1893 / 9 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Wed, 11 Jan 1893 18:00:01 GMT) scan diff

b Zur Arbeiterbewegung. 1G

Die Ausstandsbewegung in den rheinisch⸗westfälischen Bergwerksbezirken hat bis zum heutigen Tage ihr Aus⸗ ehen wenig verändert. Die Zahr der Ausständigen im Saarrevier hat weiter beträchtlich abgenommen, und die trengeren Maßnahmen der eee von denen gestern berichtet wurde, werden ihren heilsamen Einfluß auf die Haltung der Bergleute hoffentlich nicht verfehlen. Die Erwartung, daß im westfälischen Kohlenrevier infolge der Essener und Bochumer Versammlungsbeschlüsse der Ausstand schnell ein allgemeiner werden würde, hat sich trotz der heftigen Agita⸗ tion, die allerorten betrieben wird, und trotz der hetzenden Artikel der Arbeiterblätter auch estern nicht erfüllt; vielmehr sind auch gestern nur auf einer kleinen Anzahl von Zechen die Belegschaften zum theil ausgeblieben, und die Zahl der Ausständigen, die in einem Telegramm des „D. B. H.“ aus Essen auf etwa 5500 angegeben wird, ist gegenüber der Gesammtzahl der Belegschaft von rund 90 000 Mann ganz geringfügig. Vom heutigen Tage, der als entscheidend für die Ausstandsbewegung in Westfalen angesehen wurde, liegen bisher nur einige Meldungen vor, die aber einen Schluß auf die gesammte Lage zulassen; dem⸗ nach hat der Strike auch heute keine wesentlichen Fortschritte gemacht; damit wäre dann die Hoffnung gegeben, daß die Arbeits⸗ einstellung in Westfalen schnell wieder völlig erlöschen werde, und daß auch die Bergleute im Saarrevier, denen man Unterstützung ihrer Absichten durch einen westfälischen Aus⸗ stand vorgeredet hat, alsbald zu ihrer Pflicht zurückkehren werden. Die Arbeitseinstellung auf der oberschlesischen Grube „Deutschland“ ist isolirt geblieben. Wir stellen hier die aus dem rheinisch⸗westfälischen Ausstandsgebieten vorliegenden Meldungen zusammen:

Im Saale des Rechtsschutzvereins zu Bildstock fanden vor⸗ estern und gestern wieder größere Versammlungen der Ausständigen actt In 6 Versammlungen sprach Herr Gewehr aus Elberfeld, der, wie die „Köln. Ztg.“ berichtet, Mitglied des socialdemokratischen Agitations⸗Comités für die Rhein⸗ provinz ist; er ermahnte die Bergarbeiter zum Aushalten im Ausstande. Die Kameraden in Westfalen würden dem Saarrevier helfen. Da die Bergbehörde mit dem Rechts⸗ schutzverein und dem Strikecomité nicht unterhandelt, so ist auf Mittwoch eine Versammlung der Grubenausschüsse und Knappschafts⸗ ältesten zur Wahl neuer Unterhändler anberaumt worden. In einer Versammlung in Ensdorf, in der 800 Mann anwesend waren, machte sich bereits am Montag eine gedrückte Stimmung und Neigung für Wiederanfahrt geltend.

Der Verbandsvorstand des evangelischen Arbeiter⸗Ver⸗ bandes an der Saar erläßt einen Aufruf, dem wir nach der „Saarbr. Ztg.“ Folgendes entnehmen: Die in Dudweiler ver⸗ sammelten Vorstände und Vertreter des evangelischen Arbeiter⸗Ver⸗ bandes an der Saar verurtheilen aufs Entschiedenste den am Schlusse verflossenen Jahres unter Contractbruch durch socialdemokratische Verhetzung auf frivole Weise herbeigeführten Strike. Unter Hinweis auf das Verbandsstatut, das die Aufrechterhaltung eines friedlichen ö zwischen Arbeitgebern und Arbeitern fordert, bitten sie die etwa strikenden Mitglieder des Verbandes, sofort zu ihrer Pflicht zurückzukehren und geben der Zuversicht Ausdruck, daß die Bergbehörde allezeit bereit sein wird, allen berechtigten Wünschen der Bergarbeiter Rechnung zu tragen.

Aus Trier wird der „Frkf. Ztg.“ vom gestrigen Tage tele⸗ graphisch gemeldet: Das Eisenwerk in Dillingen arbeitet in⸗ folge Kohlenmangels in sehr beschränktem Umfang, die Kokswerke in St. Wendel, Sulzbach, Röchling und Altenwald haben den Betrieb eingestellt.

Vom heutigen Tage wird aus dem Saarrevier ge⸗

meldet:

Saarbrücken, 11. Januar. Heute sind 13 316 Mann an⸗ gefahren. Auf der Grube „König“ arbeitet alles.

Bildstock, 11. Januar. Die gestrige Nachmittags⸗Versamm⸗ lung der Bergarbeiter dauerte von 2 bis 3 Uhr und war von etwa 2500 Personen besucht. Die Führer Lambert, Schommer, Mohr und Anschütz ermunterten zum Ausharren, der Sieg würde alsdann nicht ausbleiben. In Spriesen wurde eine große Anzahl Strafbefehle solchen Personen zugestellt, welche die anfahrenden Bergleute in den letzten Tagen verhöhnt und angehalten, bezüglich belästigt und mißhandelt hatten. Die Strafen belaufen sich auf 15, 30 und 45

Aus dem westfälischen Kohlengebiet liegen folgende Nachrichten vor: 1

In Dortmund fand am Montag eine Conferenz der Ver⸗ treter der höheren Regierungsbehörden mit den Vertretern des Ober⸗Bergamts und der Kreisbehörden statt. Der „Rhein.⸗ Westf. Ztg.“ zufolge sind für den Fall des Ausbruchs des Ausstandes die strengsten Maßregeln zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ord⸗ nung und zum Schutze der Nichtstrikenden beschlossen worden. Die Zechen schlugen gestern überall Warnungen an, in welchen auf den § 3 der Arbeitsordnung, betreffend die sofortige Entlassung im Falle eines unentschuldigten dreitägigen Ausbleibens, und auf den § 6, be⸗ treffend die Heranziehung solcher Arbeiter zu Schadenersatz in der Maximalhöhe eines sechstägigen Lohnes hingewiesen wird.

