthalterei und dem böhmischen Landtag an und wies auf die aufreizenden Reden in derselben hin, deren Wiedergabe in den Blättern die gerichtlich bestätigte Beschlagnahme der letzteren herbeigeführt habe. Graf Taaffe rügte besonders den wiederholten Anschlag im Volksbad, durch welchen denjenigen, die nicht deutsch sprächen, die Ausweisung angedroht worden sei. Mehrfach seien an den Bürgermeister erfolglose Mahnungen wegen des Mangels an Polizei bei Vereinsversammlungen gerichtet worden, z. B. aus Anlaß der Sedanfeier des deutsch⸗nationalen Vereins am 1. Sep⸗ tember 1892. wo unbeanstandet Reden gehalten seien, deren Abdruck die gerichtliche Beschlagnahme herbeigeführt habe. Des weiteren führte der Minister Präsident als kennzeichnend für die Reichenberger Verhältnisse die Uniformen der städtischen Sicherheitswache an, wofür das Muster nicht in Oesterreich gesucht sei. (Hört, hört! rechts.) Schließlich erwähnte Graf Taaffe den Fackelzug für den Bürger⸗ meister und terroristische Kundgebungen vor der Wohnung des vermeintlichen Verfassers eines Artikels in einer Reichen⸗ berger Zeitung, der die Uniform der Polizei rügte und es tadelte,

der Bürgermeister bei officiellen Feierlichkeiten den ihm ver⸗ liehenen Orden nicht angelegt habe. Unter der Regierung dieser Partei sei es in Reichenberg mit der Freiheit des Bürgers baßin gekommen, es gefährlich geworden sei, öffentlich an das Schickliche zu mahnen. Der Minister⸗Präsident führte die Klagen der verschiedenen Behörden an und wies auf das maßlose Hervorkehren des Parteistand⸗ punktes sowie auf die Intoleranz und offene Mißachtung gegen⸗ über den Meinungen Anderer und auf die beleidigenden Verdächtigungen der oberen Behörde hin. Alles dies habe ein friedliches Nebeneinanderleben in der Gemeinde, sowie einen ge⸗ deihlichen Geschäftsverkehr nach außen unmöglich gemacht. Die Auf⸗ ösung solle die Möglichkeit bieten, sich von den Launen eines nahezu terroristischen Parteigeistes loszureißen, dessen einseitiger Bethätigung auf die Dauer keine staatliche Verwaltung unthätig hätte zusehen können. Die Auflösung sei somit gerechtfertigt; sie sei nicht gegen die Gemeinde⸗Autonomie und den deutschen Charakter Reichen⸗ bergs gerichtet gewesen. (Beifall rechts.)

Sodann wurde ein Antrag des Abg. Dr. von Plener, in die Besprechung der Antwort des Grafen Taaffe erst in der heutigen Sitzung einzutreten, angenommen. Dafür stimmten die deutsche Linke, die Deutschnationalen, die Jungezechen, ein Theil des Coronini⸗Clubs und die Antisemiten.

Der Handels⸗Minister hat dem Abgeordneten⸗ hause einen Gesetzentwurf unterbreitet, durch den die Regie⸗ rung zu einer provisorischen Regelung der Handels⸗ beziehungen mit Spanien ermächtigt wird.

Die Synode der evangelisch⸗reformirten Kirche Ungarns hat einstimmig den Antrag Tisza’s angenommen, daß an Ehesachen die evangelisch⸗reformirte und die evange⸗ lische Kirche Augsburgischer Confession ein gemeinsames Interesse hätten, daß jedoch, da die Angelegenheit in erster Reihe vom staatlichen Standpunkte zu beurtheilen sei, eine gemeinsame Commission der Synoden beider Kirchen erklären möge, sie halte es nicht für zeitgemäß, sich zur Zeit über die Ehefrage auszusprechen. 114““

Frankreich.

Die Ministerkrisis hat gestern ihr Ende gefunden. Nach⸗ dem noch Develle und Loubet die Bildung eines neuen Cabinets

abgelehnt hatten, wurde Ribot in das Elysée berufen und

vom Präsidenten Carnot damit beauftragt. Nach einer Be⸗ sprechung mit seinen politischen Freunden unterbreitete Ribot gestern Abend dem Präsidenten die von ihm zusammen⸗ gestellte Ministerliste. Diese umfaßt, wie WWEEI1I““ meldet, alle Mitglieder des alten Cabinets mit Aus⸗ nahme von Ricard und Roche. Das Justiz⸗ Ministerium wird Bourgeois übernehmen. Die übrigen Portefeuilles sind wie folgt vertheilt: Präsidentschaft und Aeußeres Ribot, Inneres Loubet, Finanzen Rouvier, Krieg de Freycinet, Marine Burdeau, Ackerbau Develle, öffentliche Arbeiten Viette, Handel Siegfried, Unterricht Charles Dupuy. Der Präsident Carnot be⸗ glückwünschte Ribot warm zu dem Erfolge seiner Be⸗ mühungen. Das Decret über die Constituirung des neuen Cabinets wird heute im „Journal officiel“ veröffentlicht wer⸗ den. Von den Blättern der gemäßigten Parteien wird die Zusammensetzung des neuen Cabinets in sympathischer Weise desprochen, während die Journale der Opposition sie als Flick⸗ werk bezeichnen.

Die Deputirtenkammer hat gestern den Antrag Letellier, wonach der Presse täglich ein amtliches Protokoll über die Panama⸗Untersuchungscommission mit⸗ getheilt werden sollte, mit großer Mehrheit abgelehnt. Brisson hatte den Antrag bekämpft. Hierauf beschloß die Kammer mit 333 gegen 182 Stimmen die Dringlichkeit für den Antrag Pourquery, durch den die Panama⸗ Commission ermächtigt wird, den Untersuchungsrichter der Commission beizugesellen. Gleichzeitig beschloß die Kammer, heute eine Commission zur Vorberathung dieses Antrags zu wählen. Die nächste Sitzung wurde auf Donnerstag an⸗ beraumt.

