1893 / 44 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 20 Feb 1893 18:00:01 GMT) scan diff

Reichsregierung ist auch ge⸗ setzlich gar nicht in der Lage, solche generellen Bestimmungen zu erlassen. § 129 des Gesetzes verweist rücksichtlich der Vermögensverwaltung auf § 76 des Unfallversicherungsgesetzes, und dieser Paragraph schreibt wiederum vor, daß verfügbare Gelder nur in öffentlichen Sparkassen oder wie Gelder bevormundeter Personen angelegt werden dürfen. Dabei enthält aber § 129 des Invaliditäts⸗ gesetzes die weitere Vorschrift, daß auf Antrag einer Versicherungs⸗ gesellschaft der communale Verband, beziehungsweise die Central⸗ behörde des Bundesstaats, für welchen die Versicherungs⸗ anstalt errichtet ist, widerruflich gestatten darf, einen Theil des Anstaltsvermögens in anderen zinstragenden Papieren oder in Grundstücken anzulegen, und daß bei gemeinschaft⸗ lichen Versicherungsanstalten, falls eine Verständigung nicht erzielt wird, die Landes⸗Centralbehörde oder, sofern mehrere Centralbehörden betheiligt sind, der Bundesrath zu entscheiden hat. Bisher sind beim Bundesrath Anträge auf Genehmigung der Verwendung von Geldern der Versicherungsanstalten zu anderen als den generell vom Gesetz be⸗ zeichneten Zwecken nicht eingegangen. Der Bundesrath ist also gar nicht in der Lage gewesen, Bestimmungen zu treffen, und die Reichs⸗ regierung würde sich gegenüber der Fassung des Gesetzes nicht für be⸗ rechtigt ansehen dürfen, in die Selbstverwaltung der Versicherungs⸗ anstalten auf diesem Gebiete einzugreifen.

Ueber die Verwendung, welche der Herr Abg. Bebel besonders verwerflich findet, würde ich mich darnach jeder weiteren Bemerkung enthalten können; aber ich fühle mich doch veranlaßt, darauf hinzu⸗ weisen, daß bei Berathung des § 129 ausdrücklich auf die Nützlichkeit der Verwendung der Bestände der Versicherungsanstalten zur Erleichte⸗ rung des Baues von Arbeiterwohnungen hingewiesen ist, und daß in diesem Sinne die Vorschrift des § 129, welche ich zuletzt erwähnt habe, im Plenum des Reichstags Beifall gefunden hat. Ich will ja anerkennen, daß vom socialdemokratischen Standpunkte aus es durch⸗ aus unerwünscht (Zwischenruf bei den Socialdemokraten) ich werde nachher auf den anderen Standpunkt kommen, zunächst rede ich vom socialdemokratischen Standpunkt. Also ich erkenne an, daß es vom socialdemokratischen Standpunkte aus durchaus unerwünscht ist, wenn der Arbeiter dadurch, daß der Unter⸗ nehmer ihm Wohnung gewährt, in ein gewisses erweitertes Ab⸗ hängigkeitsverhältniß zum Unternehmer gesetzt wird, als dies schon durch die Thatsache geschehen ist, daß er beim Unternehmen Arbeit ge⸗ nommen hat. Indessen ist es ja gar nicht nöthig, daß die Ver⸗ sicherungsanstalten ausschließlich ihre Gelder an Privatunternehmer zu dem Zwecke geben, damit diese für ihre eigenen Arbeiter Wohnungen errichten. Es wird die Regel sein, wenigstens sind mir ausschließlich solche Fälle bekannt geworden, daß gemeinnützige Vereine, Corpora⸗ tionen und solche Unternehmer, die nicht ihre eigenen Arbeiter sondern fremde unterzubringen wünschen, die in wohlthätiger oder gemeinnütziger Gesinnung die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter im allgemeinen zu bessern sich bemühen, mit Anträgen an die Ver⸗ sicherungsanstalten herantreten. Solchen Unternehmungen gegenüber paßt die Argumentation des Herrn Abg. Bebel, wie mir zugegeben werden wird, nicht.

