1893 / 14 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 16 Jan 1893 18:00:01 GMT) scan diff

Arbeiter 8. die Mißhelligkeiten entstanden. Die Arbeiter können über die Arbeitsordnung da gehört werden, wo man mit ihnen in normalen Verhältnissen lebt. Aber von dem gesetzlichen Zwang, e auch dort zu hören, wo sie unter einer politischen Information teehen und von höherer Stelle Weisungen bekommen will ich nichts wissen; wenn ich auch nicht wünsche, daß beim Strike dazwischen⸗ eschossen wird, so bitte ich doch die Regierung dringend, für den

chutz derjenigen zu sorgen, die arbeiten wollen. Eine Herabsetzung der Arbeitszeit unter das Maß des Möglichen ist für die Arbeiter vom Uebel und drückt ihren standard of life herab. Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssen zusammenarbeiten. Wenn sie den Unternehmern die Fabriken jerstören, zerstören sie auch die Ar⸗ beitsgelegenheit der Arbeiter. Auch ich bin für eine feste Arbeiter⸗ organisatton. Aber dieselbe steht noch in weiter Ferne. Sie wird nur möglich sein, wenn die Arbeiter diese Frage von der Politik loslösen. Die Staatsverwaltung als Arbeitgeberin darf nicht allein das fiscalische Interesse zur Geltung kommen lassen. Zumal die Eisenbahnverwaltung hat sich durch finanzielle Rücksichten bestimmen lassen, viele Verbesse⸗ rungen und Fortschritte nicht eintreten zu lassen, obwohl dies gerade in der Zeit des allgemeinen Niedergangs sehr angebracht wäre. Man kann von dieser Stelle aus dem preußischen Finanz⸗Minister zurufen, daß er es sich überlegen möge, ob er noch 5 der Eisenbahn⸗ verwaltung in die Arme fallen will bei dem Ausbau ihrer Ein⸗ richtungen. Man hatte gehofft, gewisse Mißstände des Privat⸗ betriebs würden mit der Verstaatlichung der Eisenbahnen ver⸗ schwinden, aber die Staatsverwaltung hat noch viel unverständlicher gewirthschaftet, als die Prwatbetriebe. Ich schließe mit der Hoff⸗ nung, daß im preußischen Landtage Mittel und Wege gefunden werden, um den Arbeitslosen zu helfen.

Königlich preußischer Handels⸗Minister Freiherr von Berlepsch:

Meine Herren! Ich habe nur eine ganz kurze thatsächliche Be⸗ richtigung vorzubringen. Der Herr Abg. Möller erwähnte in seinen Ausführungen, daß das Schwanken der Löhne in Saarbrücken schäd⸗ lich gewirkt habe, daß es gewissermaßen als eine Grausamkeit anzu⸗ sehen sei, einmal die Löhne sehr hoch zu stellen und sie plötzlich sehr tief fallen zu lassen. Ich nehme an, daß er hierin nicht eine beab⸗ sichtigte Grausamkeit gesehen hat; ich bin weit entfernt davon, aber er befindet sich auch thatsächlich in einem Irrthum. Die Lohnverhält⸗ nisse zwischen dem Ruhrgebiet und dem Saargebiet haben sich seit Jahren in demselben Verhältniß bewegt. Vor 1889 war dieses Verhältniß etwas anders als jetzt, indem die Löhne an der Saar vielleicht um zehn Pfennige weniger differirten als heute, seit dem Jahre 1889 aber bewegt sich durchaus das Lohnverhältniß an der Ruhr und an der Saar in ganz gleichen Bahnen weiter, und zwar entsprechend den verschiedenen Preisverhältnissen. Denn es wird den Herren bekannt sein, und es wird auch dem Herrn Abg. Möller bekannt sein, daß die Kohlenpreise an der Saar ständig sich höher halten als an der Ruhr, und zwar durchschnittlich um einen Satz von 2 per Tonne Kohlen. Im Jahre 1890 hat der Tagesdurchschnitts⸗ verdienst eines Bergmanns im Ruhrgebiet betragen 3,43 ℳ, an der Saar 3,79 ℳ; es bestand eine Differenz von 40 ₰, im Durch⸗ schnitt 1891 an der Ruhr 3,54, an der Saar 3,89 ℳ, es war also ein Unterschied don 35 da. Und im Durch⸗ schnitt 1892, wovon allerdings erst 3 Vierteljahre feststehen, ergiebt sich für die Ruhr 3,32 und für die Saar 3,70 ein Unterschied von 38 ₰. Es hat sich also die Lohndifferenz seit dem Jahre 1890 bewegt in einer Differenz von 40 ₰, 1891 35 und 1892 38 ₰. Demnach darf ich wohl mit Recht behaupten, daß die Schwankungen der Löhne an der Saar nicht anders gewesen sind, wie an der Ruhr, und daß sie in keiner Weise ein exceptionelles Ver⸗ hältniß angenommen haben.

Abg. Wisser (b. k. F.):

Es handelt sich bei dem gegenwärtigen Nothstande um einen jener partiellen Nothstände, wie sie im mensch⸗ lichen Leben von Zeit zu Zeit immer zu Tage treten. Der Strike im Saarrevier kann auch mit als Ausfluß des Nothstandes angesehen werden. Die Ursache der Nothlage ist auf die protectionistische Gesetzgebung der früheren Jahre zurückzuführen. Von diesem Gesichts⸗ punkte aus sind die strengen Maßregeln, welche man gegen die Strikenden vorgeschlagen hat, nicht gerechtfertigt. Redner wendet sich sodann gegen die Ausführungen der Abgg. Grafen Kanitz und von Kardorff, daß der Rückgang des kleinen Bauernstandes und die Abnahme der Zahl der bäuerlichen Besitzungen nicht durch den Großgrundbesitz, sondern durch die Güterschlächtereien verursacht sei. Die ländlichen Arbeiter würden schon durch den traurigen unserer Agrawverfafsung dann aber auch durch die Steuer⸗ ast, durch die ihnen ungünstige Gemeindeverfassung vom platten Lande weg in die Städte und über das Meer getrieben. Das Schlimmste in dieser Beziehung aber leiste die protectionistische Wirthschaft, die nur die Rente des Großgrundbesitzes steigere, aber wie im die kleinen Vortheile vernichte, welche der kleine Grundbesitz bis da in noch aus industriellen Betrieben zog. Wir fordern gleichmäßigere Vertheilung des Grundbesitzes und Zurück⸗ führung des Großgrundbesitzes auf seine eigene Kraft, während er jetzt nicht durch eigene Kraft, sondern durch die Mittel der ganzen Nation

erhalten wird.