Die Panama-⸗Untersuchungscommission verhörte gestern den Senator Albert Grévy, der erklärte, er habe bei der Bank von Frankreich eganz offen einen Check von 20 000 Frcs. einkassirt als Theilnehmer an dem Garantie⸗ syndikat und als juristischer Berather des Barons von Reinach. Nach dem Senator Grévy wurde der Senator Hébrard verhört, der angab, er könne keine Mittheilungen darüber machen, aus welchen Quellen das Journal „Temps“ seine Nachrichten geschöpft habe. In Betreff seiner Betheiligung bei den Panama⸗Arbeiten erklärte er, er sei seit 26 Jahren in öffentlichen Bauten thätig gewesen, lange vor seinem Eintritt in das Parlament, und er nehme für sich das Recht in Anspruch, ein Gewerbe auszuüben, wie viele seiner Collegen. Der Senator Naquet erklärte, General Boulanger sei nicht fähig gewesen, Geld pon der Panama⸗ Gesellschaft zu nehmen. Der Banquier Koöhn gab Auskunft über die Unterschriften auf den Cheks und sagte eine neuer⸗ liche Prüfung der Bücher zu, um der Commission weitere Auskünfte geben zu können. Die Sitzung wurde sodann auf heute vertagt.

Rußland.

Der Werth der Ausfuhr aus Rußland in den ersten 9 Monaten dieses Jahres betrug 316 382 000 Rbl. gegen 538 901 000 Rbl. in der gleichen Periode des Jahres 1891. Die hauptsächlichste Verminderung weist die Ausfuhr von Lebensmitteln auf, welche in diesem Jahre 116 248 000 Rbl. gegen 328 133 000 Rbl. im Jahre 1891 betrug. Der Werth der Einfuhr betrug in den ersten 9 Monaten 272 902 000 Rubel gegen 268 011 000 Rbl. im Jahre 1891.

Italien. Die Deputirtenkammer hat nach einer Mittheilung des „W. T. B.“ die Adresse an den König mit großer Majorität angenommen. Bei der Berathung erging sich der Deputirte Barzilai in allerlei irredentistischen Anspielungen und behauptete, daß der Wunsch des Königs Victor Emanuel noch nicht erfüllt sei. Die radicalen Deputirten Vendemini, Socci und Giuffrida bezeichneten die angekündigten socialen Reformen als unzureichend. Die Kammer begann sodann des Budgets.

Spanien

Die amtliche „Gaceta“ veröffentlicht ein Decret, betreffend die Einführung einer Alkoholsteuer, durch welches die Fabrikation und der Detailverkauf vern goha unabhängig von der bereits bestehenden Besteuerung Pmnit einer besonderen Abgabe belegt werden. 8

Schweiz.

Die ordentliche Wintersession der Bundesversamm⸗ lung ist gestern in Bern eröffnet worden.

b Belgien.

Die Mitglieder der internationalen Münzconferenz werden heute vom König empfangen werden. Unmittelbar darauf wird der „Indépendance“ zufolge eine Sitzung der Conferenz stattfinden, um die Vorschläge des dänischen Delegirten Tietgen zu prüfen. Diese besagen: Es soll eine internationale Ver⸗ einigung gebildet werden zwischen den Staaten, die sich be⸗ reit erklären, einer solchen beizutreten. Die Delegirten der internationalen Vereinigung sollen das erste Mal das thatsäch⸗ liche Verhältniß zwischen Gold und Silber auf der Grundlage des Durchschnittspreises für Silber in London in den letzten der Constituirung der Vereinigung vorausgegangenen 12 Monaten festsetzen. Den der Vereinigung angehörenden Staaten soll es gestattet sein, in unbegrenzter Menge Silberstücke im annähern⸗ den Werthe der alten Thaler ausprägen, d. h. im annähernden Werthe von 5 Francs, 1 Dollar, 4 ℳ, 4 Kronen. Diese Stücke sollen in denjenigen Ländern, in denen sie geprägt sind, als unbeschränktes gesetzliches Zahlungsmittel gelten. Der Silberwerth der Stücke wird dem von der Commission be⸗ stimmten Verhältniß zwischen Gold und Silber entsprechend unter Hinzurechnung von 10 Procent Prägekosten festgesetzt. Eine TCommission soll den Curs des Silbermarktes über⸗ wachen. Wenn das Silber bis auf 5 Procent unter dem festgesetten Verhältniß fallen sollte, so soll die Com⸗ mission das Recht haben, wieder zusammenzutreten, um dar⸗ über zu entscheiden, ob eine Umprägung erforderlich sei. Jede Emissionsbank soll das Recht haben, einen Theil ihres Baar⸗ vorraths in Unions⸗Silberstücken zu haben. Die Emissions⸗ banken sollen ferner das Recht haben, die Einlösung der in ihren Kassen befindlichen Silberstücke in Gold nach sechs⸗ oder zwölfmonatiger Ankündigung von demjenigen Lande zu ver⸗ langen, welches diese geprägt hat. Die zur Prüfung dieser

Vorschläge eingesetzte Commission hat bereits gestern eine

Sitzuung abgehalten, sich aber vertagt, ohne zu einem be⸗ stimmten Beschluß gekommen zu sein.

Rumänien.

Der Prinz Ferdinand von Rumänien hat, wie „W. T. B.“ meldet, gestern Abend von Bukarest über Köln, Brüssel, Calais eine Reise nach London angetreten, woselbst er am Donnerstag einzutreffen gedenkt. Der König ge⸗ leitete den Prinzen bis zum Bahnhof.

Amerika.

Der Congreß der Vereinigten Staaten ist gestern in Washington zusammengetreten. Im Repräsentanten⸗ hause wurde, wie „W. T. B.“ meldet, eine Bill eingebracht bezüglich der Ausgabe von Obligationen im Betrage von 75 Millionen Dollars, die nach Belieben der Vereinigten Staaten nach zehn Jahren in baar zurückgezahlt werden sollen. Das Kapital soll zur Deckung des Deficits im Staatsschatz verwandt werden.

