Frankreich 1804 durch Gergonne. Allein obgleich die Beiträge in genügender Zahl einliefen, so fehlte es an einem hinreichend großen Leserkreise. Die Mathematik war noch nicht in weite Kreise ge⸗ drungen, die Zahl der Leser zu klein. Diese Verhältnisse änderten ich, als die Völker sich von den Nachwehen der großen Kämpfe am Anfange des Jahrhunderts erholten. Das im Jahre 1826 begründete
Journal für die reine und angewandte Mathematik ist das erste,
welches, von einsichtsvollen Behörden unterstützt, einen dauernden Be⸗ stand gehabt hat und in dankbarer Erinnerung an den Begründer noch immer als Crelle'sches Journal bezeichnet zu werden pflegt. In
Deutschland folgten die bis auf heute fortgeführten mathematischen Zeitschriften: 1843 das Archiv der Mathematik und Physik, 1856 die Zeitschrift für Mathematik und Physik, 1869 die Mathematischen Annalen, 1870 die Zeitschrift für mathematischen und naturwissen⸗ schaftlichen Unterricht und endlich 1890 als letzte Gründung im deut⸗ schen Culturgebiete, als erste in Deutsch⸗Gesterreich die Wiener Monatshefte für Mathematik. Der große Einfluß, welchen das Journal für Mathematik in der ganzen Welt ausübte, veranlaßte auch viele nichtdeutsche Mathematiker dazu, ihre Arbeiten nach Berlin zur Veröffentlichung zu senden. Bald aber entstand bei den ver⸗ chiedenen Nationen der Wunsch, eigene Zeitschriften in der Landes⸗ prache zu besitzen. Frankreich besitzt seit 1836 das durch Lionville gegründete Journal de Mathématiques pures et appliquées, seit 1842, die Nouvelles Annales de Mathématiques. Das Journal de l'lcole Polytechnique, welches seit 1796 besteht, und die Annales
de lEcole Normale supérieure seit 1864 bringen außer den mathe⸗ matischen Abhandlungen auch solche aus anderen Wissenschaften.
Das Journal de Mathématiques élémentaires et spéciales, welches seit 1877 erscheint, sorgt für die Bedürfnisse des höheren Schulunterrichts und der jüngeren Studenten in ähnlicher Weise, wie
die Nouvelles Annales. In England brachte es das Cam- bridge Mathematical Journal von 1839 bis 1845 nur auf vier
Bände, seine Fortsetzung, das Cambridge and Dublin Mathe- matical Journal, von 1846 bis 1854 auf 9; dagegen ist das
Quarterly Journal von 1856 an regelmäßig fortgesetzt, und im Messenger of Mathematics ist seit 1862 ein zweites englisches mathematisches Journal entstanden. Die Educçational Times, welche seit 1863 ausschließlich Lösungen von gestellten Aufgaben jährlich in zwei Bänden bringen, sorgen für die Beschäftigung aller Liebhaber der Mathematik, die in England sehr zahlreich sind. Italien besitzt seit 1850, also vor seiner politischen Einigung, die Annali di Scienze Matematiche, fortgesetzt (1858) als Annali di Matematica pura ed applicata, seit 1863 das Giornale di Matematiche ad uso degli studenti, feit 1886 den Periodico di Matematica per l'insegnamento secondario, seit 1891 die Rivista di Matematica.
Allmählich sind mit dem wachsenden Nationalbewußtsein zu diesen mathematischen Zeitschriften der großen Culturvölker immer neue hinzugetreten. Vom Könige Oscar von Schweden begünstigt und unterstützt, erscheinen in Stockholm seit 1882 die Acta Mathe- matica und erhalten durch Vermittelung ihres geschäftskundigen Herausgebers werthvolle Beiträge aus der ganzen Welt. In Däne⸗ mark wurde das mathematische Bedürfniß seit 1865 befriedigt durch die Pidsskrift for Mathematik, jetzt ersetzt durch die Nyt Pidsskrift. Rußland besitzt außer den Gesellschafts⸗ und Universitätsschriften ein besonderes Organ in der Mathematischen Sammlung, herausgegeben von der Moskauer Mathematischen Gesellschaft seit 1866, und ein Journal der elementaren Mathematik seit 1885. Die Czechen haben zur Pflege der Mathematik und Physik einen Verein böhmischer Mathematiker und die Zeitschrift Casopis 1872 gegründet. Ebenso giebt in Holland die Amster⸗ damer Mathematische Gesellschaft das Nieuw Archier voor Wis- kunde seit 1875 heraus, während im benachbarten Belgien auf die Nouvelle Correspondance Mathématique von 1874 bis 1880 die Mathesis gefolgt ist. Auf der pyrenäischen Halbinsel ist Portugal 1877 mit dem Jornal de sciencias mathematicas 0 astronomicas, von welchem seitdem 10 Bändchen erschienen sind, in den Wettbewerb der mathematischen Zeitschriften eingetreten, und Spanien zeigt seit dem vorigen Jahre mit dem Progreso mathematico, daß es gewillt ist, an den Fortschritten der mathematischen Cultur mitzuarbeiten. Diese nackten Thatsachen führen uns in eigenthümlicher Beleuchtung die Thätigkeit der einzelnen Völker Europas vor die Augen; ihre Be⸗ ziehungen zur Cultur bedürfen keiner weiteren Erläuterung.
Die Mathematik wird jetzt aber nicht bloß in Europa gepflegt; die anderen Welttheile nehmen an den Errungenschaften der Cultur theil und treten in die gemeinschaftliche Arbeit ein. Voran ist Amerika zu nennen, welches gerade auf eine 400 jährige Berührung mit europäischer Cultur zurückblickt. Ob wir aus den Bauten in Mexiko und Peru auf eine eigene mathematische Bildungsstufe vor der Entdeckung schließen dürfen, ist ganz unsicher. Die ersten Eroberer wähnten sich so hoch erhaben über den vermeint⸗ lichen Wilden, daß sie die vorgefundene Cultur ohne Prüfung in kürzester Zeit vernichteten. Darum harren die Inschriften auf den mexitanischen Gebäuden jener Zeit noch immer ihrer Ent⸗ zifferung, und es scheint mehr als zweifelhaft, ob sie je gelingen wird. In engster Anlehnung an die Sitten und Gewohnheiten zu⸗ nächst von England, dann auch der übrigen europäischen Culturvölker ist aber in Nord⸗Amerika ein neuer Cultur⸗ bes entstanden, dessen Entwickelung in eigenthümlicher Weise ortschreitet. Die Geschichte der Mathematik in diesem Gebiete und damit ein wichtiges Stück der dortigen Culturgeschichte wird in dem Werke gegeben: Phe teaching and history of Mathematiecs in the United States von Florian Cajori, dem die folgenden An⸗ gaben entnommen sind. Nach mehreren Versuchen zur Gründung mathematischer Zeitschriften, von denen immer nur wenige Nummern erschienen, wurde 1874 der Analyst herausgegeben, der sich später in die noch bestehenden Annals of Mathematics verwandelte. Wie hoch die Mathematik in Amerika für das Geistesleben eines Volkes geschätzt wird, zeigt eine Aeußerung des Präsidenten Gilman bei der Gründung der John Hopkins’ University in Baltimore auf die Frage, wie man bei der Einrichtung vorgehen solle. „Beruft einen großen Mathematiker und einen ausgezeichneten Griechen; dann wird eure Aufgabe gelöst sein. Einen Thenl der Einrichtung bringen sie selber mit, einen anderen werden wir liefern.“ Sylvester wurde 1876 berufen, und zum ersten Mal lehrte in Amerika ein wirklich be⸗ deutender Mathematiker. Er gründete das American Journal of Mathematigs, das auch nach der Rückkehr jenes Gelehrten nach Eng⸗ land 1884 fortgesetzt wird und viele bedeutende Arbeiten nicht bloß amerikanischer, sondern auch europäischer Mathematiker enthält. Mit dieser Zeitschrift stellt sich die transatlantische neue Welt in Reih und Glied neben die Culturstaaten der alten Welt, und somit kommen
die Fkoshhn Zuwendungen, welche die Fürsten des Reichthums in der neuen Welt den Bildungsanstalten machen, der Culturentwickelung der
Menschheit zu gute.