Abg. Dreesbach (Soc.): Wenn die Versammlun een der Arbeitslosen den Staatssecretär Dr. von Boetticher nicht bestimmen können, einen wirklichen Nothstand zu constatiren, so sollten ihn doch die Berichte der Fabrikinspectoren dazu bewegen. Nach dem Bericht derselben von dem Jahre 1891 hat ein langsamer aber stetiger Nieder⸗ gang der Industrie und damit eine Verschlechterung der Lage der arbeitenden Klassen stattgefunden. Die Geschäftslage im Jahre 1892 hat sich aber nach allgemeiner Meinung noch weiter verschlechtert. An demselben Tage, ja vielleicht zu derselben Stunde, wo hier der Staatssecretär Dr. von Boetticher, um den Nothstand nicht anzuerkennen, auf den Aufschwung des Post⸗ und Eisenbahnwesens im vorigen Jahre hinwies, hat der preußische Finanz⸗Minister im Abgeordneten⸗ hause eine entgegengesetzte Erklärung abgegeben, indem er den Etat als ein Spiegelbild der allgemeinen gewerblichen Entwickelung in dem letzten Jahre bezeichnete und das Deficit von 58 Millionen mit 29 Millionen auf den Minderüberschuß der Eisenbahnverwaltung zurückführte. Wir unsererseits haben das Mögliche gethan, um den Norhstand auch ziffermäßig zu beweisen. Der Staatssecretär Dr. von Boetticher hat sich wegwerfend über die in den Versammlungen der Arbeitslosen gefaßten Resolutionen ausgesprochen, aber in ver⸗ schiedenen Städten haben sich auch Arbeitslosencommissionen gebildet und statistische Aufnahmen über die Verhältnisse in ihrem Bezirk ge⸗ macht, so in Halle, Giebichenstein, Mannheim. Danach sind in Mannheim, einer Stadt von 80 000 Einwohnern, 1040 Arbeits⸗ lose vorhanden, darunter die Mehrzahl Familienväter. Die stãdtische Behörde wurde aufgefordert, für Arbeitsgelegenheit zu sorgen; sie haben die Sache auch nicht abgelehnt, sondern die Leute mit der

ungewohnten Arbeit des Steink opfens beschäftigt, wobei dieselben 1,50

bis 1,60 pro Tag verdienten. Man stellte an die städtische Be⸗ hörde auch das Verlangen, die Fabrikanten zur Einstellung der Entlassung von Arbeitern zu veranlassen. Die städtische Verwaltun erklärte jedoch, daß dies außer ihrer Macht liege, daß sie jedo bei den Fabrikinspectoren dahin wirken wolle. Der badische Fabrik⸗ inspector Wörrishofer hat darauf auch versprochen, dahin zu wirken, daß weitere Entlassungen von Arbeitern nicht stattfinden sollten. In Ham⸗ burg befanden sich nach der am 15. Oktober p. J. aufgenommenen Arbeitslosenstatistik 4873 Personen, welche zusammen 52 375 Wochen arbeitslos waren. Wie ist diesem Nothstande abzuhelfen⸗ Was von Seiten der Communen geschehen ist,

verargen, wenn sie nur denjenigen Arbeitslosen Beschäftigung geben wollten, welche ihren Unterstützungswohnsitz in Mannheim haben. Für die übrigen Arbeitslosen wirkte das allerdings hart. Die Conservativen haben uns aufgefordert, unseren Einfluß dahin aus⸗ zuüben, daß unsere Anhänger aus den Industriestädten auf das platte Land zurückkehren. Diese Aufforderung würde besser an ihre eigene Adresse gerichtet. Wenn Sie (nach rechts) ur ausreichenden Lohn und eine menschenwürdigere Behandlung Ihrer Arbeiter sorgten, dann würden sie nicht massenhaft in die Städte ziehen. Ich bin überzeugt, daß die ländlichen Gemeinden auch nicht ihre früheren Angehörigen, wenn sie unterstützungsbedürftig sind, wieder zurücknehmen. Als Mitglied der Armencommission zu weiß ich, daß die ländlichen Gemeinden ihre Angehörigen an die Städte abgeschoben haben und sie sogar heimlich zwei Jahre lang dort unterstützt haben. Eine Abhilfe ist nur möglich, wenn die Armenangelegenheiten nicht mehr Sache der ECommunen, sondern des Reichs sein werden. Man hat bestritten, daß eine Verkürzung der Arbeitszeit eine größere Einstellung von Arbeitern zur Folge haben würde. Sie werden aus den Reihen der arbeitslosen Arbeiter genommen werden können. Die 200 bis 300 000 sog. Vagabunden auf der Landstraße würden gern arbeiten, wenn sie nur Arbeit bekämen. Diese 200 bis 300 000 Vagirenden rekrutiren sich aus solchen, die aus der Arbeit entlassen worden sind. Wir sahen in diesem Winter die Noth an Leute herantreten, die im Sommer nicht einmal in der Lage waren, ihre Schulden abzutragen, die sie im vergangenen Winter gemacht haben. Vor allem wäre es nothwendig, einen Maximalarbeitstag durch Gesetz einzuführen. Bis dies aber geschieht, müßten die Staatsbetriebe der Privatindustrie in der Regelung der Arbeitszeit mit gutem Beispiel vorangehen. Auf der Germania⸗Werft in Kiel wurden im vorigen Jahre eine Anzahl von Zimmerleuten wegen Mangels an Arbeit ent⸗ lassen. Die Zimmerleute wandten sich darauf an die Kaiser⸗ liche Werft, wurden aber abgewiesen mit der Motivirung, man könne sie nicht einstellen, ja, man dürfe es nicht, weil sie das vierzigste Jahr schon cerreicht hätten. Der Vorwurf, daß