Der „Frkf. Ztg.“ wurde gestern Nachmittag berichtet: In allen Dortmunder Revieren st es ruhig, bis auf Zeche Königs⸗ born, wo gestrikt wird. Der Kölner Bergwerksverein droht, wie „W. T. B.“ meldet, den Miethern der Zechenhäuser eine sofortige Zwangsräumung an. 1

Wie ein Wolff’'sches Telegramm aus Essen a. d. Ruhr meldet, sind gestern Nachmittag die Belegschaft der Zeche „Amalia' der Harpener Bergbau⸗Gesellschaft ganz, die Belegschaften der Zechen „Mont Cénis“ und „Lothringen“ theilweise neu in den Ausstand eingetreten. 1 1

Ein elegramm des „D. B. H.“ meldet aus Essen, daß der Bergmann Matern, Delegirter des Gelsenkirchner Reviers, gestern Vormittag verhaftet wurde. Zwei heutige Versammlungen wurden verboten. Die Versammlung in Böchold bei Borbeck wurde wegen der Wirthshaussperre untersagt. Eine sehr zahlreich besuchte Versammlung in Essen beschloß, heute in den Ausstand einzutreten. Die Zeche „Christian Levin“ ist gestern theilweise in den Strike ein⸗ getreten. 188 1 8.

Einer Mittheilung der „Rhein.⸗Westf. Ztg.“ aus Essen zufolge eginnen die Preise für büsn lieferbare Kohlen zu steigen. Aus er Ruhrorter Hafen⸗Niederlage wurden an eine Elberfelder Ftas 100 Doppelwagen Kesselkohlen zu 12 und an eine Essener Firma 0 Doppelwagen Flammkohlen zu 14 verkauft. 3

Aus Bochum melden Wolff’sche Telegramme, daß in dem dor⸗ igen Revier bei der gestrigen Nachmittagsschicht wiederum alle Berg⸗ arbeiter angefahren sind. Eine rege Agitation für den Strike wird entfaltet. Das Strike⸗Comité 88 zwei Extrablätter verbreiten. Am Donnerstag soll im Schützenhof zu Bochum wieder eine Haupt⸗ ersammlung der Strikenden stattfinden. 8

Aus Gelsenkirchen wird der „Frkf. Ztg.“ berichtet, daß die Wahl eines Strike⸗Comités gestern nicht erfolgt sei, weil gestern Nachmittag in Essen und Dortmund Versammlungen stattfanden und die Führer dorthin gereist waren. Der Berichterstatter hörte Stimmen von Ausständigen, die, wenn nicht heute, längstens ein Umschwung erfolge, ihre 5 verloren geben. Wie die „Gelsenk. Ztg.“ mittheilt, wurde der Verkauf von Revolvern polizeilich ver⸗ boten. Die Polizeistunde ist für Gelsenkirchen auf 7 Uhr Abends festgesetzt worden. 1 82

Vom heutigen Tage liegen aus dem westfälischen Berg⸗ werksgebieten folgende Wolffssche Meldungen vor:

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Nach einer Meld 8 aus Gelsenkirchen striken auf den Zechen „Hibernia“ und „Wilhelmine“ die Belegschaften der Frühschicht vollständig, auf der Zeche „Consolidation“ sind von der 451 Mann betragenden Belegschaft des ersten Schachtes 198, von 532 Mann des dritten Schachtes 39 angefahren; über das Verhältniß bei dem zweiten Schacht liegt noch keine Meldung vor, weil die Frühschicht erst später beginnt. Auf der Zeche „Unser Fritz“ sind beim ersten Schacht alle, beim zweiten nur 60 von 360 Mann angefahren. Auf den Zechen „Alma“, „Rheinelbe“, „Holland“, „Morgensonne“, „Centrum“ und „Dahlbusch' sind die Belegschaften vollständig angefahren.

Aus wird gemeldet: Auf den hiesigen Gruben ist heute alles angefahren, auch auf „Mont Cénis“, wo gestern theilweise gestrikt wurde. .

Nach Mittheilungen aus Dortmund sind im ganzen nur auf vier- Zechen des Dortmunder Reviers die Arbeiter theilweise aus⸗

ständig.

Nas Bergeborbeck wird gemeldet: Die Belegschaft der Zeche „Christian Levin“ ist heute in den Ausstand eingetreten.

Aus Bochum wird berichtet, daß von den Belegschaften der umliegenden Zechen heute die von Sr theilweise ausständig ist. I

Weiter wird heute Mittag aus Essen gemeldet: Wie die „Rheinisch⸗Westfälische Zeitung“ meldet, hat der Strike nicht in der befürchteten Weise zugenommen. Die Mehrzahl der Zechen des Ober⸗Bergamtsbezirks arbeitet. Für die Morgenschicht striken auf „Wolfsbank“ 630, „Neu⸗Köln“ 360, „Carolus Magnus“ 450, „Christian Levin“ 380, „Amalia“ 28, „Heinrich Gustav“ 600, „Carolinenglück“ 90, „Schacht Gustav“ 193, „Friedrich Ernestine“ 200, „Königsborn Unna“ 500, „Pluto“ 452, „Unser Fritz“ 300, „Tremonia“ 480 und auf „Glückauf Tiefbau“ 400. Es sind auf „Hibernia“ nur 50, auf „Wilhelmine“ Schacht I. 175, Schacht II. 226, auf „Consolidation“ Schacht I. 195, Schacht II. 117, Schacht III. 39, auf „Kaiserstuhl“ 60 und auf „Westfalia“ 97 Mann angefahren.

Ueber den Ausstand auf der oberschlesischen Grube „Deutschland“ bei Schwientochlowitz wird heute aus Breslau berichtet, daß die ganze Belegschaft heute angefahren und der Strike als beendigt anzusehen sei.

