Handelsverträge gezogen. In dieser Hinsicht theile ich die Auffassung des Herm Abg Dr. Barth, daß in diesem Augenblick die Wirkung unserer Handelsverträge gar nicht übersehen werden kann. (Sehr richtig ) Es sind noch nicht ganz zwölf Monate verflossen, und es ist doch absolut unmöglich, daß in einer so kurzen Spanne Zeit unsere Production sich in die neuen Verhältnisse eingelebt habe, zumal da ja dazwischen der kritische Moment des 1. Februar des vorigen Jahres liegt, also vorher und nachher eine Menge von Transactionen stattgefunden haben, die nothwendig die Zahlen beein⸗ flussen müssen.
Was die Zahlen betrifft, die der geehrte Herr Vorredner gegeben hat, so ist ganz richtig, daß, wenn ich die Importzahlen und die Exportzahlen des Jahres 1892 mit denen des Jahres 1891 vergleiche, dann die Unterbilanz sich um etwa 88 Millionen Mark vermehrt hat. Ich gebe sogar zu, daß, da hierin die Edelmetalle einbegriffen sind, möglicherweise die Unterbilanz noch um eine größere Summe, vielleicht um 100 Millionen Mark im ganzen sich vermehrt haben wird. Der Herr Vorredner hätte aber der Vollständigkeit halber angeben sollen, daß diese Unterbilanz nichts Neues ist, daß be⸗ reits im Jahre 1889 wir eine Unterbilanz von über 800 Millionen gehabt haben, daß dieselbe im Jahre 1891 über eine Milliarde be⸗ tragen hat und jetzt um 88 Millionen gestiegen ist. Wie wenig aber mit derartigen runden Zahlen überhaupt etwas bewiesen wird, das
ergiebt sich aus zwei Zahlen, die ich Ihnen hier geben werde. Es
und zwar in den ersten zehn Monaten dieses Jahres, im Vergleich zu derselben Periode des Jahres 1891 allein an Weizen eine Mehreinfuhr im Werthe von 87 Millionen Mark stattgefunden (hört! hört!) und eine Minderausfuhr von Deutschland an Rohzucker im Betrage von 33 Millionen Mark. Nun, meine Herren, weiß jedermann, daß die Mehreinfuhr von Getreide ihre Ursache nicht in den Handels⸗ verträgen, sondern in der überaus schlechten Ernte des Jahres 1891 hat, und auch darüber kann kein Zweifel entstehen, daß die Minder⸗ ausfuhr von Zucker im Betrage von 33 Millionen ebensowenig auf die Handelsverträge zurückzuführen ist; denn bezüglich unseres Roh⸗ zuckers sind im Auslande keine Zolländerungen eingetreten. Wir haben also hier 120 Millionen — also mehr, als die Vermehrung der Unter⸗ bilanz im Jahre 1892 gegenüber dem Jahre 1891 beträgt —, bezüg⸗ lich deren feststeht, daß sie außer allem Bezug mit den Handels⸗ verträgen stehen.
Ich will aber nicht in denselben Fehler verfallen wie der Herr Abg. Graf Kanitz und etwa den umgekehrten Schluß ziehen, daß durch diese Zahlen der Nachweis geführt sei, daß die Handelsverträge bereits eine günstige Wirkung hätten. Aber eins muß ich doch sagen: selbst wenn diese Zahlen bewiesen, daß in der einen oder anderen Be⸗ ziehung sich etwas ungünstiger gestaltet hätte, so würde das ein stich⸗ haltiges Argument gegen die Handelsverträge bilden nur unter der Voraussetzung, wenn der Herr Vorredner nachweisen oder wenigstens wahrscheinlicher machen könnte, daß, wenn die Handelsverträge nicht zum Abschluß gekommen wären, dann die Zahlen günstiger geworden oder günstiger geblieben wären, und diesen Beweis dürfte dem Herrn Abg. Grafen Kanitz zu erbringen außerordentlich schwer sein.
Es tritt hier das Moment klar zu Tage, welches in der ganzen Polemik gegen unsere Handelsverträge charakteristisch ist, das ist die völlige Verkennung und Ignorirung der handelspoli⸗ tischen Situation, aus der unsere Handelsverträge her⸗ vorgegangen sind. (Sehr richtig!) Wenn ich heute die Kritiken lese gegen die Handelsverträge, dann sollte man wirklich meinen, wir seien beati possidentes gewesen nicht nur bezüglich der Autonomie unserer Zolltarife, sondern auch bezüglich der Ausgangszölle; wir hätten ein wohlerworbenes Recht auf diese Zölle gehabt und nun sei auf einmal die Regierung aus Verblendung, Neuerungssucht oder Ungeschicklichkeit auf den Gedanken gekommen, diesen idyllischen Zustand zu stören, Handelsverträge abzuschließen, die Autonomie unserer Zolltarife aufzugeben und dafür schlechtere Zölle einzutauschen als die bisher bestandenen. Es liegt in der menschlichen Natur begründet, daß, wenn eine Gefahr glücklich vorbei ist, man sich der⸗ selben nicht mehr erinnert, und daß an Stelle der Sorge die Kritik über das Geschehene eintritt. Ich war auch vollkommen darauf gefaßt, daß, wenn erst die Handelsverträge ins Leben treten würden, dann jede ungünstige Zahl, jede kleine oder größere Depression, jeder Niedergang einer Industrie, daß, wenn ich mich eines trivialen Ausdrucks bedienen soll, jedes Kind, das in den Brunnen fällt, auf das Conto der Handelsverträge geschrieben würde. Aber etwas ist doch erstaunlich, daß heute Kritik an den Handelsverträgen in einer Weise geübt wird, als ob überhaupt niemals ein 1. Februar 1892 bestanden habe. Wie war denn die handelspolitische Situation, aus der die Handelsverträge hervorgegangen sind? Wir waren im Besitz unserer Zollautonomie und haben davon dreimal einen sehr ausgiebigen Gebrauch gemacht. Wir haben den Schutz unseres Exports der Meistbegünstigung anvertraut und damit gute Geschäfte gemacht, so lange unsere Exportstaaten so freundlich waren, unter sich Tarifverträge abzuschließen und ihre Zölle auf ein so niedriges Niveau herabzusetzen, als wir bedurften, um einen blühenden Export zu erhalten. Nun ist doch das klar, daß in dem Maße, als wir von unserer Autonomie des Zoll⸗ tarifs einen Gebrauch nach der Seite des Schutzzolls hin machten, in demselben Maße oie Neigung unserer Erxportstaaten sich abschwächen mußte, uns unentgeltlich diejenigen Zölle zu gewähren, deren wir bedurften, um den Export dorthin zu erhalten. Wer die handelspolitische Situation der letzten zwölf Jahre prüft, der wird finden, daß, nachdem anfangs der achtziger Jahre unter Leitung Frankreichs ein ganzes Netz von Tarifverträgen geschlossen wurde, mehr und mehr die schutzzöllnerische Tendenz aller Orten zur Oberhand kam und man schließlich am Ende der achtziger Jahre diese Tarifverträge, die uns, wie gesagt, unentgeltlich in den Schoß