Wenn nun der Herr Vorredner weiter auf die Frage der Aus⸗ dehnung der Versicherungspflicht auf die Hausindustrie gekommen ist, so hat er mit der Anführung recht, daß bisher der Bundesrath allein die Arbeiter der Taback⸗Hausindustrie in die Versicherungspflicht ein⸗ bezogen hat. Es liegt in der Absicht, auf diesem Gebiet weiter zu gehen, und es sind bereits Ermittelungen darüber angestellt, wie die Versicherungspflicht in ihrer Anwendung auf die Hauswebereien zu gestalten sein möchte. Wenn bisher auf diesem Gebiete noch nichts Entscheidendes geschehen ist, so wollen Sie das einmal damit entschuldigen, daß das Gesetz überhaupt erst zwei Jahre in Kraft sich befindet, und zweitens damit, daß es unser Wunsch war, in vorsichtiger Weise noch einmal zunächst die Wirkung der Vorschriften, welche bezüglich der Tabackarbeiter erlassen worden sind, abzuwarten, um die Erfahrungen, die dabei gesammelt sind, auch für die Aus⸗ dehnung der Versicherungspflicht auf die übrigen Zweige der Haus⸗ industrie nutzbar zu machen.

Der Herr Vorredner hat weiter diejenigen Arbeiter in den besonderen Kreis seiner Betrachtung gezogen, welche als soge⸗ nannte Saisonarbeiter nur einen Theil des Jahres beschäftigt sind, und deshalb sich nicht in der Lage befinden, eine Beschäftigung für das ganze Jahr nachweisen zu können, so befindet er sich im Irrthum, ewenn er annimmt, daß diesen Arbeitern die Zeit, während deren sie in einem Jahre in Arbeit gestanden, bei der Bemessung der Rente verloren geht. Das Gesetz schreibt vor, daß die Quittungskarte auf vier Jahre gilt. Der Arbeiter ist also in der Lage, die Arbeit des nächsten Jahres mit der nicht ein volles Jahr durchgeführten Arbeit des vorangegangenen Jahres zusammen in Rechnung zu stellen.

Dem Wunsch, daß die Verwaltungsbehörden geneigt sein möchten, die Arbeiter über ihre Rechte und ihre Stellung innerhalb der Alters⸗ und Invaliditätsversicherung mit den nöthigen Belehrungen zu ver⸗ sehen, kann ich nur durchaus beistimmen.

Wenn endlich der Herr Vorredner eine gesetzliche Strafe beantragt hat für diejenigen Unternehmer, welche Alters⸗ oder Invalidenrentnern von ihrem Lohne um deswillen Abzüge machen, weil sie nun eine Inva⸗ liden⸗ oder Altersrente beziehen, so wird dies, wie ich glaube, kaum ausführbar sein. Der Herr Vorredner hat gesagt, es seien solche Fälle vorgekommen. Er hat auf eine mir unbekannte Petition Bezug ge⸗ nommen, welche einer Commission dieses Hauses vorliegen und sich darüber beschweren soll, daß auch in der Marineverwaltung solchen Arbeitern, welche eine Alters⸗ oder Invalidenrente empfangen, Lohnabzüge gemacht werden. Ja, meine Herren, das kann ich ja nicht bestreiten, daß solche Beschuldigungen gegen die Unternehmer vor⸗ gebracht werden; aber die Begründung dieser Beschuldigung scheint mir denn doch einigermaßen problematisch, und ich würde jedenfalls bis zum Beweis des Gegentheils annehmen, daß die Beschuldigung nicht gerechtfertigt ist. Wenn Abzüge gemacht werden, so wird das einfach damit zusammenhängen, daß der Mann, um den es sich dabei handelt, infolge Alters oder eingetretener Invalidität nicht mehr so viel verdienen kann, wie in früheren Tagen. Aber in Verbindung mit der Alters⸗ und Invaliditätsrente steht der Abzug gewiß nicht. In unzähligen Fällen liegt die Sache vielmehr anders, und zwar so, daß im Interesse der Arbeiter auch der alte und nicht mehr voll⸗ ständig arbeitsfähige Arbeiter durchgeschleppt wird, und daß einem solchen Manne, dann aber natürlich gegen ermäßigte Lohnabzüge, das Weiterarbeiten auch dann noch gestattet wird, wenn er bereits von der Versicherungsanstalt als Alters⸗ oder Invaliditätsrentner an⸗

nicht ergangen, und die

erkannt ist. Also ich glaube kaum, daß wir es nöthig haben, auf diesem Gebiete etwas zu thun, abgesehen davon, daß es that⸗ sächlich außerordentlich schwer sein würde, zwischen der Rente und der Lohnminderung einen Causalnexus zu construiren.

Abg. Wisser (b. k. F.) spricht sich für eine Ausdehnung des Kreises ber Personen aus, welche sich freiwillig der Versicherung anschließen können.