Ueberall auf der Erde, wohin die Engländer ihre Lebens⸗ gewohnheiten verpflanzt haben, sind auch ähnliche gelehrte Gesellschaften und Bildungsanstalten entstanden wie im Mutterlande: so im Caplande, in Indien, auf Neuholland, und überall strahlt von diesen Centren mathematisches Licht aus, verbreitet durch das Medium der Gesellschaftsschriften. Als Zeichen endlich, daß der japanische efse mit der Entwickelung der europäischen Cultur fortschreiten will, möge angeführt werden, daß in Tokio neben der Akademie und ihren Veröffentlichungen ein mathe⸗ matisches Journal entstanden ist. Von Gelehrten herausgegeben, welche in Europa ihre Studien gemacht haben, bringt es neben Originalarbeiten derselben Uebersetzungen wichtiger Abhandlungen europäischer Mathematiker aus der ersten Hälfte unseres Jahr⸗
hunderts. b 8 8 Die wissenschaftlichen Zeitschriften bilden einen Theil der dieser einen Großmacht unserer
periodischen Erzeugnisse der Heese hele ee 2. Gr⸗ F. rakteristif rscheinung zu erwäh⸗
Zeit. Daneben ist eine andere nen, das Vereinsleben. Unter den Männern der exacten Wissen⸗ Faften hat das Bedürfniß des persönlichen Austausches der For⸗ ungen zur Bildung vieler Gesellschaften und Vereine geführt; ins⸗
in Deutschland 1822 die Wanderversammlung
besondere wurde
als erster Section ins Leben gerufen. Nach diesem Vorgange sind ähnliche Versammlungen in England, Frankreich, in der Schweiz, in Rußland, in Nord⸗Amerika gegründet worden, und in den Berichten über die Sitzungen nimmt die Mathematik einen breiten Raum ein. Die Mathemagtiker mit ihrer eigenen Sprache und mit Zielen, welche den meisten Sterblichen nicht verständlich sind, haben schon immer als Glieder eines Geheimbundes gegolten; darum ist es nur zu natür⸗ lich, daß sie bei der Ausbreitung ihrer Wissenschaft auch zu Gesell⸗ schaften sich vereinigt haben. Außer den örtlichen Vereinen, von denen unter anderen die Hamburger mathematische Gesellschaft vor drei Jahren ihr zweihundertjähriges Bestehen feierte, sind in neuerer Zeit solche Gesellschaften hervorgetreten, welche die Vereinigung aller Mathematiker eines Volkes bezwecken. Die London Mathematical Society veröffentlicht seit 1865 ihre Proceedings, die Société mathématique de Prance seit 1873 ihr Bulletin, der Circolo matematico di Palermo seine Rendi- conti. In Deutschland hat sich erst 1890 die Deutsche Mathematiker⸗ Vereinigung gebildet, und ihr erster Jahresbericht ist vor einem Vierteljahr ausgegeben worden. Die New vork Mathematical Society, welche 1891 gegründet wurde, scheint danach zu streben, alle bedeutenderen amerikanischen Mathematiker in sich aufzunehmen. Andere mathematische Gesellschaften nationalen Gepräges sind bei der Auf⸗ zählung der Zeitschriften erwähnt worden.
Wie in den anderen Wissenschaften schwillt die mathematische Literatur durch die Theilnahme so vieler Arbeiter derartig an, daß der einzelne Forscher nicht mehr im stande ist, dieselbe zu übersehen. Daher ist ein zusammenfassender Bericht nöthig geworden, der die Literatur eines Jahres sachlich ordnet und den Inhalt der einzelnen Schriften kurz angiebt. Das Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik hat sich diese Aufgabe gestellt und sucht sie seit 1868 im Interesse der Mathematiker der ganzen Erde zu lösen; 54 Mitarbeiter, von denen die meisten Deutsche sind, 15 aber verschiedenen anderen Nationen angehören, haben in dem letzten Jahrgange ihre Kräfte dem Unternehmen gewidmet. Während das Jahrbuch ausschließlich dieses Ziel verfolgt, suchen manche Zeitschriften ihre Leser durch fort⸗ laufende Titelangaben der erschienenen Arbeiten zu unterrichten. Das Bulletin des sciences mathématiques veroffentlicht neben Recen⸗ sionen und Originalarbeiten ebenfalls Berichte über die periodischen Zeitschriften, ohne sich aber an eine regelmäßige Folge zu binden oder eine Vollständigkeit anzustreben. Ein vollständiges Register aller bisher erschienenen mathematischen Schriften befindet sich in Vorbereitung und wird durch den Custos für Mathematik der Königlichen Bibliothek in Berlin rüstig gefördert.
In der Ausbreitung der Mathematik über immer neue Länder des Erdballs haben wir ein Beispiel der Tendenz aller Wissenschaften, allmählich die ganze Menschheit zu umspannen, sodaß alle Völker der Segnungen der Cultur theilhaftig werden. Der Idealismus dieses Gedankens kann begeisternd wirken, die Verwirklichung findet aber an der Eigenart der Rassen und Völker sehr große, vielleicht unbesiegbare Hindernisse. Parallel mit dieser Strömung der Cultur in die Weite ist eine andere in die Tiefe der Schichten eines und desselben Volles zu beachten. Seit die Menschenrechte unter dem Sternenbanner ver⸗ kündet worden sind, ist bei allen Menschen der Wunsch geweckt worden, an allen Genüssen theilzunehmen, welche die moderne Civilisation bereitet, ist mit unerwarteter Lebhaftigkeit die alte sociale Frage mit neuen Zielen aufgeworfen worden, und unser Zeitalter hat sich mit der Lösung dieser Frage in ihrer jetzigen Fassung abzumühen. Wenn der Gebildete aus den Werken der Kunst, aus der Beschäftigung mit den Ergebnissen der Wissenschaft den höchsten und edelsten enuß schöpft, einen Genuß, den der Ungebildete nicht begreift, muß da nicht dafür gesorgt werden, daß jeder in seiner Weise ausgebildet wird, um die niederen Genüsse schal zu finden, sich zu jenen feineren zu erheben? Darf der Gebildete darüber schelten, daß der Ungebildete in seiner Unempfänglichkeit für höhere Genüsse die Vorrechte des Menschen höherer Bildung in der Möglichkeit der Befriedigung solcher niederen Wünsche erblickt, die ihm verständlich sind?