fielen, mehr und mehr als Last empfand und sich nach dem 1. Fe⸗ bruar sehnte, um derselben ledig zu sein. Und so bedeutete der 1. Februar 1892 für uns, daß mit diesem Termin unsere Meist⸗ begünstigung, die bisher ihren Inhalt erhalten hat durch die Tarif⸗ verträge, ein werthloses Blatt Papier wurde, und wenn wir keine entsprechenden Gegenmaßregeln trafen, unser ganzer Export, diefer wichtige Theil der nationalen Arbeit, dem Gutdünken der Zoll⸗ gesetzgebung der anderen Staaten anheimgegeben war. Nun mag man einer zollpolitischen Richtung angehören, welcher man will, darüber ist doch kein Zweifel, daß angesichts dieser Sachlage nur
hat nämlich im Jahre 1892,
Reglerungen eingeschlagen haben, Tarifverträge abzuschließen nach dem Princip: Do ut des, sich Concessionen zu erkaufen, oder aber der andere Weg, auf dem Schein unserer Zolltarife zu beharren, die Autonomie unserer Zolltarife zu bewahren und nun abzuwarten, was die anderen Staaten mit unserem Export anfingen. Das sind die zwei Wege, die überhaupt gangbar waren, und wer den ersten Weg, den Weg des Abschlusses von Tarifverträgen, principiell verwirft, der muß sich zum anderen Wege entschließen, wenn er nicht dem ge⸗ rechten Vorwurf ausgesetzt sein will, daß er nur negative Kritik übt, aber nichts Positives an dessen Stelle zu setzen weiß. Nun erkenne ich an. daß der geehrte Herr Vorredner mit anerkennenswerther Offenheit gesagt hat: für mich ist die Erhaltung der Getreidezölle auf 5 ℳ der entscheidende Punkt, namentlich deshalb, weil dann überhaupt kein Tarifvertrag zu stande gekommen wäre. Damit hat der geehrte Herr Redner ein großes Wort gelassen aus⸗ gesprochen, denn das heißt nichts mehr und nichts weniger als: laßt uns nur die Getreidezölle von 5 ℳ, was dann aus unserm Export wird, das ist uns gleichgültig. (Sehr wahr! links, Wider⸗ spruch rechts.) Ja, meine Herren, Sie bestreiten das. Ich weiß sehr wohl, daß es eine Zeit gab, wo man leicht in den Geruch des Frei⸗ handels kam, wenn man von den Interessen des Exports sprach, und ich gebe Ihnen zu, daß es eine Zeit gab, in der man dem äußern Markt zu Unrecht ein größeres Gewicht beilegte als dem innern. Seitdem wir aber dreimal unsern innern Markt durch Zölle geschützt haben, war es die Pflicht der Regierung, die Gefahr, die mit dem Ablauf der Handelsverträge unserer Ausfuhr drohte, nach Kräften abzuwenden. Man spricht von Schutz der nationalen Arbeit. Das ist der Grundgedanke von 1879, für den ich ganz und voll eingetreten bin. Aber die deutsche Ausfuhr, welche drei Milliarden Mark darstellt, ist auch ein Theil der nationalen Arbeit, auch sie hat Anspruch auf Schutz. Es ist dieser Theil der nationalen Arbeit, um dessen Existenz es sich bei den Tarifverträgen handelte, und es ist eine zum großen Theil hochgelohnte Arbeit. Unsere Ausfuhr ist also nicht nur wirthschaftlich, sondern auch social⸗ politisch ein sehr bedeutsamer Factor, und ich kann nur sagen: diesen Theil der nationalen Arbeit schutzlos der Willkür der anderen Staaten preiszugeben, das würde einen Bruch bedeuten mit dem Grund⸗ gedanken der Reform von 1879, und das würde eine kurzsichtige Politik gewesen sein vom Standpunkte der gesammten Wirthschaftsinteressen Deutschlands, und nicht zum mindesten auch der Landwirthschaft. Nun, meine Herren, hat der Herr Vorredner von den Schwierig
keiten der Landwirthschaft gesprochen, die ich vollauf anerkenne. Ich ann, die feine Unterscheidung des Herrn Abg. Dr. Barth zwischen
den Interessensdes Grundbesitzes und denjenigen der Landwirthschaft,
die sich nicht immer decken, nicht als zutreffend erachten. Ich glaube, daß, wenn es dem Grundbesitz schlecht geht, es der Landwirthschaft unmöglich gut gehen kann und umgekehrt. Wenn ich das an⸗ erkenne, und wenn ich sage, daß die verbündeten Regierungen nicht nur von der Bedeutung der Landwirthschaft vollauf über⸗ zeugt sind, daß sie stets bereit sein werden, alles, was in ihren Kräften steht, zu thun, was für eine bessere Entwicklung der Land⸗ wirthschaft förderlich ist, so muß ich andererseits doch sagen: die Ver⸗ treter dieser landwirthschaftlichen Interessen sind nicht auf dem richtigen Wege, wenn sie principiell gegen die Tarifverträge ankämpfen. Man sagt, die Landwirthschaft sei der eigentlich leidtragende Theil bei den Tarifverträgen, sie habe schwere Nachtheile erlitten; zum Beweis dafür weist man auf die gegenwärtigen niedrigen Getreidepreise hin. Ich muß sagen: ich habe mich einigermaßen über dieses Argument erstaunt, denn ich erinnere mich aus früherer Zeit, als der Kampf zwischen Anhängern der Getreidezölle und Gegnern hier gewaltig tobte, daß die Anhänger der Getreidezölle stets die Behauptung aufstellten, daß die Getreidezölle wesentlich eine regulirende Wirkung ausübten, daß der Getreidezoll in seiner ganzen Höhe niemals im Inlandspreis des Getreides zur Geltung komme. Ich habe die Sache mir auch näher angesehen, und ich glaube, daß die Frage, welche Wirkung hat ein Getreidezoll auf den Inlands⸗ preis des Getreides, in thesi überhaupt nicht entschieden werden kann (sehr richtig!); daß aber allerdings, wenn infolge des schwachen An⸗ gebots die Preisconjunctur eine steigende ist, dann der Getreidezoll im Preise voll zum Ausdruck kommt, wenn umgekehrt infolge des reichlichen Angebots die Conjunctur nach unten geht, dann der Getreidezoll wohl eine regulirende Wirkung ausübt, aber für die Preishöhe selbst von secundärer Bedeutung ist. Ja, ich erinnere mich, daß vor zwei Jahren, als wir exorbitante Getreidezölle hatten, und die Gegner derselben darauf hinwiesen, welcher Schaden daraus entstehe, daß da mit Entschiedenheit für die Anschauung eingetreten wurde, daß der Getreidezoll von 50 ℳ nicht voll zur Geltung käme. Damals war, ich will nicht sagen, eine Calamität eingetreten, aber ein Zustand, bei dem zweifellos eine provisorische Aufhebung der Getreidezölle erfolgt wäre, wenn nicht gerade damals die zollpolitischen Verhandlungen mit Oesterreich⸗ Ungarn im Gange gewesen wären. (Hört! hört!) Wenn ich mich recht erinnere, war es gerade der Herr Abg. Graf von Kanitz, der diese Maßregel befürwortet hat. (Sehr richtig! links.)