Abg. Graf Behr (Rp.) tritt, wie schon bei einer früheren Gelegenheit, für die segensreiche Wirkung des Gesetzes namentlich in den ländlichen Bezirken Neuvorpommerns ein.

Abg. Dr. Barth (dfr.): Die Agitation in Bayern für die Aufhebung des Gesetzes ist eine Agitation von höchster Loyalität, und es ist kaum berechtigt, über die Petenten in der von dem Staats⸗ secretär beliebten Weise hinwegzugehen. Wenn das Gesetz populär wäre, würde doch die Aufsehen heinung nicht ea ees sein, daß der ehemalige Reichskanzler Fürst Bismarck sich vollständig von allen Einzelheiten dieses Gesetzes öffentlich losgesagt hat. Es bleibt dabei, das Gesetz hat höchst bedenkliche Mängel und ist höchst un⸗ populär; es muß Alles versucht werden, es wenigstens erträglich zu gestalten. Das beste wäre immer noch die Aufhebung, die sich aller⸗ dings ohne Rechtsbruch vollziehen lassen könnte. Wenn man sämmt⸗ liche bereits entstandenen Entschädigungs⸗ und Rechtsansprüche berück⸗ sichtigte, ließe sich dieser große Stein des Anstoßes allerdings aus der Welt schaffen. Die einzelnen Anführungen des Abg. Bebel bezüglich der eingetretenen Lohnabzüge bei Altersrentnern zeigen zur Genüge, was alles aus dieser Zen ng verf erung sich noch entwickeln „kann. Die Annahme einer Zahl von 67 000 Invalidenrentenempfängern ist auf Voraussetzungen gegründet, für welche wir die Unterlagen, die der Reichsverwaltung vorliegen, nicht besitzen; ich bitte nochmals, uns mitzutheilen, ob diese Unterlagen diese Schätzung bestätigen.

Staatssecretär Dr. von Boetticher:

In den Erläuterungen zu diesem Etatstitel ist, wie der Herr Abg. Dr. Barth ganz richtig ausgeführt hat, die Zahl der am 1. Januar 1893 voraussichtlich vorhandenen Empfänger von Invaliden⸗ renten auf 67 158 geschätzt. Soviel sind am 31. Januar 1893 that⸗ sächlich nicht vorhanden gewesen, sondern es hat sich nur eine Zahl von 17 500 ergeben. Um so mehr ist die Annahme berechtigt, daß in den Voranschlägen, die bei Aufstellung des Gesetzentwurfs gemacht worden sind, die finanzielle Belastung des Reichs nicht zu niedrig ge⸗ schätzt sein wird; diese Annahme wird auch dann noch zutreffen, wenn in der kurzen Zeit der Geltung des Gesetzes eine Invalidenrente noch nicht für alle Personen, welche zum Empfang einer solchen berechtigt sein würden, bewilligt sein sollte.

Im übrigen möchte ich mir zu den Ausführungen des Herrn Vorredners über die Nürnberger Petition noch folgende Bemerkung erlauben. Die Loyalität der Petition bezweifle ich in keiner Weise; ich bin auch fest davon überzeugt, daß diejenigen Personen, welche sich bemüht haben, Unterschriften für die Petitionen zu sammeln, durchaus davon durchdrungen gewesen sind, daß das Invaliditäts⸗ und Altersversicherungsgesetz nicht den Interessen der Bevölkerung entspricht, und daß man nichts Besseres thun könne, als es abzuschaffen. Allein die große Zahl der Unterschriften, die sich jetzt unter der Petition befindet, kann naturgemäß nur im Wege einer er⸗ heblichen Agitation gesammelt sein das hat der Herr Vorredner ja auch zugegeben —, und unter den Petenten, von denen ich an⸗ nehmen will, daß alle die Petition gelesen haben werden, wird doch wohl eine größere Zahl gewesen sein, die sich nicht darüber klar geworden ist, daß es etwas Unmögliches verlangen heißt, wenn man die Aufhebung dieses Gesetzes begehrt.