Die Ausbildung der ebleren Triebe im Menschen ist daher schon im vorigen Jahrhundert der Gegenstand des Nachdenkens wahrer Menschenfreunde gewesen und wird es täglich mehr und mehr, nach⸗ dem die Religion allein sich als nicht ausreichend erwiesen hat. Je mehr der Unterrichtszwang durchgeführt wird, um so leichter wird es jedem Einzelnen, die Ideen kennen zu lernen, welche sein Zeitalter bewegen, um so schneller wird er in die geistigen Be⸗ wegungen hineingerissen. Ein bemerkenswerther Aufsatz von Karl Frenzel über die moderne Kunst schildert diesen Vorgang in äußerst treffender Weise: „Die tieferen Volks⸗ schichten sind emporgedrungen; die Schule hat das Joch der Unwissenheit von ihnen genommen. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt sinkt die Zahl derer, die ohne Unterricht aufwachsen. Lesen und Schreiben sind nicht mehr die Vorzüge der mittleren Klassen; Zei⸗ tungen, illustrirte Blätter sind in jedermanns Händen. Man hat den Massen die schwerwiegendsten politischen Rechte gegeben, wie vermöchte man ihnen den Zugang zur Kunst weigern? Der Zug der Zeit geht dahin, ihnen die Museen, die Theater immer weiter zu öffnen, durch Vorträge und Vorlesungen ihren Bildungsstand zu erhöben, drrh volksthümliche Darstellungen ihnen die Resultate der Wissenschaften näher zu bringen. Durch die Milderung der schroffen Unterschiede des geistigen Wissens und der ästhetischen Empfindung, welche die ver⸗ schiedenen Klassen desselben Volkes bisher getrennt haben, hofft man, 8 der gefährlichsten Schäden der alten Gesellschaftsordnung zu beseitigen.“
Der Absatz der Bücher, welche die Popularisirung der Wissen⸗ schaften bezwecken, zeugt von dem Unterrichtsbedürfnisse großer Massen, und viele Erscheinungen des Auslandes zeigen uns, in welcher Richtung auch bei uns noch gewirkt werden kann. In Frankreich hat der Astronom Flammarion durch jahrelange enthusiastische Thätigkeit es erreicht, daß sich das ganze Land mit einem dichten Netze astronomischer Gesellschaften von Laien überzogen hat. Seine Schriften, in eleganter Sprache mit dichterischem Schwunge und kühner Phantasie verfaßt, finden nicht bloß in Frankreich eine uns fast unbegreifliche Verbreitung. Er wirkt wie ein Hoherpriester für die Genüsse, welche jedem empfäng⸗ lichen Beobachter des gestirnten Himmels von diesem herniederstrahlen, und weiß durch immer neue Mittel zur Beschäftigung mit der Astro⸗ nomie anzulocken. Das Institut der Urania in unserer Stadt sucht ja ähnliche Ziele zu erreichen und hat in der That schon manches er⸗ reicht. Möchte ihm ein gleicher Erfolg beschieden sein, wie den Sociétés Flammarion!
In England bestand schon im vorigen Jahrhundert das Journal Ladies' Diary, das mathematische Aufgaben brachte und eingesandte Lösungen veröffentlichte. Von diesem sagte ein englischer Gelehrter, es hätte in England mehr Mathematiker erzogen, als alle mathe⸗ matischen Autoren des Königreichs. Denselben Zwecken dienen jetzt die Elucational Times. Unter den Einsendern von Aufgaben und Lösungen findet man alle bekannten englischen Mathematiker vertreten, dann aber überhaupt jeden, der im stande ist, die Lösung zu finden, darunter manche Damen. Bei uns besteht unter den productiven Mathematikern eine Abneigung, sich mit solchen Aufgaben zu befassen. Ein Universitätsprofessor meint damit eine seiner nicht würdige Arbeit anzugreifen; ein anderer unterläßt es, damit der erste ihn nicht be⸗ lächle. In England schämen sich Cayley und Sylvester nicht, die Lösung einer elementaren Aufgabe zu unternehmen, und tragen dadurch dazu bei, daß die Mathematik in weiteren Kreisen an Interesse ge⸗ winnt. Die englische Frauenwelt zeigt, daß der weibliche Geist durch⸗ aus nicht unfähig ist, die Abstractionen der Mathematik zu e assen, und daß außer dem Malerpinsel und der Musikmappe auch Zirkel, Lineal und vr,2 9 dem Weibe eine würdige Beschäftigung geben, was durch einzelne hervorragende weibliche Talente in der Geschichte der Mathematik bestätigt wird. Warum sollte die keuscheste aller Wissenschaften denn nun in EI“ dem weiblichen Geschlechte fern bleiben? Aber auch anderen Kreisen ist die Beschäftigung mit der Mathematik anzuempfehlen. Wenn Büchsel in seinen „Er⸗ innerungen aus dem Leben eines Landgeistlichen“ erzählt, daß er in der Differentialrechnung von Lacroix 2-2a is ger gesucht und geistige Er⸗
frischung für seinen Beruf gefunden habe, so erkennen wir darin den
deutscher Naturforscher und Aerzte mit Mathematik und Astronomie
roßen Vorzug, den die Beschäftigung mit der Mathematik für jemanden
38 der fern von einer Stadt lebt und auf Kunstgenüsse verzichten muß. Der berückende Zauber der Mathematik, dem jeder unterliegt, der sich ihr ergiebt, und der dem holden Wahnsinn vergleichbar ist, unter dessen Bann der Dichter sein Werk vollendet, ist dem betrachtenden Mitmenschen immer unbegreiflich gewesen und hat den begeisterten Mathematiker oft zum Gespött werden lassen. Als klassisches Bei⸗ spiel wird jedem Schüler Archimedes vorgeführt, der im Sinnen über seine Probleme nichts vom Sturme der erobernden Römer merkt und den eindringenden römischen Plünderer, ohne aufzusehen, anherrscht: „Störe mir meine Kreise nicht!“ Die Möglichkeit, durch mathe⸗ matische Betrachtungen sich eine Welt aus nichts zu schaffen, in welcher der Geist heimisch ist und ein Selbstgenügen findet, wird durch das stolze Wort erläutert: As 6 9he0s pewerpst, ein Wort, das der größte französische Verleger für mathematische Werke sich als Devise erkoren hat.
Es möge mir gestattet sein, zwei Beispiele von Amerikanern anzuführen, die als einfache Männer des Volkes von jenem Zauber ergriffen wurden und sich aus eigener Kraft zu bedeutenden Mathe⸗ matikern emporarbeiteten.
