1893 / 11 p. 2 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 13 Jan 1893 18:00:01 GMT) scan diff

vor der Commission nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt waren und daher stenographisch nicht firirt; wurden, so beruhen die Zeitungsberichte darüber lediglich auf Hörensagen, und die ziemlich gleichmäßig von den verschiedensten Blättern gegebenen Mit⸗ theilungen sind nicht nur unvollständig, sondern enthalten auch theil⸗ weise erhebliche Irrthümer und an einzelnen Stellen eine directe Verkehrung der Worte des Herrn Reichskanzlers. Mit welcher Vorsicht die betreffenden Berichte aufzunehmen sind, ergiebt sich u. a. daraus, daß sowohl bezüglich Dänemarks, insbesondere bezüglich unseres Ver⸗ hältnisses zu Rußland, dem Herrn Reichskanzler Aeußerungen in den Mund gelegt werden, die als seine eigene Ansicht erscheinen lassen, was er in Wirklichkeit als Anschauung der deutschfeindlichen Elemente des Auslandes wiedergegeben hat. 8

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Niachdem das Handelsübereinkommen zwischen Frank⸗ reich und der Schweiz vom 23. Juli 1892 hinfällig geworden ist, werden vom 1. Januar d. J. die schweizerischen Erzeugnisse bei der Einfuhr in Frankreich dem General⸗Zolltarif (Deutsches Handels⸗Archiv 1892, I Seite 310) und die aus Frankreich oder den französischen Colonien herstammenden Waaren bei⸗ der Einfuhr in die Schweiz dem dortigen General⸗ Zolltarif (Deutsches Handels⸗Archiv 1891, I Seite 604) bezw. Zuschlägen zu den letzteren, unterworfen. Diese den schweizerischen General⸗Zolltarif noch übersteigenden Zollsätze werden in der Dritten Beilage zur heutigen Nummer des „Reichs⸗ und Staats⸗Anzeigers“ veröffentlicht. Denselben sind die für die deutschen Waaren gültigen Zölle gegenübergestellt. In zwei weiteren Rubriken sind die Waarenwerthe vermerkt, welche im Jahre 1891 aus Deutschland bezw. Frankreich nach der Schweiz eingeführt worden sind.

Commission für die zweite Lesung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich trat am 9. Januar in die Berathung des vom Sachenrechte handelnden dritten Buchs des Entwurfs ein und erledigte in den Sitzungen vom 9. bis 11. Januar von dem ersten Abschnitt „Allgemeine Vorschriften“ die §§ 778 791. Die Vorschriften der §§ 778—780 über den Be⸗ griff der Sache, der vertretbaren und der verbrauch⸗ baren Sachen wurden ihrem sachlichen Inhalt nach gebilligt, vorbehaltlich der von der Redactionscommission zu prüfenden Frage, ob es sich nicht empfehle, diese Vorschriften mit Rück⸗ icht darauf, daß sie eine über das Gebiet des Sachenrechts hinausgehende terminologische Bedeutung haben, in den Allge⸗ meinen Theil oder da einzustellen, wo sie für eine Norm zuerst in Betracht kommen. Der § 781, der im Abs. 1 als unbeweg⸗ liche Sachen die Grundstücke bezeichnet und im Abs. 2 bestimmt, daß auf Berechtigungen, die ein Blatt im Grundbuch erhalten können, die auf Grundstücke sich beziehenden Vorschriften ent⸗ sprechende Anwendung finden, wurde gestrichen; vorbehalten blieb, eine dem Abs. 2 entsprechende Vorschrift in den Abschnitt über das Erbbaurecht (§S 961 ff.), sowie in den Art. 115 des Entwurfs des Einf.⸗Gesetzes aufzunehmen. Zu § 782, welcher den Begriff des wesentlichen Bestandtheils einer Sache feststellt und damit den Satz verbindet, daß an den wesentlichen Bestandtheilen einer Sache ein von dem Recht an der Sache im ganzen abgesondertes Recht nicht stattfindet, war von einer Seite beantragt, die Unterscheidung zwischen wesentlichen und nicht wesentlichen Bestandtheilen auf⸗ zugeben und unter Streichung des § 782 zu bestimmen, daß das Recht an einer Sache im Zweifel auch ihre sämmtlichen Bestandtheile umfasse. Ein anderer Antrag ging dahin, neben dem § 782 zu bestimmen, daß das Recht an einer Sache sich auch ihre nicht wesentlichen Bestandtheile erstrecke, un⸗ beschadet der Fortdauer der an ihnen bestehenden Sonderrechte, oder daß das Recht an einer Sache sich im Zweifel auch auf ihre nicht wesentlichen Bestandtheile erstrecke. Die Mehrheit entschied sich jedoch unter Ablehnung der 1“ für die An⸗ nahme des § 782. Auch die §§ 783, 784, welche besondere, den § 782 ergänzende Vorschriften über wesentliche Bestandtheile eines Grundstücks (Gebäude, Erzeugnisse, Samen, Pflanzen) geben, fanden mit der Abweichung Zustim⸗ mung, daß eine Pflanze schon mit dem Einpflanzen nicht erst dann, wenn sie Wurzel gefaßt hat als wesentlicher Bestandtheil des Grundstücks gelten soll. Ein Antrag, die Vorschrift des § 784 Abs. 1, daß zu den wesentlichen Bestandtheilen eines Grundstücks auch dessen Erzeug⸗ nisse gehören, so lange sie mit dem Boden zu⸗ u durch die Vorschrift zu ersetzen, daß as Recht an einer Sache im Zweifel auch die mit ihr noch zusammenhängenden Früchte umfasse, wurde abgelehnt. Zu einer ausführlichen Ffe e ang gab der § 785 Anlaß, der für en Sachen die Bestandtheilseigenschaft aus⸗ schließt, deren Verbindung mit einem Grundstück von einem Anderen, als dem Eigenthümer des Grundstücks nur zu einem vorübergehenden Zweck befugter Weise bewirkt ist, oder die in Ausübung eines Rechts an dem Grundstück von dem Berechtigten in seinem Interesse mit dem Grundstückverbunden sind. Einvernehmen bestand, daß diese Ausnahmevorschrift sich auf die im § 784 Abs. 1 genannten Erzeugnisse eines Grundstücks nicht beziehe. Dagegen ergab sich eine Meinungsverschiedenheit darüber, ob und inwieweit die Ausnahmen sich auch auf Pflanzen erstrecken, ferner darüber, ob sie auch auf solche Fälle ausgedehnt werden sollen, in denen die Verbindung unbefugter Weise bewirkt sei, sowie auf solche Fälle, in denen der Eigenthümer des Grundstücks selbst die Verbindung zu einem vorüber⸗ gehenden Zwecke vorgenommen habe. Von einer Seite war außerdem beantragt, in den hier in Rede stehenden Fällen nicht die Bestandtheilseigenschaft überhaupt, sondern nur die Eigenschaft eines wesentlichen Bestandtheils auszuschließen. Nach lebhafter Debatte wurde der § 785 nach dem Entwurf mit den Abweichungen angenommen, daß die Vorschrift einer⸗ seits auf die Fälle einer unbefugter Weise bewirkten Verbindung ausgedehnt, andererseits, soweit sie die Fälle betrifft, in denen die Verbindung in Ausübung eines Rechts an einem Grund⸗ stück von dem Berechtigten in seinem Interesse vorgenommen ist, auf Gebäude oder sonstige mit dem Grundstücke ver⸗ bundene Werke beschränkt werden soll. Anlangend die Vorschriften des § 786 über die Vereinigung einer durch Naturgewalt von einem Grundstücke los⸗ gerissenen Erdmasse mit einem anderen Grundstück war die Mehrheit der Ansicht, daß die Vorschrift, soweit sie solche Fälle betreffe, in denen die Veränderung durch Wasser⸗ gewalt hervorgerufen sei, dem Wasserrechte angehöre und des⸗ halb der Regelung dieser Materie vorzubehalten, im übrigen aber in Ermangelung eines praktischen Bedürfnisses entbehrlich sei. Der § 786 wurde daher gestrichen. Dagegen fand der § 787, welcher bestimmt, unter welchen Voraussetzungen ein Grund⸗