Wenn der Herr Vorredner sich anheischig macht, in den übrigen Theilen des Reichs mit größter Leichtigkeit in kurzer Zeit zwei Millionen Stimmen für die gleiche Sache zu sammeln, so glaube ich ihm das aufs Wort, und zwar um so mehr, als es sich bei dieser Petition lediglich darum handelt, eine Last, die das Gesetz gewissen Theilen der Bevölkerung auferlegt, los zu werden. Wenn ich heute eine Pe⸗ tition in Umlauf setzen wollte, die dahin geht, die Regierung zu er⸗ suchen, keine Steuern mehr zu erheben (Heiterkeit und Zurufe), so bin ich fest überzeugt, ich bekäme noch einen weit größeren Theil der Bevölkerung dafür, und die Zahl derjenigen Personen, welche sich von vornherein vergegenwärtigen, daß der Staat ohne Steuern nicht leben könne, würde sich vielleicht in der Minderheit befinden (Wider⸗ spruch links), sobald nur die Agitation in geschickter Weise in Scene gesetzt wird.

Der Herr Vorredner ist der Meinung gewesen, es sei kein Rechtsbruch, das Invaliditäs⸗ und Altersversicherungsgesetz aufzuheben. Nun, meine Herren, gewiß ist der Gesetzgeber formell dazu in der Lage, und wenn der Gesetzgeber beschlossen haben sollte, das Gesetz aufzuheben, so kann man das zwar vielleicht sehr unangenehm empfinden; aber man wäre nicht gerade befugt, über Rechtsbruch zu klagen, weil eben formelles Recht geschaffen ist. Allein, meine Herren, anders liegt doch die Sache, wenn die Frage nach ihrer materiellen Seite erwogen wird, nämlich die Frage, ob es zulässig ist, eine gesetzgeberische

Maßregel, die das Wohl weiter Kreise der Bevölkerung bezweckt

und durch die man diesen Kreisen der Bevölkerung einen Rechts⸗ anspruch für spätere Bedarfsfälle zugesichert hat, zurückzunehmen. Ohne eine Entschädigung wird es keinesfalls abgehen, und wenn der Herr Vorredner die Güte haben will, sich klar zu machen, wie diese Entschädigung etwa aussehen müßte, dann, glaube ich, würde er zu einer Belastung des Reichs kommen, die über diejenige, wie sie jetzt durch das Gesetz vorgesehen ist, weit hinausgehen würde.

Im übrigen glaube ich wirklich, meine Herren: wir können ja unsere Ansichten über den Werth oder Unwerth des Alters⸗ und In⸗ validitätsgesetzes austauschen, aber einen effectiven Nutzen wird das so lange nicht haben, bis wir nicht gründlichere Erfahrungen über die Wirksamkeit dieses Gesetzes gesammelt haben. Wenn der Herr Vorredner meint, es sei in jedem Fall nützlich, daß das Volk bei Zeiten erfährt, was ihm bevorsteht, so kann dieser Nutzen doch nur dann eintreten, wenn es sich um Folgen handelt, welche schon jetzt von vornherein zu übersehen sind. Bis jetzt aber beurtheilen wir das Invaliditäts⸗ und Altersversicherungsgesetz nach unserem subjectiven Empfinden; das Zahlenmaterial, das uns zur Seite steht, ist außer⸗ ordentlich dürftig. Wenn wir aber erst drei, vier, fünf Jahre weiter sein werden, dann werden der Herr Abg. Dr. Barth und ich, beide klarer darüber fehen, was das Gesetz werth ist, und dann wird vielleicht der Herr Abg. Dr. Barth zu der Ueberzeugung gelangen, daß er heute eine Prophezeiung ausgesprochen hat, die durch die Thatsachen nicht bestätigt worden ist.

Abg. Freiherr von Pfetten (Centr.);J Wenn man wirklich dazu schritte, das Gesetz aufzuheben, die geleisteten Zahlungen zurück⸗ zupergüten und die Entschädigungsansprüche abzuloͤsen, dann würde sich zeigen, daß das Gesetz doch viel mehr Freunde in der Bepölke⸗

rung besitzt, als es den Anschein hat. So lange die Gegner des Gesetzes nicht mit positiven Anträgen kommen, sondern bloß ihre

Geneigtheit erklären, einer Aufhebung des Gesetzes zuzustimmen, ist

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ihre Art der Discussion nur geeignet, die praktische Handhabun

e. draußen im Lande sowohl für die Arbeitgeber wie fün 8 Arbeitnehmer zu erschweren. Redner setzt ausführlich auseinander wie das Gesetz im Gegensatz zum manchesterlichen Princip des laisser aller die Solidarität aller Interessen glücklich zum Ausdruck zu bringen gewußt habe; wie das Gesetz das Zusammenwirken aller Factoren bedinge, um den Arbeiter gegen die Folgen der Arbeits⸗ unfähigkeit zu schützen. Von diesem Standpunkt aus verwirft er die in seinem engeren Vaterlande aufgetretene Agitation, die auf Beseitigung einer so segensreichen Einrichtung abziele. Die land⸗ wirthschaftlichen Arbeiter wären dieser Agitation fern geblieben.

