1893 / 42 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 17 Feb 1893 18:00:01 GMT) scan diff

will ich gar nicht beseitigen, sondern nur einige nothwendige Ein⸗ schränkungen einführen. Die Herren von Links sind nun sammt und sonders über mich hergefallen und haben mir viel weitergehende schwarze Absichten unterstellt. Ich habe die drei Punkte, wo man abhelfen kann, genau bezeichnet. Wenn man die jungen Leute unter 18 Jahren hindern will, in die Städte zu ziehen und dort der Ver⸗ wahrlosung zu verfallen, wenn man ein Einzugsgeld einführt, wenn man die Abziehenden anhalten will, den Besitz einer gesunden Wohnung nachzuweisen, sind das Beeinträchtigungen der Grundrechte des Deutschen Reichs und seiner Bürger? Ich gebe

ie Hoffnung noch nicht auf, daß diese Forderungen bewilligt werden, um den herrschenden Nothständen abzuhelfen. Im Herren⸗

ause will der Abg. Dr. Baumbach den Kampf mit mir fortsetzen. Ich bin dazu bereit, für ihn wird aber dort die Situation sehr viel schwieriger sein. Am Sonnabend werden es drei Wochen, daß wir über das Gehalt des Staatssecretärs verhandeln. Wenn aber über 4 Tage über alles Mögliche gesprochen worden ist, soll man doch der Landwirthschaft nicht verwehren, 2 oder 3 Tage ihre Klagen vorzutragen, nicht aber mir vorwerfen, daß ich diese Debatte inscenirt habe, wie es der Abg. Graf Behr gethan hat. Daß wir unsere Meinung über den russi⸗ schen Handelsvertrag überall zur Geltung zu bringen suchen, ist doch um so selbstverständlicher, als man unsern bescheidenen Antrag, den österreichischen Handelsvertrag in eine Commission zu verweisen, abgelehnt hat. Der Abg. Dr. Bamberger macht uns den Vorwurf, wir seien eine absolute Partei. Nichts ist ungerechter als dieser Vorwurf. Schlimm genug, daß bloß die conservative Partei für die Landwirthschaft eintritt (Zwischenruf) und der Abg. Dr. Buhl. Der Staatssecretär Freiherr von Marschall hat von der Silber⸗ entwerthung gesprochen und sich dadurch sofort die Warnung der Abgg. Dr. Barth und Dr. Bamberger zugezogen. Ich hoffe aber, daß diese Aeußerung des Staatssecretärs Freiherrn von Marschall unsere Wünsche ihrer Verwirklichung in Bälde entgegenführen wird. Die warmen Ausführungen des Abg. Dr. Buhl für die Landwirthschaft sind für uns eine große Errungenschaft. Noch vor zehn Jahren wäre eine solche Rede eines Nationalliberalen nicht möglich gewesen. Charakteristisch in der Debatte aber war die ablehnende Haltung der Freisinnigen gegen die Landwirthschaft.

Reichskanzler Graf von Caprivi:

Der Herr Vorredner hat im Anfang seiner Rede ausgesprochen, der Ton bei den Verhandlungen des Landwirthschaftsbundes würde im wesentlichen von dem abhängen, was die Vertreter der verbündeten Regierungen hier äußerten. Nach dem guten Zeugniß, das er uns gegeben hak, würde ich zu der Schlußfolgerung berechtigt sein, daß der Ton im Landwirthschaftsbüͤnde ein vorzüglicher sein wird. Ich möchte aber doch die Verantwortlichkeit nicht ohne weiteres dafür

übernehmen, bin indeß gern geneigt, auf einige Fragen, die hier noch

gestellt worden sind, meinerseits, soweit ich kann, Antwort zu geben. Ich werde mich dabei auf diejenigen Dinge beschränken, die das Reich ngehen. Es sind hier eine Menge von einzelnen Gegenständen, Klagen, Wünschen berührt worden, welche die einzelnen Landtage, die Einzelregierungen angehen, und ich kann mich des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß es vielleicht zweckmäßiger gewesen wäre, eine Arbeits⸗ theilung insoweit vorzunehmen, daß die preußischen Gravamina in Preußen und die Reichsgravamina hier vorgebracht werden.

Von den Dingen, die das Reich berühren, will ich zunächst ant⸗ worten auf eine Frage, die in Bezug auf den Identitätsnachweis an uns gerichtet worden ist. Die preußische Regierung, die ja bei der Frage am meisten betheiligt ist, hat sie nicht aus dem Auge verloren. Es ist auf die Reise zweier Minister Bezug genommen worden, die damals sich dafür ausgesprochen haben. Die Herren stehen noch auf demselben Standpunkt’, und das preußische Staats⸗Ministerium hat nicht aufgehört, der Frage sein Interesse zuzuwenden; aber es liegt auf der Hand, daß, so lange die Verhandlungen mit Rußland im Gange sind, es vielleicht nicht möglich, auf jeden Fall nicht wünschenswerth ist, auf die Frage näher einzugehen. Ueberdies ist ja bekannt, daß der Süden und Westen von Deutschland vielfach eine andere Stellung zu ihr einnehmen, als der Osten und Norden. Es ist ja auch bekannt, daß selbst die Land⸗ wirthschaft eine andere Stellung bis vor kurzem dazu einnahm, als heutzutage. Es bleibt also immerhin eine schwierige Frage, die erst erwogen werden muß; aber darüber, glaube ich, kann kein Zweifel sein, daß diese Frage für die ost⸗ und westpreußischen Handelsstädte von der höchsten Bedeutung ist, und ich lasse mich hier durch eine Aeußerung, die ich aus dem Bericht im Abgeordnetenhause entnommen habe, nicht irre machen, die dahin ging, Danzig und Königsberg hätten ja genügendes Hinterland.