13. Januar Mittags gemeldete Cholerafälle:

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stück als ein Sdee Grundstück anzusehen sei, Zu⸗ stimmung, und zwar in dem Sinne, daß die Verfügung über einen Bestandtheil eines solchen Grundstücks nicht unwirksam sein, nach näherer Bestimmung der Grundbuchordnung aber von dem Grundbuchamt nicht zugelassen werden solle (vgl. § 26 des Entwurfs der Grundbuchordnung). Gegen die Vor⸗ schrift des § 788, nach welcher die mit dem Eigenthum an einem Grundstück verbundenen Rechte als Be⸗ standtheile des Grundstücks gelten, erhob sich kein Widerspruch.

Die Berathung wandte sich sodann den vom Zubehör handelnden §§ 789 bis 791 zu. Die Vorschriften des § 789 über den Begriff des Zubehör sowie die besonderen Vorschriften des § 791 über Zubehör eines zu einem gewerblichen Zweck eingerichteten Gebäudes und eines Landguts wurden in ver⸗ änderter Fassung ihrem sachlichen Inhalt nach gebilligt. Auch der § 790, welcher die Auslegungsregel aufstellt, daß ein Rechtsgeschäft über eine Sache sich im Zweifel auf ihr zur Zeit des Abschlusses des Rechtsgeschäfts vorhandenes Zubehör erstreckt, wurde, jedoch unter Beschränkung auf obligatorische Rechtsgeschäfte, mit dem Vorbehalt angenommen, die Vor⸗ schrift in den allgemeinen Theil oder in das Obligationen⸗ recht zu versetzen. Im Anschluß an den § 790 war von einer Seite die Aufnahme einer Vorschrift beantragt, welche das dem Preuß. A. L.⸗R. und dem Französischen Rechte zu Grunde liegende Princip sachenrechtlicher Be⸗ ziehung zwischen der Hauptsache und deren Zubehör durch einen allgemeinen Satz in Anlehnung an die in den §§ 1067, 1068 speciell für die Hypothek gegebenen Vor⸗ schriften zur Anerkennung zu bringen bezweckte. Die Mehrheit trug jedoch Bedenken, vor der Berathung der einzelnen in Betracht kommenden Materien einen solchen allgemeinen Satz, dessen Tragweite im einzelnen sich zur Zeit schwer übersehen lasse, zu beschließen. Es wurde daher die Berathung des Antrages einstweilen aus⸗ gesetz, ebenso die Berathung des von anderer Seite gestellten Antrages, im Anschluß an den § 791 zu bestimmen, daß das Recht an einer Sache sich im Zweifel auch auf ihr Zubehör

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Dem Kaiserlichen Gesundheitsamt vom 11. bis

In Hamburg: 2 Erkrankungen.

er General der Infanterie Freiherr von Loön, General⸗Adjutant Seiner Majestät des Kaisers und Königs, ist hier wieder eingetroffen.

Der neue Königlich portugiesische interimistische Geschäfts⸗ träger Graf von Sélir ist hier eingetroffen und hat die Geschafte der Königlich portugiesischen Gesandtschaft über⸗ nommen

S. M. Kreuzer⸗Corvette „Arcona“, Commandant Cor⸗ vetten⸗Capitän Hofmeier, ist am 12. Januar von Neapel nach Port Said in See gegangen.

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Sigmaringen, 13. Januar. Gestern fand großer Hofball statt, dem, wie „W. T. B.“ meldet, auch der König von Rumänien und das neuvermählte Paar bei⸗ wohnten.

Der rumänische Minister des Auswärtigen Lahovary begiebt sich von hier nach Berlin.

Sachsen. 5 8 1

Ihre Majestäten der König und die Königin sind, wie das „Dr. J.“ meldet, von der Villa Strehlen in das König⸗ liche Residenzschloß übergesiedelt.

Sachsen⸗Weimar⸗Eisenach.

Ihre Königlichen Hoheiten der Großherzog, der Erb⸗ großherzog und die Erbgroßherzogin werden sich der „Th. C.“ zufolge zu den Vermählungsfeierlichkeiten nach Berlin begeben.

Oesterreich⸗Ungarn.