Von der schlesisch⸗böhmischen Grenze wird der „Köln. Ztg.“ unter dem 5. Januar geschrieben: Die Glasarbeiter im Fehmischen Grenzgebiet haben ohne Rücksicht auf die schlechte wirth⸗ schaftliche Lage der Glaserzeuger den Strike beschlossen. Dieser in einer großen Versammlung zu Tannwald mit ganz geringfügiger Mehrheit herbeigeführte Beschluß bedeutet in erster Reihe eine schwere Schädigung der Glasarbeiter selbst, die jetzt noch viel weniger als vor drei Jahren die beanspruchten höheren Löhne und Verminderung der Arbeitszeit erreichen werden.

In einem Aufruf des Vorstandes und Ausschusses des Ver⸗ bandes deutscher Textilarbeiter, den der „Vorwärts“ mit⸗ theilt, wird Unterstützung für etwa 100 Weber der Firma H. E. Schniewind in Haan bei Elberfeld nachgesucht, die von der Firma die Kündigung erhalten haben angeblich, weil sie dem Verbande deutscher Textilarbeiter angehören.

Aus St. Ingbert meldet ein Telegramm des „D. B. H.“, daß die Arbeiter der dortigen Pulverfabrik wegen verweigerter Lohn⸗ erhöhung ausstehen.

Kunst und Wissenschaft.

Die Philosophische Gesellschaft wird, wie wir der „N. A. Z.“ entnehmen, am 28. d. M. ihre fünfzigjährige Jubelfeier durch einen Festact im Rathhause begehen. Der 91 jährige Nestor unter den Philosophen, Professor Michelet, der mit Karl Werder, dem Dichter des „Columbus“, zu den Gründern der Gesellschaft zählt, hat es übernommen, die Bedeutung des Tages in einer Festrede zu schildern. Weitere Ansprachen halten Professor Lasson und Director Dr. Döring. 1

Wie die „Voss. Z.“ berichtet, feiert heute der Historien⸗, Bildniß⸗ und Genremaler Professor Albert Korneck seinen acht⸗ zigsten Geburtstag. Der greise Meister ist bei voller Rüstigkeit und sogar noch in seiner Kunst eifrig thätig. b

Der Professor der Theologie G. Volkmar ist nach einem Telegramm des „W. T. B.“ aus Zürich gestern gestorben.

Gesundheitswesen, Thierkrankheiten und Absperrungs⸗ Maßregeln.

Bulgarien. 1 Zufolge Beschlusses des bulgarischen Gesundheitsraths vom 3. Januar 1893 ist die Personen⸗Quarantäne in Zaribrod auf⸗ gehoben und durch eine strenge ärztliche Untersuchung der Reisenden ersetzt worden. Die getragene Leibwäsche der letzteren wird überdies desinficirt.

Der Gesundheitsstand in Berlin blieb in der Woche vom 25. bis 31. Dezember ein günstiger und die Sterblichkeit eine niedrige (von je 1000 Bewohnern starben, aufs Jahr berechnet, 18,3). Zwar kamen auch in dieser Woche gcute Entzündungen der Athmungsorgane in zahlreichen Fällen zum Vorschein, doch war der Verlauf überwiegend ein milderer und die Zahl der durch sie be⸗ dingten Sterbefälle eine erheblich kleinere. Erkrankungen an Katarrhen und an epidemischer Grippe wurden seltener beobachtet, aus der der Berichtswoche vorhergegangenen Woche wurden zwei Todesfälle an Grippe gemeldet. Acute Darmkrankheiten zeigten im Ver⸗ gleich zur Vorwoche keine wesentliche Veränderung in ihrem Vorkommen. Die Betheiligung des Säuglingsalters an der Sterblichkeit blieb fast die gleiche, mäßig hohe wie in der Vorwoche; von je 10 000 Lebenden starben, aufs Jahr berechnet, 53 Säuglinge. Von den Infectionskrankheiten erfuhren Scharlach eine kleine, Diph⸗ therie eine größere Steigerung, und kamen erstere aus der Rosenthaler Vorstadt, letztere aus dem Stralauer Viertel, der Rosenthaler Vorstadt, Moabit und dem am zahlreichsten zur Anzeige. Erkrankungen an Masern wurden etwas weniger gemeldet. Erkran⸗ kungen an Unterleibstyphus waren selten, an Kindbettfieber wurden 6 bekannt. Rosenartige Entzündungen des Zellgewebes der Haut gelangten weniger, Erkrankungen an Keuchhusten dagegen zahlreicher zur ärztlichen Behandlung, auch stieg die Zahl der Todesfälle an letzteren Krankheitsformen auf 13. Rheumatische Beschwerden aller Art kamen seltener als in der Vorwoche zur ärztlichen Beobachtung.

Mannigfaltiges.

Der neue Entwurf zum National⸗Denkmal für Kaiser Wilhelm 1. von Professor Reinhold Begas ist nach Mittheilung hiesiger Blätter für die Reichstags⸗Mitglieder von heute an bis zum 19. Januar in den Stunden von 10 bis 12 Uhr, für das Publikum vom 20. bis 28. Januar in den Stunden von 10 bis 3 Uhr im Atelier des Künstlers, Stülerstraße 4, zu besichtigen.

Für das unter dem Protectorat Ihrer Majestät der Kaiserin⸗ stehende evangelische Magdalenen⸗Stift findet, wie die „N. Pr. Z.“ berichtet, am Freitag, von 10 Uhr Vormittags bis 3 Uhr Nach⸗ mittags, in dem Parterresaal des Hauses Schellingstraße 12, Hof rechts, ein Verkauf von Lebensmitteln statt.

Vom Königlichen Polizei⸗Präsidium ist der Direction der Großen Berliner Pferde⸗Eisenbahn⸗Ge ellschaft nunmehr die Genehmigung zur Herstellung einer Pferde⸗Eisenbahnlinie von der Thurm⸗ Fern in Berlin durch die Beusselstraße bis zur Grenze mit dem Gutsbezirk Plötzensee ertheilt worden.

Prinz sftiehrsch Solms⸗Brannfels, Second⸗Lieutenant im 2. Garde⸗Ulanen⸗Regiment, wurde, wie der „N. A. Z.“ gemeldet wird, am Montag auf dem Exercirplatz von dem Pferd eines vorbei⸗ reitenden Artillerie⸗Offiziers durch einen Hufschlag schwer verletzt. Derf wurde in die Königliche Klinik in der Ziegelstraße überführt.