Eine zweite Frage, die hier berührt worden ist, ist der Bi⸗ metallismus und unsere Vertretung auf der Brüsseler Conferenz. Die letztere ist dahin präcisirt worden: „dessen ungeachtet haben unsere Delegirten die allerfeindlichste Stellung dagegen eingenommen.“ Ich habe mir hier erlaubt, die Instruction für unsere Vertreter vor⸗ zulesen. Wir stehen genau noch auf demselben Standpunkt, auf dem wir früher gestanden haben. Unsere Vertreter haben diesen Stand⸗ punkt durchaus festgehalten, und ich weiß nicht, worauf der Abg. von Kardorff seine Ansicht gründet, daß sie zu der Frage die aller⸗ feindlichste Stellung eingenommen hätten. Ich würde sehr gern bereit sein, wenn es dem Herrn Abg. von Kardorff darum zu thun wäre, sich näher über die Sache zu informiren, ihm eine Zusammenkunft mit denjenigen beiden in Berlin anwesenden Beamten zu vermitteln, die auf der Conferenz gewesen sind, und ich glaube, es würde den Herren nicht schwer werden, ihn vom Gegentheil zu überzeugen.

Ein dritter Gegenstand, der hier zur Sprache gebracht worden ist, sind die Staffeltarife. Die berühren die Einzelstaaten in erster Linie; durch deren Gesetzgebung, durch deren Verwaltungsanordnungen sind sie hervorzurufen, zu unterhalten oder abzuschaffen; aber ich will vom Reichsstandpunkte doch darauf aufmerksam machen, daß, wenn man diesen Einrichtungen jetzt einen so hohen Werth beilegt und ihre Ausdehnung wünscht, auch darüber doch die Ansichten in Deutschland vielfach getheilt sind, und daß ich deutsche Regierungen kenne, die ein sehr lebhaftes Interesse daran haben, daß die Staffeltarife keine weitere Ausdehnung erfahren.

Man hat dann auch den Wunsch nach Wollzöllen kundgegeben

und hat gesagt: Eine Regierung, die das Ganze im Auge habe, könne

auch die Wollzölle nicht aus dem Auge lassen. Man hat das Wünschenswerthe der Einführung solcher Zölle betont. Ich darf mir erlauben, aus einem Erlasse des Fürsten Bismarck vom 25. Dezember 1885 Folgendes vorzulesen:

Was die Einführung eines Schutzzolls für Wolle betrifft, so ist diese Frage sowohl bei der Berathung des Zolltarifgesetzes vom Jahre 1879 als auch bei derjenigen der jüngsten Zolltarifnovelle von den verbündeten Regierungen sorgfältig erwogen worden. Diese Erwägungen haben zu der Ueberzeugung geführt, daß die Auflegung

die Sache nicht einfach liegt und nicht durch ein Votum des Land⸗

pflichtet, auf die Consumenten Rücksicht zu nehmen.

eines Zolls von wirksamer Höhe auf die Einfuhr von Rohwolle die auf Grund der bisherigen Gesetzgebung entstandenen Industrie⸗

zweige in ihrer auf Export basirten Existenz gefährden würde, ohne die Sicherheit zu gewähren, daß diese Schädigung unserer wirth⸗ schaftlichen Interessen durch gleichwerthige Vortheile für die heimische Wollproduction aufgewogen werden würde.

Zum mindesten wird der Schluß hieraus gerechtfertigt sein, daß

wirthschaftsbundes wesentlich gefördert werden würde. Ich habe mir erlauben wollen, das hier mitzutheilen, weil ich voraussetze, daß auch diese Frage dort behandelt werden wird, und weil es mir wünschenswerth erscheint, die Stellung, die die Regierung dazu ein⸗ nehmen würde, von Haus aus nicht im Unklaren zu lassen.

Es hat dann der Herr Abg. Graf von Mirbach geäußert:

Staatsbeamte haben die Aufgabe, sich zu bemühen, Mittel und Wege zu suchen und zu finden, die dazu führen können, eine Nothlage, soweit es überhaupt möglich ist, von uns abzu⸗ wenden.

Ich gebe das zu, das gilt auch für Reichsbeamte, aber es gilt auch noch weiter. Wenn der Herr Abg. Graf von Mirbach „von uns abzuwenden“ sagt, so nehme ich an, daß er damit die Landwirth⸗ schaft meint. Die Beamten der Regierung, und je höher um so mehr, haben die Pflicht, diese Fürforge allen Zweigen des Erwerbslebens (sehr richtig! links) und nicht allein ihr zuzuwenden. Sie sind auch ver⸗ (Sehr richtig! links.) Wir glauben auch, diesen Pflichten bisher genügt zu haben, und wenn nun in der vorgelesenen Aeußerung vielleicht ein indirecter Vorwurf für uns dahin gefunden werden sollte, daß wir eben noch keinen Plan haben, um der Landwirthschaft und deren Erwerbs⸗ zweigen wirksam zu helfen, so möchte ich doch anführen, was ich schon gestern angedeutet habe. Die Sache liegt nicht so einfach, und mit dem Aufstellen von sechs oder neun Punkten, wie man sie jetzt in den Zeitungen liest, ist sehr wenig gewonnen. Das sind unendlich schwierige Fragen, die langsam reifen und gelöst werden müssen. Nur möge man uns⸗ nicht den Vorwurf machen, daß, wenn wir noch kein Auskunftsmittel gefunden haben, wir es daran hätten fehlen lassen, uns bewährten Rathes zu versichern. Als der Herr Minister von Boetticher gestern hier über die Handelsverträge und unsere Vertretung sprach, wurde hier ein Zwischenruf laut: wir hätten die Landwirthschaft vorher nicht gehört. Ja, ich kann das nicht acceptiren. Während wir an⸗ fingen, über diese Dinge zu berathen, tagte der Deutsche Land⸗ wirthschaftsrath, und ich bin wenigstens bisher der Meinung gewesen, daß diese Behörde eine der competentesten zur urtheilung landwirthschaftlicher Verhältnisse wäre. Dieser Land⸗ wirthschaftsrath hat sich mit der Sache beschäftigt und hat in seinem Berichte über 100 Seiten mit den Handelsverträgen gefüllt. Er ist natürlich zu dem Resultat gekommen, da er nur um einer einseitigen Interessenvertretung willen da ist, daß es nicht wünschenswerth wäre, die Handelsverträge einzuführen. Das haben wir auch von anderen Landwirthen gehört; das konnten wir uns auch vorhersagen, daß, wenn wir die Landwirthe fragen würden, sie „Nein“ sagen würden. (Sehr richtig! links.)

Ebenso fest stand aber für uns, daß wir zu diesen Verträgen unmöglich kommen konnten, ohne auf dem Gebiet der landwirth⸗ schaftlichen Zölle eine Concession zu machen. Das ist geschehen.