Nathaniel Bowditch, geboren 1773 in Massachusets (Salem), leiht sich als Krämerlehrling ein Lehrbuch der Algebra, bemeistert es ohne Lehrer, bewältigt später in seinen Mußestunden Chambers Encyclopaedia, lernt Latein, um Newton's Principia zu studiren, und ließ sich, 21 Jahre alt, in dieses gewaltige Werk ein. Als Schiffs⸗ fahrer unter einem freundlichen Capitän weiht er die Matrosen in die Geheimnisse der Berechnungen des Orts ein, sodaß der Capitän rühmt: „Alles war Harmonie an Bord, Alle hatten Lerneifer, waren ehrgeizig sich zu unterrichten.“ Er hätte eine Besatzung von zwölf Mann, von denen jeder seine Monddistanzen nehmen, und eine Be⸗ obachtung berechnen könnte für praktische Zwecke, so gut wie Isaak Newton selber, wenn er lebte. Nebenbei lernt Bonditch guch Französisch, giebt einen Nautical almanach heraus, übersetzt die Mécanique céleste von Laplace, und Amerika ist noch heute stolz auf diese Uebersetzung, über welche Legendre an ihn schrieb: „Ihre Arbeit ist keine bloße Uebersetzung; ich sehe sie als eine neue vermehrte und verbesserte Auflage an, und zwar als eine solche, wie sie aus den Händen des Verfassers hätte kommen können, wenn er sein eigenes Interesse zu Rathe gezogen hätte, d. h. wenn er eifrig bemüht gewesen wäre, klar zu sein.“
Ein Marktgärtner Artemas Martin, geboren 1835, findet Ge⸗ fallen an schwierigen Rechenaufgaben, verschafft sich Lehrbücher der Arithmetik und studirt sie in seinen Freistunden, betheiligt sich an der Lösung von Aufgaben in Zeitschriften und ersinnt selber neue. Um sie zu verbreiten, schafft er sich eine Handpresse an, setzt und druckt seine Aufgaben und giebt sie in einer neuen Zeltschrift heraus, dem Mathe- matical Visitor, den er also ganz allein herstellt. Allmählich wird er eine Autorität für diophantische Aufgaben und Probleme der Wahr⸗ scheinlichkeit. Aus seinen Ersparnissen schafft er sich eine höchst werth⸗ volle mathematische Bibliothek an, erhält den Doctortitel und ist jetzt Bibliothekar des Amtes für Vermessungswesen der Vereinigten Staaten.
Solche Beispiele beweisen, daß unsere Wissenschaft der Mathe⸗ matik wohl geeignet ist, den Sinn für geistige Genüsse zu wecken, und wenn auch nicht jeder befähigt und geneigt ist, sich an dem Anschauen ihrer Wahrheiten zu erheben, den Geist durch die Beschäftigung mit ihren Problemen zu erquicken, so müssen wir eben bedenken, daß es mancherlei Gaben giebt, und daß ein gebildeter, aber musikalisch nicht beanlagter Mensch, der höchstens eine Volksmelodie ertragen kann, auch nicht wie die Wagner⸗Enthusiasten über Tristan und Isolde in Ent⸗ zücken ausbricht.
Eius aber dürfte aus den gemachten Ausführungen erhellen, daß die Ausdehnung der Mathematik in die Breite und Tiefe aufs engste mit der Verbreitung der Cultur verknüpft ist und, wie zuletzt berührt wurde, auch mit der socialen Frage einen gewissen Zusammenhang besitzt. Das Ge⸗ deihen der Cultur hängt aber von friedlichen Entwickelungen ab. „Wo rohe Kräfte sinnlos walten, da kann sich kein Gebild' gestalten.“ Das gilt auch für die Mathematik, diese zarte Blume des Menschengeistes. Darum ist jeder Menschenfreund darauf bedacht, zur Erhaltung fried⸗ licher Beziehungen nach außen und im Schoße des eignen Volkes bei⸗ zutragen; dann können die Gedankenkämpfe zur Entscheidung gebracht werden, welche der Entwickelungsgang der Menschheit mit sich führt. In schöner Weise brachte dies der italienische Unterrichts⸗Minister bei der Gedenkfeier Galilei's in Padua am 7. Dezember v. F. zum Aus⸗ druck, als er die Vertreter der auswärtigen Hochschulen mit folgenden Worten anredete: „Seine Majestät der König beauftragt mich, Ihnen seinen Gruß zu bringen. Ihre heutige Anwesenheit hier gereicht dieser Universität zur höchsten Ehre und ist Seiner Majestät dem Könige und seiner Regierung besonders werthvoll, insofern sie die Vereinigung aller Culturvölker beim Suchen nach dem sichersten und lichtvollsten Wege zum menschlichen Fortschritte symbolisirt, eine Ver⸗ einigung, welche die sicherste Bürgschaft des Friedens ist, den die Italiener lebhaft verlangen und mit Festigkeit erstreben. Bringen Sie Ihren Hochschulen diesen Gruß des Königs, dieses Gelöbniß des Volkes: derselbe versichert, daß Italien in dem sicheren Gefühl Se jetzigen politischen Wiedergeburt sich mit Eifer seiner wissenschaftlichen Erhebung befleißigt und keine anderen Schlachten begehrt als die der Ideen, welche keine Opfer an Menschenleben fordern, aber neue Gesichtskreise des Lebens erschließen, welche nicht Demüthigungen der Unterlegenen mit sich führen, da ja der Sieg eines einzelnen Mannes der Wissenschaft ein Sieg der ganzen Welt ist. Der Rector magnificus, in welchem ich das ehrwürdige und erlauchte paduanisch Studium begrüße, sagte vorhin, der Tag werde kommen, an welchen das Pergament, welches das hübsche Geschenk der Damen beurkundet in den Archiven aufgestöbert und von dem Erzähler der Gedenktag dieser Universität veröffentlicht werden wird. Sicherlich wird diese Tag kommen; aber wenn der Erzähler aus den genauen Einzelheiten der Chronik sich zu den höheren Betrachtungen der Geschichte auf schwingt, so bin ich sicher, daß er mit einer Wendung des Galilei'schen Spruchs zu idealer Bedeutung sagen wird: Und doch hat sich von diesen Festen der Vernunft und des Friedens die Welt noch zu bessexen Geschicken bewegt.“ An unserem Feste des Friedens entledige ich mich des Auftrages, Ihnen die Botschaft zu überbringen. Möchte es mi gelungen sein, durch meine Ausführungen das Vertrauen auf den Fortschritt in der Bildung nicht bloß des Verstandes, sondern auch der Sittlichkeit in der Menschheit zu kräftigen, ein Vertrauen, das in den Worten des italienischen Unterrichts⸗Ministers mit unbedingter Zu⸗ versicht ausgesprochen ist. Wenn wir so unsere Arbeit in den Dienst einer sittlichen Idee stellen, dann bedeutet eben die Entwickelung des 8 Intellects das Aufsteigen zu einer höheren Stufe schöner Menschlieh⸗ keit; dann steht unser einzelnes Handeln unter dem Gesichtspunkte des stetigen, ewigen Zusammenhanges mit dem Thun aller Menschen. Solch' ein heiliger Ernst beseelt unseren verehrten Herrscher, dessen Geburtstag zu feiern wir hier zusammengekommen sind. dem deut⸗ schen Volte, der ganzen Menschheit wünscht er als frommer Hohen⸗ zoller den sittlichen Ernst bei der Uebung des irdischen Berufs zu er⸗ halten, zu wecken. Eine solche edle Lebensauffassung verkümmert aber bei Hader und Krieg. Den Frieden aufrecht zu erhalten, ist der der Bündnisse zwischen den Staaten. Hoffen wir, daß eae Zweck erreicht werde. unser Allergnädigster Kaiser und König in klarer Erkenntniß der un⸗ ermeßlichen Gerchren nach außen und im Innern Seine unablässige Sorge der Aufrechterhaltung des Friedens widmet, dessen wir bei unserer stillen Arbeit der Wissenschoft⸗ der Technik bedütsen. Lassen Sie darum heute bei der Feier des Geburtsfestes unseres erhabenen F unseren Dank für diese Seine landesväterliche Sorge in den Ruf ausklingen: Seine Majestät der Kaiser und König lebe hoch!