Der Präsident des Einwanderungs⸗Comités Chandler wird demnächst im Senat eine Vorlage einbringen, welche die Zulassung von Einwanderern, ausgenommen solche aus Ländern der neuen Welt, vom 3. Januar n. J ab auf 1 Jahr untersagt. Ausländer, die bereits gegenwärtig in weilen, sollen zugelassen werden. 1 8

Afrika.

Ein der „Réforme“ zugegangenes Privatschreiben aus Boma vom 21. Oktober besagt, es liege in Boma nunmehr die amtliche Mittheilung vor, daß die von Jacques, nieder⸗

Joubert und Bia geleiteten Expeditionen gemetzelt worden seien.

Parlamentarische Nachrichten.

Deutscher Reichstag. 9. Sitzung vom Dienstag, 6. Dezember, 1 Uhr.

Der Sitzung wohnen bei die Staatssecretäre Dr. von Boetticher, Freiherr von Maltzahn und Hanauer, so⸗ wie der Königlich preußische Handels⸗Minister Freiherr von Berlepsch.

Auf der Tagesordnung steht zunächst die Interpellation der Abgg. Hitze und Genossen (Centr.), welche an den Reichs⸗ kanzler folgende Anfrage richten:

1) Welche gesetzgeberischen Maßnahmen sind entsprechend der Er⸗ klärung des Vertreters der verbündeten Regierungen in der Reichstags⸗ sitzung vom 24. November 1891 bezüglich der Organisation des Handwerkerstandes und der Regelung des Lehrlingswesens, sowie des Ausbaues der Innungen (§§ 100 E, 100 F und 102 der Gewerbe⸗ ordnung) von Seiten der verbündeten Regierungen beabsichtigt? 2) Wird noch in dieser Session eine bezügliche Vorlage dem Reichs⸗ tag voraussichtlich zugehen?

Staatssecretär Dr. von Boetticher erklärt sich zur so⸗ fortigen Beantwortung der Interpellation bereit.

Abg. Hitze (Centr.) knüpft an die Verhandlungen vom vorigen Jahre an, wobei die Regierung eine unerfreuliche Erklärung abgegeben habe wegen des Befähigungsnachweises, denn sie habe dessen Einführung nicht in Aussicht gestellt. Das Centrum stehe vollständig auf dem Boden seiner Anträge, halte also auch den Befähigungsnachweis noch aufrecht. Dieser allein würde der beste Ansporn sein für eine bessere Erziehung der jungen Handwerker und für eine Hebung der technischen Tüchtigkeit des Handwerks. Die Innungen sind die he Corporationen für das Handwerk. Wenn man aber andere Formen schaffen will, dann sollte man die Vorlage schnell machen. Man spricht von Handwerkerkam⸗ mern. Hoffentlich sollen diese Bildungen obligatorisch sein. Welche Stellung sollen die Innungen innerhalb derselben einnehmen? Die Innungen müssen die Grundlage bilden und die Selbstverwaltung der Handwerkerkammern muß gewahrt werden. Wir wollen hoffen, daß die Vorlage noch in dieser Session gemacht wird, und zwar noch vor Neujahr. Ich kann nicht annehmen, daß Dinge. die den Reichs⸗ tag so lange beschäftigt haben, zurückgestellt werden sollten hinter den Vorlagen über die Einheitszeit u. s. w. Wenn eine so belastende Militärvorlage gemacht wird, dann sollte man dem Mittelstande, der um seine Existenz ringt, den guten Willen beweisen.

Staatssecretär Dr. von Boetticher: Von der Discussion am 24. November 1891 habe ich nicht den Eindruck gehabt, daß meine Erklärung eine unerfreuliche war; sie fand ziemlich allgemeinen Bei⸗ fall. Die Unzufriedenheit des Vorredners erkläre ich mir daraus, daß eine Vorlage noch nicht gemacht worden ist. Es ist an der Vorlage gearbeitet worden im Handels⸗Ministerium und im Reichsamt des Innern; wenn die Sache trotzdem nicht reif geworden ist, so liegt das an der Schwierigkeit der Sache selbst. Ich habe mit meinem Collegen vom Handels⸗Ministerium lange und⸗ eingehende Erwägungen über die Organisation des Handwerks und die Regelung des Lehrlingswesens angestellt; wir haben mit den Sachver⸗ ständigen verhandelt; das Protokoll enthält sehr ausgiebige sachverständige Bemerkungen über die Frage, und es wird jetzt nöthig sein, die Vor⸗ lage auszuarbeiten. Die verbündeten Regierungen haben bisher noch keine Stellung zu der Frage nehmen können. Unsere Absicht, d. h. die Absicht der betheiligten Ressorts, geht dahin, die Hand⸗ werkerkammern territorial zu organisiren und ihnen gewisse obli⸗ gatorische Befugnisse in Bezug auf die Beaufsichtigung des Lehrlings⸗ wesens, in Bezug auf die Erstattung von Gutachten, die Bericht⸗ erstattung über die Lage des Handwerks und in Bezug auf die Mit⸗ wirkung bei der Handhabung der Arbeiterschutzvorschriften zuzuweisen. Die Handwerkerkammern sollen auch Prüfungsausschüsse errichten und Zeugnisse ausstellen dürfen; sie sollen Aufsicht über die Lehrlinge üben, über den Besuch der Fortbildungsschulen u. s. w. Wir haben bezüglich dieser Befugnisse einen sehr weiten Kreis gezogen. Die Einfügung der Innungen in diese Organisation hat uns lebhaft beschäftigt. Es besteht bei den betheiligten Ressorts nicht das Bestreben, die Innungen aus der Welt zu schaffen oder ihnen das Dasein zu erschweren, wir stehen auf dem Standpunkt, daß wir die Zusammenfassung der Handwerker zu Innungen zu wirthschaftlichen Zwecken fördern wollen. Ueber die Einzelheiten kann ich mich nicht auslassen, weil sich daran heute eine Discussion knüpfen würde, welche ich für eine nütz⸗ liche nicht halten kann, weil bestimmte Vorlagen nicht da sind. Es handelt sich um viele andere Fragen: das Wahlrecht u. s. w., über die wir uns noch sehr eingehend unterhalten müssen. Auch das Lehrlingswesen soll geregelt werden in allen seinen verschiedenen Stadien. Es wird sich fragen, ob der Lehrlingszüchterei entgegengetreten werden soll u. s. w. Darüber sind Sachverständige gehört worden. Wenn der Vorredner den Wunsch ausgesprochen haf, es möchte zu Neujahr oder gar zu Weihnachten die Bescherung vorgelegt werden, so muß ich diesen Wunsch ablehnen. Wenn wir mit nicht gut vorbereiteten Entwürfen vor Sie treten, so können wir nicht mit Sicherheit an⸗ nehmen, daß die Vorlagen bier eine Verbesserung erfahren; des⸗ halb wollen wir die Vorlagen so gründlich und gut aus⸗ arbeiten, daß wir die Einwendungen aus dem Hause mit gutem Gewissen erwarten können. s beklagt niemand mehr wie wir, daß die Stimmung in den Handwerkerkreisen vielfach, nicht überall. eine ungünstige, ja eine verbitterte ist. Wir sehen es als eine Nothwendigkeit an, diese Stimmung zu verbessern. Lassen Sie uns Zeit, es soll an uns nicht fehlen und sobald wir mit praktischen Vorschlägen an das Haus treten können, werden wir das mit Freuden thun