Ich will also mit dem, was ich zuletzt hier gesagt habe, den Vorwurf von uns abweisen, daß wir taube Ohren für die Landwirth⸗ schaft gehabt hätten. Das ist keineswegs der Fall gewesen. Wir haben ihre Klagen gehört; wir sind aber nach pflichtmäßiger Erwägung dieser Klagen zu der Ueberzeugung gekommen, daß es nichtsdesto⸗ weniger räthlich wäre, die Handelsverträge abzuschließen.

Abg. Graf Hoensbroech (Centr.): Die schweren Fragen, welche hier zur Zeit verhandelt werden, löst man nicht in turbulenten Volksversammlungen, in welche sich sehr leicht unlautere Elemente hineinmischen, welche derartige Agitationen zu ganz anderen Zwecken benutzen würden, als in der Sache liegen. Hier im Reichstag unsere Ansicht auszudrücken, ist unser Recht und unsere Pflich. In der

Frage der Aufhebung des Identitätsnachweises bin ich mit den Con⸗ In dieser Frage haben die

Be⸗

servativen durchaus nicht einverstanden. Conservativen ihre Bundesgenossen nur links, das sollte ihnen doch

zu denken geben. Durch die Aufhebung wird momentan eine Steige⸗ rung des Getreidepreises erreicht werden, aber der Rückschlag wird um so schlimmer sein, weil dann die Schwankungen des Getreidepreises noch erheblicher werden. Die Aufhebung des Identitätsnachweises muß zur Aufhebung der Zölle führen. Bedauerlicherweise hat der Reichskanzler keine entschiedene Stellung zur Frage genom⸗ men. Die Staffeltarife stellen in letzter Consequenz eine Er⸗ mäßigung des Zolles für Rußland dar; sie sind eine Importprämie für das Ausland. Ich habe 1891 selbst für die Staffeltarife mich entschieden, aber nur, weil es sich damals um einen Nothstand handelte. Daß seither der Reichskanzler Preußen nicht veranlaßt hat, die Staffeltarife wiederaufzuheben, macht mich sehr bedenklich. Die Handelsverträge haben wir auch aus höheren Gesichtspunkten veeee8 während die Landwirthschaft im Osten nicht patriotisch genug sein will, die schweren Opfer zu bringen. Gelangen wir zu einem Handelsvertrag mit Rußland, so verstärken wir auch die Gefahr des Panslavismus für Europa. Warum soll bei solchen Verhandlungen immer die arme Landwirthschaft die Zeche bezahlen? Viel besser wäre das Petroleum als Concessionsobject Rußland gegenüber. Die Bemerkung des Reichskanzlers, daß die Kornzölls ein Opfer sind, welches das Land für die Landwirthschaft bringt, führt mich zu der Ansicht, daß die verbündeten Regierungen sich principiell auf manchesterlichen Standpunkt stellen. Billiges Brot macht es nicht allein, wenn man nicht das Geld hat, es auch zu bezahlen. Der Reichskanzler meint, in Deutschland bekomme Jeder sein Recht und das gleiche Maß. Wir im Centrum werden bei anderer Gelegenheit den Reichskanzler und die verbündeten Regierungen an dieses Wort erinnern; aber lassen Sie auch der Landwirthschaft den Schutz, wie Sie ihn der Industrie in so reichem Maße gewähren!

Reichskanzler Graf von Caprivi:

Als ich gestern von dem Opfer, das in den Schutzzöllen liegt, gesprochen habe, habe ich erwähnt, daß ich dieselbe Ansicht schon ein⸗ mal vor einem Jahre ausgesprochen hätte. Ich gehe auf den stenographischen Bericht der Sitzung vom 10. Dezember 1891 zurück. Damals habe ich gesagt ich habe da meine Ansicht vollständiger ausgesprochen als gestern und will es deshalb hier vorlesen —:

... und es ist ja ein schweres Opfer für den Staat, welches in den Getreidezöllen liegt; denn es kommt in Betracht nicht bloß die Verzollung des Getreides, welches eingeführt wird, sondern auch die Steigerung des Getreidepreises im Inlande.

Ich verkenne also die Größe dieses Opfers nicht; aber das Opfer muß gebracht werden, und ich habe zu meiner Freude in einer Broschüre, die mir sonst nicht sympathisch ist, die überschrieben ist: „Ablehnen und Annehmen“ ich glaube, sie entstammt einem agrarischen Consortium zum ersten Male in der Ueberschrift eines Kapitels gelesen: „Opfer, die für die Landwirthschaft zu bringen

erlegen, weil sie sie für unumgänglich hält; aber sie verkennt immerhin nicht, daß es Opfer sind, die das Land bringt.