kanzlei erhält das Wort der
Jedenfalls wissen wir, daß Seine Majestät
Zweite Beilage Anzeiger und Königlich Preußi
88
“ “ ö 8 85 31. Sitzung vom Donnerstag, 26. Januar, 1 Uhr.
Auf der Tagesordnung steht die zweite Berathung des Reichshaushalts⸗Etats für 1893/94. 1“
Ueber den Beginn der Sitzung haben wir bereits in der Donnerstags⸗Nummer berichtet.
Veim Etat des Reichskanzlers und der Reichs⸗
Abg. Dr. Barth (dfr.): Wenn ich die Handelsvertrags⸗ politik hier zur Sprache bringe, so wird niemand bezweifeln, daß dieselbe mit dem hier Vorliegenden im Zusammenhang steht, um so weniger, als man angenommen hat, daß das Verlassen des Bismarck'schen Systems wesentlich der Initiative des jetzigen Reichskanzlers zuzuschreiben ist. Trotzdem hätten wir keinen Anlaß, die Angelegenheit zur Sprache bu bringen, weil wir im großen und ganzen mit dieser Politik der Reichsregie⸗ rung einverstanden sind, wenn nicht die Vorgänge der letzten Zeit sowohl im preußischen Abgeordnetenhause als in der Presse es rathsam erscheinen ließen, um einer Verwirrung der öffentlichen Meinung vorzubeugen, hier klipp und klar die Angelegenheit zur Sprache zu bringen. Die agrarische Presse zeigt während der letzten Monate eine starke Agitation der agrarischen Kreise, die bisherige Handelspolitik der Regierung nach Möglichkeit zu disereditiren und den Abschluß weiterer Handelsverträge — namentlich des deutsch⸗ russischen — zu verhindern. Im preußischen Abgeordnetenhause hat man Tage lang darüber gesprochen, obgleich das dort nicht. hingehört, und die Agrarier ergingen sich in beredten Klagen, daß ein Vertrag mit Rußland den Nothstand, von dem sie seit 14 Jahren reden, bis zum höchsten Grade steigern würde. Man braͤucht diese Ausführungen wohl nicht allzu tragisch zu nehmen, zumal jenes Haus gewissermaßen nur in beschränktem Maße eine Volksvertretung darstell. Die Ur. theile von 107 deutschen Handelskammern, zusammengestellt von den Vereinen zur Beförderung der Handelsverträge, stimmen mit, ver⸗ schwindenden Ausnahmen darin überein, daß es auf das wärmste zu begrüßen sei, daß die Handelspolitik, der Bismarck schen Periode zu Ende sei und wir zunächst mit unseren Nachbarländern Handelsverträge abgeschlossen häütten. Vor allem wird die dadurch herbeigeführte Sicherung gegen neue Erschwerungen der deutschen Ausfuhr als ein wesentlichen Vortheil bezeichnet. Selbst Handelskammern, die bisher auf dem Standpunkt des Schutzzolls standen, schließen sich jetzt dem allgemeinen Urtheil an. Man wünscht, daß in dieser neuen Politik fortgeschritten wird, daß man mit denjenigen Staaten, gegenüber Ib Möglichkeit einer Differentialzollhandhabung besteht, zu Han (ls⸗ verträgen kommt, insbesondere mit Rußland, Rumänien, Spanien, Portugal. Bei dieser Lage der Dinge muß es sonderbar serschein 18 wenn jetzt in so planmäßiger Weise seitens der Agrarier die hnsa der Reichsregierung zu discreditiren versucht wird. Man macht den Handelsverträgen zum Vorwurf, daß sie noch keine Uünstigen materiellen Vortheile zeigen. Aber wenn sie noch nicht ein Jahr alt sind, kann man doch unmöglich schon zahlenmäßige Erfolge statistisch nachweisen, um so weniger, wenn man die sehr hohen Lebensmittel⸗ preise von 1891 und deren Einwirkung auf das ganze wirthschaftliche Leben des Volkes berücksichtigt. Ich will nicht untersuchen, bis zu⸗ welchem Grade augenblicklich die ee der Landwirthe berechtigt sind oder nicht, sondern nur hervorheben, daß man dahet immer zu unterscheiden hat zwischen den Interessen des großen Grundbesitzes und denen der Landwirthschaft, und daß alle die Klagen in letzter Linie sich immer mehr nur beziehen auf die Interessen des großen Grund⸗ besitzes. Man sagt, daß der starke Preisniedergang bei Weizen und Roggen eine Folge der Handelsverträge sei. Der T1“ Tonne beträgt durchschnittlich 100 ℳ Der eigentliche b hrund 69 Preisrückganges liegt aber in dem ausgezeichneten Erträgniß der 88 des vorigen Jahres, gegenüber der in ganz Europa⸗ höchst haften Ernte von 1891. Hierzu kommt selbstverständlich die 2 ir⸗ kung der Ermäßigung der Getreidezölle von 50 auf 35 ℳ8, 88 - Doch diese Ermäßigung sollte eintreten, weil wir die frühere Höhe er Getreidezölle als ein großes Unrecht ansahen, begangen an den arbeitenden Klassen der Bevölkerung. Wie weit der Fanatismus in dieser Beziehung schon gegangen ist, zeigt ein Artikel von 8b Herrn von Ploetz in der heutigen Nummer der „Kreuzzeitung“. Sfet 8 enthält folgenden Passus: „Ich schlage nichts mehr und nichts weniger vor, als daß wir (die königstreuen Agrarier) unter die Socialdemokraten gehen und ernstlich gegen die Regierung Front machen, ihr zeigen, daß wir nicht gewillt sind, uns weiter schlecht be⸗ handeln zu lassen und sie unsere Macht fühlen zu lassen. Vv. Aufruf ist enthalten in einer Zeitschrift Landwirthschaftliche Le zucht“. Die „Krenzzeitung“ theilt noch mit, daß dieser Aufruf lauten Widerhall in weiten Kreisen gefunden habe. Dieser Aufruf scheint nun nachträglich doch Bedenken erregt zu haben, denn die „Kreuz⸗ zeitung“ sagt: „Vorweg muß bemerkt werden, daß diese C G peinlichen Eindruck haben machen müssen und als unvorsichtig zu e⸗ zeichnen sind.