Meine Herren, da muß ich denn doch auf eine Gefahr aufmerksam machen, die der Landwirthschaft droht. Wenn damals eine Auf⸗ hebung des Getreidezolles provisorisch erfolgt wäre, so hätten Sie ein Präcedenz geschaffen, welches auf die Dauer von der allernachtheiligsten Wirkung für die Landwirthschaft hätte sein müssen. Sie beschweren sich, und zwar mit vollem Recht, darüber, daß so Piele speculative Momente den Getreidemarkt beherrschen, denen gegenüber der Producent mehr oder minder machtlos ist. Da behaupte ich, wenn Sie den Getreidezoll auf einer Höhe behalten, daß er einer einzigen Mißernte gegenüber nicht Widerstand leisten kann, dann bringen Sie durch eine solche Bemessung des Getreidezolles ein neues speculatives Moment in den Getreidehandel, (sehr wahr!), das der Landwirthschaft von größtem Schaden sein wird; und so wiederhole ich das, was ich im vorigen Jahre bereits dar⸗ gelegt habe: ein Getreidezoll, der auf einer mäßigen Höhe erhalten wird, sodaß er auch, wenn eine Preissteigerung des Getreides ein⸗ tritt, sich aufrecht erhalten kann, ist für die Landwirthschaft auf die Dauer weit nützlicher als der Getreidezoll, der sich auf einer Höhe bewegt, daß er der ersten Mißernte eines einzigen Jahres zum Opfer fällt. (Sehr richtig!)
Also, meine Herren, ich kann nicht anerkennen, daß die heutigen niedrigen Getreid reise in Kerlaloee menhang mit den Handels⸗
zwei Wege möglich waren: entweder der Weg, den die verbündeten
verträgen stehen.
Nun ist ja neuerdings, ich weiß nicht wie ich es nennen soll, eine
die an sich kein Interesse an der Landwirthschaft haben, aber aus irgend welchem, ich will annehmen wirthschaftlichen Grunde mit den Handels verträgen unzufrieden sind. Man hat gesagt, wenn einerseit die Landwirthschaft Noth leidet infolge der Handelsverträge, so hat andererseits die Industrie keinen Vortheil davon. Dem gegen über mache ich darauf aufmerksam, daß, als wir in Berathung darübe
traten, welche Maßregeln im Angesicht des 1. Februar vorigen Jahres
zu treffen waren, die nächste Sorge gar nicht die war, welche neuen Vortheile können wir unserer Industrie gewähren, sondern daß die viel ernstere Frage vorlag, wie haben wir es zu machen, um di schweren Nachtheile hintan zu halten, die unfehlbar eintreten müßten, wenn der 1. Februar 1892 heran
käme, ohne daß wir Fürsorge getroffen haben (Seh
richtig!), und es ist ein eigenthümliches Spiel des Zufalls, dafß
man jetzt sich vorwurfsvoll mit der Frage: wo sind die Vortheile?
an diejenige Regierung wendet, die nach ihren besten Kräften alles das gethan hat, um diese schweren Nachtheile zu verhindern. (Sehr
richtig!) Geht man der Sache auf den Grund, woher denn in manchen Kreisen eine Enttäuschung besteht über die Wirkung der
Handelsverträge, so ist es nicht schwer zu finden, daß diese das Re⸗ sultat ist einer Täuschung, in der man sich bezüglich unserer handels⸗ politischen Situation befunden hat.
Ich habe im vorigen Jahre Gelegenheit gehabt, einen engeren
Landsmann zu sprechen, der sich sehr bitter darüber beklagte, daß er
für sein Product, für das er beim Eingang in die Schweiz früher 12 Fr. bezahlte, jetzt 20 Fr. bezahlen mußte, und er sagte: wir haben früher einen so guten Handelsvertrag gehabt, warum habt ihr jetzt einen so schlechten Handelsvertrag gemacht?
französisch⸗ schweizerischen ihm gezeigt, daß,
Vertrag herrührte, und ich habe wenn wir den alten guten Kandels⸗ vertrag, ohne einen Buchstaben zu verändern, über den 1. Fe⸗ bruar des vorigen Jahres hätten weiter bestehen lassen, das⸗ selbe Product nicht 20 Fr., sondern 50 Fr. in der Schweiz hätte bezahlen müssen. Als ich den Mann fragte: Würden Sie es vor⸗ gezogen haben, wenn wir wegen des Zwölffrankzolls mit der Schweiz einen Zollkrieg angefangen hätten? da sagte er: um Gotteswillen, nein, denn wenn Deutschland mit der Schweiz einen Zollkrieg anfängt, dann schließt Frankreich mit der Schweiz einen sehr schönen Tarif⸗ vertrag, und dann haben wir Deutsche das Nachsehen. Ich glaube, daß dieser Mann durch die Ereignisse, die neuerdings eingetreten sind, in der Ueberzeugung bestärkt worden ist, daß wir mit dem Handels⸗ vertrag mit der Schweiz in der That gar kein so schlechtes Geschäft gemacht haben.