Die Kaiserin von Oesterreich ist auf der YNacht

„Miramar“ am 10. d. M. in Gibraltar eingetroffen und hat ohne weiteren Aufenthalt die Fahrt nach Cadix fort⸗ gesetzt, wo die Ankunft gestern erfolgte. 8

In der gestrigen Sitzung des ungarischen Unter⸗ hauses erklärke bei der Weiterberathung des Budgets der Minister⸗Präsident Dr. Wekerle auf eine Anfrage Helfy’s, die Vereinbarungen mit der Bankengruppe wegen der Con⸗ vertirungen und der Emission von Kronentitres seien abgeschlossen. Die Sicherheit der ungarischen Papiere hätte einen höheren Curs als 91 gerechtfertigt, allein ein höherer Curs sei nicht zu erreichen gewesen, und er habe das größte Gewicht auf eine glatte und ruhige Durchführung der Valuta⸗ regulirung gelegt. Im weiteren Verlaufe der Sitzung bemerkte der Minister⸗Präsident in Bezug auf die Couponkürzung seitens der österreichischen Staats⸗ bahn, er sei nicht berufen, auf die Regelung der Coupon⸗ angelegenheit einer Eisenbahn Einfluß auszuüben und in Bezug darauf Aufklärungen zu geben, zumal jene Gesellschaft keine ungarische sei. Er höre übrigens mit Befriedigung, daß eine friedliche Applanirung des Couponprozesses im Werke sei; er enthalte sich jeder Meinungsäußerung, um nicht eventuell die Entscheidung der Gerichte zu beeinflussen. Auf den Credit des b8 Staats habe die Couponkürzung keinerlei Einfluß ausgeübt. 1 8

Nach der „Pol. Corr.“ ist die gegen den jungczechischen Abgeordneten Podlipny und den Sprachlehrer Schmidt⸗ Beauchez vom Prager Landgericht eingeleitete Untersuchung wegen der beim Turnfest in Nancy gehaltenen, angeblich unpatriotischen Reden eingestellt worden, da die Beschuldigten

erklärten, daß ihre Reden in den französischen Blättern entstellt

wiedergegeben worden seien.

Großbritannien und Irland. v

Vorgestern wurde in London der erste Cabinetsrath

Das „Reuter'sche Bureau“ erfährt von unterrichteter

Seite, Sir West Ridgeway werde, entgegen der gestern mitgetheilten Nachricht der „Times“, auf seiner Reise nach Tanger von keinem Geschwader begleitet sein. Ridgewan werde sich höchstens dem Brauche gemäß auf einem Kriegs⸗ schiffe dahin begeben. In Fragen, welche die Interessen der europäischen Mächte in Marokko berührten, werde er im Einvernehmen mit den Vertretern Frankreichs, Spaniens und der anderen Mächte handeln. In einer vorgestern in Dublin abgehaltenen Versamm⸗ lung des irischen National⸗Bundes erklärte das Parla⸗ mentsmitglied John Dillon, daß der Bund die Angelegenheit der aus ihrem Besitz gewiesenen irischen Pächter nicht vor die Home Rule setzen, sie aber auch nicht vergessen werde, weil sie mit zu den Artikeln des Friedens gehöre, der eben im Begriff sei, zwischen England und Irland abgeschlossen zu werden.

Frankreich. Das neue Ministerium ist nunmehr, nachdem der Admiral Rieunier das Marine⸗Ministerium übernommen hat, con⸗ stituirt.

Die gestrige Sitzung der Deputirtenkammer wurde, einem Berichte des „W. T. B.“ zufolge, von dem neugewählten Präsidenten Périer mit der üblichen Antrittsrede eröffnet, worin er äußerte, die Schwächen einzelner Personen könnten die Republik nicht berühren, welche die begangenen Fehler zu ahnden wissen werde. Der Deputirte Hubbard begründete darauf seine Anfrage an die Regierung, ob sie nicht willens sei, den Termin zur Vornahme der allgemeinen Wahlen auf einen früheren Zeitpunkt zu verlegen, und beleuchtete die gegenwärtige Lage; diese sei complicirt genug, um die Festsetzung eines früheren Termins für die allgemeinen Wahlen nothwendig zu machen. Der Deputirte Chiché (Boulangist) forderte die Auflösung des Parlaments und die Einbe⸗ rufung einer Constituante. Der Minister⸗Präsident Ribot erwiderte, man müsse der Justiz ihre völlige Unab⸗ hängigkeit und. alle Mittel zur Ausübung ihrer Thätigkeit lassen, damit sie das begonnene Werk zu Ende führen könne. Die Justiz werde vor keiner Rücksicht auf Personen Halt machen. Für den Fall, daß die Frage des Staatsgerichtshofs aufgeworfen werden sollte, sei das Recht der Kammer ge⸗ wahrt. Wenn die Kammer der Panama⸗Angelegenheit ihren freien Lauf nehmen lasse, werde diese seitens der Justiz ihre regelrechte Erledigung finden. (Beifall.) Die Kammer müsse ihre gewohnten Arbeiten wiederaufnehmen und die Justiz ihr Werk ausführen lassen. Wenn die Republikaner vor das Land treten würden, könnten sie es vertrauensvoll thun, indeß sei es unmöglich, jetzt den Tag dafür festzusetzen. (Beifall.) Die von der Regierung angenommene einfache Dagesordnung wurde sodann mit 329 gegen 206 Stimmen ge⸗ nehmigt. Auf Ribot’s Wunsch wurde die Eröffnung der Budgetdebatte auf Montag festgesetzt.

Zum Vorsitzenden der Budgetcommission an Casimir Périer’s ist Peytral gewählt worden.