die Socialdemokraten den Strike im Saargebiet provocirt haben, ist schon zurückgewiesen worden. Die „Germania“ hat die wahre Ursache des Strikes angegeben. Es war die neue Bergarbeitsordnung, in welcher das Lehrsystem aufgestellt ist, die Reduction mancher Löhne und die Iö“ der Bergbeamten. Da wurde der Strike be⸗ schlossen. Inzwischen ist bekannt geworden, daß der Abg. Freiherr von Stumm beim preußischen Handels⸗Minister vorstellig geworden ist und eine Herabminderung der Preise der Kohlen um 50 pro Tonne gewünscht habe, andernfalls sein Werk nicht mehr bestehen könne und er dasselbe von Neunkirchen nach Lothringen verlegen müsse. Der preußische Handels⸗Minister ist auf die Forderung zwar nicht eingegangen, hat aber eine Herabsetzung der Kokskohlen um 50 bewilligt. Mit dieser Herabsetzung ging eine Herabsetzung der Arbeitslöhne Hand in Hand, und da erfolgte der Strike. Im Rechtsschutzverein und unter den Bergleuten sind zwar Socialdemokraten, aber sie haben keine führende Rolle. Die Ultramon⸗ tanen haben die Führerrolle gehabt. Der Abg. Freiherr von Stumm hat vorgestern hier ausgesprochen, daß vor zwei bis drei Jahren noch keine Socialdemokratie im Saarrevier vorhanden gewesen sei. Jetzt ist sie da; denn wir haben seine vorjährige Rede gegen die Socialdemokratie drucken lassen und als Flugblatt verbreitet und sie hat als der beste Agitator für uns gewirkt. Er verlangt von den preußischen Behörden größere Schneidigkeit gegen die Strikenden. Mir scheint, ihre Schneidigkeit hat überhaupt den Ausbruch des Strikes verschuldet. Wie wenig die Socialdemokratie dort dominirt, zeigt der gegen eine geringe Minderheit von dem Febescsbeses gefaßte Beschluß, keiner politischen Partei den Bildstocksaal zu überlassen. Alle anderen Parteien haben dort ihre Versammlungslocale, nur unsere Partei nicht. Auf welche Weise soll denn nun aber die Regierung diesem Ausstand gegenüber auftreten? Die Fe sfser von Stumm, von Kardorff und Möller verlangen, daß Militär dorthin geschickt wird, daß ein neues Socialistengesetz geschaffen werde. Glauben Sie etwa, daß durch die Heranziehung des Militärs derartige Kämpfe zwischen Arbeitern und Arbeitgebern unmöglich gemacht werden? Für die Zukunft glauben Sie durch ein strenges Straf⸗ gericht die Arbeiter abschrecken zu können, in Zukunft ihr Recht zu wahren. Der preußische Handels⸗Minister war zwar mit dem scharfen Vorgehen, welches der Abg. Freiherr von Stumm vorschlug, nicht ganz einverstanden, erklärte aber, daß bis jetzt schon 500 Abkehrscheine ausgefertigt seien und daß weitere 3000 Mann in Zukunft nicht an⸗ fahren sollen. Das ist der zehnte Theil der ganzen. Beleg⸗ schaft. In Schöneberg gelingt es den Arbeitslosen nicht, eine Ver⸗ sammlung abzuhalten. Der Abg. Freiherr von Stumm klagt uns an, daß wir das höchste Gut der Menschen, die Zufriedenheit, vernichten. Wer ist denn heute zufrieden? Die Reichsregierung? Verlangt sie nicht täglich neue Steuern von uns? Ist die Rechte zufrieden? Sie klagt ja stets über die Noth der Landwirthschaft. Traurig sähe es mit unserem Culturzustand aus, wenn die Arbeiter mit dem Erreichten zufrieden wären. Wir haben 12 Jahre ausgeharrt, der Ausgang war eine Niederlage derer, die diesen Kampf geführt haben. Wenn der neue Curs glaubt auf derselben Basis Erfolge zu erringen, wohlan, er mag uns kommen, wir werden auch ihm gegenüber be⸗ waffnet sein! Staatssecretär Dr. von Boetticher: Meine Herren! Wir haben sehr viel in der Rede des Herrn Vorredners gehört und auch manches Neue; aber ich glaube, auch der anspruchsvollste Abgeordnete wird nicht verlangen können, daß ich auf alle Einzelheiten und auf alle Anschauungen, die der Herr Vorredner vorgebracht hat, replicire. Der letzte Theil seiner Rede war der interessanteste, und ich glaube, hier ist der Herr Vorredner etwas zu offenherzig gewesen entgegen dem Interesse seiner Partei (Widerfpruch bei den Socialdemokraten), wenn er es als die Aufgabe der Partei bezeichnet hat, die Unzufrieden⸗ heit zu nähren und zu befördern, und wenn er den Artikel des „Vorwärts“, der dieses Thema behandelt, als einen officiellen be⸗ glaubigt hat. Meine Herren, ich habe bisher immer hervorgehoben, daß jeder, der in einer öffentlichen Stellung am Gemeinwohle mitwirkt und der zur Theilnahme an öffentlichen Arbeiten berufen ist, es als seine Aufgabe anzusehen hat, die Zufriedenheit zu fördern und alles das aus dem Wege zu räumen, was die Zufriedenheit nicht auf⸗ kommen läßt. Wenn jetzt die Herren Socialdemokraten es als ihre Aufgabe hinstellen, die Unzufriedenheit zu nähren und mit allen Kräften zu fördern, so werden, glaube ich, die⸗ jenigen Elemente, auf deren Wohl und Wehe ihre Thätigkeit sich richtet, sich dies hinter die Ohren schreiben. Ich wünsche recht guten Erfolg zu diesem Geständniß. Meine Herren, nun habe ich aber auf den Eingang der Rede des Herrn Vorredners zurückzukommen und habe mein Erstaunen darüber auszusprechen, daß ungeachtet meiner gestrigen Erklärungen, die Sie ja meinethalben als eine Berichtigung der vorgestrigen Aeußerungen ansehen mögen, wenn Sie diese anders verstanden haben, er doch wieder darauf zurückgekommen ist: der Minister von Boetticher kennt keinen Nothstand. Diese Unterstellung ist durchaus unberechtigt! Ich erkenne lediglich einen solchen Nothstand nicht an, der ein Ein⸗ schreiten des Reichs erforderlich macht. Das habe ich vor⸗

gestern gesagt, das habe ich gestern gesagt und ich wiederhole es heute.