„Abg. Dr. Barth (dfr.): Der Abg. Graf Mirbach hat mich Feter persönlich angezapft. Er meint, meine Reden seien zu un⸗ edeutend, um sich mit ihnen zu beschäftigen; seine Collegen aber be⸗ schäftigen sich eifrig mit mir. Der Abg. Freiherr von Manteuffel hat mir sogar ein Brennereigut zum Kauf angetragen und muß also doch meinen, daß ich ein von Agrariern perwirthschaftetes Gut wieder auf die Beine bringen kann. Der Abg. Graf Mirbach liest seinen Wählern zuweilen zum Vergnügen meine Reden vor, um unsere Unwissenheit zu zeigen; das ist aber ein Beweis, daß die Leute, seit Jahr und Tag mit der geistigen Kost genährt, die er ihnen zu bieten in der Lage ist, dadurch intellectuell etwas herunter⸗ gekommen sind. Daß der Abg. Wilbrandt ein Gegner der Agrarier, ob⸗ wohl selbst Landwirth, ist, sollte Ihnen beweisen, daß Sie nur den Großgrundbesitz vertreten. Es ist gerade ein Vorzug unserer Partei, Vertreter des kleinen und mittleren Besitzes in erheblicher Anzahl zu besitzen. Die Großgrundbesitzer sind mit ihren Interessen oft auf ganz anderer Seite als die Landwirthe, welche keinen Grundbesitz ererbt haben, sondern als Inspectoren und Verwalter ihr Dasein fristen müssen. Würde der Bodenpreis nicht so hoch getrieben, so würden diese Leute sich auch viel leichter Grundbesitz er⸗ werben, und der Betrieb würde dadurch im allgemeinen viel rationeller werden. Vernünftige Wirthschaft erfordert vorherige gründliche Ueber⸗ legung, ob auch die Mittel ausreichen. Diese nothwendige Calcu⸗ lation stellen die Grundbesitzer eben nicht an und wirthschaften daher häufig bloß unter verdeckter Insolvenz. Beim Kaufmann wird solche Calculation für selbstverständlich gehalten; er wird wegen betrüge⸗ rischen Bankerutts verklagt, wenn er sie nicht anstellt. Das muß auch von den Landwirthen verlangt werden. Kann jemand in der alten Weise nicht mehr fortwirthschaften, so muß er eben seine bis⸗ herige Existenz aufgeben und eine neue begründen. Roscher, der Führer der deutschen Nationalökonomen, hat ausdrücklich die ganze neuere Wirthschaftspolitik eine Kunstpolitik genannt. Er hält es auch für ganz selbstverständlich, daß die Getreidezölle ein Opfer sind, und zwar ein viel größeres als der Gewinn, der der Landwirthschaft zugeführt wird. Es giebt sechs Millionen Familien in Deutschland, welche im Laufe des Jahres eine Tonne Getreide brauchen; es fließt also die ganz horrende Summe von über 200 Millionen Mark in die Tasche derjenigen, die mehr Getreide bauen als verbrauchen; diese 200 Millionen werden erhoben von den Armen und Aermsten der Be⸗ völkerung. Das Argument, daß durch die Kornzölle die consumirende Bevölkerung kaufkräftig erhalten wird, geht über die landesübliche Logik hinaus. 1 1

„Abg. von Kardorff (Rp.) geht auf die Währungsfrage ein. Für die bimetallistischen Bestrebungen seien viel mehr wissenschaftliche Capacitäten ins Feld zu führen, als für die Goldwährung. Daß Soetbeer sich für Doppelwährung ausgesprochen, könnten die Gold⸗ währungsmänner nicht wegleugnen. Auch die Zornesausbrüche des Abg. Dr. Bamberger könnten daran nichts ändern. Für die Berück⸗ sichtigung der Interessen der Landwirthschaft müsse man dem Fürsten Bismarck alle Zeit Verehrung zollen. Der 2 geschlagen. Zuletzt wendet sich Redner gegen die Ausführungen des Staatssecretärs Freiherrn von Marschall bezüglich der günstigen Wir⸗ kungen der Handelsverträge auf die deutsche Industrie. In England dächten sehr verständige Politiker an die Wiedereinführung der Korn⸗ zölle. Schließlich hält Redner seine Behauptung aufrecht, daß die deutschen Delegirten in Brüssel die allerfeindlichste Stellung zu den Bestrebungen der Conferenz eingenommen hätten.

Staatssecretär Freiherr von Maltzahn:

Herr von Kardorff hat von den schweren Vorwürfen, welche er in Bezug auf die Brüsseler Münzconferenz gestern im preußischen Abgeord⸗ netenhause gegen die Reichs⸗Finanzverwaltung gerichtet hat, heute hier nur den einen wiederholt, daß unsere dortigen Delegirten eine feindselige Haltung gegenüber den Bestrebungen auf Hebung des Silberpreises eingenommen hätten. Gestern im Abgeordnetenhause hat er aber, wenn der mir vorliegende Oldenberg'sche Bericht correct ist, außer⸗ dem einen ähnlichen Vorwurf gegen die Instruction erhoben, welche unseren Delegirten von hier aus mitgegeben ist. Ich kann nicht unterlassen, auf diesen Punkt einzugehen, weil ich für diese Instruction, deren Entwurf nach meiner ressortmäßigen Pflicht von mir aufgestellt, dem Herrn Reichskanzler unterbreitet ist, voll und ganz die Verantwortung tragen muß, trage und mit gutem Gewissen tragen zu können glaube.

Diese Instruction, welche wir unseren Vertretern aufgegeben haben und die dem Reichstag ja bekannt ist, trägt allerdings vor allem der Thatsache voll Rechnung, daß die zur Zeit in Deutschland gesetz⸗ lich bestehende und gut functionirende Währung die Goldwährung ist. Die Instruction nimmt aber den Bestrebungen auf Hebung des Silber⸗ preises gegenüber keineswegs eine feindselige Haltung ein. Im Gegen⸗ theil, es findet sich in der Instruction ausdrücklich der Satz, daß wir nicht verkennen, daß die fortwährenden Schwankungen des Silberpreises und sein starkes Sinken auch für Deutschlands wirthschaftliches Interesse fehr unerwünscht sind und eine nachhaltige Verminderung dieser Uebel⸗ stände auch für uns nützlich sein würde. Hieraus folgte, daß unsere Vertreter die Anweisung erhalten mußten, über alle Verhandlungen auf der Brüsseler Münzconferenz, über die Bestrebungen in den anderen Staaten, über die Aussichten der Versuche zur Hebung des Silberpreises sich genau zu informiren und uns darüber zu unter⸗ richten. Sie sind ausdrücklich angewiesen worden, Vorschläge anderer Regierungen in dieser Richtung zur Kenntniß der Kaiser⸗ lichen Regierung zu bringen, damit diese darüber in Erwägungen ein⸗ treten könnte. Nun, meine Herren, haben aber vielleicht unsere Vertreter in Brüssel diese Instruction nicht befolgt? Sind sie etwa wirklich, wie der Herr Abgeordnete sagte, unter allen dort anwesenden 1u“ die feindseligsten gegen die Bestrebung auf Erhöhung des Silberpreises gewesen? Nein, meine Herren, das ist nicht richtig. 1

Der Herr Abgeordnete hat zum Beweise dieser Behauptung hass Dinge heute angeführt. Er sagte, unsere Delegirten hätten sich ig an den Berathungen der Subcommission betheiligt, die dort eng e war; sie hätten ferner nicht, wie die englischen Delegirten, ihrersei Vorschläge formulirt. Das letztere ist richtig; nach ihrer Instructior waren sie dazu nicht einmal befugt. Aber, meine namens der englischen Regierung ist von den englischen girten auch kein Vorschlag formulirt worden; im Gegentheil, 88 züglich der Vorschläge, welche von einem etwr en englischen Vertreter, dem Baron Rothschild, eingebracht Bieen klärte ein anderer englischer Vertreter, daß er sich außer stande sähe, sie seiner Regierung zu empfehlen. 8

8 2 4 3 mn⸗

Von den sämmtlichen Vorschlägen, die auf der Brüsseler . ferenz gemacht worden sind, hat die dort eingesetzte e nreh c der unsere Vertreter zwar nicht theilgenommen haben, über dere vollständig

sind“. Da möchte ich die Herren Agrarier beim Wort nehmen. Die

Verlauf wir aber nichts destoweniger durch ihre Berichte

Regierung ist bereit und will diese Opfer weiter dem Lande auf.