Amerika

Auf Antrag des Abg. Biehl (Centr.) tritt das Haus in die Besprechung der Interpellation ein.

Bei Schluß des Blattes hatte der Abg. Dr. Buhl (nl.) das Wort.

8 Im Reichstage ist von den freisinnigen Abgeordneten Gold⸗ schmidt und Dr. Hirsch folgender Antrag eingebracht: Der Reichs⸗ tag wolle beschließen, dem nachstehenden Gesetzentwurfe die verfassungs⸗ mäßige Zustimmung zu ertheilen: Gesetz, betreffend die Abänderung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs. Der Artikel 61 des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs wird in nachstehender Weise abgeändert: Das Dienstverhältniß zwischen dem Principal und dem Handlungsdiener kann von jedem Theile mit Ablauf eines jeden Kalendervierteljahrs uach vorgängiger sechswöchentlicher Kündigung aufgehoben werden. Ist durch Vertrag eine kürzere oder längere Zeitdauer oder eine kürzere oder längere Kündigungsfrist bedungen, so müssen sie für beide Theile gleich sein. Vereinbarungen, welche dieser Bestimmung zuwiderlaufen, sind nichtig. Beim Abgang können die Handlungsgehilfen ein Zeugniß über die Art und Dauer ihrer Beschäftigung fordern Dieses Zeugniß ist auf Verlangen der Handlungsgehilfen auch auf ihre Führung und ihre Leistungen aus⸗ zudehnen. In Betreff der Handlungslehrlinge ist die Dauer der Lehrzeit nach dem 11“ und in Ermangelung vertragsmäßiger Bestimmungen nach den örtlichen Verordnungen oder dem Orts⸗ gebrauch zu beurtheilen.

Dem Hause der Abgeordneten ist heute der Ge⸗ über die Gehaltsaufbesserung der Volks⸗ schullehrer zugegangen.

Die Steuerreformcommission des Hauses der Abgeordneten setzte heute die Berathung des Ergänzungs⸗ steuergesetzes fort. § 11 (Die Abschätzung baaren Geldes erfolgt nach dem Nennwerth; Silber, Gold und Barren nach dem Ver⸗ kaufswerth) wurde ohne Debatte genehmigt. § 12 lautet: Abs. 1: „Andere Werthpapiere und fremde Geldsorten werden, falls dieselben in Deutschland einen Börsencurs haben, nach diesem, andernfalls nach ihrem Verkaufswerth berechnet.“ Abs. 2: „Bei, Anwendung des Curswerthes ist derjenige Curs maßgebend, mit welchem das Papier oder die Geldsorte am fünf⸗ zehnten Tage des der Veranlagung vorhergehenden Monats an der Berliner oder der dem Veranlagungsorte nächstgelegenen deutschen Börse amtlich notirt wird.“ Abs. 3: „Alle übrigen Kapitalforde⸗ rungen und Schulden sind mit dem Nennwerth in Ansatz zu bringen, insofern nicht die Voraussetzungen des § 16 Abs. 4 oder andere Umstände vorliegen, welche die Annahme eines von dem Nennwerthe abweichen⸗ den Verkaufswerthes begründen.“ Abs. 4: „Für Kapitalien, welche weder einen Börsencurs, noch einen bestimmten Nennwerth haben, ist der Verkaufswerth maßgebend.“ Die freiconservativen Abgg. Schla⸗ bitz, Stengel, von Tiedemann⸗Bomst und Freiherr von Zedlitz beantragen, die beiden ersten Absätze von § 12 und Abs. 4 zu streichen, an die Stelle der beiden ersten Absätze dagegen zu setzen: „Bei der Veranschlagung anderer Werthpapiere ist, falls dieselben in Deutschland einen Börsencurs haben, dieser, anderenfalls ihr Verkaufs⸗ werth zu berücksichtigen.“ Nach längerer Discussion wird dieser Antrag und der demgemäß umgestaltete § 12 mit großer Mehrheit an⸗ genommen. § 13 (Ermittelung des Kapitalwerths von Renten zc.) bleibt unverändert. § 14 lautet: Abs. 1: „Dem Kapitalwerth verzinslicher Forderungen oder Schulden und fortlaufender Hebungen oder Leistungen wird der Geldwerth der rückständigen Zinsen oder Leistungen hinzu⸗ gerechnet, sofern deren Unbeitreiblichkeit nicht feststeht; die seit dem letzten Fälligkeitstermine laufenden Zinsen und Leistungen bleiben außer Ansatz.“ Abs. 2: „Vom Kapi alwerth unverzinslicher be⸗ fristeter Forderungen und Schulden werden für die Zeit bis zur Fänggöfit 4 % Jahreszinsen in Abzug gebracht.“ Abs. 1 wird auf

ntrag des Abg. Dr. Enneccerus gestrichen, Abs. 2 ange⸗ nommen. Bei Schluß des Blattes wird eine Pause in der Be⸗ rathung gemacht.