Damit wäre ich ja an sich der Beweisführung vafür enthoben, daß ein Nothstand überhaupt nicht vorliegt, und ich trete auch diesen Beweis gar nicht an. Allein das Bild, das heute der Herr Vorredner

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entrollt hat, ist, wie ich es schon vorgestern sagte, ein falsches, ich will es deshalb berichtigen. Die Beweismittel, die der Herr Vor⸗ redner für dieses sein Bild beigebracht hat, beziehen sich alle auf eine Zeit, um die es sich gar nicht handelt. Er hat uns verwiesen auf die Fabrikinspectorenberichte, welche sich über das Jahr 1891 und nicht über das Jahr 1892 verbreiten, er hat, wie gestern der Herr Abg. Auer, auf einen Verwaltungsbericht des Magistrats zu Berlin über die Verwaltung der Gasanstalten Bezug genommen, der ausdrücklich abschließt der Herr Vorredner oder der Herr Abg. Auer hat ja den Bericht in der Hand gehabt mit dem 31. März 1892. Es ist also klar, daß das, was er weitläufig vorgetragen hat aus den Fabrikinspectorenberichten pro 1891 und aus dem Verwaltungs⸗ bericht des Magistrats von Berlin pro 1891/92, für die gegenwärtige Lage absolut beweislos ist. (Sehr richtig!)

Nun hat zwar der Herr Vorredner, indem er selber gefühlt hat, daß er mit dem Hinweis auf diese amtlichen Schriftstücke allein nicht fertig werden könne, gesagt: Meine Ausführungen beziehen sich zwar. auf das Jahr 1891, aber Veränderungen werden nicht vermuthet (lebhafte Zurufe links), und da wir außerdem noch im vergangenen Jahre die Cholera gehabt haben, (andauernde Zurufe links.) Ich werde Ihnen gleich die Verschlimmerungen mittheilen. Also“ er hat selbst das Gefühl gehabt, daß seine Ausführungen für 1891 allein nichts beweisen, und wenn ich eben gesagt habe, er habe nach dem Satz: Veränderungen werden nicht vermuthet, seine Beweis⸗ führung darauf zugespitzt, im Jahre 1892 müsse es ebenso ge⸗ wesen sein wie 1891, so habe ich damit nur an einen bekannten Rechtssatz erinnern, nicht aber eine wirthschaftspolitische Bemerkung machen wollen.

Also der Herr Vorredner hat die Schwäche seines Beweises selbst gefühlt. (Widerspruch, links.) Dann sind Sie dieses Gefühls baar.

Im Jahre 1892, namentlich am Schlusse dieses Jahres, hat der Herr Vorredner gemeint, und im Januar 1893 habe es im Wirth⸗ schafsleben des Deutschen Reichs ebenso dürftig ausgesehen, wie im Jahre 1891. Nun bin ich aber in der Lage, Ihnen einiges Beweismaterial dafür beizubringen, daß das Bild kein so trübes, daß es ein falsches ist.

Ich habe bereits neulich daran erinnert, daß die Ausfuhrziffern für unsere Hauptindustriegruppen eine ganz erhebliche Steigerung gegen das Jahr 1891 für die Perioden des Jahres 1892, für welche sie bereits vorliegen, aufweisen. Ich will Ihnen diese Ziffern nicht einzeln verlesen es ist ein langes Verzeichniß —; Sie werden mir dies glauben und, sobald die Handelsstatistik für das vorige Jahr fertig gestellt ist, werden Sie meine Behauptungen auch controliren können.

Der Herr Vorredner hat nun weiter gemeint, in seltsamen Widerspruch mit der Aeußerung, die hier vom Bundesrathstisch aus gefallen ist, daß der Nothstand nicht so bedeutend sein könne, da sich Eisenbahneinnahme erheblich gebessert hätte, und die Ein⸗ nahmen der Post und Telegraphie! nicht unerheblich ge⸗ stiegen seien, stehe die Erklärung, welche neulich der Königlich preußische Herr Finanz⸗Minister bei Einbringung des Staatshaushalts⸗Etats für das nächste Jahr gegeben habe. Nein, meine Herren, diese Aeußerungen stehen in gar keinem Widersprach; denn, so viel ich weiß die Rede liegt mir nicht vor hat der preußische Herr Finanz⸗Minister ausdrücklich hervorgehoben, daß An⸗ zeichen der Besserung in den Einnahmen der Verkehrsverwaltungen vorhanden und daß diese Anzeichen dahin zu deuten seien, daß wir uns einer Periode zuwenden, in der bessere wirthschaftliche Er⸗ scheinungen zu Tage treten werden.

Ich bin übrigens durchaus nicht allein auf die Idee gekommen, auf diese Besserung in den Eisenbahneinnahmen, die sich für den November vergangenen Jahres in der preußischen Eisenbahnverwaltung auf 3 ½ Millionen Mark, also auf ein ganz hübsches Sümmchen be⸗ läuft, und auf die Besserung der Einnahmen der Pof und Telegraphie Hoffnungen auf eine gedeihliche Ent⸗ wickelung unserer wirthschaftlichen Verhältnisse zu gründen, nein, meine Herren, dieselbe Anschauung können Sie in jeder Zeitungsblatt lesen, das nicht von der Tendenz geleitet wird, n. Zustände schlechter darzustellen, als sie wirklich sind. Ich bin da im Besitz noch weiteren Beweismaterials.

Ich kann Ihnen hier z. B. mittheilen aus einem amtlichen Bericht aus dem Königreich Sachsen, daß in fast allen im Königreich Sachsen betriebenen Industriezweigen eine wesentliche Besserung ei⸗ getreten ist. Damit man mir nicht von neuem den Vorwurf mact daß ich unmotivirt schönmale, muß ich schon die Geduld des Hauses in Anspruch nehmen, um kurz die einzelnen Industriezweige durch⸗ zugehen und mitzutheilen, welche Symptome der Besserung vorliegen.