Die neuerbaute städtische Volks⸗Badeanstalt Moabit in der Thurmstraße Nr. 85 a ist im verflossenen Monat von 7559 Per⸗ sonen benutzt worden. Der Gesammtverkehr seit der Eröffnung am 1. November v. J. bis jetzt beläuft sich auf 16 910 Personen. Davon entfallen allein auf den Besuch der Schwimmhallen 7784 An dem Gesammtverkehr sind die Frauen nur mit 3400 Personen, also etwa einem Fünftel, betheiligt. Dies ist vielleicht auf den weit verbreiteten Irrthum zurückzuführen, daß weib⸗ liche Personen nur Vormittags von 9 ½ bis 12 Uhr baden können. Diese Zeitbeschränkung erstreckt sich aber lediglich auf die Schwimm⸗ halle. Die Wannen⸗ und Brausebäder dagegen können, da für beide besondere Frauenabtheilungen vorhanden sind, während des ganzen Tages benutzt werden. Auch in den Mittagsstunden findet eine Unter⸗ brechung des Betriebes, der seit dem 1. Januar d. J. bereits um 7 Uhr Morgens beginnt, nicht statt.

Der Verkehr in den städtischen Fluß⸗Bade⸗ und Schwimmanstalten in der Zeit vom 16. Mai bis zum 4. Sep⸗ tember 1892 die sonst bis zum 30. September geöffneten Anstalten mußten aus Anlaß der Choleragefahr bereits am 5. September ge⸗ schlossen werden gestaltete sich wie folgt: Es haben in der an⸗ gegebenen Zeit gebadet frei 404 169 Personen (120 259 weibliche, 283 910 männliche), gegen Zahlung 546 527 Personen (176 023 w., 370 504 m.), 950 696 E 282 w., 654 414 m.). Die Einnahme betrug 48 264,15 Am Schwimmunterricht nahmen theil 908 Personen (430 w., 478 m.).

Wie wir der „N. Pr. Ztg.“ entnehmen, ist der Mitredacteur dieses Blattes Herr Mayer gestern Morgen, etwa um 9 Uhr, als er von seiner Wohnung nach der Redaction ging, an der Ecke der York⸗ und Mansteinstraße von dem ihm aus unbegründeter und augenscheinlich krankhafter Eifersucht feindlich gesinnten Journalisten Dr. M. Berendt mit einem Revolver überfallen worden. Dr. Berendt, der auf das Vorübergehen des Redacteurs Mayer in einer Kneipe gelauert hatte, rief letzteren plötzlich von hinten an, gleichzeitig mehrere Schüsse auf ihn abfeuernd. Herr Mayer stürzte sich auf den Angreifer, der abermals feuerte, und schlug ihn mit seinem Stocke über den Kopf. Bei der Abwehr kamen beide über die Bordschwelle des Bürger⸗ steigs zu Falle, und der sich schnell aufraffende Dr. Berendt feuerte nun die letzten beiden Kugeln seines sechsläufigen Revolvers auf Herrn Mayer ab. Alle Schüsse hatten getroffen, doch nur zwei den ahnungs⸗ los Angegriffenen blutig verletzt: ein Prellschuß im Rücken und ein Schuß durch die linke Hand zwischen Daumen und Zeigefinger Dr. Berendt ist wegen Mordversuchs in Haft genommen. 8

Schaaren wilder Enten und Gänse zogen nach einer Mit⸗ theilung der „N. Pr. Z.“ gestern früh von Norden nach Süden, und zwar so niedrig, daß die einzelnen Thiere deutlich in ihren Umrissen zu erkennen waren.

Das Ballfest des Vereins „Berliner Presse“ findet am 28. Januar in der Philharmonie statt. Der Preis für die durch Mitglieder des Vereins eingeführten Gäste beträgt 10 Meldungen werden durch die Vereinsmitglieder bis zum 20. Januar vermittelt.

Guben, 9. Januar. Die hier verstorbene Frau Wilhelmine Coler, geb. Casselmann, hat, wie die „Gub. Ztg.“ berichtet, noch wenige Monate vor ihrem Tode der Stadtverwaltung ein Kapital von 36 000 für Armen⸗ und Krankenpflege übergeben. Zu Erben ihrer Hinterlassenschaft sind die beiden Rettungshäuser ein⸗ gesetzt worden. Für die evangelische Stadt⸗ und Hauptkirche hat sie 3000 ℳ, für den vrcerlehee Frauenverein 1000 ℳ, für die Brudergemeinde 1000 ℳ, für den Zweigverein der Gustav⸗Adolf⸗ Stiftung 2000 ausgesetzt. Weitere 1000 werden der evange⸗ lischen Stadt⸗ und Hauptkirche mit der Bestimmung überwiesen, die Zinsen dem Privat⸗Armenpflege⸗Verein zu zahlen. 8

Elberfeld, 9. Januar. Der „Köln. Z.“ wird telegraphirt: Unser städtisches Gymnasium beging heute unter großer Antheil⸗ nahme von nah und fern zur 300 jährigen Jubelfeier seines Bestehens die Weihe seines neuen Cchulgebäudes Nach einer Ab⸗ schiedsfeier in der alten Anstalt war Festgottesdienst in der ersten reformirten Kirche, die aus dem Shoße der reformirten Ge⸗ meinde des ymnasiums hervorgegangen ist. Festprediger war Pastor, Licentiat Stoltenhoff. Bei der Feier in der neuen Anstalt übergab Geheimer Rath, Ober⸗Bürgermeister Jäger das neue Gebäude seiner Bestimmung, gratulirte recht herzlich namens des in letzter Stunde verhinderten Regierungs⸗Präsidenten, namens der Stadt und des Curatoriums und wünschte, daß das Gymnasium immerdar blühe und gedeihe. Geheimer Ober⸗Regierungs⸗ Rath Bohtz aus Berlin gab dem lebhaften Bedauern des Unterrichts⸗ Ministers über dessen Verhinderung Ausdruck, brachte Glückwünsche und Anerkennung des Ministers für die Anstalt und ferner der Stadt Dank für die opferwillige Fürsorge für das Gymnasium sowie die lebhafte Antheilnahme Seiner ajestät des Kaisers an dem ferneren Gedeihen der ehrwürdigen Anstalt.