Einer Mittheilung des „Temps“ zufolge wäre die Bank von Frankreich genöthigt, inklingender Münze zu zahlen, da ihr Notenumlauf das Maximum von 3 ½ Milliarden Francserreichthabe. Die Bank habe deshalb mit der Münzverwal⸗ tung die Prägung von 50 Millionen Francs Gold vereinbart. Der „Cocarde“ zufolge fänden bei den großen Bankinstituten zahl⸗ reiche Zurückziehungen von Guthaben statt, wodurch die Notenreserve der Bank von Frankreich erschöpft worden sei; ein einziges Bankhaus habe seit 12 Tagen 180 Millionen Einlagen zuruͤckgezahlt. In der Provinz verlangten die kleinen Depotsgläubiger massenhaft ihre Guthaben von den staatlichen Sparkassen zurück. 1

Auf ein von Brisson an den Justiz⸗Minister ge⸗ richtetes Ansuchen ließ der Untersuchungsrichter bei dem Banquier Propper neue Schriftstücke in Beschlag nehmen, von denen mehrere von großer Wichtigkeit sein sollen. Wie verlautet, sollen sie die Correspondenz und das Checkbuch Arton’'s enthalten. Die Auffindung der Documente rief in parlamentarischen Kreisen lebhafte Bewegung hervor und dürfte, wie die heutigen Morgenblätter meinen, sehr ernste Maß⸗ nahmen zur Folge haben. 1

In dem Panama⸗Prozeß wurde gestern die Ver⸗ nehmung der Sachverständigen ö Neue Enthüllungen kamen dabei nicht zu Tage.

In der heutigen Sitzung der Panama⸗Untersuchungs⸗ Commission wird, wie es heißt, Maujan die Frage nach den Beziehungen Cottu’s zu den Deputirten der Rechten im Jahre 1888 aufwerfen, sowie nach 250 Inhaberbons, die Cottu übergeben worden waren, und von denen jede Spur verschwunden ist.

Die am vergangenen Sonnabend verhafteten Nihilisten sind gestern in Calais zur Fahrt nach England zu Schiffe gebracht worden.

Stelle

Rußland.

Der Erbgroßherzog von Oldenburg ist nach einer Meldung des „W. T. B.“ am Mittwoch in St. Petersburg eingetroffen und im Palais des Großfürsten Wladimir ab⸗ gestiegen.

Der deutsche Botschafter General von Werder, der Dienstag Abend von Berlin in St. Petersburg eingetroffen ist, wurde gestern von Ihren Majestäten dem Kaiser und der Kaiserin in Gatschina empfangen. 8

Der Verweser des Finanz⸗Ministeriums Witte ist zum öö und Geheimen Rath, der⸗ Verweser des

erkehrs⸗Ministeriums Kriwoschein ist zum Verkehrs⸗ Minister ernannt worden.

Dem Vernehmen nach ist der Domänen⸗Minister Ostrowsky an Stelle Ssolsky's zum Vorsitzenden des Codifications⸗Departements des Reichsraths ernannt worden.

Durch ein gestern veröffentlichtes Gesetz wird der Einfuhr⸗ zoll auf rohe Baumwolle auf 140 respective 155 Gold⸗ Kopeken per Pud erhöht. 1

In dem Reichsbudget für 1893 sind, nach einem Telegramm des „W. T. B.“, die ordentlichen Einnahmen auf 961 222 143 Rbl., die außerordentlichen Einnahmen au 79 236 242 Rbl., die Gesammt⸗Einnahmen demnach auf 1 040 458 385 Rbl. veranschlagt, also auf 149 423 694 Rbl. mehr als für 1892. Die ordentlichen Ausgaben sind auf 947 690 385 Rbl., die außerordentlichen Ausgaben auf 92 768 000 Rbl. veranschlagt, die Gesammt⸗Ausgaben demnach auf 1 040 458 385 Rbl., mithin auf 75 155 319 Rbl. mehr 88 im Vorjahre. Im einzelnen wird ferner folgendes mitgetheilt:

Unter den ordentlichen Ausgaben des Reichsbudgets 19 Vabig für 1892 sind in Klammern beigefügt befinden sich die

mit 232 937 030

nach der Rückkehr des Premier⸗Ministers Gladstone abge⸗

halten, dem sämmtliche Minister beiwohnten.

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Zahlungen für die Staatsschuld, ä8 ert mit 264 325 647 (253 509 305) Rbl., das Kriegs⸗Ministerium

(228 908 132) Rbl., das Marine⸗Winisterium mit 49 892 803 (47 882 233) Rbl., das Finanz⸗Milisterrum mit 122 572 579 1115 87 .9 Ieb 88 mit 82 352 659 (80 9132 inisterium der Wegecommunication mi 98 309 814 8 653 2 Rbl. 1. 8

nter den außerordentlichen Ausgaben sind angesetzt: für den Bau von Eisenbahnen und Häfen 62 961 000 sen fas Psg. gaben zur Umbewaffnung des Heeres 29 607 000 Rbl., für Special⸗ reserven zur Volksverpflegung 1 000 000 Rbl.

Eine Vergleichung einzelner Budgetanschläge von 1893 und 1892 ergiebt bezüglich einzelner Einnahmeposten Folgendes: an Getränke⸗ steuer 257 393 721 (242 570 981) Rbl., an Zuckeraccise 28 655 500 (21 174 000) Rbl., an Zolleinnahmen 134 970 600 (110 900 000) Rbl., aus 8f E 81 000 (75817 492) Rbl., an Gewinn von der Krone gehörigen Kapitalien und Bankoperationen 10 7807 (20 480 Roöl⸗ 8 8

ie für unvorhergesehene Bedürfnisse erforderlichen Ertrasummen sind von 6 Millionen Rubel auf 12 Millionen Fache erhöht dagegen die Credite für den Fall einer Erhöhung der Preise für Proviant und Fourage von 12 Millionen auf 6 Millionen Rubel herabgesetzt.

Ferner sind im neuen Budget angesetzt: für den Bau von Eisen⸗ bahnen und Häfen 62 161 000 (33 495 000) Rbl., für Umbewaffnung des Heeres 29 607 000 (20 140 000) Rbl., als Specialreserve zur Van . 1 8 89 (—) Rbl.

Zum 1. Januar 1893 (a. St.) befanden sich zur Verfügung der Reichsrentei: In der Reichsbank 57 341 222 güch. Gold, 1 Mäns⸗ hofe 693 933 Rbl. Metall, bei den Banquiers im Auslande 30 851 525 Rbl. Metall; ferner in der Reichsbank 5 603 629 Rbl., im Münzhofe 2 023 218 Rbl., bei Banquiers im Auslande 164 269 Rbl. Bankfilber; in der Reichsbank auf laufende Rechnung der Reichsrentei laufende 37 893 468 Creditrubel; in der Reichsbank 4 953 215 Metallrubel und 9 260 783 Creditrubel, endlich bei ausländischen Banquiers 2 266 062 Metallrubel. In diese Summen sind nicht einbegriffen: a. die im Baarbestand der Renteien, der Kassen der Special⸗Einsammler und unterwegs gewesenen Summen; b. 125 Millionen Rubel Gold, die der Reichsbank zur Sicherstellung der entlehnten gleichen Summe von Creditbillets gegeben sind.