Die Generalbemerkung des mir vorliegenden Berichts geht dahin Es bestehen nur die zur Winterszeit regelmäßigen Entbehrungen. Ein Eintreten der öffentlichen Hilfe, obwohl Mittel zur Verfügung gestellt sind, ist nirgend erforderlich geworden. In den meisten Industriezweigen ist neuerdings eine Besserung der geschäftlichen Verhältnisse eingetreten, insbesondere in der Textilindustrie. 1 liegen genügende Bestellungen auch vom Auslande vor: es fehlt nicht an Arbeit, und die Löhne sind theilweise gestiegen. (Widerspruch bei den Socialdemokraten.) Ja, ich werde Ihnen nachher noch den Beweis führen, daß die Löhne in der That gestiegen sind, und zwar auch ohne Lohnstatistik, in ganz unwiderleglicher Weise Zum Artikel Webewaaren heißt es: Die Thätigkeit im Fabrikgeschäft bedeutende ausländische Ordres. 88 Die Strumpf⸗ und Handschuhwaarenbranche ist auf Mon⸗ b hinaus beschäftigt. Den größten Impuls zur Besserung des Fabrikgeschäfts giebt die Preissteigerung der Rohmaterialien. Baumwollspinnereien: Die Spinnereien sind mit Aufträgen wohl versehen⸗ Kammgarnspinnereien: Das Geschäft hat sich bedeutend gehoben; Preise⸗ Wollwebereien: 44 %, gesunken gewesenen Löhne sind im

25 % wieder erhöht.

Die Kleiderstofffabriken sind besser besch

Jahren.

Strumpfwirkerei:

ist sehr lebhaft, namentlich

im Anfang 1892 sehr chlecht⸗ mehr Thätigkeit und bessert

e um circa

Die im Vogtlande bedeutend, stellenweis Sommer 1892 um

äftigt als seit pielen

voll be⸗ die

Alle Fabriken des Erzgebirges sind vot icht unterbrüct;

konnte natürlich nicht gusreichen. Man kann es auch den städtis Behörden von Mannheim nich

v““

im Zusammenhang mit den Ausführungen des Herrn Abg. Liebknecht

schäftigt, und die Einfuhr in Amerita

um keinen Schritt weiter bringen.

Ausfuhr hat sich gegenüber 1891 um 18 % gehoben. In Chemnitz sind alle Fabriken bis April vollständig beschäftigt. Mun, meine Herren, das geht so weiter. Es fehlt natürlich auch nicht an Industriezweigen, in denen das Geschäft noch mangelhaft geht. Dam gehört namentlich die Posamenten⸗ und Musikinstrumenten⸗ fabrikation. Allein Sie werden aus meinen Anführungen ersehen haben, daß wenigstens das Gesammtbild für das Königreich Sachsen kein ungünstiges ist. Außerdem habe ich das führe ich mit Rücksicht auf die Be⸗ hauptungen des Herrn Vorredners an auch Notizen über den Gang der Geschäfte in Hamburg. Da liegt ja allerdings der Handel infolge der Cholera sehr darnieder; das ist unzweifelhaft. Inzwischen hat sich dort Arbeitsgelegenheit genug gefunden. Wenn der Herr Vor⸗ redner aus der Statistik, die dort das sogenannte Gewerkschafts⸗ kartell hat aufnehmen lassen, uns eine Ziffer genannt hat⸗ wonach eine Zahl Arbeitsloser ermittelt sei von über 4000, so mag das vielleicht in dem Zeitpunkt der Aufnahme richtig gewesen sein das kann ich ja nicht bestreiten —; allein ich glaube, meine Herren, mit dieser Statistik dürfen Sie nicht zu großen Staat machen. Es sind nämlich in Hamburg Fragebogen ausgegeben mit verschtedenen Rubriken, aus denen festgestellt werden sollte, welches der Umfang der Arbeitslosigkeit und wie die Lohnverhältnisse gewesen sind. Von diesen Fragebogen sind 172 000 ausgegeben, aber nur 7000 zurückgekommen, sodaß ich nicht annehme, daß diese Statistik eine sehr vollständige ist. (Sehr gut!) Auch die socialdemokratischen Blätter haben bereitwillig zu⸗ gegeben, daß dieser Versuch eigentlich als ein mißglückter angesehen werden muß. Nun, meine Herren, bin ich vorher durch einen Zwischenruf darauf aufmerksam gemacht worden, daß innerhalb der socialdemokratischen Partei der Glaube besteht, die Löhne seien nicht gestiegen. Dieser Glaube ist falsch. Wir haben ja allerdings keine Lohnstatistik, ich kann also nicht für jeden einzelnen Thätigkeitszweig im Deutschen Reich be⸗ stimmte Zahlen angeben, aus denen sich der Schluß ziehen ließe, daß wirklich die Löhne gestiegen sind. Aber ich habe einen ganz guten Anhalt und eine gute Berechnung aus einem Anlaß, den ich aus dem Unfallversicherungsgesetz entnommen habe. Im Unfallversicherungsgesetz, und zwar im § 6 haben wir eine Bestimmung, wonach die Beerdigungskosten bei tödtlichen Unfällen im allgemeinen das Zwanzigfache des täglichen Individuallohns betragen. Da wird also bei jedem tödtlichen Unglücksfall behufs Bemessung der Beerdigungskosten festgestellt: wieviel Individuallohn der Verunglückte zuletzt bezogen hat. Der tägliche Individuallohn wird mit 20 multi⸗ plicirt, und das macht das Beerdigungsgeld, welches die Hinterbliebenen bekommen.

Da hat sich nun ergeben aus den Nachweisungen und Rechnungen der Berufsgenossenschaften, daß dieser Individuallohn sich recht be⸗ trächtlich gesteigert hat. Diese Nachweisungen find seit dem Jahre 1886 aufgenommen, und daraus ergiebt sich, daß im Jahre 1886 durchschnittliche Individuallohn, also für alle die⸗ jenigen Arbeiterkategorien, die der Unfallgesetzgebung unterstehen, 732,15 betrug; er stieg im Jahre 1887 auf 748,80, im Jahre 1888 auf 774, im Jahre 1889 auf 789,75, im Jahre 1890 auf 825,13 und im Jahre 1891 auf 848,17 Die Steigerung betrug procentual für 1887 2,3 %, 1888 5,7 %, 1889 7,9 %, 1890 12,7 %, 1891 15,8 % natürlich im Verhältniß zum Jahre 1886 —, und die Steigerung der Löhne, wie sich hieraus ergiebt, betrug im Durch⸗ schnitt für jedes Jahr 8,2 %.

s ist also keine zutreffende Behauptung, wenn gesagt wird, daß die Löhne im allgemeinen und durchschnittlich zurückgegangen sind.