Ich muß noch an eins erinnern. Es war, glaube ich, der Herr Vorredner selbst, der im vorigen Jahr bei der ersten Berathung des deutsch⸗schweizerischen Handelsvertrages der Regierung einen ernsten Vorwurf daraus machte, daß wir überhaupt bei unseren Verhand⸗ lungen den neuen autonomen schweizer Tarif zu Grunde gelegt hatten. Er sagte: wenn die Regierung wirklich unser Interesse energisch vertreten hätte, so hätte sie von der Schweiz verlangen müssen, daß nicht dieser neue autonome Zolltarif, sondern die alten Meistbegünstigungszölle zu Grunde gelegt wurden und auf diesem Boden die Verhandlung stattfindet. Also das Verlangen, was wir an die Schweiz stellen sollten, war, daß wir als Basis unserer Ver⸗ handlungen einen Tarif beanspruchen sollten, für den wir nie irgend etwas bezahlt haben, den die Schweiz mit Frankreich, mit anderen Staaten verabredet hat, dessen Aequivalent weggefallen war, einen Tarif, der so niedrig ist, daß, wenn wir ihn für uns annehmen wollten, wir des allerschnödesten Freihandels beschuldigt würden. Wer sich freilich der Illusion hingegeben hat, daß auf diesem Wege, daß man selbst die Taschen zuknöpft, von andern Leuten also Ge⸗ schenke verlangt, daß auf diesem Wege irgendwelche Verständigung in handelspolitischer Beziehung zu erlangen ist, muß nothwendiger Weise enttäuscht sein, wenn die Handelsverträge so und nicht anders ausgefallen sind.
Ich will Sie mit meinen Ausführungen nicht zu lange aufhalten, ich will nur auf die Frage, welche Vortheile hat die Industrie über⸗ haupt aus den Handelsverträgen gezogen, die Antwort geben: einen Vortheil ganz gewiß, dazu brauche ich keine Zahlen, nämlich den Vortheil der Stabilität, (sehr richtig!) und ich habe erst in der letzten Zeit die Wahrnehmung ge⸗ macht, die mich in keiner Weise überrascht hat, daß nämlich auf die Frage: was wollt ihr lieber, wollt ihr lieber einen etwas höheren Zoll, natürlicher Weise in der Höhe, daß er noch einen Gewinn bringenden Export ermöglicht, gebunden auf 10, 12 Jahre, oder wollt ihr lieber einen viel geringeren Zoll haben, den aber uns der exportirende Staat jederzeit aufheben kann? — die ein⸗ stimmige Antwort der Producenten die war: der Industrie ist lieber ein höherer Zoll auf 12 Jahre als ein niederer Zoll, der vielleicht in 8 oder 14 Tagen aufgehoben wird. Also der eine Vortheil ist jedenfalls vorhanden, und ich weiß, daß die Industrie gerade diesen dankbar anerkennt.
Nun muß ich ja zu meinem lebhaften Bedauern auf die Hoffnung verzichten, nachdem wir nun bereits das zweite Jahr miteinander discutiren, mit dem Herrn Vorredner zu einer Uebereinstimmung über die Bedeutung unserer Handelsverträge zu gelangen. Immerhin bin ich ihm außerordentlich dankbar, daß er wiederholt seine Angriffe gegen die Handelsverträge hier in diesem hohen Hause, wohin siee eigentlich gehören, vorgebracht hat. Er giebt mir dadurch erneut Gelegenheit, hier die These aufzustellen und mich bereit zu erklären, sie gegen jedermann zu vertheidigen, daß die Handels⸗ verträge, die wir abgeschlossen haben, ein für unsere deutsche Wirthschaft wohlthätiges und nützliches Werk gewesen sind und daß der Reichstag den Dank der Nation verdient hat dadurch, daß er dieselben rasch und mit großer Majorität genehmigt hat. (Lebhaftes Bravo! links.) Abg. Rickert (dfr.): Die letzten Worte des Staatsfecretärs bestärken mich in der Hoffnung, daß die Angriffe der Freunde des Abg. Grafen von Kanitz im Abgeordnetenhause auf den preußischen Landwirthschafts⸗Minister und den Reichskanzler ohne Erfolg sei werden und daß die Regierung in der ri tigen Erkenntniß der Interessen der deutschen Nation ihre Handelsvertragspolitik fortsetzen wird. Es ist eine gewisse Genugthuung für uns, die wir seit 1879 im Kampf gegen die Schutzzollpolitik stehen, daß wir von demjenigen Staatsmann, der aus den Reihen der Rechten hervorgegangen ist, Ideen hören, die der frühere Vertreter der Handelspolitik Staats Minister Delbrück 1879 hier vergeblich vor dem Hause vertrat
Art Kartell eingetreten zwischen der Landwirthschaft und solchen Leuten,
Ich habe dem Manne darauf nachgewiesen, daß dieser Zwölffrankzoll aus dem
—
namentlich in den Ausführungen, in denen er die Bedeutung unserer
Exrportindustrie und die Gefahren der S utzzollpolitik für dieselbe auseinandersetzte. Der Abg. Graf von Kanitz vhel sich, daß der hibe Dr. Barth die Sache heute angefangen hat, ohne den Herren rechts vorher etwas mitzutheilen. Er mag sich beruhigen, ich selbst habe erst durch ihn vor der Sitzung erfahren, daß diese Seite hier die Handelsverträge besprechen wollte. In unserer Parteiversammlung ist davon nicht die Rede gewesen. Meine Freunde haben die Nothwen⸗ digkeit, diese Sache vorzubringen, erst aus den letzten Verhandlungen des Abgeordnetenhauses geschöpft. Aber wie haben Sie es denn im Abgeordnetenhaus gemacht! Sie haben uns dort eine Discussion herbeigezogen, von der wir keine Ahnung hatten. Beim Domänen⸗ Etat hielt Herr von Erffa eine große Rede gegen die Handelsverträge. Daß das Abgeordnetenhaus nur in beschränktem Umfang eine Volks⸗ vertretung ist, habe ich dort schon mehrmals gesagt. Der Abg. Graf von Kanitz selbst kann sich . hier mehr als Volksvertreter fühlen, als im Abgeordnetenhause, wo er nach einem Wahlsystem gewählt ist, das Fürst Bismarck das elendeste aller Wahlsysteme ge⸗ nannt hat. Was treiben Sie jetzt anders als Anti⸗ semitismus? Ihr Freund, der Abg. von Ploetz ist jetzt Vorstand eines antifemitischen Bauernbundes. Ich werde mich im Abgeordneten⸗ hause noch mit dem Minister des Innern darüber unterhalten. Dieser antisemitische Bauernbund versucht es, die Behörden des preußischen Staats in den Dienst dieser Sache zu stellen. Früher gelang es aller⸗ dings der Action des Abgeordnetenhauses, auf den preußischen Land⸗ wirthschafts⸗Minister eine fortgesetzte Pression auszuüben, sodaß Preußen die