Ich glaube weiter: jeder Schutzzoll ist ein Opfer, das das Land 8 bringen muß (sehr richtig!); ich glaube weiter: jede Steuer ist eine Last, die vom Lande gefordert wird, und ich glaube nicht, daß man aus diesen Behauptungen den Schluß ziehen könnte, die verbündeten Regierungen verfolgten manchesterliche Tendenzen. 8

Wind sei jetzt um⸗

informirt sind, nur über drei Beschluß gefaßt: zwei von diesen Vor⸗ schlägen hat sie abgelehnt, den dritten angenommen, die übrigen sind, glaube ich, nicht zur förmlichen Abstimmung innerhalb der Commission gelangt. Das einzige positive Ergebniß, welches bisher auf der Brüsseler Conferenz erreicht wurde, ist also ein zustimmender Majoritätsbeschluß der Subcommission zu dem

Vorschlag Levy. Unsere Vertreter haben sich ihrer Instruction gemäß

über diesen Vorschlag nicht geäußert, sondern ihn ad referendum genommen und uns vorgelegt.

Wie sind aber die Vertreter der übrigen hauptsächlich in Be⸗ tracht kommenden Regierungen gegenüber diesem Vorschlage der Sub⸗ commission aufgetreten? Im Plenum der Conferenz haben die englischen Vertreter erklärt: die englische Regierung sei nicht in der Lage, ohne geeignete Compensationen den Levy'schen Vorschlägen näher zu treten. Und der französische Vertreter, Herr Tirard, hat die Er⸗ klärung abgegeben, daß die aus den Levy'schen Vorschlägen resultirende Einziehung der 10⸗Franestücke für Frankreich schwer ausführbar sei. Ich glaube, diese Haltung der Vertreter von Frankreich und England gegenüber den in den Levy'schen Vorschlägen verkörperten Bestrebungen auf Hebung des Silberpreises war „feindlicher“ als diejenige der deutschen Delegirten, welche diesen Vorschlag wie die übrigen ihrer Regierung unterbreitet haben.

Nun, meine Herren, ist aber auch das bisherige Verhalten der deutschen Regierung überhaupt den Bestrebungen auf Hebung des Silberpreises in keiner Weise feindlich gewesen. Die Einführung unserer Goldwährung erfolgte zu einer Zeit, wo das alte Verhältniß des Goldes zum Silber von 1:15 ½ noch vorhanden war; beim Be⸗ ginn der bezüglichen Berathungen stand der Silberpreis etwas über 60 pro Unze, während der Verhandlungen fiel er auf 59 ¼, blieb also immer noch über dem Normalpreise für die amerikanische Währung. Daß seitdem der Silberpreis und zwar, wie ich glaube, wesentlich infolge der Productionszunahme über diesen Punkt werden wir uns zweifellos in späteren Reichstags⸗ verhandlungen noch unterhalten gefallen ist bis auf etwa 38, daß also der innere Werth des Thalers im Verhältniß zum Golde jetzt unter 2 beträgt, das ist eine Thatsache, die wir be⸗ klagen, die aber aus deutschen Kräften allein abzustellen wir uns nicht für mächtig genug halten. (Sehr richtig! rechts.) Ich erinnere Sie an die Versuche, die Amerika, welches an dieser Frage wahrlich min⸗ destens ebenso sehr, nach meiner Meinung sehr viel stärker als wir interessirt ist, gemacht hat, auf dem Wege der Gesetzgebung und durch der Gesetzgebung folgende Verwaltungsmaßregeln, um den Silberpreis zu heben. Ich erinnere daran, daß damit zwar eine vorübergehende Steigerung von 44 bis auf etwa 54 erreicht wurde, daß dann aber der Umschwung eintrat und nun ein rnapides Sinken bis zu dem heutigen Preisstand des Silbers, der nach meiner Meinung es für einen einzelnen Staat unmöglich macht, den Versuch einer Aenderung zu unternehmen. (Sehr richtig! rechts.)

Aber daß wir den Versuchen zur Hebung des Silberpreises nicht feindlich gegenüberstehen, das, meine ich, zeigt unser Verhalten in der Münzpolitik seit Einführung der Goldwährung. Noch heute haben wir unserem Thaler den Werth von 3 Mark belassen. Die Silber⸗ verkäufe, denen ja die Herren Bimetallisten einen so starken Einfluß auf die Depretiation des Silbers zuschreiben, sind sistirt seit dem Jahre 1879; und auch in jener Zeit, als der Preis des Silbers vorübergehend höher stand, als zur Zeit der Sistirung der Silberverkäufe, haben wir, obwohl es an Anregung dazu nicht gefehlt hat, die Silberverkäufe nicht wieder aufgenommen. Ebenso, meine Herren, ist unser Umlauf an kleinen Goldmünzen unter 20 verhältnißmäßig ein sehr geringer. Mit der Ausprägung der Zehnmarkstücke sind wir sehr zögernd vorgegangen, auch aus der Er⸗ wägung, dem noch vorhandenen Silber Raum zu lassen. Wir haben allerdings jetzt in neuester Zeit eine neue Ausprägung“von Zehnmark⸗ stücken beschlossen, weil der Verkehr dies dringend forderte, und sie einfach nicht mehr zu haben waren. Aber wir haben recht lange damit gezögert, und auf die weitere Ausprägung von goldenen Fünfmarkstücken, die dem Silberumlauf Concurrenz machen könnten, haben wir seit Jahren verzichtet; die vorhandenen liegen meines Wissens zum größten Theil in den Kellern der Reichsbank.