Der Bericht des Finanz⸗Ministers Witte an den Kaiser betont die schwierige Lage des Landes, die durch die Mißernte und die Cholera hervorgerufen sei; jedoch sei eine sichtliche Besserung eingetreten; überhaupt sei ein vollständiges Ueberwinden der Krisis sicher zu erwarten. Im Gegensatz zu den früheren Finanz⸗ Ministern entwickelt Witte ein klares Programm, welches nament⸗ lich darin besteht, daß die Ausgaben des Staats für die Hebung der ökonomischen Lage, für Handel, Industrie und Land⸗ wirthschaft nicht verkürzt werden dürfen, daher werden die Ausgaben für Eisenbahn⸗ und Hafenbauten und für Cultur⸗ arbeiten des Domänen⸗Ministeriums erhöht. Die neuen Steuer⸗Er⸗ höhungen betrügen 24 ½ Millionen Rubel und seien nothwendig geworden, um die durch den Nothstand verkürzten Mittel der Reichsrentei zu ergänzen. Witte betont entschieden die volle Friedensliebe Rußlands und erklärt, die Goldansammlungen bezweckten keineswegs die Bildung eines Kriegsfonds. Die Gold⸗ vorräthe im Betrage von 600 Millionen, von denen 360 Millionen zur Deckung des Creditgeldes dienten, hätten den Zweck, die ausländi⸗ schen Börsenspeculationen zur Erniedrigung der russischen Noten und Fonds zu bekämpfen. Die Regierung werde im Falle eines Bedürf⸗ nisses davon Gebrauch machen. 8

Spanien.

Nach einer Meldung des „W. T. B.“ aus Madrid ver⸗

lautet daselbst, Spanien werde sich den Schritten Eng⸗

lands in Marokko anschließen, um die dortigen europäischen

Interessen zu schützen. Es werde die nöthigen Maßnahmen

treffen, um dem status quo in Marokko erforderlichen Falls Anerkennung zu verschaffen. 8

Serbien. Handelsconvention

8

Die provisorische Serbien und England ist dem „W. T. B.“ zufolge bis zum 13. Juli 1893 verlängert worden.

„Ihnfolge des Ablebens des Cultus⸗Ministers Boschkovics ist eine Reconstruction des Cabinets wahrscheinlich ge⸗

zwischen

worden. Der bisherige Bauten⸗Minister und

Professor der Hochschule Alkovics soll nach der „Wiener

Presse“ Cultus⸗Minister werden. Finanz⸗Minister Sto⸗

janovics würde das Bauten⸗Ministerium und der Skupschtina⸗

Deputirte Kundrovics soll das Finanz⸗Portefeuille über⸗

nehmen. 1“ Schweden und Norwegen.

„Der Kronprinz und die Kronprinzessin Dänemark sind laut Meldung des „W. T. B.“ mit dem Prinzen Christian und der Prinzessin Louise gestern Vormittag in Stockholm eingetroffen und von der König⸗

ehemalige

lichen Familie bewillkommnet worden.

Amerika. Dem „Reuter'schen Bureau“ wird aus Buenos⸗Aires gemeldet, die Aufständischen der Provinz Corrientes seien entwaffnet, die Revolution sei unterdrückt.

Asien. Der Kaiser von Japan, der in der letzten Zeit leidend war, ist nach einer Meldung des „W. T. B.“ jetzt wieder vollständig hergestellt. Der Thronfolger ist noch leidend.

Parlamentarische Nachrichten.

Deutscher Reichstag.

c. Der Bericht über die 19. Sitzung vom 12. Januar be⸗ findet sich in der Ersten Beilage.

20. Sitzung vom Freitag, 13. Januar, 1 Uhr. 3 Der Sitzung wohnen bei der Staatssecretär Dr. von Boetticher und der Königlich preußische Minister für Handel und Gewerbe Freiherr von Berlepsch. e Die Besprechung der Nothstands⸗Interpellation der

Abgg. Auer und Singer wird fortgesetzt.

Abg. Dr. Barth (dfr.): Der Strike im Saarrevier hat gestern gne t Rolle gespielt, als ihm innerhalb des Gegenstandes der Huterpellation zukommt. Aber die Auseinandersetzung zwischen dem Abg. Freiherrn von Stumm und dem preußischen Handels⸗Minister Freiherrn von Berlepsch nöthigt mich ebenfalls, etwas näher darauf nzugehen. Der Abg. Freiherr von Stumm hat gestern 8 Bergbehörden scharf getadelt, und größere Energie, vhcht. „Schneidigkeit“ von ihnen verlangt. Der, Begriff ershsSchneidigkeit ist keineswegs gleichbedeutend mit Festigkeit, sondern 8 heint nur als Festigkeit, ist aber in Wirklichkeit Unbesonnenheit. peng die Bergbehörde mit dem Abg. Freiherrn von Stumm jedem 16 Entlassung androhte, der nicht nach drei Tagen wieder anfuhr, so Strit das eben schneidig, aber auch unbesonnen gewesen. Der ist als ein frivoler bezeichnet worden. Aber wenn er ohne Verhal erkennbare Gründe ausbricht, dann muß doch etwas in dem Diehe tniß zwischen Arbeitern und Behörden nicht in Ordnung sein. Siese großen Massen, die als ganz ruhige, ordnungsliebende Leute ge⸗