fortgesetzte Erhöhung der Getreidezölle im Bundesrath durchsetzte. Was die Conservativen damals hinter den Coulissen ge⸗ trieben haben, wird ihnen heute bei den Handelsverträgen nicht wieder gelingen. Jetzt wollten Sie den Landwirthschafts⸗Minister wiederum nur stark machen, damit er in der preußischen Regierung und dann diese im Bundesrath Front machen sollte gegen die Handelsvertrags⸗ politik des Reichskanzlers. Das war Ihr Plan, er ist aber mißlungen. Nach den heutigen Erklärungen des Staats⸗ secretärs läßt sich die Regierung nicht einschüchtern. Der Abg. von Minnigerode nannte die „vorzügliche Ernte“ ein Schlagwort; aber die Thronrede sprach zuerst von der „gesegneten Ernte“, und das entspricht auch den Thatsachen. Wenn ein einzelner Guts⸗ besitzer eine schlechte Ernte gehabt hat, behauptet er natürlich, es sei im ganzen Lande so. Haben Sie denn für andere Berufszweige dasselbe Interesse? Wie geht es denn in der Industrie? Ich habe im Abgeordnetenhause auf die Rhederei hingewiesen, wie ein Schiff seit Jahren keine Dividende ergeben hat und sogar noch einen baaren Zuschuß erfordert. Im Abgeordnetenhause erklärten die Conservativen den russischen Handelsvertrag und die Goldwährung für ein nationales Unglück. Sie werden ja die Leute auf dem Lande, die keine Ahnung von öffentlichen Dingen haben, auch mit der Währungsfrage ein⸗ fangen wie mit den Handelsverträgen. Die Leute werden aber sehr bald aufwachen und die Haltlosigkeit Ihrer Behauptungen einsehen. Wie ein Gespenst soll nach dem Abg. von Minnigerode der russische Handelsvertrag die ganze Bevölkerung 1“ Der Neichskanzler wird sogar beschuldigt, daß er unserm Nachbarn im Osten die Waffen in die Hand giebt, indem er ihn durch die Handelspolitik wirthschaftlich stärkt. Gegenüber der Militärvorlage erscheint diese Politik des Reichs fast als Landesver⸗ rath. Ihren ganzen Schmerz brachten die Conservativen im Abgeord⸗ netenhause darüber zum Ausdruck, daß einer der ihrigen, der Staats⸗ Minister von Heyden, sich dazu hergiebt, diese Vertragspolitik zu unterstützen. Die Agrarier haben nicht aufgehört zu bohren, die Zölle wurden auf 3 und 5 ℳ erhöht, die Agrarier waren immer noch nicht zufrieden, ihre Klagen wurden immer größer. Die Agrarier sagen: wenn wir die Differentialzölle gegen Rußland aufheben, kann die Land⸗ wirthschaft nicht leben. Jetzt haben wir doch die Differentialzölle, und die Landwirthschaft kann auch nicht leben. Als die Schutz⸗ zollpolitik kam, verwies man uns stets auf die ehrliche Probe; jetzt soll sie gelten. Die Handelsverträge sind uns besonders werth durch das, was sie verhindern, nicht durch das, was sie positiv geleistet haben. Lassen Sie nur erst einige Jahre ins Land gehen, dann werden wir die Rechnung machen können. Handelsverträge allein können nicht das Glück einer Nation ausmachen, sie fördern aber den friedlichen Verkehr der Völker und üben dadurch eine Culturmission aus. Ich begreife nicht, wie in unseren östlichen Provinzen die Ver⸗ treter der Landwirthschaft gegen den russischen Handelsvertrag sein können. Unser armer Osten wird wirthschaftlich aufgerieben, wenn die Schranken zwischen uns und Rußland aufrecht erhalten bleiben. So ist es in Oberschlesien auch. Wirthschaftlich und politisch müssen wir uns mit unseren östlichen Nachbarn freundlich stellen. Möge es gelingen, den russischen Handelsvertrag zu Stande zu bringen!
Abg. Dr. von Frege (dcons.): Es ist mir nicht in den Sinn gekommen, daß wir heute eine so weittragende Discussion über die Schutzzölle haben würden. Wir sind aber immer bereit, auch ohne Vorbereitung unsere Grundsätze hier zu vertreten. Die rechte Seite hat die Discussion aber nicht herbeigeführt, der Abg. Dr. Barth hat damit angefangen. Es wird den Herren von der Linken aber nicht gelingen, das Bild von der Lage der Landwirthschaft zu ver⸗ wischen, welches die dreitägige Debatte im preußischen Abgeordneten⸗ haus entrollt hat. Wir stehen seit fünfzehn Jahren unentwegt bei diesen handelspolitischen Fragen auf demselben Standpunkt. Die Landwirthschaft hat ihren Schwerpunkt im Inlande zu finden, sie ist die Nährmutter aller anderen Stände. Sie stecken uns auch heute wieder allerlei schöne Epitheta zu von Unersättlichkeit, Kornwucher u. s. w.; ich muß dagegen Zeugniß ablegen für die gemäßigten, maßvollen Forderungen, wie sie gerade die deutfe en Agrarier seit 14 Jahren geltend gemacht haben. Die verbündeten Regierungen haben doch seiner Zeit selbst einen Getreidezoll von 6 ℳ vorgeschlagen. Unsere Klagen werden nie verstummen, bis sie gehört sind; sie konnten bisher nirgends anderswo erhoben werden, als auf dem Zollgebiete, weil die Regierung unsere anderen Forderungen noch immer nicht erfüllt hat; weder auf dem Gebiete des Unter⸗ stützungswohnsitzes, noch in der Währungsfrage. Die Ergüsse in der conservativen Presse sind das Ergebniß einer Reihe von Mißver⸗ ständnissen der neueren politischen Maßnahmen im Volke. Die all⸗ gemeine Unzufriedenheit rührt hauptsächlich daher, daß für den klei⸗ neren, den bäuerlichen Grundbesitzerstand nichts geschehen ist, obwohl er unter der Ungunst der Verhältnisse am aller⸗ meisten zu leiden hat. Daher rührt auch die Entvölkerung des platten Landes. Wir haben alle Ursache, uns zu freuen, daß der Staats⸗ sekretär sich voll und ganz zu dem gemäßigten Schutzzollsystem bekannt hat, welches ich schon 1879 empfohlen Sabe Ein Schutzzoll von 3,50 ℳ auf 12 Jahre ist unter Umständen wirklich werth⸗ voller als ein Zoll von 5 oder 6 ℳ, der jeden Tag wieder wegfliegen kann. Die Frage der Währung aber muß endlich ernstlich in Angriff genommen werden. Es ist zu meinem tiefsten Be⸗ dauern von Seiten der Regierung über den Bimetallismus in einer Weise gesprochen worden, die zeigt, daß man die Wichtigkeit dieser Frage noch nicht genügend ins Auge gefaßt hat. Ich werde bei einer späteren Gelegenheit zeigen, was für einen tief⸗ gehenden Einfluß die rage der Silberentwerthung auf unsere ganze wirth⸗ schaftliche Lage hat. Feh bin überzeugt, daß das ganze Aufblühen Amerikas