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Nürnberg, 10. Januar. Freiherr von Tucher spendete, wi „D. B. H.“ meldet, neuerdings 25 000 für die Restauration der Sebalduskirche.

Nürnberg, 10. Januar. Starker Schneefall hat nach einer Meldung des „D. B. H.“ hier Verkehrsstörungen verursacht. Baden, 9. Januar. Der „Voss. Z.“ wird geschrieben: Ei Meteor, das vor einigen Tagen in verschiedenen Gegenden Südwest

Deutschlands beobachtet wurde, ist in der Nähe des Exercirplatzes in

Freiburg aufgefunden worden. Der größte Stein ist etwa 7 ½ Pfund schwer. Er zeigt durchweg eine bläulich⸗grüne Farbe und einen metallischen Glanz. An einer Stelle machen sich graue Flecken bemerkbar, welche wie Schmutz aussehen. An einer anderen Stelle zeigen sich parallele Furchen von heller Farbe; der Meteorstein ähnelt hier dem Festungsachat. Am interessantesten ist ein faustgroßer Stein, dessen Hauptfarbe ebenfalls bräunlich⸗grün ist. Eine Fläche von etwa 12 qem zeigt eine Anzahl von Körperchen, die nicht sind und so einen Schluß auf die Beschaffenheit und Zusammensetzung des Meteors zulassen. Es zeigen sich dort kleine Quarzkrystalle, körniger Sand, Kieselsteine u. s. m Der große Stein weist eine sehr compacte Structur auf und ist im Verhältniß zu seinem Volumen ziemlich schwer. Pola, 10. Januar. Der Lloyddampfer „Argo“ stieß, laut Meldung des „W. T. B.“, in der vergangenen Nacht mit dem italie⸗ nischen Segelschiff „Erminia“ i letzteres sank. Die Be: mannung wurde gerettet. In derselben Nacht strandete der italienische Dampfer „Dauno“ bei den Brioni⸗Inseln.

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London, 10. Januar. In dem Zinnbergwerk St. Just (Cornwall) fand nach einer Meldung des „W. T. B.“ eine Ueber schwemmung statt, wodurch fünfundzwanzig Bergleute das Leben

verloren. Kopenhagen, 10. Januar. Das Leuchtschiff von Drögors

ist, wie „W. T. B.“ meldet, heute Nachmittag des Eises wegen

eingezogen worden. Die Dampfschiffahrt ist im Sund sehr be⸗

schwerlich.

s⸗-Anzeiger und Königlich Preußischen Staat

Berlin, Mittwoch, den 11. Januar

Haus der Abgeordneten. 11. Sitzung vom 10. Januar.

Meber den ersten Theil der Sitzung ist bereits gestern be⸗ richtet worden. Das Haus trat im weiteren Verlauf der Sitzung in die erste Berathung des Gesetzentwurfs über die Verbesserung des Volksschulwesens und des Diensteinkommens der Volksschullehrer ein.

Minister der geistlichen 2ꝛc. Angelegenheiten Dr. Bosse:

Meine Herren! Zwischen dem Entwurf eines Volksschulgesetzes, wie es Ihnen in der letzten Session vorgelegen hat, und den wenigen Paragraphen dieser Vorlage ist ein weiter Abstand, und wenn man auch die Tragweite einer Vorlage nicht nach der Zahl ihrer Para⸗ graphen bemessen wird, so könnte doch dieser Umstand zu Mißdeutungen leicht Veranlassung geben. Deshalb möchte ich mir von Ihnen die Erlaubniß erbitten, der Begründung dieser Vorlage, deren schweren Weg ich nicht verkenne, noch einige erläuternde Bemerkungen hinzu⸗ zufügen.

Meine Herren, als ich im vorigen Frühjahr das dornenvolle Ressort der Unterrichtsverwaltung übernahm, bin ich mir darüber von vornherein im klaren gewesen, daß ich den Ihnen damals vorliegen⸗ den Volksschulgesetzentwurf nicht würde vertreten und zur Verab⸗ schiedung bringen können. Man mag über den Inhalt des Entwurfs denken wie man will, der Entwurf war von einem Minister vorgelegt, der ihn mit dem Herzen geschrieben hatte und der mit seiner ganzen Persönlichkeit dafür eingetreten war. (Bravo! rechts und im Centrum.) Meine Herren, solche Entwürfe kann ein Anderer nicht vertreten. Der preußische Unterrichts⸗Minister kann sich die Principien eines Schul⸗ gesetzes, das er vertreten soll, nicht dietiren lassen. Wenn er es für nöthig und für an der Zeit hält, einen Volksschulgesetzentwurf vor⸗ zulegen, muß er selbst dem, was er für richtig hält auf diesem Gebiet, auch selbst die ihm entsprechende Form geben dürfen. Da ich aber damals einen fertigen Entwurf begreiflicherweise nicht in der Tasche hatte, so konnte ich ihn auch nicht vorlegen, und ich glaube auch kaum, daß das ernstlich von mir erwartet worden ist.

Eine andere Frage ist, ob ich denn nicht in der Zwischenzeit einen entsprechenden ausführlichen, die Gesammtheit unseres Volksschul⸗ wesens regelnden Entwurf hätte aufstellen können und sollen. Wer die Schwierigkeit unserer Schulverwaltung kennt, weiß, wie nahe jedem Unterrichts⸗Minister der Gedanke liegen muß, einen Volksschul⸗ gesetzentwurf vorzulegen und damit der Verwaltung mehr, als es die Praxis vermag, die Wege zu ebnen. Das ist auch mir so gegangen. Ich habe nichtsdestoweniger den Plan fallen gelassen und habe ihn fallen lassen müssen einmal, weil das erdrückende Detail der Verwaltung mir die Sache schon physisch unmöglich machte, dann aber, weil ich wenigstens ein gewisses Maß eigener Erfahrung für erforderlich halte, um die Aufgabe mit einiger Ausficht auf einen gedeihlichen und für das Land nütz⸗ lichen Erfolg lösen zu können. Dazu kam, daß die dringlichste Aufgabe der gegenwärtigen Session ganz zweifellos der Abschluß der Steuerreform war. Es wäre eine übermenschliche Belastung des Landtags gewesen, wenn man ihm hätte zumuthen wollen, neben der Steuerreform jetzt auch noch ein allgemeines Volksschulgesetz zu berathen. Endlich und haupt⸗ sächlich schien mir die Einbringung eines Volksschulgesetzentwurfs auch um deswillen nicht angezeigt, weil nach den Erfahrungen der letzten Session mir ein Theil der allerwichtigsten internen Schulfragen zur Zeit noch nicht spruchreif zu sein scheint, und weil wir damit ich sage das mit aller Anerkennung für die dabei engagirten Gewissen aller Parteien den Schulkampf mit allen den leidenschaftlichen, erregten und erregenden einzelnen Kämpfen wieder hätten eröffnen müssen; und das, meine Herren, erscheint mir unter den gegenwärtigen Verhältnissen in ohnehin schwerer Zeit nicht wünschenswerth, den Interessen des Vaterlandes nicht dienlich. Ich habe den Eindruck, daß wir auf diesem Gebiete weit mehr ein Bedürfniß nach Ruhe, als das Bedürfniß neuer Kämpfe und das Bedürfniß neuer, tief in