“ Sie meint dann, daß die Aeußerung nur eum Fege salis zu verstehen sei; sie habe nur auf das rücksichtslose Vorgehen der Socialdemokraten hinweisen wollen. Neben den wirthschaftlichen Vortheilen der neuen Handelspolitik kommt noch weiter, und zwar in nicht geringem Maße in Betracht jener andere Vortheil, daß durch diese Handelsverträge zu gleicher Zeit die allgemeine politische Lage verbessert wird durch die Verhinderung von Zollkriegen. Die Theorie des Fürsten Bismarck, daß man mit einem Staate politisch im Frieden, wirthschaftlich im Krieg leben könne, ist mehr und mehr obsolet geworden. Sehr viel Anhänger hat dagegen die andere Anschauung, daß es von ganz wesentlicher Bedeutung für die politische Freundschaft der Staaten ist, wenn zwischen ihnen ein handelspolitisches Verhältniß besteht. In dem politischen Jahrbuch der schweizerischen Eid enossenschaft führt Professor Welti, ein durchaus unabhängiger Mann, aus, daß infolge der Handelsverträge zwischen Deutschland und der Schweiz das politische Verhältniß der beiden Staaten sich gebessert habe; die gegenwärtige politische Leitung Deutschlands zeige sich ebenso einsichtig, wie die⸗ jenige von 1889, wo die Wohlgemuth⸗Affaire spielte, kurzsichtig. Der Abschluß der Handelsverträge sei ein großes Verdienst des zweiten deutschen Reichskanzlers, welcher sich auf diesem Gebiete seinem Vorgänger voll⸗ kommen überlegen gezeigt habe. Dies Urtheil können Sie in ganz C uropa hören und es wird noch unterstützt durch den gegenwärtigen Zollkrieg wischen Frankreich und der Schweiz. Ein Holcen Zank ist immer von chaden für die gesammten commerziellen Beziehungen Europas, insbesondere aber hat sich gerade infolge dieser thörichten Feessse ectenen. Politik
er gegenwärtigen kran össschen Kammer das Ver alnis zwischen der chweiz und Frankreich wesentlich verschlechtert. Daß der Abschluß von Handelsverträgen von größter Bedeutung für das friedliche Ver. hältniß der Völker ist, hat auch der schweizerische Bundez ⸗Rath) Droß auf der vorjährigen interparlamentarischen Conferenz in Bern betont. Bei dieser Gelegenheit wurde auch die Schiedsgerichtsklausel, in unserem Handelsvertrage mit der Schweiz erwähnt und ausgespr ochen, da man sich damit vielleicht einer Organisation nähere, der später auch die Schlichtung internationaler Streitigkeiten von größerer Tragwe it anvertraut werden könne. Ich bitte den Reichskanzler, dieser Angelegenhe t ebenfalls seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Hier liegt etwas vor, was in allen Ländern die Billigung der öffentlichen Meinung und der Parlamente gefunden hat. Angesichts der schwebenden Verhandlungen
Berlin, Freitag, den 27. Januar
halte ich es nicht für angezeigt, auf die Handelsverträge mit Ruß⸗ land, Rumänien, Spanien, Portugal näher einzugehen, ich will nur gegenüber den Ausführungen der agrarischen Presse und im preußischen Abgeordnetenhaus constatiren, daß die öffentliche Meinung in Deutsch⸗ land den Abschluß der Verträge dringend wünscht. Man ist auch vollständig davon durchdrungen, daß, wie die Dinge einmal liegen, man gar nicht erwarten kann, daß bei diesen Handelsverträgen ganz ungeheure Concessionen von den anderen Staaten herausgeholt werden. Wenn diese Verträge an den Reichstag kommen, werden die Gegner derselben hier in derselben hoffnungslosen Minderheit sich befinden wie 1891. Die Handelspolitik der Regierung wird auch gerechtfertigt durch die Vorgänge in den Vereinigten Staaten, welche vor einer bedeutsamen Aenderung ihrer ganzen Zollpolitik stehen. Nachdem Cleveland gewählt ist und das Repräsentantenhaus wie der Senat eine andere Zusammensetzung er⸗ fahren hat, ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die Zollpolitik der Vereinigten Staaten sich in nächster Zeit nach der freihändlerischen Richtung hin ändern wird. Es wird vielfach so dargestellt, als ob wir vor der Concurrenz der Amerikaner gesichert sein würden, wenn Amerika zu einem gemäßigten E 11“ überginge. Aber gerade das Gegentheil ist der Fall. Durch den Freihandel wird die amerikanische Industrie kolossal gestärkt, weil durch die thörichte Mac Kinley Bill alle wesentlichen Rohmaterialien mit den allerhöchsten Zöllen belastet sind. Werden diese herabgesetzt, dann wird die Industrie der Vereinigten Staaten außerordentlich viel leistungsfahiger und concurrenzfähiger, die Arbeit ist in Amerika keineswegs theurer als bei uns; die Löhne sind allerdings höher, die Arbeitszeit geringer, aber gerade in den großen Weltindustrie⸗ artikeln ist die Arbeit in den Vereinigten Staaten billiger als in Europa, weil die Maschinen vollkommener sind. Das geht auch her⸗ vor aus zwei Publikationen der jüngsten Zeit: von dem amerikanischen Gelehrten Schönhoff, einem geborenen Deutschen, und Dr. Booth. Wenn wir uns daher nicht die gewaltigste Mühe geben, wird uns Amerika über kurz oder lang die allerbedeutendste C oncurrenz machen. Man darf nicht in die schutzzöllnerische Politik der früheren Zeiten zurückfallen, damit wir unbelastet den großen, friedlichen Kampf auf dem Weltmarkte mit allen Ländern der Welt führen können. Wir haben noch gewisse Vorsprünge vor Amerika, weil wir eine alte Cultur hinter uns haben und daher eine ganze Reihe von Speciali⸗ täten mit Nutzen dorthin exportiren können. Die Handelspolitik der jetzigen Regierung ist durchaus gerechtfertigt. Ich wünsche, daß es dem Reichskanzler gelingen möge, neben den bereits erlangten Er⸗ folgen auf dem Gebiete der Handelspolitik noch weitere Handelsver⸗ träge abzuschließen. Daß der Reichstag dieselben mit großer Majorität annehmen wird, davon bin ich fest überzeugt. 1 1 Abg. Graf von Kanitz (dcons.): Ich habe erst vor zwei Stunden in der Börsenenqubte⸗Commission davon Kenntniß erhalten, daß hier eine Handelsvertragsdebatte von Seiten der freisinnigen Partei geplant ist, und habe mich daher nur in der größten Eile mit wenig Material versehen können. Der Abg. Dr. Barth hat die Zollpolitik der fran⸗ zösischen Kammer und die Me. Kinley⸗Bill thöricht genannt. Ich be⸗ dauere, 5 hier im Reichstag ein solcher Ausdruck über die gesetz⸗ gebenden Körperschaften befreundeter Staaten gebraucht wird. Den Artikel in der „Kreuzztg.