arin seinen Grund hat, daß der Amerikaner an der Silberfrage fest⸗ ält; wahrscheinlich läßt sich auch der Rückgang. unserer Spritindustrie und unseres Zuckerexports mit dem Rückgang des Silberpreises in London erklären. Auf diesem Gebiete müssen Concessionen gemacht werden, dann werden wir auch den Handelsperträgen “ gegenüber stehen. Die Lage der Landwirthschaft ist seit vierzehn Jahren so gedrückt, daß man es den Bauern nicht verdenken kann, wenn sie jede Maäßregel, welche von freihändlerischer Seite Fteheh n wird, mit — ztrauen betrachten und glauben, daß man ihnen keine naterstügung von Staatswegen bringen will, während wir es besser wissen, daß 8 ihnen gewährt werden soll. Was die russischen Vertragsverhand⸗ dungen betrifft, so habe ich die feste Hoffnung, daß die russische In⸗ 72 rie ihre Schutzzölle ihrer eigenen Regierung gegenüber so tapfer vertheidigen wird, daß es nicht so bald dazu kommen wird, hier in diesem Fause einen Handelsvertrag mit Rußland zu sanctioniren. 188
platte Land, oh e den Grundbefit wieder zu prägraviren, wird
es nicht abgehen, wenn auch nachgerade jeder weiß, daß dies die schwächsten Schultern sind, denen die schwersten Lasten auferlegt werden. Wir werden aber die Forderungen, die nöthig sind für den Schutz des Vaterlandes, aufbringen. Es ist diese ganze Discussion von der linken Seite provocirt worden, um den Eindruck der Discussion im Landtag, wo die Regierung sich durchaus nicht schwächlich vertheidigt hat, zu verwischen.
Abg. Wilbrandt (dfr.): Ich bin ebensogut Landwirth und habe kein geringeres Interesse an der Landwirthschaft, wie die Abgg. Dr. von Frege und Graf von Kanitz, und finde es ganz natür⸗ lich, daß die heutige Verhandlung über die Handelsverträge alle die alten Forderungen der Agrarier wieder laut werden lassen würde. Aber wenn diese beiden Herren sich über die Nachtheile, die der Landwirthschaft aus den Handelsverträgen erwachsen sind, beschweren, dann kann es sich doch nur um einen ganz kleinen Betrag handeln. Wenn die Getreidezölle unverändert geblieben wären und der Getreide⸗ preis also heute 15 ℳ höher stände als er steht, hätte das die Herren etwa verhindert, über die Nothlage der Landwirthschaft zu klagen? Ich kann nur nicht begreifen, daß die Herren nun schon seit vierzehn Jahren über die Nothlage der Landwirthschaft klagen, wo sie doch keine Ursache gehabt haben, von einem Uebermaß von Freihandel zu sprechen. Es liegt viel näher, zu prüfen, ob nicht gerade das Schutzzollsystem seit 1879 wesentlich mit zu der Nothlage beigetragen hat. Der Abg. Graf von Kanitz hat über die ungünstige Handelsbilanz des Jahres 1892 geklagt, aber diese hat sich doch schon seit langen Jahren gezeigt. Die Statistik der Jahre 1881 bis 1890 zeigt, daß sich zwar “ der letzten fünf Jahre die Ausfuhr an industriellen Fabrikaten um 3,8 % gehoben hat, während in demselben Zeitraum die Bevölkerung sich um 7,15 % vermehrt hat, das ist also geradezu ein relativer Rückgang der Ausfuhr. Eine namhafte Menge aus⸗ ländischen Getreides haben wir einführen müssen, und wir haben nichts, diese Mengen zu bezahlen, als die Summen, welche durch die Aus⸗ fuhr industrieller Erzeugnisse erworben werden. Wenn auf der einen Seite Jahr für Jahr der Import an Getreide durch Vermehrung der Bevölkerung wächst, anderseits die Ausfuhr an industriellen Pro⸗ ducten sich vermindert, so ist es ganz erklärlich, daß wir in der letzten Zeit uns in einer Nothlage befunden haben. Die Schutzzoll⸗ politik hat das richtige Verhältniß von Production und Consumtion zerstört, und unter diesem Mißverhältniß wird die Landwirthschaft zu leiden haben, bis mit dem Schutzzollsystem dieses Mißverhältniß wieder verschwunden ist. Wie es möglich ist, wenn man an eine Harmonie der Interessen glaubt, eine Politik zu treiben, welche den Zweck und die Absicht hat, die Interessen anderer zu verletzen, ist mir nicht klar. Hat diese Politik ihre Rückschläge gebracht, so haben sich die Herren Agrarier die Schuld daran selbst beizumessen. Ein Bericht über die Wirthschaftsführung auf drei Gütern des Grafen Stolberg⸗Wernigerode in den letzten 200 Jahren ist ein unanfecht⸗ bares Zeugniß dafür, daß die Landwirthschaft ganz bedeutend fort⸗ geschritten ist, daß die Grundrente gerade in dem Jahrzehnt 1880 bis 1889, wo die Klagen über die Nothlage der Landwirthschaft gar kein Ende nehmen wollen, gerade die höchste gewesen ist. Besser als fort und fort das alte Lied von der Nothlage zu singen und unerfüllbare Forderungen zu stellen, jetzt, wo die Handelsverträge abgeschlossen sind, wäre es, die Regierung zu unterstützen, daß sie fortfährt auf diesem Wege, wozu bis jetzt nur ein schwacher Anfang gemacht ist.
Abg. von Schalscha (Centr.): Die Stimmung über die Handelsverträge ist in Schlesien eine sehr schlechte. Als ich vor Jahresfrist nach Hause reiste, behandelte man mich mitleidig. Man konnte meine Ablehnung der Handelsverträge nicht begreifen. Einer nach dem Anderen haben sie aber alle ihre Meinung geändert und stimmen mir jetzt vollständig zu. Was wird der Handelsvertrag mit Rußland bringen? Stabilität nicht; jeder, der nach Rußland Geschäfte gemacht hat, hat unter dem wechselnden Rubelcurs zu leiden gehabt. Ein einfacher Geschäftsmann erzählte mir neulich, daß er große Einkäufe an Phosphoriten in Rußland zu machen hatte, daß die Lieferung sich einige Wochen hinzog und inzwischen der Rubel von 170 auf 190 stieg, wodurch er großen Schaden erlitt. Das ist ein Beweis dafür, daß die Geldfrage bei den Handelsverträgen auch eine große Rolle spielt. Zu den Vorbereitungen des Handels⸗ vertrags mit Rußland hat man Vertreter der Industrie und des Handels zugezogen, Vertreter der Landwirthschaft aber nicht.