Entscheidungen des Reichsgerichts.

Der Beneficialerbe, welcher die Nachlaßgläubiger dadurch, daß er ihre Forderungen nicht anerkennt, zum Prozeß zwingt, hat nach einem Beschluß des Reichsgerichts, IV. Civil⸗ senats, vom 13. Oktober 1892, im Gebiete des Preuß. Allg. Land⸗ rechts im Falle des Unterliegens stets die Prozeßkosten aus seinem einen en Vamsgen zu rageen

Kunst und Wissenschaft.

4 Die stilisirende Landschaftsmalerei, die Rottmann, Preller und Dreber so meisterhaft durchgebildet haben, findet in unseren Tagen nur noch wenige Vertreter; neben E. Kanoldt in Karlsruhe, einem Schüler Preller's, beansprucht Albert Hertel, der Dreber's Unterricht genoß unter ihnen einen Ehrenplatz. Man hat Dreber den Lyriker der stilisirten Landschaft genannt, und das subjective Element seiner Auffassung kommt in den Schöpfungen seines Schülers noch eindringlicher zur Geltung; das Hineinragen strengen Stils in die moderne Coloristik und Stimmungsmalerei verleiht diesen einen be⸗ sonderen pikanten Reiz. Dem im Jahre 1887 ausgeführten Cyelus von Aquarellen, die zum größeren Theil in den Besitz der National⸗ galerie gelangt sind, schließt sich die gegenwärtig bei Amsler u. Ruthardt ausgestellte Sammlung von italienischen und süd⸗ tirolischen Veduten an. Sie zeigt Hertel noch weiter auf dem Wege moderner Naturempfindung fortgeschritten. Einzelne flott hin⸗ geworfene Skizzen, wie die Straße in Sterzing, der Hafen⸗ platz bei Riva am Gardasee, oder das Interieur einer Dorfschmiede, in welche das Licht durch die Spalten des reparaturbedürftigen Daches hineindringt, sind durchaus impressionistisch gehalten. Licht⸗ und Farbenwirkung erscheint in ihnen unabhängig von irgend welchen stilistischen Erwägungen nach dem unmittelbaren sinnlichen Eindruck wiedergegeben. Die Mehrzahl der übrigen Aquarelle ist dagegen streng durchgezeichnet, ein festes organisches Gerüst von Formen und Linien dient als Grundlage der Farbengebung. Diese selbst bevorzugt kühle Töne; grelles Sonnenlicht, wie in der „Landstraße bei Hofgastein“, ist meist vermieden, gedeckte Himmel und Abenddämmerung überwiegen. Fast alle in der gegenwärtigen Ausstellung vereinigten Landschaften sind auf einer Studienreise des Künstlers im Hochsommer und Herbst dieses Jahres entstanden. Nur eine Frühlingsstimmung fiel uns auf: eine Rosenhecke in Riva, ein Cabinetsstück zarter, duf⸗ tiger Coloristik. Die Ufer des Gardasees, der Blick auf seine azur⸗ blauen Fluthen und die liebliche Isola di Garda begegnen dem Beschauer in stets neuer, reizvoller Beleuchtung. Man fühlt aus diesen Malereien die innige Naturfreude und Liebe des Meisters heraus. Dann wieder führt er uns in die Bergwelt von Salzburg, Bozen, Meran und Naßfeld, überall mit kundigem Blick glückliche male⸗ rische Motive erspähend. Das in violette Abendschatten getauchte Eisackthal bei Bozen, der Frühschnee auf den Bergen Gasteins bei Sonnenuntergang, der Wasserfall der Anzerschlucht bei Hofgastein, der Blick auf den Böckstein bei heranziehendem Hagelwetter wirken besonders stimmungsvoll. Mit gleicher Liebe sind aber auch die beiden Ansichten eines märkischen Gutshofes durchgeführt und dem scheinbar reizlosen Vorwurf gefällige Seiten abgewonnen. Sicherlich darf ein so liebenswürdiger Verfechter des Optimismus in der Landschafts⸗ malerei, wie Hertel, auch in den Tagen der Graumalerei Anspruch auf Beachtung erheben, und willig werden sich ihm zahlreiche Bewunderer anschließen. 8

Der Verein für deutsches Kunstgewerbe veranstaltet morgen, Mittwoch, einen Fachabend für Kupferschmiedekunst, der in vieler Hinsicht interessant zu werden verspricht. An einen Vortrag des Herrn Dr. Cornelius Gurlitt über „Kupferschmiederei

als Kunst“ wird eine reiche Ausstellung getriebener Arbeiten für monumentale Zwecke, Ziergeräth und Hausbedarf anschließen, ins⸗ besondere Arbeiten von Fr. Peters, H. Hirschwald (Hohenzollern⸗ Kaufhaus), G. Lind u. a.; auch die Zeichnungen zu den Kupferdecorationen des Reichstagsgebäudes vom Baurath Wallot werden ausgelegt sein. Die Sitzung findet im großen Saale des Architektenhauses, Abends 8 ½ Uhr, statt. Gäste sind willkommen. 1“

Land⸗ und Forstwirthschaft.

8 Ernte.

Im Regierungsbezirk Stralsund sind die Ernteerträgnisse zu⸗ friedenstellend mit alleiniger Ausnahme des Ertrages an Hafer. Kartoffeln, Wrucken, Runkeln und Zuckerrüben ergaben reichliche Erträge.