Abg. Schrader (dfr.): Ein so großes organisches Gesetz, das erst so kurze Zeit in Wirksamkeit ist, muß allerdings bei seiner Aus⸗ führung zuerst auf Schwierigkeiten stoßen. Wenn man aber die Gegner auffordert, einen strieten Nachweis zu liefern, daß das Gesetz schab⸗ lich ist, so ist das ein K in sich selbst. Wir halten das Gesetz immer noch für ein sehr bedenkliches, und in der Debatts über den Nothstand der Landwirthschaft haben wir wiederhelt die Klage gehört über die unerträgliche Last, welche das Geseh der Landwirthschaft auferlege; auch die Innungen ließen die gleiche Klage ertönen. Wenn es möglich war, eine so große Zahl von Petenten, in Bayern zusammenzubringen, so muß doch irgend etwas Bedenkliches in dem Gesetze stecken. Vor kurzem erst haben wir die Nopelle zum Krankenkassengesetz berathen, welche die freien Hilfskassen einengte. Für diese freien Hilfskassen sind die Arbeiter mit aller Energie eingetreten, und auch gegen das Invaliditäts⸗ gesetz würden die Arbeiter nicht aufgetreten sein, wenn es ihnen wirklich ein Aequivalent für die ihnen zugemutheten Lasten böte. Die Freisinnigen sind keineswegs Gegner der Versicherung an sich, sondern nur der Form, welche wir für unzweckmäßig halten. Auch hat bei dem Krankenkassengesetz niemand daran gedacht, daß es eine solche üble Wirkung auf den ärztlichen Stand haben würde, wie sie thatsächlich eingetreten ist. Anträge auf Aufhebung des Inva⸗ liditätsgesetzes zu stellen, würde aussichtslos sein. Je früher man ein⸗ greift, desto besser; die Gefahr wird mit jedem Tage eine größere, ebenso wie die Verpflichtung des Reichs mit jedem Tage wächst. Zunächst muß aber genügendes Material zur Beurtheilung der bisherigen Wirkung vorliegen. Dieses Material muß aber nicht bloß über die äußeren Momente, Kosten und dergleichen, Auskunft geben, sondern auch sich auf eine Darstellung der Verhältnisse der Arbeiter und Arbeitgeber erstrecken. Die Ausdehnung des esetzes auf weitere Bevölkerungskreise steht in gewissem Umfange dem Bundesrath zu. Vor der Einbeziehung der Hausindustrie in das Gesetz dürfte vor allem die Frage der Normirung der Beiträge für die Familienmitglieder genau zu erörtern sein. Jedenfalls sollte hier überall mit der äußersten Vorsicht verfahren werden. Die Frage der Verwendung der Gelder zum Bau von Arbeiterwohnungen hat der Abg. Bebel nur von der Seite beleuchtet, daß ein Privatunter⸗ nehmer diese Kapitalien nutzbar machen will, um für seine Arbeiter Wohnungen zu bauen. Dieser Fall ist aber bisher kaum praktisch ge⸗ worden. Ganz gewiß wird durch Arbeiterwohnungen eine verstärkte Abhängigkeit des Arbeiters von seinem Arbeitgeber geschaffen. Aber dagegen, daß gemeinnützige Gesellschaften und Corporationsanstalten, welche den Bau von Arbeiterwohnungen betreiben, Gelder auf diese Häuser von den Versicherungsanstalten aufnehmen können, wird wohl auch der Abg. Bebel nichts haben. Solche Genossenschaften dürfen allerdings nicht das Geringste mit Politik, Socialpolitik und Religion zu thun haben. Auch die Sozialdemokraten können ohne jede Scheu diesen Genossenschaften ihr Interesse zuwenden.