Abg. Dr. Barth (dfr.): Der Vorredner hat von den schlimmen Erfahrungen gesprochen, die jemand mit einem Geschäft in Ruß⸗ land gemacht hat. Der Herr hätte Rubel auf Termin verkaufen sollen, dann hätte er keinen Schaden erlitten, aber die Herren kennen das wirthschaftliche Treiben nicht und stellen sich dann hin und halten große Reden gegen das Termingeschäft. In Amerika hat man sich seaseden allgemein davon überzeugt, daß man wieder zu vernünftigen Währungsverhältnissen kommen und mit dem Ankauf von Silber brechen müsse. Man geht also wieder dazu über, wo⸗ mit man im Jahre 1878 aufhörte, nämlich, in die reine Gold⸗ währung zu gelangen. Das ist auch die Meinung Cleveland's und seiner Umgebung. Das hätte einem so aufmerksamen Beobachter des wirthschaftlichen Lebens wie Abg. Dr. von Frege nicht entgehen dürfen. Wenn der Staatssecretär Freiherr von Marschall den Unter⸗ 8. zwischen den Interessen des Grundbesitzes und der Landwirth⸗ schaft nicht versteht, so weise ich ihn darauf hin, daß ein Pächter bei niedriger Pacht landwirthschaftlich vortrefflich auskommt, daß da⸗ gegen der Verpächter als Grundbesitzer ein schlechtes Geschäft macht. Der „Nothstand der Landwirthschaft“ ist vorzugsweise der Nothstand einiger verschuldeter Grundbesitzer. Für diese auf allgemeine Kosten die Kastanien aus dem Feuer zu holen, ist keine richtige Politik. Der Abg. Graf von Kanitz hat monirt, daß ich die Mac Kinley⸗Bill thöricht nannte. Die Amerikaner werden überrascht sein bei dem von mir gebrauchten milden Ausdruck. 8
Abg. Graf von Kanitz (dcons.) bestreitet noch einmal, daß die Handelsverträge segensreich gewirkt hätten. Wenn der schweizerische Zoll bei einem Artikel von 12 auf 20 Fr. gestiegen sei, während er angeblich ohne den Handelsvertrag auf 50 Fr. gestiegen wäre, so ist das keine besondere Leistung für unsere Unterändler Mit Recht ist in der „Freisinnigen Heilung⸗ der schweizerische Generaltarif ein Popanz genannt worden.
Staatssecretär Freiherr von Marschall:
Nur ein paar Worte in Bezug auf die Bemerkungen des Herrn Grafen von Kanitz. Er ist heute noch einmal darauf zurückgekommen, daß unsere Unterhändler sich darauf eingelassen haben, mit der Schweiz zu verhandeln auf Grund des neuen autonomen Tarifs der Schweiz von 1891. Das haben die Unterhändler gethan auf Grund ihrer Instruction. Die Verantwortlichkeit ruht deshalb nicht bei den Unterhändlern, sondern bei denen, die diese Instruction ertheilt haben, und zu diesen gehöre auch ich.
Nun ist der Herr Abg. Graf Kanitz und ich habe mich eigent⸗ lich darüber gewundert — zurückgekommen auf den Ausspruch, den er im vorigen Jahre gethan hat, nämlich darauf, daß der ganze neue schweizer Zolltarif eigentlich ein Popanz sei. Ich meine, wenn irgend eine Behauptung durch die Thatsachen widerlegt worden ist, so ist es die. Dieser sogenannte Popanz war namentlich in Kraft gegen Italien, ich glaube, bis zum Juli 1892, und ist heute in voller Kraft gegenüber
Frankreich. Will man angesichts dieser Thatsachen von einem Popanz
reden? Und wenn Herr Graf Kanitz sagt, daß die Schweiz unmittelbar vor den Verhandlungen einen autonomen erheblich höheren Tarif gegenüber dem bisherigen Meistbegünstigungsvertrag festgesetzt habe, so vergißt er, daß dieser Festsetzung des neuen schweizerischen autonomen Tarifs eine Periode von mehr als zehn Jahre vorherging, in denen die Schweiz gebunden war an eine Reihe von Tarifverträgen, nament⸗ lich mit Frankreich, daß es gezwungen war, vermöge eines solchen Vertrags uns die Meistbegünstigung zu gewähren, daß wir diese Periode benutzt haben, um dreimal unsere Zölle zu erhöhen, und
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zweimal davon wesentlich schweizerische Producte zu treffen. (Sehr richtig! links.) Daß die Schweiz dies schließlich als Last empfunden hat und im Jahre 1892 nicht gesonnen war, ihren Meistbegünstigungs⸗ tarif uns gegenüber als Grundlage dee Verhandlungen zu nehmen, ist doch ganz natürlich. Meine Herren, ich bin dafür, daß unsere nationale Arbeit geschützt wird; ich bin, was man zu nennen pflegt, ein gemäßigter Schup⸗ zöllner. Aber das, was ich für mich als Recht anerkenne, konnte ich unmöglich einem anderen Staate verweigern; ich konnte mich un⸗ möglich auf den Standpunkt stellen, daß Deutschland ein Monvpol des Schutzzolls habe, und daß alle anderen Staaten überhaupt nich verhandlungsfähig sind, wenn sie sich nicht auf dem Boden des Frei⸗ handels befinden. Die Schweiz hat das gethan, was wir und andere Staaten vorher gethan haben; und ich glaube, es wäre nicht richtig von Seiten Deutschlands gewesen, wenn wir der Schweiz erklärt hätten wir verhandeln nur auf einem anderen Tarif, nämlich keinem solchen, der euch nicht paßt, der uns aber paßt. (Bravo links.) Abg. Dr. von Trege (dcons.) bezweifelt, daß der Präsident Eleveland in der Silberfrage eine Stellung einnehmen wird, welche eine Abschaffung der Bland⸗Bill herbeiführt. Man wird il Amerika immer auf die Silberinteressen Rucksicht nehmen. Abg. Dr. Barth (dfr.): Wir haben uns keinen Illusionen darüber hingegeben, daß die Wirkungen der Handelsverträge so außerordentlich hoch zu veranschlagen seien. Die Zugeständnisse gingen uns auf beiden Seiten nicht weit genug. Darum haben wir die Reichsregierung immer wieder aufgefordert, entschieden vorzugehen. Abg. Graf Kanitz (dcons.) acreptirt gern dies Zugeständnis des Abg. Dr. Barth und weist auf den Ausfall in den Reichseinnahmen infolge der Handelsverträge hin. 8 1 „Darauf wird die Debatte geschlossen und der Etat des Reichskanzlers und der Reichskanzlei genehmigt. Schluß 5 ³i Uhr. Nächste Sitzung Sonnabend 1 Uhr
(Etat des R ichsamis 1X“ v
Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 22. Sitzung vom 26. Januar.