schildert werden, sind in den Strike eingetreten; auch der unbesonnenste Arbeiter weiß doch, daß ein solcher ihm außerordentlich viel Ent⸗ behrungen bringen muß, und daß sein Erfolg ein sehr zweifelhafter ist. Nach den eigenen Erklärungen der Herren Minister läßt sich der unkt herausfinden, wo das Mißverhältniß liegt. Der Strike ist ausge⸗ 1 rochen, sagt der Staatssecretär Dr. von Boetticher, bevor die Forderungen der. Arbeiter formulirt geweesen seien, und der preußische Handels⸗ Minister Freiherr von Berlepsch stellt fest, daß er während seiner Amtsdauer noch keine Beschwerde aus den Arbeiterkreisen erhalten habe. Diese beiden Thatsachen lassen darauf schließen, daß die Arbeiter über ihre Rechte, ihr Beschwerde⸗ und ihr Coalitions⸗ recht, sich noch durchaus im Unklaren befinden, daß es sich hier so verhält, wie bei den Militärmißhandlungen, die in Masse vorkommen und bekannt werden, ohne daß die vorgesetzten Behörden eine Beschwerde erhalten. Die Organi⸗ sation des Beschwerderechts ist eben das Mangelhafte und Unzuläng⸗ liche, und das ist indirect auch ein Vorwurf für diejenige Behörde, der diese Arbeiter unterstellt sind. Man nimmt an, es sei genügend, wenn in patriarchalischer Weise von oben herab das Leben und Trei⸗ ben gelenkt wird; aber mit diesen alten Mitteln kommt man eben heute nicht mehr aus. Daß die Leute so leicht verführt werden konnten, daran trägt gerade die Behörde auch einen Theil der Schuld. Nicht die organisirten Arbeiter sind zu fürchten, sondern lediglich die nicht organisirten; die Organisation der Arbeiter sollte man als ein ganz berechtigtes Bestreben daher unterstützen. Der eigentliche Gegenstand der Interpellation hat ja eine viel breitere Unterlage. Von der einen Seite wird ein schwerer Nothstand als vorhanden anerkannt, von der andern be⸗ stritten. Ueber den Begriff „Nothstand“ ist man also sehr verschiedener Meinung. Seit 1879 ist immerfort im Reichstag von Nothständen die Rede gewesen, vom Nothstande der Brenner, der Handwerker, der Landwirthe u. s. w. Der Nothstand, den die Interpellation im Auge hat, ist ein Nothstand der Arbeiter, hervorgerufen durch Mangel an Arbeitsgelegenheit. Derartige Nothstände sind zu Zeiten dagewesen; auch jetzt ist ein solcher vorhanden, aber ich zweifle, ob er größer ist, als der im vorigen Jahre vorhandene, weil im vorigen Jahre der Preis der nothwendigen Lebens⸗ mittel viel höher war als gegenwärtig. Die Nothstände auf dem Gebiete der Production überhaupt lassen sich großentheils auf die mangelhafte Ernte des Vorjahres zurückführen. Diesmal war die Ernte relativ vorzüglich, und wir dürfen hoffen, daß im nächsten Jahre die Verhältnisse dementsprechend günstiger sich gestalten werden. Die Frage, wie dem Nothstand entgegenzutreten sei, beantworteten die Interpellanten mit dem Hinweis auf ihr Programm: Beseitigung der kapitalistischen Privatwirthschaft. Zu ihrer Ueberzeugung werden sie uns damit nicht bekehren; es muß aber doch einmal dieser um⸗ wälzende Vorschlag genauer geprüft werden. In der Praxis ist Ihre HG 1e 1 dresgef rt wordene wie können Sie nun von uns verlangen, daß wir das lebensgefährliche Erperiment machen? (Bei Schluß des Blattes spricht der Redner weiter.)

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten.

„Die Rede des Finanz⸗Ministers Dr. Miquel bei Ein⸗ bringung des Staatshaushalts⸗Etats in der 13. Sitzung vom 12. Januar befindet sich in der Zweiten Beilage.

14. Sitzung vom 13. Januar.

Der Sitzung wohnen der Präsident des Staats⸗ Ministeriums, Minister des Innern Graf zu Eulenburg und der Finanz⸗Minister Dr. Miquel bei.

In dritter Lesung genehmigt das Haus zunächst den Gesetzentwurf über den Vorsitz im Kirchenvorstande der katholischen Kirchengemeinden in dem Geltungs⸗ bereiche des Rheinischen Rechts. 8 „Darauf folgt die erste Berathung des Gesetzentwurfs über die Aenderung des Wahlverfahrens.

Abg. Bachem (Centr.): Meine Partei hat wie andere Parteien ihre Zustimmung zur Steuerreform davon abhängig gemacht, daß ein genügendes Wahlgesetz zu stande kommt. Die Vorlage können wir als ein genügendes Gesetz nicht anerkennen, wenn es auch gewisse Verbesserungen unhaltbar gewordener Zustände mit sich bringt. Die Regierung will nur die Verschie⸗ bung ausgleichen, die durch die Steuerreform verursacht wurde. Warum will man dabei stehen bleiben? Warum will man bloß den status quo von 1891 wiederherstellen? Dann müßte man doch zurückgehen auf den Standpunkt bei Erlaß des Wahlgesetzes,