Im Regierungsbezirk Stettin kann die diesjährige Ernte fast durchweg als gute Mittelernte bezeichnet werden. Von den Halm⸗ früchten befriedigen insbesondere Weizen und Roggen überall. Der Hafer läßt dagegen auch hier stellenweise zu wün⸗ schen übrig. Einen sehr reichen Ertrag haben Kartoffeln, meist auch Zuckerrüben gebracht; auch’ der erste Schnitt der Heuernte ist zufriedenstellend ausgefallen. Nur die Obst⸗ ernte ist hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Die Wintersaaten sind trotz der Trockenheit im Anfang des September bei der günstigen Witterung des Spätherbstes gut aufgegangen.

Gesundheitswesen, Thierkrankheiten und Absperrungs⸗ vW“ öA4A“

Cholera.

Pest, 5. Dezember. Von gestern Abend 6 Uhr bis heute Abend 6 Uhr ist hier eine Person an der Cholera erkrankt. Ein Todesfall ist in dieser Zeit nicht vorgekommen. Anmnsterdam, 6. Dezember. Nach dem von dem Minister des Innern veröffentlichten Wochenbericht sind in Holland in letzter Woche vier Personen an der Cholera gestorben.

8 Niederlande.

Zufolge einer im „Nederlandsche Staatscourant“ veröffentlichten Verfügung der Minister des Innern und der Finanzen vom 3. De⸗ zember 1892 ist das gegen Deutschland, Belgien und Frank⸗ reich erlassene allgemeine Ein⸗ und Durchfuhrverbot für Lumpen, gebrauchte Kleidungsstücke und ungereinigte Leib⸗ und Bettwäsche, sowie Betten (vergl. „R.⸗A.“ Nr. 210 vom 6. September 1892) seinem ganzen Umfange nach aufgehoben worden. Das Verbet tritt mit dem 7. Dezember 1892 außer Kraft.

8 Griechenkand. „Durch Königliches Decret vom 28. November 1892 ist die fünf⸗ tägige Quarantäne gegen Propcnienzen aus den an, der Küstenstrecke zwischen Kronstadt und Cherbourg gelegenen Häfen, sofern die betreffenden Schiffe nicht vor dem 15. November 1892 abgefahren sind, aufgehoben und durch eine strenge ärztliche Untersuchung ersetzt worden. 8

Die gleiche Maßregel findet auf Schiffe Anwendung, welche egyptische und französische Hafenplätze ausgenommen Marseille nicht vor dem 27. v. M. verlassen haben. Herkünfte von Marseille unterliegen einer zweitägigen, Herkünfte von italienischen Häfen einer eintägigen Beobachtungs⸗ quarantãne.

Ein weiteres Königliches Decret vom gleichen Tage gestattet die Einfuhr von frischen (gesalzenen) Häuten, welche nicht vor dem 21. November in Häfen verladen worden sind, deren Provenienzen in Griechenland nur einer Beobachtungs⸗, nicht einer Effectivquarantäne unterliegen. (Vergl. „R.⸗A.“ Nr. 285 vom 4. Dezember 1892.)

Venezuela.

Die Verordnung der venezolanischen Regierung, wonach die Häfen des Freistaats für Hamburger Herkünfte geschlossen waren (vergl. „R.⸗A.“ Nr. 260 vom 2. November 1892) ist unter dem 14. Oktober 1892 dahin abgeändert worden, daß sämmtliche Schiffe, welche aus choleraverseuchten europäischen Häfen kommen, in Venezuela einer strengen Quarantäne unterliegen.

Verkehrs-Anstalten.

Infolge der Wiedereröffnung des See⸗Postverkehrs zwischen Hamburg und den columbischen Seehäfen erhalten Postpackete

nach Columbien und Salvador jetzt wieder Beförderung.

Hamburg, 5 Dezember. (W. T. B.) Hamburg⸗Ame⸗ rikanische Packetfahrt⸗Actien⸗Gesellschaft. Der Post⸗ dampfer „Dania“ hat, von New⸗York kommend, heute Vormittag Lizard passirt. Der Postdampfer „Bavaria“ ist, von Hamburg kommend, heute in St. Thomas eingetroffen.

Triest, 5. Dezember. (W. T. B.) Der Lloyddampfer „Pandora“ ist, von Konstantinopel kommend, gestern Vormittag hier eingetroffen.

London, 5. Dezember. (W. T. B.) Der Union⸗Dampfer „Arab“ ist am Sonnabend auf der Ausreise von Southampton abgegangen. Der Castle⸗Dampfer „Dunottar Castle“ ist am Sonnabend auf der Heimreise in London angekommen.

8 Theater und Musik.

Königliches Opern haus.