Fortsetzung der zweiten Berathung des Staats⸗ haushalts⸗Etats für 1893/94.
Ueber den Beginn der Sitzung ist bereits in der Nummer vom Donnerstag berichtet worden. Bei den Ausgahen in dem Etat der Forstverwaltung, und zwar bei dem Titel Besoldungen weist
Abg. von Benda (nl.) darauf hin, daß die Forstverwaltung es verstanden habe, den Wald zu verbessern und dadurch steigende Ein⸗ nahmen zu erzielen. Daran die 88 Jea⸗ einen bedeutenden Antheil, trotzdem stehen sie in ihrem Gehalte schlechter als alle anderen technischen Räthe. Hier müsse baldigst eine Aenderung eintreten,; er hoffe, daß sie im nächsten Jahre herbeigeführt werde, ohne daß ein Antrag gestellt werde.
Ab von Buch (conf.) schließt sich diesen Ausführungen voll⸗ ständig an.
Abg. Korsch (cons.): Die Oberförster gehen zum theil aus dem Feldjäger⸗Corps, zum theil aus dem Eivilstande hervor. Die Benor⸗ zugung der ersteren wolle er nicht tadeln, es müsse aber doch darauf ehalten werden, daß dieselben nicht in ihrer Anciennität besonders
evorzugt werden.
Minister von Heyden: Das Feldjäger⸗Corps ist auf 80 Stellen festgesetzt und nicht erhöht worden; je nachdem die Zahl der erledigten Stellen größer oder geringer war, sind mehr ober weniger Civil⸗ anwärter angestellt; das Anstellungsalter der Eivilistee war in den letzten Jahren 35 und 34 Jahrez, das Alter der Feldjäger 32 † und 32 ¼ Jahre. Die Differenz ist also nicht so groß, daß man dagegen einschreiten müßte.
Abg. von Tiedemann⸗Beomst (freicvns.) bittet, es bei den bestehenden Verhältnissen zu belassen.
Abg. Dr. Sattler (nl.): Die lebhaften Klagen in den Kreisen der Forstleute legen es nahe, daß an eine Aenderung der Ausbil⸗ dung der Feldjäger gedacht wird, die Jahre lang dem prarttischen entzogen werden und dennoch eine bevorzugte Stellung ein⸗ nehmen.
Minister von Heyden: An eine Aufhebung des Feldjäger⸗Corps kann ich nicht denken.
Abg. von Werdeck (cons.) hofft von einem späteren Etat eine bessere Besoldung der Forstaufseher, die zur Zeit nicht angemessen be⸗ zahlt seien.
Minister von Heyden erklärt, daß er im nächsten Etat eine -.-in der Gehälter der Forstaufsehergehilfen herbeizuführen Hoffe
Bei den Ausgaben für Wegebauten ec. Budgetcommission folgende Resolutiovn: 1 „Die Staatsregierung zu ersuchen, in den nächsten Etat zur Anlage und zur Betheiligung an Anlagen von Kleinbahnen, sowie zur Beihilfe für dieselben, sofern diese Bahnen von wesentlichem Interesse für die Forstverwaltung sind, ohne Hinzu⸗ tritt der letzteren aber nicht zur Ausführung kommen würden, die erforderlichen Mittel einzustellen.“ 3 2 2 Abg Freiherr von Minnigerode (cons.) weist darauf hin, daß nicht der Staat als solcher, sondern die Forstverwaltung als wirthschaft⸗ liche Unternehmerin sich an solchen Kleinbahnen in ihrem eigenen Interesse betheiligen solle. Hierbei handele cs sich um wirthschaft⸗ liche Aufwendungen, die selbst in schlechten Zeiten nicht unterlassen werden sollten. 1 “ 1
Minister von Heyden: Die Kleinbahnen stehen für mich den Wegen und Chausseen gleich; wenn eine Forderung nicht im Etat steht, so liegt das daran, daß ich die Verhältnisse noch nicht über⸗ sehen konnte. Die Kleinbahnen werden in Bezug auf ihren Nutzen ebenso calculirt, wie die Wege und Chausseen. Die Annahme der Resolution kann daher der Forstverwaltung nur angenehm sein.
Abg. von Bockelberg (cons.) klagt darüber, daß die Forst⸗ verwaltung einer Gemeinde die Ahbgabe von Kies zur Wegebesserung verweigert habe, während anderes Material nicht vorhanden war.
Minister von Heyden: Soviel mir bekannt, handelt es sich nur darum, daß Kies aus gewissen Gruben, die die Forstverwaltung selbit brauchte, verweigert, aber aus entfernter gelegenen Gruben zur Ver⸗ fügung gestellt wurde.
Finanz⸗Minister Dr. Miquel:
Meine Herren! Ich will mich namens der Finanzverwaltung principiell gegen diese Resolution um so weniger erklären, als der Herr Referent ausdrücklich auch im Namen der Budgeteommission betont hat, daß die Durchführung der dort empfohlenen Maßregeln naturgemäß von der Lage der allgemeinen Staatsfinanzen abhängig sei. Ich setze voraus, daß die Budgeteommission durch ihren Antrag in keiner Weise der Frage hat präjudiciren wollen, in welcher Weise eine solche Position zur Unterstützung der Kleinbahnen in den Etat aufzunehmen sei, ob in das Extraordinarium oder in das Ordinarium, ob auf Grund vorangegangener bestimmter Verhandlungen und vor⸗ liegender Proseete, ob in Form einer Betheiligung, beispielsweise der Uebernahme von Actien oder der Hingabe à fouds perdu, — daß alles dies vorbehalten bleibe füt die Zukunft. Namentlich wird die Frage zu entscheiden sein, ob es gerathen ist — ohne daß bestimmte
beantragt die
Projecte vorliegen, bloß in der Erwartung, daß sie in dem be⸗