Abg. Möller (nl.): Die Aufhebung des Gesetzes ist unmög⸗ lich. Wir müssen uns mit dem Gesetz, wie es liegt, abfinden. Für eine Revision fehlt es ebenfalls noch gänzlich an Erfahrungen. Ich halte es auch für höchst zweifelhaft, ob es angebracht ist, Privaten aus diesen Kassen Geld herzugeben, aber ich bin mit dem Abg. Schrader darin einverstanden, daß gemeinnützigen Baugesellschaften, welche dahin wirken, daß Arbeiter in den Besitz eines eigenen Wohnhauses gelangen, Geld dargeliehen wird. An Private Geld zu diesen Zwecken zu geben, hat bis jetzt nur die schlesische Versicherungs⸗ anstalt beschlossen, aber noch nicht ausgeführt. 8

Abg. Roesicke (b. k. F.): Ich erkenne die socialpolitischen Gesetze nicht nur als theoretisch richtig an, sondern wünsche auch, daß in der Praxis ihre Ausdehnung immer weiter greife. Auf dem freiwilligen Wege des Sparens kann kein Arbeiter so viel zurücklegen, um sich eine, wenn auch noch so kleine Rente für Alter oder In⸗ validität selbst zu sichern. Dazu sind die Löhne viel zu karg. Ver⸗ besserung mag möglich sein, und dazu werden alle die Hand bieten, welche auf dem Boden des Gesetzes stehen. Die Beleihung von Arbeiterwohnungen durch die Versicherungsanstalten wird bedingt durch die Frage der Sicherheit des sechsbiten Darlehns; im großen und ganzen sr ich nicht für Recht, solche Gelder 1. nehmern zu geben, aber einen Nachtheil für die Gesammtheit kann ich darin nicht erblicken, daß gemeinnützige Gesellschaften und Genossenschaften aus diesen Kassen unterstützt werden. Ebenso wie die Klagen über das Unfallgesetz nach und nach verschwunden sind, werden auch diejenigen über das Invaliditätsgesetz verstummen.

Abg. Bebel (Soc.): Ich bleibe dabei, daß dieses Gesetz garnicht aufgehoben werden kann, weil die aus dem Gesetz er⸗ wachsenden Rechtsansprüche auf irgend eine Weise erfüllt werden müssen. Bekanntlich ist das Gesetz nur mit schwacher Mehrheit an⸗ genommen worden und wir haben dagegen gestimmt. Nachdem es aber in Kraft getreten ist und schon Jahre lang wirkt, müssen wir es ausbauen statt es aufzuheben. Uns wird jetzt vorgehalten, daß wir das Gesetz abgelehnt hätten, obwohl es einen socialistischen Gedanken in dem Reichszuschuß enthalte. Letztere Ruffasfung ist ganz unzu⸗ treffend. Daß die Belastung durch das Gesetz schließlich immer auf die Arbeiter abgewälzt wird, hat heute auch der Abg. Dr. Barth zugegeben. Wenn der Abg. Dr. Barth fürchtet, daß wir mit diesem Gesetz schließlich zum socialistischen Staat kämen, so hält er doch ganz im Gegensatz zu dem Abg. Richter den socialistischen Staat für möglich. Was den Bau von Arbeiterwohnungen betrifft, so habe ich mich nur entschieden dagegen erklärt, daß von Unternehmern diese Gelder hingegeben werden, und es freut mich sehr, daß kein einziger Redner aus dem Hause sich dafür ausgesprochen hat. Von Partei wegen haben wir natürlich nicht das Geringste gegen sogenannte gemeinnützige Baugenossenschaften. Was wir bekämpfen, ist die unwahre Behauptung, daß die von den Unternehmern erbauten Arbeiterhäuser eine Wohlthat, eine Wohlfahrtseinrichtung für die Arbeiter sind; um das Gegentheil zu erkennen, braucht man ja nur das Buch von Heckner über die oberelsässische Baumwollen⸗ industrie und die Cité ouvrisre in Mülhausen zu lesen. Die Ver⸗ suche, auf solchem Wege die Wohnungsverhältnisse zu verbessern, wie man sie z. B. in Frankfurt gemacht hat, sind ins Wasser gefallen und alle solche Versuche werden stets ergebnißlos bleiben. Denn sie helfen vielleicht 100 oder 1000 Menschen, aber nicht der großen Masse des Volkes, welches in seinen elenden Wohnungsverhältnissen weiter vegetiren muß. Meine Forderung, die Lohnkürzung auf Grund der Altersrente unter Strafe zu stellen, soll nicht ausführ⸗ bar sein. Allerdings würde der Unternehmer die Strafbestim⸗ mungen leicht umgehen können; aber damit ist nur bewiesen, wie fau unsere ganze Gesenschas ist. Bei der Marine sind solche Kürzungen⸗ vorgekommen, wie der Staatssecretär Hollmann in der Budget⸗ commission selbst eingeräumt hat. Ebenso muß der Ungerechtigkeit ein Ende gemacht werden, daß von dem Arbeiter die empfangene Rente zurückgefordert werden kann und er pielleicht, wenn er h9. Geld nicht hat der Pfändung verfällt und das letzte Stück Möbe verliert.