Die Italiener scheinen nach und nach Berlin erobern zu wollen: im vorigen Jahre nahm uns die „Cavalleria“ Mascagni's gefangen, in diesem Jahre beherrscht uns Eleonora Duse; dann errang Tasca mit seinem Melodrama „A Santa Lucia“ bei Kroll einen ungewöhn⸗ lichen Erfolg, ebenso die italienischen Sänger Stagno und Gemma Bellincioni, und gestern hat ein neuer junger, italienischer Componist R. Leoncavallo mit einer zweiactigen Oper „Bajazzi' seinen siegreichen Einzug in das Opernhaus gehalten. Der Gegenstand dieser Oper eine wahre Begebenheit ist ebenso eigenartig wie die Musik; die Wirkung ist auf beides gleichmäßig zu vertheilen. Die „Bajazzi“ sind eine Tragödie, die um so wirksamer ist, als sie sich da, wo man sie sonst nicht zu suchen pflegt, auf dem Boden der Burleske, abspielt: die Tragik des Lebens entfaltet sich unter Bajazzo’s mit und in einer Bajazzo⸗Komödie. Eigenartig ist der etwas aus dem Rahmen fallende Prolog, der dem Hörer von einer der in der Komödie handelnd auftretenden Personen, dem Komödianten Tonio (Herr Bulß), vor der Gardine vorgetragen und worin die oft nur allzu sehr verkannte Wahrheit dem Hörer zu Gemüthe geführt wird, daß auch die Spaß⸗ macher, Bajazzo's, Clown's, und wie sie sonst heißen mögen, ein Herz in der Brust haben und oft von bitterem Schmerz gequält werden. Der Prolog (wie auch schon die Ouverture) versetzt uns inhaltlich wie musikalisch sofort in die Stimmung, die wir der nachfolgenden tragi⸗ schen Komödie entgegenzubringen haben; schon dieser Prolog, der von Herrn Bulß in seinem Bajazzo⸗Anzug meisterhaft vorgetragen wurde, ist musikalisch so bedeutend, daß er das Haus zu lautem Beifall begeisterte und dem Componisten einen Hervorruf einbrachte. Der Gegenstand der Handlung g uns in ein italienisches Dorf, wo für eine fahrende Gauklergesellschaft eine Bretterbühne aufgeschlagen ist. Canio (Herr Sylva), das Haupt der Dor comödiantentruppe, kommt mit seinem Weibe Nedda (Frau Herzog) und zwei Comödianten, von der Dorfjugend mit Jubel begrüßt, auf einem Karren angefahren und verkündigt, daß am Abend die erste Vorstellung stattfinden soll. Während er von den Bauern zu einem Glase Wein ein⸗ geladen wird, macht der stets in der Rolle des Tölpels und Dummkopfs auftretende Tonio dem Weibe Canios, Nedda, eine ernste Liebes⸗ erklärung, die aber mit Hohn und mit einem Peitschenschlag zurück⸗ gewiesen wird. Denn Nedda's Herz gehört einem anderen, dem jungen Bauern Silvio (Herr Fränkel), der seine nunmehr wieder⸗ gefundene Geliebte bestürmt, S Mann zu verlassen und mit ihm zu fliehen. Tonio belauscht das Liebespaar und holt aus Rache für die ihm gewordene Kränkung den Canio aus der Weinstube herbei, der, gerade zu rechter Zeit kommt, um noch Zeuge des

Vorganges zu werden; doch vermag er den flüchtigen Liebhaber nicht

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zu erkennen oder einzuholen. Von Verzweiflung getrieben, fordert er von seiner Frau den Namen des Liebhabers, den diese aber anzugeben sich weigert. Von Eifersuchtsqualen gefoltert, muß sich nun Canio zu der beginnenden Vorstellung rüsten. Es wird die Komödie der Colombine gegeben, die eine Aehnlichkeit mit den ge⸗ schilderten Vorgängen hat: der Bajazzo (Canio) überrascht die Colombine auf einer Untreue und fällt nun aus der Rolle, indem er wüthend auf seine Frau eindringt und nach dem Namen ihres wirk⸗ lichen Liebhabers fragt., Die Zuschauer wissen nicht, ob es sich hier noch um Spiel oder Wirklichkeit handelt, bis Colombine sich der Wuth ihres Mannes durch Flucht unter die Zuschauer zu entziehen sucht, von ihm aber niedergestochen wird. Sterbend ruft sie Silvio zu Hilfe, den gleichfalls sofort das Messer Canio's nieder⸗ streckt. Den erschütterten Zuhörern ruft Canio in grausigem Tone zu: „Geht ruhig heim, die Komödie ist nun zu Ende“. Die Hand⸗ lung ist, wie man sieht, dramatisch lebendig und packend; sie wirkt insbesondere durch den gekennzeichneten Reiz des Gegensatzes D. kommt eine Musik, welche in den lebhaftesten Tonfarben ale Vor⸗ gänge und Gegensätze schildert, malerisch wirkt und in hohem Maße charakteristisch ist. Glänzende Instrumentation, geschickte, geistreiche Erfindung fesseln von Anfang bis zu Ende. Am wenigsten ist dies vielleicht bei den Bauernchören des ersten Acts der Fall, die wenig Einschmeichelndes haben; um so mehr in dem Liebesduett, in der Verzweiflungsarie Canio's, in dem zwischen dem ersten und zweiten Act gleichfalls mit besonderem Beifall aufgenommenen Intermezzo und namentlich in dem zweiten Act, wo der Gegensatz der Colombine⸗ Komödie mit der ernsten Wirklichkeit in charakteristischen Weise zu musika⸗ lischem Ausdruck gelangt. Die Mitwirkenden, voran Herr Sylva, Frau Herzos und Herr Bulß, entledigten sich ihrer dankbaren Aufgaben mit Meisterschaft; auch die Chöre und die Volksscenen, sowie die Orchesterbegleitung unter Kapellmeister Sucher waren vorzüglich ein⸗ studirt, sodaß der volle und bedingungslose Erfolg sowohl auf Rech⸗ nung der Aufführung wie der Composikion und des Gegenstandes der Handlung zu setzen ist. Der Componist wurde neunmal vor die Gardine gerufen.

Vorher ging das Schäferspiel „Bast ien und Bastienne“, das Mozart als zwölfjähriger Knabe componirt hat, und das von Fräulein Weitz, den Herren Krolop und Philipp anmuthig dargestellt wurde. Als Einleitung zu Leoncavallo’s Tragi⸗Komödie kann es kaum etwas Geeigneteres geben: denn die Einfachheit des Gegenstandes wie der musikalischen Form verbürgt eine um so größere Wirkung der in großem Stile gehaltenen italienischen Oper. Auch das Schäferspiel wurde freundlich aufgenommen.