“ habe ich nicht gelesen, da mich die Börsen⸗ enqubte⸗Commission zu sehr in Anspruch nimmt. Ich muß jedoch meinen Fractionsgenossen im Abgeordnetenhause, den Herrn von Plötz, gegen die Insinuation des Abg. Dr. Barth in Schutz nehmen. Der Artikel, welcher von ihm eingesandt ist, ist ein Zeichen der Stimmung im Lande; daß Herr von Plötz aber die darin ausgesprochene Anschuuung sich zu eigen macht, bestreite ich. Der Abg. Dr. Barth hat gemeint, das preußische Abgeordnetenhaus wäre nur in beschränktem Maßstabe als eine Volks⸗ vertretung anzusehen. Ich hoffe, daß von Seiten der verbündeten Regierungen und besonders von der preußischen dieser Ausdruck corrigirt werden wird. Sie wollen das Dreiklassensystem angreifen, aber es werden Zeiten kommen, in welchen Sie vielleicht mit Ver⸗ langen nach diesem Wahlsystem blicken. Ich erinnere an die Wahl des Abg. Ahlwardt, wo die Freisinnigen massenhaft zu den Anti⸗ semiten übergingen, und an die jetzigen Vorgänge in Liegnitz⸗Gold⸗ berg. Ich habe die Handelsverträge mit schwerem Herzen bekämpft. Es ist nicht meine Art, der Regierung Opposition zu machen, und ich thue es nur, wo ich ihr mit bestem Gewissen nicht folgen kann. Ich bekenne, daß kein Mitglied dieses Hauses, kaum einer im ganzen Lande, so hart durch diese Handelsverträge getroffen ist als ich. Mit dem Abg. von Minnigerode habe ich mich seinerzeit für die Einführung der Getreidezölle bemüht und die ganze schwere Arbeit hinter den Coulissen gethan. Wenn wir das nicht gethan hätten, wäre von den ganzen Handelsverträgen im vorigen Jahre keine Rede gewesen, es hätten die Compensationen gefehlt, die wir den anderen Staaten gewähren konnten. In den Handelskammern haben die Kaufleute die Majorität, weniger darin vertreten sind die Industriellen und Fabrikanten, ihre Urtheile über die Handelsverträge haben also nur einen bedingten. Werth. Im vorigen Jahre habe ich gerade aus industriellen Kreisen eine große Zahl von Zuschriften, auch von nichtconservativer Seite, bekommen, worin ich gebeten wurde, mich im Interesse dieses und jenes In⸗ dustriezweiges gegen eine allzugroße Herabsetzung der Zölle zu ver⸗ wenden. Die Einfuhr Deutschlands hat sich im Jahre 1892 um 59 985 000 ℳ vermehrt, die Ausfuhr um 11 774 000 ℳ vermindert. Der Abg. Dr. Barth wird wissen, daß es für den Handel eines Landes immer ein schlimmes Symptom ist, wenn die Einfuhr steigt und die Ausfuhr abnimmt. Meine Zahlen stammen aus amtlichen Quellen und die Berichte einzelner zerstreuter Handelskammern haben ihnen secsen. über kein großes Gewicht. Ich glaube auch, daß das Schutzzollsystem in Frankreich etwas zu sehr ausgebildet ist. Aber dennoch hat sich die französische Handelsbilanz im abgelaufenen Jahre sehr viel günstiger gestaltet als die unsrige; die Einfuhr hat dort erbeblich ab. genommen, die Ausfuhr ist ziemlich auf der alten Höhe geblieben. Namentlich unsere Textilindustrie hat durch Abschluß der Handels⸗ verträge sehr gelitten; auch die Herabsetzung der österreichischen Eisen. zölle ist eine viel zu geringe, als daß unsere Ausfuhr sich gesteigert hätte. Die hohen Getreidepreise des Jahres 1891 sind Ursache ge⸗ wesen, daß die Mhehrgeis im Reichstage sich für die Handelsverträge aussprach. Ich habe schon damals gewarnt und auf die Moͤglichkeit des Sinkens der Getreidepreise aufmerksam gemacht. Jetzt sind wir glücklich soweit, daß die eehe für landwirthschaftliche . roduete unter den Productionskosten stehen. Nach der vor wenigen Jabhren vem preußischen Landwirthschafts⸗Minister angestellten Bevechaung betragen die Productionskosten im alleräußersten Osten unseres Landes 150 ℳℳb pro Tonne Roggen. Heute il derselbe nicht einmal 120. ℳ Nach meinen Erfahrungen ist die letzte Ernte in Deutschland keineswegs eine so vorzügliche gewesen. Sie ist in pielen Gegenden recht knapp ausgefallen, und diese Districte befinden sich jetzt in einer geradezu verzweifelten Nothlage. Darum braucht sich der Abg. Dr. Barth über den Artikel in der „Kreuzzeitung“ nicht zu wundern. Trotz der niedrigen Getreidepreise hat man hier über die Arbeitslosinkeit ge⸗ klagt. Hätten die Arbeiter wenigstens Arbeit, so wäre es besser 2 wesen. Verdient der Landwirth etwas, so leidet auch der Arbei keine Noth. Ob das Getreide einen Silbergroschen dilliger oder theurer ist, spielt dabei keine Rolle. Vor allen Dingen muß der Arbeiter Geld haben, um überhaupt Getreide kaufen zu konnen. Der Abg. Dr. Barth hat als einen besonderen Vorzug der Handels⸗ verfräge erwähnt, daß sie die Freundschaft zwischen den ten be⸗
festigten und beforderien. Ich bin ein prineppieller Gegmer Aler
Differentialzölle, und ich glaube, daß auch unser zollpolitisches Ber Zrffer zu Rußland ic, übermaßig 11“] Dieses Ver⸗ hältniß würde ein besseres sein, wenn wir keine Vertragstarife, sontern einen Generaltarif hätten, wenn nicht einzelne Länder von uns auf Kosten der anderen bevorzugt würden. Es ist allerdings mißlich über Handelsvertrags⸗Verhandlungen zu sprechen, die im Gange sind. Ich weiß nicht, ob solche mit r schweben. Was nun die nach Ansicht des Abg. Dr. Barth thörichte französische EEEEEEEPE138 habe ich auch in Zeitungen, welche der Regierung nahe stehen, gefunden, daß die deutsche Regierung doch eigentlich viel klüger vorgegangen sei, wie die fr zösische. Sie hätte von der Schweiz und von Italien die und Concessionen bekommen, und es wäre alles in der besten Drdmung Ich kann das nicht so ohne weiteres zugeben. Unsere ganze Kun bestand darin, daß wir alle Forderungen glatt bewilligt haben. Ich gehe darauf nicht näher ein, sondern constatire nur, daß die anderen Länder bei den Verhandlungen mehr erreicht haben als die deutsche Regierung, und wenn wir auch in keinem Falle so weit durften und konnten wie Frankreich, so entschuldigt das französische Verhalten noch keineswegs die Art und Weise, wie von unserer Seite die Hande verträge gemacht worden sind. Ich habe bereits im vor⸗ gesagt, daß die französische Regierung gar nicht daran Vertragstarif den Amerikanern ohne egenconces
Ich hatte unter der Hand aus Paris die
daß der Präsident der icranaehs
Amerikanern ein provisorisches lbkommen trofffe wonach gewisse untergeordnete Artikel der
zu den Sätzen des Minimaltarifs in Frankreich eingelassen werden. alle übrigen amerikanischen Producte aber dem Maximaltarif unten⸗ worfen bleiben sollten.