Staatssecretär Dr. von Boetticher:

Nach der gegenwärtigen Lage der Gesetzgebung wird in dem ersten der beiden Fälle, von denen der Herr Vorredner gesprochen hat, schwerlich zu helfen sein. Der Arbeiter, dem in erster Instanz eine Invalidenrente! zuerkannt ist, und der diese Invalidenrente infolge einer von der Versicherungsanstalt eingelegten Revision durch Ent⸗

scheidung des Reichs⸗Versicherungsamts verliert, der also durch diese

Entscheidung als eine versicherungspflichtige Person erklärt wird, wird selbstredend die Verpflichtung haben, das, was er zu Unrecht bekommen hat, wieder herauszuzahlen. In dieser Verpflichtung wird nach Lage der gegenwärtig geltenden gesetzlichen Bestimmungen nichts zu ändern sein. Ich sehe es mit dem Herrn Vorredner als eine Härte an, wenn ein, und noch dazu gering gelohnter Arbeiter, der nicht mehr die volle Erwerbs⸗ fähigkeit besitzt, in die Lage versetzt wird, eine größere Summe zurück⸗ zahlen zu müssen. Allein auf der anderen Seite muß doch der Herr Vorredner in Berücksichtigung ziehen, daß die Vorschrift des Gesetzes wegen der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Entscheidungen der Schiedsgerichte aus wohlwollender Rücksichtnahme auf die Arbeiter getroffen worden ist. Weiter wird auch der Herr Vorredner nicht außer Acht lassen dürfen, daß jeder Erlaß einer Forderung der Ver⸗ sicherungsanstalt auf Kosten der übrigen Arbeiter geht, die doch ihren Antheil an denjenigen Beträgen haben, welche die Versicherungsanstalt aufzuwenden hat.

Was den zweiten Fall betrifft, von dem der Herr Vorredner ge⸗ sprochen hat, also einen Fall, in dem ein sogenannter Saisonarbeiter nur einen Theil des Jahres hindurch sich in einer versicherungspflich⸗ tinen Beschäftigung befindet und den übrigen Theil des Jahres ander⸗ weit seine Beschäftigung sucht, diernicht versicherungspflichtig ist: so weise ich ihn darauf hin, daß dieser Arbeiter ja in der Lage ist, die Versicherung freiwillig fortzusetzen, daß also eine Correctur des Ge⸗ setzes gar nicht erforderlich scheint. Der Arbeiter, der einmal ver⸗ sicherungspflichtig gewesen ist, kann nach § 17 auch während einer solchen Vacanz, während der er einer versicherungspflichtigen Beschäf⸗ tigung nicht obliegt, die Versicherung fortsetzen; er wird es also hier in der Hand haben, den Ausfall, der bezüglich seiner späteren Rente durch diese Vacanz entstehen könnte, abzuwenden.

Abg. Freiherr von Unruhe⸗Bomst (Rp.) i Frälnathbh et Gegner 8. Gesetzes gewesen, bhe sich 81 81 . chhen eg die Wirkungen desselben überwiegend günstige sind. Die Klagen der Arbeitgeber verstummten allmählich und unter den Arbeitern erwerbe sich das Gesetz immer mehr Freunde. Er müsse mit dem Abg. Grafen Behr bestätigen, daß der mit dem Gesetz gethane Schritt als ein Fortschritt sich bewährt habe.

Nachdem der 1 Schrader (dfr.) sich gegen die letzten Ausführungen des Abg. Bebel gewendet, wird die Debatte geschlossen und der Titel bewilligt.

Um 5 ³¾ Uhr wird die weitere Debatte auf Dienstag 1 Uhr vertagt. Vorher erste und zweite Lesung des Handels⸗ vertrags mit Egypten.

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten

3. Sitzung vom 18. Februar.

Die zweite Berathung des Staatshaushalts⸗ Etats für 1893/94 wird fortgesetzt bei Tit. 1 der Ausgabe des Etats des Ministeriums der geistlichen ec. Angelegenheiten (Gehalt des Ministers).

Ueber den Beginn der Sitzung ist bereits in der Nummer vom Sonnabend berichtet worden. Wir tragen daraus hier nur die Rede des Ministers der geistlichen ꝛc. Angelegenheiten Dr. Bosse in Erwiderung auf die von dem Abg. Stöcker an 8n gerichtete Anfrage, wie sich die Staatsregierung zu den

eschlüssen der General⸗Synode in Bezug 1 die Selbstän⸗ digkeit der evangelischen Kirche stelle, im Wortlaut nach.