Meine Herren, ich halte es bei der späten Stunde nicht für an⸗ gebracht, auf die Währungsangelegenheit noch weiter einzugehen. Sollte der Reichstag das wünschen, so werden ja die Herren, die sich heute oder in einer späteren Sitzung noch äußern werden, die Frage wieder aufnehmen, und ich bin dann gern bereit, die Frage auch beim Etat des Reichsamts des Innern zu discutiren, obwohl ich eigentlich der Meinung war, daß sie bei meinem Etat discutirt werden würde. 1 Ich schließe für heute nur mit einer kurzen Antwort auf die letzten Ausführungen des verehrten Herrn von Kardorff im preußischen Landtage. Herr von Kardorff hat dort gesagt, er wünsche, daß die preußische Regierung sich seine Ausführungen zu Herzen nähme und nicht mehr auf dem rein manchesterlichen Standpunkt stehen bliebe, der zu seinem Bedauern in dem Reichs⸗Schatzamt immer noch herrsche. Ich bedaure, wenn der Standpunkt, den ich in der Währungsfrage einnehme, von dem Herrn Abg. von Kardorff als ein rein manchesterlicher dargestellt wird. Ich glaube, diese Bezeich⸗ nung trifft nicht zu. Aber das kann ich versichern, mag die Beurtheilung des Verhaltens des Reichs⸗Schatzamts hier oder im preußischen Landtage ausfallen wie sie wolle, sie wird uns nicht irre machen daran, unserer Pflicht gemäß nach bestem Wissen und Gewissen so zu handeln, wie wir es für nothwendig halten zur Aufrechterhaltung der Währung des Landes, welche die Grundlage aller wirthschaftlichen Verhältnisse bildet, und soweit es damit vereinbar ist, zur Unter⸗ stützung der Bestrebungen, welche auf die Einschränkung derjenigen Mißstände gerichtet sind, welche im Laufe des Zeitraums, der seit der Einführung der Goldwährung verstrichen ist, hervorgetreten sind.

Abg. Dr. Buhl (nl.): Auf die gestrigen Ausführungen des Staatssecretärs erwidere ich, daß wir im vorigen Jahre eine schlechte Weinernte gehabt haben und jetzt eine gute Weinernte haben, und daß trotzdem der Preis etwas niedriger ist, als im vorigen Jahre.

8 Abg, von Schalscha (Centr.): Der Reichstanzler versichert die andwirthschaft immer seiner Liebe, aber noch niemals hat er diese Liebe praktisch bethätigt. Ich wünschte, er hätte weniger Wohlwollen auf 1 Zunge und mehr Wohlwollen in der That für uns. Mit welchem Recht legt uns der Abg. Dr. Bamberger das Wort in den Mund: „Der Staat, das sind wir“? Wir sind der Meinung, daß die Lebens⸗ bedingungen allen in gleichem Maße zugewiesen werden sollen. Es geht eine gesunde Agitation durch das Land. Redner legt hierauf seinen Standpunkt in der Währungsfrage dar. Er habe zahlreiche Zuschriften

aus Ost und West, welche darthun, daß Handelsverträge nicht so othwendig seien als eine Regelung der Valuta. Ein .

über die Productionspreise zu informiren. Er bitte die Regierun mitzutheilen, was der Commissar erfahren habe. Dann werde si auch herausstellen, warum der Eisenzoll nach Oesterreich doppelt so hoch sei, wie der Zoll aus Oesterreich. Er sei auch der Meinung, daß man in der Auswahl der Commissare bei den Handelsverträgen nicht vorsichtig genug sei.

Staatssecretär Freiherr von Maltzahn:

Es liegt mir fern, den Herren Reichstags⸗Abgeordneten die Be⸗ fugniß zu bestreiten, die von den verbündeten Regierungen abgeschlossenen Handelsverträge auch dann noch zu kritisiren, wenn sie die Billigung des Reichstags gefunden haben und dadurch Gesetz geworden sind. Ich muß aber doch dagegen ausdrücklich Protest erheben, wenn der Herr Vorredner diese seine Kritik in der Art geführt hat, daß er einzelne Beamte, welche bei dem Abschluß der Han⸗ delsverträge betheiligt gewesen sind, persönlich angegriffen hat. Meine Herren, die Beamten, welche über diese Verträge verhandelt haben, haben eine genaue Instruction mitbekommen, und sie haben dieser Instruction gemäß gehandelt und verhandelt. Das Ergebniß ihrer Verhandlungen hat den verbündeten Regierungen vorgelegen, die verbündeten Regierungen ihrerseits haben den Abschluß ins Werk gesetzt und dann sind sie damit an den Reichstag gekommen, und der Reichstag in seiner Majorität hat dem Vorgehen der ver⸗ bündeten Regierungen zugestimmt. Nun ist hier ein Angriff gegen eine einzelne Person gerichtet worden, gegen einen „preußischen Com⸗ missarius“, der auf einem österreichischen Werke gewesen wäre, und ich habe aus den Ausführungen entnehmen müssen, daß damit ein bei dem Handelsvertrag betheiligter Beamter gemeint war, und daß diesem Beamten eine Pflichtwidrigkeit vorgeworfen werden sollte. Ist das der Fall, so wäre es Pflicht des Herrn Abge⸗ ordneten, wenn er von einer solchen Thatsache Kenntniß hat, sie zur Kenntniß der gehörigen Stelle, d. h. der Vorgesetzten des Beamten zu bringen. Wenn er die Sache aber von der Tribüne hier erörtert und diese Erörterung ohne nähere Begründung giebt, wie hier ge⸗ schehen ist, so ist es meine Pflicht, die Beamten, welche bei den Handelsverträgen thätig gewesen sind, gegen derartige Angriffe, soviel es an mir liegt, zu schützen und mit meiner Autorität und derjenigen des Herrn Reichskanzlers zu decken. Richten Sie die Angriffe gegen den Herrn Reichskanzler oder gegen uns, die berufenen Stellvertreter des Reichskanzlers, aber nicht gegen andere Beamte, für die wir ein⸗ treten müssen und eintreten werden, wo und wie wir immer dazu Veranlassung erhalten, wie es eben der Fall war.

Abg. von Schalscha constatirt, daß er keinem Beamte b eine Pflichtwidrigkeit vorwerfen wollen. 3 h, 3 Hierauf wird um 5 ¾ Uhr die weitere Berathung auf Freitag 1 Uhr vertagt.