dessen Wirkungen seit 1849 sich sehr wesentlich verändert haben. Die Regierung will keine grundsätzliche Aenderung des Wahlrechts. Das Centrum hält an seinem grundsätzlichen Standpunkt fest, verzichtet aber jetzt auf weitere Erörterungen dieser Frage, weil diese nur einen akademischen Werth haben könnten. Der Zeitpunkt für das Wahlgesetz, das in Artikel 72 der Verfassung ver⸗ sprochen ist, ist allerdings noch nicht gekommen, denn wir befinden uns jetzt in der Steuerreform. Aber warum stellt die Regierung nicht ein neues Wahlgesetz in Aussicht für die Zeit nach Beendigung dieser Reform? Unser Bestreben wird es sein, eine Reform des Wahlverfahrens herbeizuführen, sobald die Steuerreform vollendet ist. Daß sämmt⸗ liche Steuern, nicht bloß die Staatssteuern, sondern auch die Ge⸗ meinde⸗, Kreis⸗ und Provinzialsteuern, zur Grundlage der Klassen⸗ eintheilungen gemacht werden sollen, begrüße ich mit Freuden. Aber man muß dann auch die indirecten Steuern in Rechnung stellen, die in den letzten Jahren erheblich gewachsen sind. Die erste Klasse soll ⁄12, die zweite 1⁄¼12, die dritte ⁄12 des Steuerbetrages umfassen. Diese Ver⸗ schiebung zu Gunsten der dritten Klasse ist zu billigen; aber man sollte hierbei nicht einheitlich verfahren, sondern für die Gemeindewahlen eine andere Eintheilung zulassen. Ueber die Wirkung der Vorlage kann man sich noch keine Vorstellung machen, vielleicht wird in den Wahlkreisen eine eintreten. Aber anders steht die Wahl bezüglich der Gemeindewahlen, bei denen sich eine plutokratische Zuspitzung schon seit längerer Zeit bemerkbar gemacht hat. Die Vorlage wird diese Er⸗ scheinung fördern. Wenn wir es mit einer Plutokratie zu thun hätten, die sich der sittlichen Verpflichtung des Reichthums bewußt ist, dann könnte man ein Vorrecht bei den Wahlen gestatten. Wir haben es aber mit einer Plutokratie zu thun, die den krassesten Egoismus ver⸗ tritt. Das Wahlgesetz ging davon aus, daß in der ersten Klasse die Leistungsfähigkeit, in der zweiten die Intelligenz vertreten sein sollte. Jetzt ist die Intelligenz in die dritte Klasse gedrängt; in Berlin wählen sogar die Minister in der dritten Klasse. Die Vorlage ist Flickwerk, auch wenn wir bielleicht die Stärke der einzelnen Wahlklassen procentual festlegen. Aber das Flickwerk muß wenigstens so eingerichtet werden, daß es vorhält bis zum Erlaß eines neuen Wahlgesetzes. Warum scheut man sich denn vor der Einfüh⸗ rung des allgemeinen geheimen directen Wahlrechts? Bei der offenen Abstimmung macht sich der Einfluß der Arbeitgeber, der Beamten u. s. w. auf die abhängigen Personen geltend. Wenn wir die Autorität der Arbeitgeber und Beamten wahren wollen, dann muß der Verdacht ver⸗ hindert werden, daß sie ihre Stellung mißbrauchen. Es macht s auch ein Terrorismus von unten bemerkbar, der die Wahlen beherrscht. Nur dem Terrorismus ist der Ausbruch des Saarbrücker Ausstandes zuzuschreiben. Wir wollen keine Herrschaft der Plutokratie, aber auch keine Herrschaft des Terrorismus. Führen Sie das geheime Wahlrecht ein, so lange Sie es können, sonst kommen die Socialdemokraten, die jetzt das geheime Wahlrecht vertheidigen, und führen die öffentliche Abstimmung ein, um dem Terrorismus zur Herrschaft zu verhelfen. Ich beantrage die Verweisung der Vorlage an eine Commission von 21 Mitgliedern.

Abg. Francke⸗Tondern (nl.): Wir im Abgeordnetenhause können keine Initiative ergreifen zur Regelung des Wahlgesetzes; dazu ist nur die Regierung im stande. Außerdem ist die Session durch die

Steuerreform so belastet, daß wir voraussichtlich mit einer Wahl⸗

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reform nicht zu stande kommen würden. Wie sich die Steuerreform weiter entwickelt, können wir noch garnicht übersehen, nament⸗ lich bezüglich der Ergänzungssteuer und der Gewerbesteuer. Auch die Rückwirkung der Steuerreform auf die communalen Ver⸗ hältnisse müssen wir erst erkennen, ehe wir eine Reform herbeiführen können. Die Novelle, die uns vorliegt, hat den ganz bestimm⸗ ten, eng begrenzten Zweck, die hierbei hervorgetretenen Verschiebungen in den Steuerverhältnissen auszugleichen. Wir wollen uns in dem Rahmen dieser Novelle halten und nicht andere ragen in die Erörterung hineinziehen. Das letztere kann erst beschchra⸗ wenn wir die endgültigen Ergebnisse übersehen können. Der Einfluß der Genossen findet auch jetzt schon statt bei dem Gemeindewahlrecht. Der Einfluß des Staats, der Kirche, der Arbeitgeber und der Genossen auf die Wahlen wird sich überhaupt nicht beseitigen lassen. Durch die An⸗ rechnung auch der Gemeindesteuern wird der Einfluß der seßhaften Elemente verstärkt. Das ist mir durchaus sympathisch. Benach⸗ theiligt in ihrem Wahlrecht werden allerdings die Beamten, welche keine Realsteuern bezahlen. Aber diesen Uebelstand-kann man nur be⸗ seitigen bei einer grundlegenden Aenderung des Wahlrechts, tnicht bei dieser Novelle. In Gemeinden, die keine Gemeindesteuern erheben, soll die Grund⸗ und Gebäudesteuer voll angerechnet werden. Das kann zu Ungerechtigkeiten führen, denn eine Ge⸗ meinde, die 5 % Gemeindesteuer erhebt, kann nur diese 5 % berechnen, während eine Gemeinde, die gar keine Steuern er⸗ hebt, volle 100 % berechnet. Diese Ungleichheit muß vermieden werden. Für die Gutsbezirke werden communale Abgaben nicht er⸗ hoben, aber die communalen Bedüfnisse müssen doch befriedigt werden. Man könnte die Gutsbesitzer zwingen, die communalen Ausgaben für die Zwecke des Wahlrechts zu berechnen. Die Regierung will aber nur die acht Millionen Mark anrechnen, welche den Gutsbesitzern an Grund⸗, Gebäude⸗ und Gewerbesteuer erlassen werden. Da die communalen Ausgaben höher berechnet werden, wird eventuell das Wahlrecht verkürzt. Der Abg. Bachem hat es bemängelt, daß die Intelligenz zurückgedrängt worden ist; das ist hauptsächlich eine Folge der Vorschrift, die von den Freunden des Herrn Bachem ausgegangen ist wonach in den Urwahlbezirken eine besondere Klasseneintheilung vorgenommen werden kann. Der Reichskanzler und mehrere Minister sind dadurch in die dritte Klasse gekommen. Helfen kann man nur, wenn man die Abtheilungen durch die ganze Stadt wählen läßt.