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Mir wurde damals vom Staatsseuretin Fres⸗ herrn von Marschall eine sehr scharfe Zurechtmeifumg zu therl. Er sagte, daß Frankreich den Vereinigten Staaten ber gemmu dase selbe gethan habe, was wir gethan haben. Nach dem jetzt vurkuegen⸗ den Abkommen zwischen Frankreich und den Vereimazcen Sünxter führt Amerika zum Minimaltarif in Fra a. olgenan Urri kal ein: conservirtes Fleisch in Büchsen, felsches gdürries Tufalaisst. Faßdauben u. s. w. Das sind umter nmete MPrtücel. Dür Franzosen haben niemals daran gedacht, den Amerikmnern ohne Gege eistung ihren Vertragstarif zu bewilligen. Der Abg. Dr. Bmutch Intt auf die Maschinenarbeit der Amerikaner himgemfestm. Es würhen dort Menschenkräfte gespart und dort seien glücklüche Zustiunte. Ich bin neugierig, wie sich demgegenüber der Abg. Liebecht sallt Diusur hat uns neulich vorgehalten, es wäre sehr bedmnerfütz, uuß dür amerikanischen Maschinen für Stiefel⸗ und Schuhfabvikattum Fiagtt nach Deutschland eingeführt werden, daß dadunch das Humdmant Um⸗ drückt werde. Das ist genau der entgegemgesetzte Sumtnunckt von dem des Abg. Dr. Barth. Aem Sie unfene Prbustunr vor, der Con der Maschimem im Schutz mfmum dmm verbieten Sie einfach die Einfuhr vom Maschüirner! Zum Sclusß möchte ich Ihnen 1--- eine Meuferumng eines Frans- genossen des Abg. Dr. U mittheilem. Als min im vnnigm IPrchen uns mit den Handelsverträgen beschüäftügtem, stend im der Faifinnigen Zeitung“ Folgendes: „Mam hHat fuch mmchgemrde im Renchstuge im Lobeserhebungen über die Handelsvertuöügm angansgern, wellhm ülen deren wirkliche Bedentumg für dun mmemacne Veretim weitt hinausgehen. Der eigemtiuthe Wentch der Wartmige beralhn im ieir Ermäßigung der Getreidejülle, alles Ufüvüge isst whe vime meht. minimaler Be⸗ Nüchts ist verteürnmr, als eene de
diese Handelsverträge geeignet seiem, den deumche Ausfuln nen ee 4. eime und
— Fen.
Aufschwung zu ge e grüßere Arüritequslemendjum fün dir In dustrie zu schaffen, wie dür eingellmem Wuandumngen Uneen Win können froh sein, wenn die Ausfuhr den deurfchhum Intrusfentr nachh e so scharfe Kritik habe am duie Hoandesemerrmüe miee ee und will sie auch heute nicht amlegem.
Staatssecretär Freiherr von Marschall:
Meine Herren! Es ist nicht gmnz leuct, dem Hurrmm Weee auf seine Angriffe gegen unsere Handelsvertrügr nr annunmn Dem er hat so viel Dinge in den Bereich seimer Nade ganagen, deh iüich; unsere ganze Discussion vom vorigen Falce mürdernfult wmen müfftte, wenn ich im einzelnen seine Argumente belemffüurm mulm.
Auf die Polemik des Hermn Verredmers mit de heeee üig Wrei darüber, ob die Vereinigten Stanten und Framnenich mitt üime hül- politik klug gehandelt haben oder müift, gelhr ich micht min Meꝛurss Erachtens haben die beiden Stantem dür Zelmlüttik wrrfmm dir ir von ihrem Standpunkt aus als mützlüch emaünm. Obh d mih istt. das zu ermessen ist ihre Sache. (Selhm müicprig.)
Aber unsere Sache ist ck, zuns dürser Ieeüüek dem Mernnimttm Staaten und Frankreichs die Comfezumnzen u Fucbmn, wim miir iin unserem Interesse für die richtügen halleem. Bch Funn sugen dr ühmm die Haltung Frankreichs umd der Benxmmigftm Stmnmn wm hüme. schneidender Wirkung gewesem ist bri der Bernbmntrung unfimmm mel verträge.
Wenn der Herr Vorreduer danuf üngemiinse n ieh reich den Amerikanem dech vdürl bagrarener nnensimnmen Nemmbl habe als wir, so befimdet er süch unfefemn üm Seutthum, ails wer vn. nimmt, in Frankreich bestehe bertglüich das Grtrasdat vm Difrermttnnk- tarif. Das ist nicht der Fall. Er man allsd won Suttan Fnnieratbse gar nicht nöthig, den Vereinägtem Stanan dint vesvrder Symesffthn bezüglich des Getreides um machem, de dar Guterntdetnff in Frnmfrrüich
Nachdem die deiden Hexnen Werrdurr vnn unseren eeememen mit Raßland gesprochem Habem, maltm uch rtnon Amsttend. Mrar zan erklären, daß in der That Besperhungem mest Metfün in Gunbe sind, die den Zweock verfolgem, ehne Handelermütriecm Wenntiannirzunme. anzubahnen. Dabei ist die Fragt vem untsener Suer ui Gamöäükerun unseres Conventiewaltarise, und mähhte Wmreek. od istt nn wuissscher Seite beine Ferderung darcber hänant erbpuldan marden Undd notr unsererscits verlangen demn Rutlund vin Gemeälstcpeng des russischen Zolltariss und damedon merch fddee Weehahresnsbaschüte⸗ nemngen. Nachdem mun der Her Wervüdeur saich mitt surcher Ghntebhneden. deit als einen princhedellen Gegmer eder defenvreriullen eillbabedm ansgesprechen dat (Hört! dört“), se duann üch dir Dofentengh inh mir. geben, daß, wenn deese Berdandbingen n emee ees ne Nresnüfneknn führen, er — vmmner vnher der Wenaendetzeteng, deiß pen gende Mehnir⸗ valente füͤr unferen Cendemnttemalsanes pun Cosnͤton snd — aunf er Seite derhendgen sein oedrd, dir sr Binoh Wedenh mit Mhrühgehhen
mmek. 3 8 Nan hat der Berwdmer unatt domn vmcareindfzcwen, neebakl th er nicht ie Besstze dos geaetzon senösssütee Mrekrömeitd üi. en wütt.
Uche Jahlen wedevgegevon und denutd vhn Wehtemnertt pareh Dhe weehn