111““

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 32. Sitzung vom 16. Februar.

Das Haus setzt die Berathung der Petition des landwirthschaftlichen Centralvereins der Provinz Sachsen zu dem Abschluß eines Handelsvertrages zwischen Deutschland und Rußland und der dazu gestellten AUntrage der Abgg. von Dziembowski (freicons.), von Eynern (nl.), Seer (nl.), Broemel (dfr.) und Rickert (dfr.) fort.

Ueber den Beginn der Sitzung ist bereits in der Nummer vom Donnerstag berichtet worden. Wir tragen hier nur die Rede des Ministers für Handel und Gewerbe Freiherrn von Berlep sch im Wortlaut nach. Auf die Beschwerde des Abg. Böttinger, daß bei dem Abschluß der Handelsverträge die einzelnen In⸗ dustriezweige und deren Sachverständige nicht gehört worden und daher die Commissarien der Reichsregierung nicht ge⸗ nügend orientirt gewesen seien, entgegnete der Minister:

Meine Herren! Die Ausführungen des Herrn Vorredners haben in mir die traurige Ueberzeugung erweckt, daß es mir niemals gelingen wird, ihn davon zu überzeugen, daß die Anhörung der Industriellen über die Handelsverträge in ausreichendem Maße stattgefunden hat. Ich muß deshalb die ausdrückliche Bitte an ihn richten, sich zu mir auf mein Bureau zu bemühen und dort aus dem vorliegenden Material selbst die Ueberzeugung zu schöpfen, ob die Information des Handels⸗Ministeriums über die vorliegende Frage als ausreichend an⸗ zusehen ist. Er wird allerdings dort ein Material finden, welches ihn etwa acht Tage eingehend beschäftigen wird. Ich hoffe, er wird die Mühe nicht scheuen, damit er die Ueberzeugung

gewinnt, daß wir doch nicht so ganz ohne Information in die Handelsvertragsverhandlungen eingegangen snd.

Ich kann ihn deshalb nicht davon überzeugen, daß genügende An⸗ hörungen stattgefunden haben, weil er, wie mir scheint, sich das Anhören erheblich anders vorstellt, wie ich. Er scheint der Meinung zu sein, daß, um informirt zu sein, man Interessenten für jede ein⸗ zelne Tarifposition mündlich hören muß. Das ist unausführbar. Daher kommt es auch, daß die Regierung die Handelskammer von Elberfeld gebeten hat, ihr nur einen Sachverständigen zum Anhören zu nennen auf dem Gebiet, auf dem sie ganz besonders ausgezeichnet ist, nämlich auf dem Gebiet der Textilindustrie; andere Handels⸗ kammern, die andere Industriezweige ganz besonders vertreten, gebeten hat, für diese Zweige Sachverständige vorzuschlagen. Wollte ich jede Handelskammer für alle Industriezweige, die sie vertritt, um einen Sachverständigen bitten, wir kriegten ein kleines Parlament in Berlin zusammen. Das würde eine Menge Zeit und Kosten verur⸗ sachen und schließlich nicht zu einem Resultat führen.

Dann hat der Herr Vorredner verlangt, daß während der Ver⸗ handlungen die Industrie in reicherem Maße gehört werde, als es geschehen ist. Er hat behauptet, sie sei während der Verhandlungen garnicht mehr zum Worte gekommen. Diese Behauptung ist nicht zutreffend. Während der Verhandlungen haben die Commissarien insbesondere kann ich das von meinem Commissar behaupten in unausgesetzter Correspondenz mit den Industriellen über während der Verhandlungen auftauchende Fragen gestanden. Daher auch der Brief, von dem der Herr Abg. Schmieding vorher sprach. Ich muß ihn nux dahin berichtigen, daß meines Wissens die in dem Briefe gestellte Frage nicht dahin lautete, was sind die Wünsche der Eisenindustrie, sondern es handelte sich darum, Nachträge zu bereits vorliegenden Wünschen der Eisenindustrie anzugeben. Unsere großen Industrieen warten nicht ab, bis sie gefragt werden, wenn sie wissen, daß Handelsverträge geplant werden. Das wäre wirklich sehr schlimm, das wäre eine mangelnde Interessenvertretung, wenn das so wäre.

Sowie das Gerücht eines Handelsvertrags auch nur von weiten auf⸗

der Regierung sei nach dem Eisenwerk Wittkowitz gereist, um sich

taucht, so bin ich ganz sicher, einen dicken Bericht von jeder Handels⸗ kammer und von jedem industriellen Verein zu bekommen. Ich lade den Herrn Vorredner ein, auch diese Berichte auf meinem Bureau einzusehen. Meine Herren, es ist wirklich nicht ausführbar, während der Verhandlungen die Sachverständigen aller Industrie⸗ zweige zu hören. Soll denn die ganze Industrie sich auf die Eisenbahn setzen und nach Wien fahren, um dort zu sein, wenn man sie befragen will? Das sind wirklich ganz unausführbare Dinge. Auch mit einer begrenzten Auswahl von Sachverständigen ist nichts gewonnen. Die Betreffenden würden immer nur als Sachverständige für eine Branche gelten können, es würde sofort jeder andere Industrie⸗ zweig verlangen, daß auch sein Sachverständiger zugezogen wird. Wir hätten dann neben den sechs Reichscommissarien, die von der Regie⸗ rung hingeschickt werden, ungefähr zweihundert Nebencommissarien, die ihre schöne Zeit in Wien verzeihen Sie den Ausdruck ver⸗ trödelten. Die Kenntnisse, die man über einzelne Punkte noch nach⸗ träglich einholen muß, kann man doch zweifellos auch auf andere Weise wie auf mündlichem Wege erlangen. Ganz unverständlich ist es mir aber gewesen, wenn der Herr Vorredner aus der Geheimhaltung der Verhandlungen ein Mißtrauen gegen die Industrie herleitet. Das Mißtrauen liegt doch nicht gegen die Industrie vor, wenn man sich über ihre Interessen mit ihr unterhält, sondern gegen die andere Partei, mit der man unterhandelt; die will man nicht in seine Karten gucken lassen, und aus diesem Grunde erzählt man nicht aller Welt, welche Wünsche die einzelne Industrie hat. Das könnte von bedenk⸗ licher Bedeutung werden, wenn unser Partner auf das eingehendste über die Lage und Wünsche unserer Industrie unterrichtet ist; das würde er nach Kräften zu seinen Gunsten verwerthen. Also das Ver⸗ langen zu stellen, daß alles vor der Oeffentlichkeit verhandelt wird, halte ich nicht für berechtigt; ich bin im Gegehtheil der Meinung. daß die Regierung verpflichtet ist, die Verhandlungen mit den betreffen⸗ den Industriellen secret zu führen, und sie nicht in die Presse und sonst in die Oeffentlichkeit zu bringen. Ich glaube, daß ich mich mit dieser meiner Auffassung auch in Uebereinstimmung mit den In⸗ dustriellen im wesentlichen befinde.