das wirthschaftliche und geistige Leben unseres Volks eingreifender organischer großer Gesetze haben.

Das freilich muß ich sagen, daß ich bereits beim Eintritt in mein

jetziges Amt die Ueberzeugung gehabt habe, daß die Frage des

Lehrerdiensteinkommens so, wie sie lag, und wie sie zur Zeit liegt, unmöglich bleiben kann.

Diese Ueberzeugung hat sich bei mir nach näherer Kenntniß der Verhältnisse noch erheblich befestigt und verstärkt. Ich weiß, daß sie nicht überall getheilt wird. Allein, meine Herren, wer in die Statistik unseres Volksschulwesens auch nur einen oberflächlichen Blick wirft, wird nicht in Abrede stellen können, daß die zum theil schreienden Mißstände, Unzuträglichkeiten, Härten und Ungerechtigkeiten in unserem Lehrerbesoldungswesen mit dem allgemeinen Satze: „Die Lehrer aben bereits genug bekommen“ nicht zu heben und nicht ab⸗ zuweisen sind. Meine Herren, es handelt sich hier um die Be⸗ seitigung von Nothständen und von Ungerechtigkeiten, an denen der Staat absolut nicht vorbeikommen kann. Ich will mich in diesem ‚ugenblick in diese Frage nicht vertiefen; ich will mich vorläufig arauf beschränken, auf die Motive des Entwurfs zu verweisen, aus enen, wie ich glaube, ein vollkommen genügendes Bild sich ziehen läßt, welches das, was ich eben gesagt habe, bestätigen wird. Ich verzichte auch auf jeden politischen Appell, auf jeden Hinweis darauf,

was man von den ungenügend besoldeten Lehrern politisch erwarten

kann oder muß, wenn ihre Klagen immer und immer wieder ungehört verhallen. Ich nehme vielmehr das Bedürfniß einer in mäßigen Grenzen sich bewegenden, auf das nothwendigste beschränkten, or⸗ ganischen Regulirung unseres Lehrerbesoldungswesens vorläufig als ganz unzweifelhaft an. Sollten Zweifel nach dieser Richtung bestehen, so sind wir in der Lage, sie mit großem und, wie ich glaube, durch⸗ schlagendem Material widerlegen zu können, und wir können uns ja darüber eventuell später noch verständigen.

Ich beschränke mich daher zunächst auf die Frage: wie ist diesem Bedürfniß abzuhelfen, und welche Wege sind dazu angethan?

Die nächste Frage, die mir dabei entgegentritt, ist natürlich die: warum nicht wenigstens ein Schuldotationsgesetz? Meine

Herren, der Weg, einen Gesetzentwurf über die Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen vorzulegen, wäre in vieler Beziehung auch für mich weit angenehmer, und er würde ohne Zweifel, wenigstens prima vista, auch populärer, vielleicht auch für die künftige Schul⸗ verwaltung wirksamer, ebener und glatter gewesen sein, als der Weg, der mit der Vorlage beschritten ist. Ich mache auch gar kein Hehl daraus, daß ich nur ungern darauf verzichtet habe; dieser Verzicht ist mir auch um deswillen nicht leicht geworden, weil eine gewisse Ver⸗ bindung der Schuldotationsfrage oder der gesetzlichen Regelung der Schulunterhaltungspflicht denn das ist die Kehrseite davon mit der Steuerreform, insbesondere mit dem Communalabgabengesetz etwas ganz außerordentlich Lockendes hat.

Nach unserer Schätzung betragen die Kosten der Unterhaltung der Volksschule insgesammt etwa 30 % aller Steuern der Gemeinden. Daß sich die Reform der Schulsteuern in mancher Beziehung sehr viel leichter und einheitlicher, organischer hätte durchführen lassen, wenn⸗ sie im Zusammenhange mit dem Verzicht des Staats auf die Real⸗ steuern zu Gunsten der Gemeinden hätte erfolgen können, das liegt sehr nahe. Wenn die Königliche Staatsregierung bei der Vorlegung der Steuerreformgesetze sich gleichwohl die Beschränkung auferlegte, davon abzusehen, so liegen die dafür maßgebenden Gründe in erster Linie auf politischem Gebiet; auf politischem Gebiet insofern, als die Verbindung des Schulunterhaltungsgesetzes mit der Steuerreform, insbesondere mit dem Communalabgabengesetze, die Steuerreform selbst in einer nach unserer Ueberzeugung verhängnißvollen Weise belastet haben würde.