Nun, meine Herren, hoffe ich, daß ich bei der weiteren Discussion des ferneren Nachweises werde überhoben fein, daß ich einen Nothstand nicht anerkenne. Die Forderung, die

der Interpellation zu Grunde liegt, nämlich die Forderung, daß dos Reich einschreiten müsse, halte ich in diesem Augenblick für unerfüllbar. Der Herr Vorredner hat zwar gemeint, die Armenpflege müsse Reichs⸗ sache werden! Allein ich glaube kaum, daß er sich die Consequenzen dieses Gedankens ausgemalt hat. Er sprach nämlich davon, daß die Armenpflege innerhalb des Deutschen Reichs in sehr verschiedenem Maße geleistet wird, daß dabei in den einzelnen Armenverbänden eine gewisse Willkür hier und da zu Tage trete, und er wünscht, daß das Reich die gesammte Fürsorge in die Hand nimmt. 1

Für das Reichsamt des Innern muß ich erklären, daß wir dazu nicht im stande sein würden, und ich glaube kaum, daß er damit einen zweckmäßigen Gedanken verfolgt, wenn er die Communen, die wirklich die nächsten und berufensten Träger sind und die Verhält⸗ nisse der Unterstützungsbedürftigen am besten übersehen können, von dieser Fürsorge befreien will. Ebensowenig ist das Reich in der Lage, außer denjenigen Arbeiten, die es bereits übernommen hat, und die, soweit es die Witterung zuläßt, auch flott fortgesetzt werden, irgend etwas für die Beschäftigung arbeitsloser Arbeiter zu thun. Das ist eben unmöglich. Je mehr man die Fürsorge für die Arbeitslosen localisirt, um so wirksamer wird man der Arbeitslosigkeit begegnen.

Ich kann mich übrigens, was den Mangel an Arbeitsgelegenheit anlangt, nur den Ausführungen der Herren von dieser Seite des

Hauses (rechts) durchaus anschließen. (Lachen bei den Socialdemo⸗ kraten.) Ja, meine Herren, Sie lachen, aber Sie werden, wenn Sie die Dinge sachlich ansehen, wirklich zugeben müssen: die Herren haben Recht. Worin hat denn die Arbeitslosigkeit in den großen Städten und in den Industriecentren ihren Ursprung? Ganz einfach darin, daß mehr Arbeitskräfte zuströmen, als verwendbar sind. (Sehr richtig!) Und wenn Sie dieses Zuströmen gütigst verhindern wollten, und wenn Sie die Arbeiter dahin disponiren wollten, daß sie die Arbeitsgelegenheit da aufsuchen, wo sie mit Leichtigkeit zu finden ift. dann werden Sie in derselben Weise, wie wenn Sie meinen neu⸗ lichen Rath befolgen, ein gutes Werk gethan haben und mehr genützt haben, als durch akademische Betrachtungen, die uns in dieser Frage (Bravo!) Abg. Lucius (Rp.) verzichtet auf das Wort. Damit

der

Leb

Die Disccussion wird geschlossen. ist der Gegen⸗ stand erledigt.

Schluß 6 Uhr.