Nun hat der Herr Vorredner noch erwähnt, die Commissarien des Handels⸗Ministeriums oder der Reichsregierung seien nicht unter⸗ richtet gewesen über Verhandlungen, die früher mit den Industriellen stattgefunden hätten. (Zuruf des Abg. Böttinger.) Er nannte die Spiritus⸗ und die chemische Industrie. Ja, meine Herren, ich glaube mich nicht zu täuschen, daß der Commissar des Handels⸗ Ministers derjenige gewesen ist, der früher die Verhand⸗ lungen mit den betreffenden Industriezweigen geführt hat; also muß er sie doch wohl gekannt haben. Selbst aber, wenn ich mich hierin irrte, so unterliegt es doch nicht dem geringsten Zweifel, daß die Verhandlungen sich unter seinem Material, welches er zur Stelle hat, wenn er in die Vertragsverhandlungen eintritt, be⸗ finden. Ich lade den Herrn Vorredner nochmals ein, an Ort und Stelle einzusehen, ob er die Verhandlungen über die Spiritusindustrie unter dem betreffenden Material in unseren Acten nicht findet. Meine Herren, ich glaube, daß der geehrte Herr Abgeordnete seine Meinung darauf gründet, daß die bezüglichen Wünsche in den Handelsverträgen nicht erfüllt worden sind, und hier komme ich auf einen Punkt, der überhaupt, meiner Auffassung nach, der springende ist bei der Beur⸗ theilung der Frage des Anhörens. Weil die Interessenten die Erfüllung ihrer Wünsche nicht in den Handelsverträgen finden, glauben sie, daß die Commissarien nicht über ihre Wünsche orientirt gewesen sind So liegt es nicht, die Orientirung ist da; daß nicht alle Wünsche erfüllt werden, liegt daran, daß man in den Ver⸗ tragsverhandlungen auf dem Wege des Verlangens und Anbietens nicht alles erreichen kann. Meine Herren, der Weg, den sich der Herr Abgeordnete bezüglich der Anhörung von Sachverständigen denkt, ist meines Erachtens nicht ausführbar; dafür giebt es nur zwei gangbare Wege, entweder den, den wir bisher eingeschlagen haben, nämlich einzelne Sachverständige als Vertreter einzelner Industriezweige münd⸗ lich zu hören, nachdem vorher das schriftliche Material versammelt und vervollständigt ist. Ich bin der Ueberzeugung, daß dieser Weg ausreichend zum Ziele führt,“ aber ich muß allerdings sagen, in der öffentlichen Meinung hat er nicht beruhigt, denn natur⸗ gemäß dringen seine Schritte nicht in die Oeffentlichkeit. Also es liegt für die Regierung der Mangel in diesem Verfahren, daß die Industrie nicht genügend darüber orientirt wird, daß die einzelnen Branchen gehört worden sind. Oder es ließe sich ein zweiter Weg einschlagen, nämlich so, daß die großen wirthschaftlichen Vereine eine Art von Zollbeirath errichteten, daß sie aus ihrer Vertretung ein Gremium wählten, und dieses Gremium gewissermaßen als einen Ausschuß beauftragten, bei Zollverhandlungen als begutachtendes Organ der Regierung zur Verfügung zu stehen. Ein solches Organ würde für die letztere nach meiner Auffassung den Werth haben, daß ihr eine ganze Menge von Vorwürfen wegen Nichtgehörtseins erspart werden würde; ob dieser Weg aber ebenso zweckmäßig ist, wie der erste, das ist mir doch sehr zweifelhaft; denn naturgemäß kann ein solches Gremium nur aus einer beschränkten Zahl von Personen bestehen, aus fünfzehn, höchstens zwanzig, und diese zwanzig Personen können unmäglich aus⸗ reichend sachverständig sein für die sämmtlichen in Frage stehenden Zweige unserer Industrie. Der Herr Abg. Böttinger hat bereits darauf aufmerksam gemacht, daß die chemische Industrie allein 200 verschiedenartige Darstellungsarten hat, und wenn ich auch annehme, daß trotzdem für die Industrie wenige Sachverständige genügen würden, so sind doch örtliche und sachliche Verschiedenheiten der Industrie zu groß, als daß eine kleine Personenzahl zu sachverständiger Auskunft genügen könnte.

Ich will bemerken, daß in der zuletzt angedeuteten Richtung augenblicklich eine Anregung in allen Kreisen der Industrie sich voll⸗ zieht; eine süddeutsche Handelskammer hat einen Antrag an andere Handelskammern gerichtet, man solle einen Zollbeirath errichten. So viel mir bekannt geworden ist, hat aber unser größter deutscher industrieller Verein in seinem Ausschuß beschlossen, sich dazu ablehnend zu verhalten. Er zieht es vor, daß in jedem einzelnen Falle Sach⸗ verständige über die vorliegenden Fragen gehört werden.

. Meine Herren, ich will mich selbst heute nicht entscheiden. Es wird mir wohl noch Gelegenheit gegeben werden, mit den Industriellen mich über die angeregte Frage zu unterhalten.

Im weiteren Verlaufe der Debatte nimmt dann nach dem

Abg. Dr. Ritter, dessen Rede bereits gestern mitgetheilt worden

ist, das Wort Abg. von Eynern (nl.): Ich habe mit meinem Aenderunas⸗ antrage nicht beabsichtigt, dem Börsenhandel einen besonderen nsn

zu verschaffen. Auf die schwebenden Verhandlungen braucht man nicht