Meine Herren, alle gegen die Wiedervorlegung eines Volksschul⸗ gesetzes zur Zeit sprechenden Gründe kehren hier wieder. Vergegen⸗ wärtigen Sie sich die leidenschaftlichen Kämpfe, die hier um jeden Artikel unserer Verfassung geführt worden sind, der die Ziele der künftigen Unterrichtsgesetzgebung im voraus festlegen sollte. Denken Sie zurück an die erregten Debatten bei den bisherigen Versuchen, auch nur einzelne, verhältnißmäßig leichte, unwichtigere, einfachere Ausschnitte der Volksschulgesetzgebung zu regeln ich erinnere nur an die Bestrafung der Schulversäumnisse 1883, an die allgemeine Schulpflicht 1890 —; rufen Sie sich dazu noch die Erfahrungen zurück, die Sie selbst bei der Berathung der beiden letzten Volks⸗ schulgesetzentwürfe gemacht haben, dann werden Sie mir darin zustimmen müssen, daß jeder Versuch, auch nur einen Theil der Ver⸗ hältnisse der öffentlichen Volksschule gesetzlich zu regeln, die noch nachzitternde Erregung der damaligen Debatten unbedingt hätte wieder wachrufen müssen und über die Grenzen, die man etwa in diesem Entwurf hätte ziehen wollen, weit hinaus den Schulkampf auf der ganzen Linie mit allen seinen Consequenzen wieder eröffnet hätte. Und das um so mehr, als der Hauptpunkt, die Einführung eines neuen Trägers der Volksschullast, durch die in der Verfassung vor⸗ gesehene Verpflichtung der politischen Gemeinden sich zwar in den einzelnen Fällen unter Zustimmung aller Betheiligten sehr häufig außerordentlich leicht und glatt vollzieht, aber bei einer allgemeinen gesetzlichen Regelung an gewissen principiellen Fragen nicht vorbei⸗ kommen kann, an Fragen, die weit in das innere Schulgebiet hin⸗ übergreifen. Hier würden zweifellos gewisse Garantien für die künftige innere Gestaltung der Schulen gefordert werden. Ich muß sagen, ich würde es auch den Parteien in keiner Weise verdenken können, wenn sie auf diesen Punkt Werth legten.

Man könnte vielleicht einwenden: man brauche ja den Inhalt und den Umfang der Schullast im Entwurf nicht zu bestimmen; man könne ja die Frage der inneren Schulverfassung einstweilen noch wie bisher dem Ermessen der Schulverwaltung überlassen. Gewiß! das wäre eine Möglichkeit; aber, meine Herren, wer bürgt uns denn dafür, daß dieser Entwurf auch nur als eine Abschlagszahlung acceptirt werden würde? Und angenommen, es wäre möglich gewesen, eine solche Beschränkung eintreten zu lassen: ein Punkt bleibt immer unentbehrlich, der seine Lösung finden muß, und das sind gesetzliche Bestimmungen für den Uebergang der bestehenden Schulen und ihres Vermögens auf die politischen Gemeinden. Hierbei sind bisher immer und werden auch in Zukunft gewisse Garantien gefordert werden müssen zu Gunsten der bisherigen Schulinteressenten gegenüber den politischen Gemeinden.

An diesem Punkt aber, meine Herren, ist bisher der Streit noch jedes Mal entbrannt, und hier muß er entbrennen, man mag ihn wollen oder nicht. Daß aber dieser Streit, der so leicht unheilvoll werden kann, zur Zeit nicht erwünscht wäre, daß er, selbst wenn wir uns nicht scheuten, ihn zu entfachen, geeignet wäre, die gesammte Steuerreform, die doch im Vordergrunde des politischen Interesses hier in diesem hohen Hause zur Zeit steht, zu bedrohen, das wird kaum jemand bestreiten. Dies war einer der wesentlichsten Gründe, die uns abhalten mußten, ein Schuldotationsgesetz auch nur in be⸗ schränkter Form vorzulegen und zu einem integrirenden Theile der Steuerreform zu machen. Ich bin überzeugt, daß dabei beide ge⸗ litten hätten, die Schule und die Lehrer, insofern die Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse dadurch hätte in Frage gestellt werden können, und auf der anderen Seite die Steuerreform insofern sie mit unabsehbaren Schwierigkeiten belastet worden wäre.

Gleichwohl ist das doch immer nur einer der Gründe gewesen, die uns bestimmt haben, von einer Eingliederung der Schuldotation und ihrer Kehrseite, der Schulunterhaltungspflicht, in die Steuer⸗ reform abzusehen. Es kommen schwerwiegende Gründe mehr tech⸗ nischer Natur dazu.

Meine Herren, das Ziel der Steuerreform ist unter anderem darauf gerichtet, durch Verzicht auf die staatlichen Realsteuern steuer⸗ kräftige, oder sagen wir mit Rücksicht auf die Schulen lieber: leistungsfähige Gemeinwesen zu schaffen, die mit ihren eigenen Mitteln, mit ihrer eigenen Steuerkraft für ihre Bedürfnisse selbst einstehen. Wollte man nun aber auch die Schulunterhaltungslast förmlich in die Steuern der politischen Gemeinde eingliedern, so würde darüber kann garkein Zweifel sein, und ich werde das nachweisen jenes Ziel durch bloße Eröffnung der Realsteuerquelle für die Gemeinden allein nicht zu erreichen sein, wenigstens nicht bei

den ärmeren und weniger leistungsfähigen Gemeinden. Denn, mein Herren, bei diesen reichen ihre künftigen Realsteuern nicht aus, um die Schulunterhaltungslast zu decken. Sie würden noch einer beson⸗ deren staatlichen Dotation bedürfen, und zwar in einem Umfange, in welchem staatliche Mittel zur Zeit auch nicht annähernd zu Gebote stehen. Meine Herren, es beruht dies auf einer bekannten Eigen 8 thümlichkeit der Schulunterhaltungslast. Sie steht, wie man zu sagen pflegt, in der Regel im umgekehrten Verhältnisse zur Prästa⸗ tionsfähigkeit der Gemeinden, und sie ist um so drückender und zwingender, als kein Kind gänzlich ungeschult bleiben darf. Es ist hier bei der Schulunterhaltungslast ein ganz anderes Verhältniß als auf an⸗ deren Gebieten der Gemeindeverwaltung. Denn während hier, z. B. be⸗ Ausgaben für Gas⸗ und Wasserleitung die Steigerung der Ausgaben meist Hand in Hand geht mit dem Aufblühen der Gemeinden und dem Wachsen ihrer Steuerkraft oder auch die Leistung der Ausgaben bis zu dem Zeitpunkt verschoben werden kann, wo sie ohne Ueber bürdung der Gemeindeglieder geschehen kann, ist es bei der Schul⸗ unterhaltungslast anders. Die Schullast muß getragen werden, und sie ist vielfach um so größer und drückender, je kleiner und steuer⸗ schwächer die Gemeinde ist. Eine kleine, arme Gemeinde mit einem 8 ganz minimalen Einkommen⸗ oder Realsteuersoll kann unter Umständen ganz außerordentlich schwere Schullasten zu tragen haben, und gerade da soll und muß geholfen werden.