v“n des Präsidenten des Staats⸗Ministeriums, Ministers des Innern Grafen zu Eulenburg in der 15. Sitzung des Hauses der Abgeordneten vom 14. Januar bei Berathung des Gesetzenfwurfs über die Abänderung des Wahlverfahrens. . Meine Herren! Ich glaube keinem Widerspruch zu begegnen, wenn 8 als Ergebniß der bisherigen Berathung bezeichne, daß nicht nur, wie der Herr Abg. Dr. Bachem gestern meinte, die Staatsregierung, sondern auch die ganz überwiegende Majorität dieses Hauses dagegen ist, das gleiche und geheime Wahlrecht, wie es für den Reichstag besteht, auch für die preußischen Wahlen einzuführen. (Sehr richtig!) Ja, meine Herren, ich kann zu meiner Genugthuung constatiren, daß was die Communalwahlen anbetrifft, auch der Abg. Dr. Meyer ben gleichen Ansicht ist. Ich kann ihm ferner darin beitreten, daß es keines⸗ wegs nothwendig ist, daß die Wahlen für die großen politischen Körper⸗ schaften und die Wahlen in den Gemeinden nach gleichen Grundsätzen geregelt sind. Ebenso wenig aber und ich glaube, er wird mir darin bei⸗ stimmen erscheint es geboten, daß da, wo in dieser Beziehung eine Gleichmäßigkeit obwaltet, man darauf ausgeht, diese Gleichartig⸗ keit zu zerstören. Bei uns in Preußen, in dem größten Theil des Landes, bestehen für die Gemeindewahlen im wesentlichen gleichartige Grundsätze wie für die politischen Wahlen; sie beruhen auf dem sogenannten Dreiklassenwahlsystem; und wenn sich nun bei diesem System sowohl für die politischen wie für die Gemeindewahlen die gleichen Uebelstände herausstellen, dann ist nichts natürlicher, als daß man die gleichen Mittel anzuwenden sucht, um diese Uebelstände zu befeitigen, und daß man versucht, das auf einmal zu thun. Dies sind die Erwägungen, auf welchen die Zusammenfassung der Aenderungen des communalen und des politischen Wahlrechts, wi⸗ sie Ihnen unterbreitet ist, beruht. Meine Herren, ich glaube aber, daß nicht bloß in negativer Beziehung eine Uebereinstimmung zwischen der Regierung und der weitaus größten Mehrheit des Hauses besteht, sondern auch positiv dahin, daß es angezeigt ist, auf dem Boden des bei uns geltenden Wahlrechts stehen zu bleiben. Es hat sich gezeigt, daß dieses System, geschweige so verhaßt, wie von einer Seite gesagt wurde, auch nicht so schlecht ist, als es vielfach dargestellt wird, und wenn in dieser Beziehung das geflügelte Wort eines großen Mannes, welches, wie viele andere Aussprüche desselben, fast zu Tode gehetzt wird (Sehr richtig! rechts), auch jetzt wieder gegen das Dreiklassenwahlsystem angewandt wird, so unternehme ich es nicht, wie der Herr Vor⸗ redner es soeben gethan hat, eine Vermuthung darüber anzu⸗ stellen, ob der Urheber dieses Wortes auch heute noch dieser Mei⸗ nung ist. Das entzieht sich meiner Beurtheilung. Aber das glaube ich doch, rückblickend auf die hinter uns liegende Erfahrung, hervor⸗ heben zu müffen, daß jene Abneigung gegen das Dreiklassenwahl⸗ system, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine platonische war. In der langen Zeit, während der im Reichstage schon das all⸗ gemeine gleiche und geheime Wahlrecht bestand, ist von ihm kein Versuch unternommen worden, das Dreiklassenwahlsystem in Preußen zu beseitigen. 1 Meine Herren, es ist gegen dieses System hauptsächlich angeführt worden, daß es, um dasselbe Wort zu gebrauchen, was dabei häufig gebraucht wird, dem Geldsack zur Herrschaft und der Bildung nicht zu ihrem Rechte verhelfe. Meine Herren, es giebt nach meiner An⸗ sicht kein irgendwie ausreichendes Mittel, um bei der Ausübung des aetiven Wahlrechts das Gewicht, welches Intelligenz und Bildung für sich haben, zur Geltung zu bringen. Ich weiche von dem Herrn Vor⸗ redner darin ab, daß es irgendwo schon gelungen wäre, in dieser Be⸗ ziehung einen befriedigenden Vorschlag zu machen. Wenn Sie sich in anderen Ländern umsehen und erwägen, was dort unter dem sogenannten Capazitätswahlrecht verstanden wird, dann, glaube ich, ist das doch etwas ganz Anderes, als was man darunter versteht, der Bildung und Intelligenz zur Geltung zu verhelfen. Diese Versuche in Beziehung auf das Capazitätswahlrecht, wie wir sie in anderen Ländern sehen, erinnern mich viel mehr an die Prüfung der Rekruten, die darauf vorgenommen wird, ob sie Analphabeten sind. Die Vorschläge, welche ventilirt werden in dieser Beziehung an anderen Orten, be⸗ ziehen sich im wesentlichen darauf, ob die Leute lesen und schreiben können. Glücklicherweise befinden wir uns in unserem Lande in der Lage, daß diese Unterscheidung sehr wenige ausschließen wird und, wie ich hoffe, im Laufe der Zeit noch immer weniger als in diesem Augenblick. Ich bin ferner der Meinung, daß selbst, wenn diese Aufgabe lösbar wäre, wie sie es nach meiner Ansicht nicht ist, die Ent⸗ scheidung über den Werth eines Wahlrechts nicht darin liegt, ob das Gewicht der Bildung und der Intelligenz bereits bei dem activen Wahlrecht gewährleistet wird, sondern daß die Entscheidung vielmehr davon abhängt, ob die gesammte Gestaltung des Wahlrechts so ist, daß sie die Geltung dieser mächtigen Factoren in der That eintreten läßt und ihr Hervortreten nicht verhindert. Und wenn wir uns die Zusammensetzung des preußischen Abgeordnetenhauses seit seiner Ent⸗ stehung ansehen, dann, glaube ich, ist es nicht nur eine Rücksicht der Höflichkeit, die mir verbieten würde, zu einem anderen Resultat zu kommen, sondern in der That der Beweis der Erfahrung, daß dies Wahlrecht in keiner Weise verhindert hat, daß Bildung und In⸗ telligenz im vollen Maße zu ihrem Rechte gelangen. (Sehr gut! rechts.) Darum, meine Herren, glaube ich, daß wir uns auch gegenüber den Prophezeiungen, die uns von anderer Seite gemacht worden sind, mit Ruhe auf diesem Boden weiter bewegen und abwarten können, ob eine weitere Entwicklung dazu drängt, Aenderungen ein⸗ treten zu lassen. Ich glaube, daß diese Entwicklung keine sehr schnelle sein wird, wenn sie überhaupt eintritt, und ich glaube dies umsomehr, als sie bisher in entgegengesetzter Richtung sich bewegt hat. Es sind eine große Menge von Leuten von der Schwärmerei für das allgemeine gleiche und geheime Wahlrecht zurückgekommen (sehr richtig! rechts), und ich bin der Meinung, daß diese Strömung noch lange Zeit fortdauern, immer mehr Festigkeit gewinnen wird, selbst