Abg. von Czarlinski (Pole) erklärt sich namens der Polen gegen die Vorlage und tritt den Ausführungen des Abg. Bachem bei. Abg. von Tzschoppe ffreicons.): Die Vorlage ist nur ein Pro⸗ visorium, das Mißstände beseitigen soll, die hervorgetreten sind und zwar sowohl bei den Landtagswahlen wie bei den Gemeindewahlen. Daß die Gemeinde⸗, Kreis⸗ und Provinzialsteuern angerechnet werden sollen, ist vollständig berechtigt. Aber es wird sich fragen, ob man nicht die Naturalleistungen, ferner die Abgaben an andere pseudocommunalen Verbände ebenfalls anrechnen soll, so die Abgaben für Wegeverbände, Deichverbände und Schulsocietäten. Klargestellt muß werden, welche Hebungsperiode maß ebend sein soll. Dir laufende Periode wird nicht immer als Ma srab genommen werden können, denn die Landgemeinden haben gewöhnlich keinen feststehenden Vor⸗ anschlag. Man wird also die abgelaufenen Perioden, vielleicht den Durchschnitt der drei letzten Jahre als Maßstab nehmen müssen, Wum die Schwankungen in den Gemeindesteuern Daß den Gutsbesitzern die Grund⸗, Gebäude⸗ und Gewerbesteuer an⸗ gerechnet werden soll, ist durchaus gerechtfertigt, denn sie tragen Lasten wie die Gemeinden; aber diese Lasten lassen sich nicht leicht rech⸗ nungsmäßig feststellen. Es wird aber zu untersuchen sein, ob nicht eine andere Form an Stelle dieser mechanischen Anrechnun der Realsteuern gefunden werden kann, um das Wahl⸗ recht des Grundbesitzers in seiner Bedeutung zu erhalten. Alle diese Bedenken rechtfertigen es, daß die Vorlage einer Commission von 21 Mitgliedern überwiesen wird. Ich kann nur noch erklären, daß wir der Einführung des Reichstagswahlrechts für den Landtag ebenso ö“ wie früher. Der Abg. Bachem befindet sich wohl im Irrthum, wenn er die geheime Wahl als ein Schutzmittel gegen die Socialdemokratie betrachtet. Die Erfahrungen bei den Reichstagswahlen beweisen doch das Gegentheil. Die Anrechnung der indirecten Steuern können meine politischen Freunde nicht billigen. Die Feststellung eines ge⸗ wissen Bruchtheils der Gesammtwählerzahl für die zweite und erste Klasse haben wir zunächst nicht von der gewiesen. Aber bei näherer Prüfung hat sich doch ergeben, daß dieser Weg ungangbar ist. Es könnten doch die Wähler erster Klasse zu sehr in ihrem Wahlrecht beeinträchtigt, ja majorisirt werden von Personen, die ihnen in ihrer Steuerleistung nicht entfernt gleichkommen. Wir hoffen, daß ein Provisorium zu stande kommt, das allen Anforderungen genügt bis zum Zustandekommen einer grundsätzlichen Wahlrechtsreform. (Schluß des Blattes.)

Die Steuerreformcommission des Hauses de Ab geordneten setzte gestern Abend ihre 19 Die Verhandlung über § 5 des Feleses wegen Aufhebung directer Staatssteuern, welcher von den Wahlen zum Abgeordnetenhause handelt, wurde bis zur Erledigung des Wahlgesetzes ausgesetzt. In § 6, der unter anderem bestimmt: „Mit der Auflösung des Fonds gehen die Bestände, sowie die alsdann noch bestehenden Forderungen und Verpflichtungen des Grundsteuerdeckungsfonds auf die betreffende Provinz über“, beantragt Abg. Herold (Centr.) zu sagen statt „auf die betreffende Provinz“: „auf die Kreise des betreffenden Regierungsbezirks nach Maßgabe der veranlagten Grundsteuer“. Der Antrag wird angenommen, nachdem der Regierungs⸗ vertreter erklärt, daß er nichts einzuwenden habe. § 7 ( Aufbewahrung der Copien der Katasterdocumeute in Rheinland und Westfalen erfolgt durch die Gerichte) bleibt unverändert, ebenso die §§ 8 bis 16 seinzelne über die Betriebssteuer, Kosten der Veranlagung und ebung). 8

Theater und Musik.

1 Kroll’s Theater.

8 ie komische Oper „Margitta“, die gestern zur ersten Auf⸗ führung gelangte, hatte sich des Beifalls des Publikums zu Segees das sich durch den Componiften Erik Meyer⸗Helmund angenehm unterhalten fühlte. Im wesentlichen steht die Musik in der That auf dem Unterhaltungsstandpunkt, und zwar nicht einmal auf einem mo⸗ dernen, sondern sie bewegt sich in den gewohnten Geleisen der alten Spieloper. Der Componist hat allerdings in seinem Libretto, das von Rudolf Bunge und Julius Freund herrührt, keine besonders günstige Stütze gefunden; es fehlt dem tertlichen Theil der komischen Oper beinahe alles Komische; ihr Hauptthema, die Abführung eines alten verliebten Gecken durch eine jugendliche Müllerstochter, variirt nur einen alten Lustspielstoff ohne jede Neuheit der Charakteristitk. Auf dieser Unterlage hat der Tondichter eine immerhin abwechslungsreiche Musit geschaffen, die von einer gefälligen Begabung des Tondichters besvnders für das falls die Lieder; jedo sind pielleicht um des Textes willen zwei Duette und die mehrstimmigen Sätze von weniger glücklicher Wirkung. Der erste Aet bringt in dem Anfangschor und bei Vertheilung des Schönheitspreises originellere Weisen; der zweite Aet setzt sehr stim⸗ mungsvoll ein, ist aber ins Sentimentale übertrieben. Was den äußeren Erfolg des Abends anbetrifft, so konnten zwei Gesangsnummern da capo gesungen werden, und auch im übrigen zeigten sich die Hörer durch Beifall für die Darbietungen dankbar. Der Componist wurde trefflich unterstützt durch fast aus⸗ nahmslos tüchtige Solisten. Wir heben als solche Fräulein Islar Herrn Bertram und errn W. Meyer hervor; Fräulein Detschy sang ihre Partie vortrefflich, gewann aber noch mehr durch ihre Dar⸗

tellung; auch Herr W 8 sich gesanefich 1“ seenung; auch H orms hat sich gesanglich und schauspielerisch