Ihre Majestäten der Kaiser und die Kaiserin wohnten der Vorstellung vom Anfang bis zum Schluß bei. Nach der Auf⸗ führung befahl Seine Majestät den Componisten Herrn Leoncavallo in Seine Loge, um ihm die Allerhöchste Befriedigung auszusprechen und ihm mitzutheilen, daß Allerhöchstderselbe den König von Italien telegraphisch von dem großen Erfolge benachrichtigen werde. Außer⸗ dem ließ Seine Majestät dem Kapellmeister, dem Ober⸗Regisseur, den Solisten, dem Chor und dem Orchester Allerhöchstseine Zu⸗ friedenheit für die Aufführung aussprechen. 8

Berliner Theater. Geestern Abend wurde Shakespeares.⸗Macbeth“ neu ein⸗ studirt gegeben. Wie man es an dieser Bühne gewöhnt ist, war auf Decorationen, Costüme, effectvolle Inscenirung die äußerste Sorgfalt verwendet und nahezu Vollkommenes in dieser Beziehung erreicht; he⸗ sonders waren die Massenscenen mit großem Geschick ein⸗ gerichtte. So machte die durch die Ermordung des alten Königs Duncan von Schottland in Macbeth's Hause hervor⸗ gerufene Verwirrung mit dem darauf folgenden Schwur und die Darstellung der Macbeth's Tod herbeiführenden Schlacht einen tiefen Eindruck auf die zahlreichen Zuschauer. Die Titelrolle wurde von Herrn Kraußneck mit dem diesen Künstler stets auszeichnenden Anstande gegeben. Als von Gewissensqualen gepeinigter König zeigte er besonders bei der Erscheinung des auf sein Geheiß gemordeten Banquo in der Ge⸗ sellschaft eine Leistung von schauspielerischer Größe, die aber durch die Darstellung von Macbeth's Ende noch übertroffen wurde. Sein Maebeth würde sich noch eindrucksvoller gestaltet haben, wenn nicht der Wohlklang seiner Stimmne an manchen Stellen durch ab⸗ sichtlich herbeigeführten heiseren Klang und später durch Ueberan⸗ strengung gelitten hätte. Der Macbeth wirkte deshalb im ganzen nicht erschütternd, sondern ließ die Zuschauer stellenweise recht kühl. Lady Macbeth wurde zum ersten Male von Fräulein Haverland gegeben. Sie hätte im Gegensatz zu dem Vorgenannten von ihrem schönen Organ bei der Wiedergabe der ehrsüchtigen Königin einen etwas kräftigeren Gebrauch machen können, da viele ihrer Worte im Zuschauerraum unverstanden blieben. An der Auffassung ihrer Aufgabe ist auszusetzen, daß es ihr nicht gelang, die von der Dichtung vorgeschriebene dämonische Erscheinung klar zur Wirkun zu bringen. Unter den übrigen Mit⸗ wirkenden ist besonders Fräulein Hoenig zu nennen, die für ihr äußerst sympathisches Spiel als Lady Maeduff in der kurzen, ihrer Ermordung vorangehenden Scene lebhaften Beifall erntete. Auch die Herren Vieberg (Duncan), Stockhausen (Malcolm), Nollet (Banquo), Gregor (Maeduff), Blankenstein (Lenor), Ulrich (Donalbain) und der kleine Arthur Weinschenk (Maecduff's Sohn) trugen das ihrige zu dem Erfolge bei. Sing⸗Akademie.

Der Violinvirtuos Herr Dimitri Akscharumoff, der sich hier schon öfter hören ließ, gab gestern ein Concert, das leider nur sehr spärlich besucht war. Er eröffnete dasselbe mit einer Sonate für Geige und Klavier von Brahms (op. 100), und ließ dann einige Pièêcen von Bach, Schubert⸗Wilhelmj sowie zwei anmuthige kleine Stücke eigener Compositien folgen, die er mit technischer Sicherheit und schwungvollem Ausdruck spielte. Der Pianist Herr G. Berger, der in der Sonate die Klavierpartie sehr gut ausführte, erfreute noch durch einige Klaviervorträge von Beethoven, Berger und Lisßzt, die gleich denen des Concertgebers beifällig aufgenommen wurden.

Saal Bechstein.

Die junge Sängerin Fräulein Elly Grimm (Sopranz), die aus der Schule O. Eichberg's hervorgegangen ist und hier schon mehrmals öffentlich gesungen hat, gab gestern ein Concert, in welchem sie außer Mozart's Arie „Ch'io mi scordi di te?“ mehrere Lieder von Schu⸗ mann, Brahms, Grimm, Eichberg, Wulffius und Hildach zum Vor⸗ trag brachte. Die Stimme ist wohlklingend und recht ausgiebig, nur in der Höhe ist mitunter ein zu scharfer Tonansatz erkennbar, auch muß die sehr begabte Künstlerin die Ausdrucksweise noch empfindungs voller zu gestalten suchen. Die Intonation ist sicher, auch ist eine gewisse Coloraturgewandtheit bereits herangebildet Hildach's Lied „Heut sang ein Vögelein“ wurde wiederholt. Der junge Violinvirtuos Herr Ca vallery aus Italien erfreute durch den Vortrag zweier Sätze des Mendelssohn'schen Concerts und kleinerer Stücke von Svendsen, Godard und Sarasate, in denen er eine sehr weit vorgeschrittene technische Fertigkeit, leichte Bogenführung und weiche Tonerzeugung mit großer Sauberkeit des Spiels verband. Ihm und der Sängerin wurde reicher Beifall zu theil, der auch der Frau Bielenberg galt, die sämmtliche Piècen des Abends sehr sicher am Klavier begleitete.

Im Königlichen findet morgen die erste Wiederholung der Oper „Bajazzi“ und des Singspiels „Bastien und Bastienne“ statt. Am Donnerstag kommt die Oper „Der fliegende Holländer“ mit den Damen Pierson und Lammert und den Herren Stammer, Rothmühl, Betz und Lieban zur Aufführung. In der Vorstellung des „Lohengrin“ am nächsten Sonnabend singt der Königliche Kammersänger Herr Götze die Titelrolle.

Die Musik zu Shakespeare’'s Zauberkomödie „Der Sturm“ von Wilhelm Taubert, welche am Donnerstag im Königlichen Schau⸗ spielhause zur 150. Aufführung gelangt, wurde 1855 in München zum ersten Male unter des Componisten Leitung ausgeführt. Als in Berlin nach langem Zögern endlich der Entschluß gefaßt wurde, das Werk mit der Taubert'schen Musik dem Spielplan des Schauspielhauses einzuverleiben, ging das Atelier des Könialichen Decorationsmalers

Gropius mwit den eben fertig gestellten „Sturm“⸗Decorationen in