Meine Herren, von der Richtigkeit dieser Ausführungen werden Sie sich überzeugen, wenn Sie mir erlauben, noch etwas mehr ins 1

einzelne zu gehen und die Kosten des Volksschulwesens mit dem Ein⸗

kommensteuersoll und mit der Höhe der Realsteuern zu vergleichen,

auf die der Staat jetzt nach den Steuervorlagen zu Gunsten der Gemeinden zu verzichten im Begriff steht. Freilich, meine Herren, kann ich Ihnen dabei die Angabe einiger Zahlen nicht ersparen, aber

ich glaube, auch hinzufügen zu können, daß diese Zahlen nicht ohne

Interesse sind.

Nach der Schulstatistik vom Jahre 1891 belaufen sich die Ge⸗

sammtkosten des öffentlichen Volksschulwesens in Preußen 8

auf jährlich 146 225 312 ℳ, während sich das Solleinkommen der

neuen Einkommensteuer auf jährlich 124 842 848 beläuft und der Betrag der Grund⸗, Gebäude⸗ und Gewerbesteuer sich auf jährlich 92 791 842 stellt. Die Kosten des Volksschulwesens betragen also

109 % der Einkommensteuer und 157 % der Realsteuer.

Schon ein Vergleich der Schulkosten in Stadt und Land mit dem Einkommensteuersoll, welches ja die Prästationsfähigkeit der Bevölkerung im allgemeinen und in großen Zügen wohl am besten zum Ausdruck bringt, zeigt, wie ungleichartig sich das Gesammtver⸗ hältniß stellt. Während von den Kosten der Volksschule 64 594 325 auf die Städte und 81 630 987 ℳ, also mehr als die Hälfte der Ge⸗ sammtkosten, auf das Land entfallen, stellt sich die Einkommensteuer in

Stadt und Land wie 3:1. Auf den Kopf der Bevölkerung berechnet, belaufen sich die Kosten der Schule auf 4,89 ℳ, die Einkommensteuer die Schul⸗

auf 4,18 ℳ, geschieden nach Stadt und Land kosten auf 5,48 in der Stadt und 4,51 auf dem Lande, die Einkommensteuer auf 7,13 in den Städten und 1,69 auf dem Lande. Für die Städte decken also 77 % der Einkommensteuer, auf dem Lande dagegen erst 270 % dieser Steuer die Kosten des Volksschulwesens. Bei den großen Städten, wie etwa Berlin und Düsseldorf, ändert sich das Verhältniß natürlich noch viel mehr zu Gunsten der städtischen Bevöllerung; hier genügen etwa 50 % vom Einkommensteuersoll, um die gesammten Kosten der Volks⸗ schule zu decken.

Auch bei einem Vergleich der Schulkosten mit dem Einkommen⸗ steuersoll der einzelnen Provinzen tritt diese Verschiebung zu Ungunsten der ärmeren Landestheile sehr grell hervor. So betragen in West⸗ preußen die Kosten des Volksschulwesens 5 890 819 ℳ, das Ein⸗ kommensteuersoll nur 2 382 612 ℳ; in Hessen⸗Nassau betragen die Kosten des Volksschulwesens 8 318 338 ℳ, dagegen das Einkommen⸗ steuersoll dort haben wir es mit einer wohlhabenden Provinz zu thun 10 275 896 ℳ, und dieses Verhältniß ver⸗ schärft sich zum theil noch erheblich in den einzelnen Provinzen und Regierungsbezirken. So betragen innerhalb Westpreußens, z. B. im Regierungsbezirk Danzig, die Kosten des Volksschul⸗ wesens 2 457 258 ℳ, das Einkommensteuersoll 1 319 660 ℳ, in Marienwerder die Kosten des Volksschulwesens 3 433 561 ℳ, das Einkommensteuersoll 1 062 952 In Hessen⸗Nassau tritt der eigen⸗ thümliche Fall ein, daß im Regierungsbezirk Cassel die Kosten des Volksschulwesens 2 957 064 betragen, das Einkommensteuersoll nur 2 401 947 ℳ, in Wiesbaden dagegen die Volksschullasten 4 361 274 und das Einkommensteuersoll 7 873 369 ℳ, sodaß also im Re⸗ gierungsbezirk Cassel etwa 160 % und im Regierungsbezirk Wies⸗ baden nur etwa 55 % vom Einkommensteuersoll nöthig sind, um die Volksschullasten zu decken. Nach unten aber, meine Herren, fehlt es nicht an zahlreichen Schulverbänden, die ein Einkommensteuersoll überhaupt nicht aufzuweisen haben.

Diese Zahlen fallen noch weit mehr ins Gewicht, wenn man be⸗ rücksichtigt, wie viel höher entwickelt das Volksschulwesen in den Städten und in den wohlhabenden Landestheilen ist, und wie viel in den ärmeren Landestheilen noch fehlt an einer auch nur einigermaßen gesunden Ausgestaltung desselben. Freilich, meine Herren, wird ja die Steuerkraft der Gemeinden und damit die Steuerkraft der Schulverbände wesentlich gehoben, wenn mit dem Verzicht des Staats auf die Realsteuern die Ge⸗ meinden in die Lage versetzt werden, diese Steuerquelle für ihre Be⸗ dürfnisse weit schärfer als bisher heranzuziehen. Ich will dabei von einer Exemplification auf diejenigen Bezirke ganz absehen, wo mit der Exemtion der selbständigen Gutsbezirke von den laufenden Schul⸗ beiträgen ein erheblicher Theil der Realbesteuerung für Zwecke der Volksschule ausscheidet. Aber dennoch ergiebt sich, daß der für die Besteuerung der Gemeinde frei werdende Betrag der Grund⸗, Gebäude⸗ und Gewerbesteuer einen um so geringeren Procentsatz der Kosten der öffentlichen Volksschule ausmacht, je ärmer der betreffende Landestheil oder der einzelne Schulverband ist. Ich hatte schon vorhin erwähnt

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