Wahl so geheim zu machen, daß es nicht!: doch Mittel gäbe, dahinter⸗ zukommen, wie die Leute, mit denen man in nahen Beziehungen steht, gestimmt haben. Aber wenn das auch möglich wäre, so würden die Uebelstände, die mit der geheimen Wahl verbunden sind, damit keines⸗ wegs beseitigt sein. Sie beruhen zunächst darin, daß die geheime Wahl eine Menge von verderblichen Praktiken und Machinationen erzeugt, um trotz des versuchten Geheimnisses dennoch zu ermitteln, wie die Leute ge⸗ stimmt haben, und die geheime Wahl hat ferner den moralisch äußerst nach⸗ theiligen Einfluß, daß, wenn es nun nicht gelingt, dahinter zu kommen, wie jemand gestimmt hat, die ganze Wählerschaft, der gegenüber sich jemand berechtigt glaubt, hierüber unterrichtet zu sein, saspect wird und das Verhältniß zwischen den verschiedenen Klassen der Gesellschaft sich immer mehr trübt. (Sehr wahr! rechts.) Auf die höheren moralischen Gesichtspunkte, daß wir überhaupt zu gesunden politischen Zuständen nur gelangen können, wenn man sich ehrlich im Kampfe gegenübersteht und auch den Muth gewinnt, seine Meinung offen zu sagen, will ich nicht weiter eingehen. (Bravo! rechts.) Vielleicht aber, meine Herren, ist es am Platze, daran zu erinnern, daß ein verehrter Führer des Centrums, welcher in der Praxis sich später allerdings für das geheime Wahlrecht ausgesprochen hat, nämlich der Abg. Windthorst, zunächst entschieden erklärt hat, daß auch er prineipiell dem öffentlichen Wahlrecht den Vorzug gebe. Meine Herren, wenn nun ferner gesagt worden ist, warum denn, wenn man auch auf diesem Standpunkt stehe, nicht wenigstens das im Art. 115 der Verfassung vorgesehene vollständige Wahlgesetz vor⸗ gelegt würde, so glaube ich dem, was darüber in der Begründung des Gesetzentwurfs ausgeführt und von dem Herrn Abg. Francke gestern gesagt worden ist, kaum etwas hinzufügen zu müssen. Die Ver⸗ hältnisse liegen in der That gegenwärtig nicht so, daß wir zur Schaffung eines solchen Wahlgesetzes übergehen können. Wenn aber daran weiter die Frage geknüpft ist: warum dann nicht wenigstens versprochen werde, daß demnächst ein definitives Wahlgesetz eingeführt werden solle nun, meine Herren, so mu ich darauf zunächst antworten, daß das Versprechen in politischen Dingen auf lange Zeit hinaus eine sehr mißliche Sache ist (sehr richtig! rechts), und daß ich im höchsten Grade vorsichtig bin, dergleichen Versprechungen selbst auch nur auf kurze Zeit hinaus mit voller Bestimmtheit zu geben. Ich bin in der Lage gewesen, ganz vor kurzem mich dem aus setzen zu müssen, daß über die Absichten der Regierung im Land in Beziehung auf das Wahlgesetz Zweifel gehegt wurden, weil in der Rede, mit der dieser Landtag eröffnet wurde, und ebenso in den Worten, die ich bei der Einbringung der Steuergesetze äußerte, gesagt wurde, das Wahlgesetz würde so bald als thun lich vorgelegt werden. Meine Herren, es war damals beinahe fertig, und ich hätte wohl sagen können, es wird bestimmt vorgelegt werden. Aber selbst da habe ich es für besser gehalten, mich mit äußerster Vorsicht auszudrücken, weil man nicht wissen kann, welche unvorhergesehenen Dinge dazwischen kommen können. Also das ist der Grund, warum in dieser Beziehung nichts versprochen wurde. Im übrigen ist das auch aus einem anderen Grunde nicht noth⸗ wendig; denn Art. 115 der Verfassungsurkunde, welcher den Erlaß eines solchen Wahlgesetzes vorsieht, bleibt bestehen und ist genügende Erinnerung daran, daß, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, man auch nicht davon Abstand nehmen wird, das jetzt in Novellenform sich vertheilende Wahlrecht in einem Guß zu bringen. Wenn dem aber so ist, meine Herren, und wenn wir uns auf dem Boden des bestehenden Wahlrechts und in der Form einer Novelle zu bewegen haben, dann kann ich Sie alle, insonderheit aber auch die, welche dem Princip an sich nicht zustimmen, aber doch mitarbeiten wollen auf diesem Boden, nur dringend bitten, daß Sie in dem, was Sie wünschen, sich einige Beschränkungen auflegen und vor allen Dingen nicht mit Anträgen unter diesen Umständen hervortreten, welche geeignet sind, die Fundamente unseres Wahlsystems zu erschüttern. Als solchen muß ich zunächst den Antrag bezeichnen, daß bei den Steuern, welche der Dreitheilung der Abtheilungen zu Grunde gelegt werden, auch die indirecten Steuern berücksichtigt werden möchten. Ich glaube, daß der Herr Vorredner das Wesentliche, was in dieser Beziehung zu sagen ist, schon hervorgehoben hat, und ich will Sie mit der Wiederholung nicht ermüden. Ich halte diese Forderung weder principiell für richtig, noch in einer einigermaßen schicklichen Weise für ausführbar. Da⸗ gegen hat zu meiner Genugthuung die andere Ausdehnung des Gebiets der Steuern, die angerechnet werden sollen, nämlich der Gemeindesteuern, fast allseitig Zustimmung gefunden, und ich glaube in der That, daß diese Vorschrift eine solche ist, welche zur Ver⸗ besserung und Befestigung des gegenwärtig bei uns bestehenden Wahl⸗ systems wesentlich beitragen wird. Zwei Einwendungen habe ich in dieser Beziehung nur gehört. Die eine geht von Herrn Abg. Dr. Bachem aus und beruht auf der Befürchtung, daß durch die Hinzurechnung dieser Communalsteuern das Uebergewicht der großen Vermögen noch ge⸗ steigert werden könne, meines Erachtens zu Unrecht. Möglich ist ein solcher Erfolg, wie ja ohne weiteres zuzugeben ist, in dem Falle, wenn verhältnißmäßig die hohen Vermögen zu den Communalsteuern stärker herangezogen sind als die geringen. Wo das aber nicht der Fall ist, sondern wo das in annähernd gleichen Prozentsätzen geschieht, würde das keinen Unterschied machen und nur die Summe sich steigern. Aber, meine Herren, das Wesentliche ist, daß wir hineinbringen die Berücksichtigung der Steuern, die von Besitz und Gewerbebetrieb gezahlt werden, und die sind in stärkerem Maße beim Mittelstande vertreten als bei den ganz großen Vermögen und daher glauben wir in der That, daß eine sehr bedentende Sanirung durch die Anrechnung der Communalstener herbeigeführt werden wird. Wir bewegen uns aber auch auf diesem Gebiet keineswegs in theoretischen Erörterungen, sondern fußen auf der Erfahrung, welche die Vergleichung ergiebt zwischen den Communal⸗ wahlen in den östlichen Landestheilen, wo diese Anrechnung stattfindet und in den westlichen Landestheilen, wo sie nicht stattfindet. In den letzteren sind die Wirkungen der Steigerung der neuen Einkommen⸗ steuer ungleich stärker gewesen als dort, und ich muß dies als Beweis ansehen, daß die Anrechnung der Communalsteuern zu einer Ver⸗

auch nach der Richtung hin, in welcher unter den Gegnern dieses Wahlrechts hin und wieder eine Meinungsverschiedenheit besteht, nämlich in Beziehung auf die geheime Wahl.

Meine Herren, ich will ganz kurz diese Frage nur streifen, und zwar in Anknüpfung daran, was der Abg. Dr. Meyer heute gesagt hat, daß die Mängel, welche bei der geheimen Wahl unwidersprochen

jetzt hervorgetreten sind, nur darin liegen, daß die Wahl nicht ge⸗

besserung der Verhältnisse in dieser Beziehung wohlgeeignet ist.

Der zweite Einwand ist erhoben worden in Beziehung auf § 2 welcher die Sache für diejenigen Communaleinheiten regeln soll, in welchen Communalsteuern nicht erhoben werden. Daß es hier eines Ersatzes bedarf, ist von keiner Seite bestritten, und ich freue mich dessen, denn es ist in der That eine Forderung der Gerechtigkeit, daß ein Ausgleich in dieser Beziehung gefunden werden muß. Der Vor⸗

Meine Herren, zunächst ist es gar nicht möglich, die

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schlag der Regierungsvorlage geht dahin, daß da, wo keine Communal⸗

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