Minister der geistlichen ꝛc. Angelegenheiten Dr. Bos .

Meine Herren! Ich erkenne vollkommen mit dem Herrn Abg. Stöcker an, daß die drei Wünsche, die er in den Vordergrund gestellt hat in Bezug auf die größere Selbständigmachung der evangelischen Kirche, verhältnißmäßig kleine sind, daß sie, wie er sich ausdrückte, mehr den Charakter der Arabeske als einer wirklich erheblichen Aenderung

des gegenwärtigen Rechtszustandes an sich tragen; und so gern ich in solchen Dingen ihm und namentlich den Wünschen der evangelischen Kirche und General⸗Synoden entgegenkommen möchte, so ist es doch gerade, wenigstens zum theil, dieser Charakter des bloßen Arabeskenartigen, der es, wie ich glaube, mir unmöglich macht, hier mehr zu thun, als bereits geschehen ist. Der Herr Abg. Stöcker hat den Wunsch, daß die Befugniß des Landtags, wie sie jetzt gesetzlich feststeht, bei gewissen Fragen der evangelischen Kirche mitsprechen zu können, nicht auf⸗ gehoben, sondern nur auf wesentliche grundlegende Punkte beschränkt wird, während er jetzt einen Uebelstand darin findet, daß auch bei verhältnißmäßig ganz untergeordneten Punkten hier große Debatten entstehen, die sehr wohl ausschließlich auf kirch⸗ lichem Gebiet zum Austrag gebracht werden könnten. Ich will garnicht bestreiten, daß die Möglichkeit vorliegt, oder daß es auch schon wirklich vorgekommen sein mag, daß hier Fälle besprochen sind, die besser unbesprochen geblieben wären. Aber ich gestatte mir die Gegenfrage: wie soll es die Regierung anfangen, dem Landtag gegenüber die Punkte zu formuliren, bei denen der Landtag mitsprechen soll, und die Punkte zu formuliren, bei denen man ihm das bisherige Recht mitzusprechen entziehen soll? Ich halte das positiv für eine im Wege der Gesetzgebung und namentlich unter den gegenwärtigen Verhältnissen unlösbare Aufgabe, und ich möchte anheimgeben, daß die General⸗Synode, wenn sie auf diesen Punkt so großen Werth legt, ihrerseits die Formulirung übernimmt. Dann werden wir in die Lage kommen, zu erwägen, ob es möglich ist, dem Wunsche der evangelischen Kirche zu entsprechen oder nicht.

Der zweite Punkt: das Placet der Königlichen Staatsregierung der evangelischen Kirche gegenüber, ist, wie ich annehme, noch viel geringfügiger. Der Wunsch der General⸗Synode und des Herrn Abg. Stöcker geht dahin, daß nicht das Staats⸗Ministerium, wie es jetzt vorgeschrieben ist, die Erklärung über die Unbedenklichkeit eines Kirchengesetzes abzugeben habe, sondern daß diese Erklärung einfach vom Cultus⸗Minister abgegeben werden soll. Ich könnte mir das ja natürlich gefallen lassen; aber würden wir denn damit weiter kommen? In jeder Sache, bei der auch nur ein irgendwie größeres Interesse in Frage wäre, würde der Cultus⸗Minister nach wie vor nicht nur unbehindert sein, sondern er würde schon um der Einheit im Staats⸗Ministerium willen geradezu darauf hingewiesen sein, seine Collegen im Staats⸗Ministerium zu fragen, wie sie zu dieser Frage stehen.

Nun behauptet der Herr Abg. Stöcker, das sei eine Kette am Bein der Kirche, die jedesmal erklirren soll. Ich sagen, dieses Erklirren der Kette habe ich bis jetzt noch niemals gehört. Es ist ein einziger Fall eingetreten, wo ein derartiges Vorkommniß eintrat, wo eine längere Verzögerung durch die Anhörung des Staats⸗Ministeriums herbeigeführt sein mag. Genau dieses Vorkommniß würde aber auch

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eingetreten sein, wenn die Unbedenklichkeitserklärung allein beim Cultus⸗ Minister gelegen hätte. Denn dieser würde gleichwohl nicht allein entschieden haben, sondern er würde sich mit seinen Collegen im Staats⸗Ministerium, wie es bei allen wichtigeren Sachen seine Pflicht ist, ins Einvernehmen gesetzt haben. Ich habe, so lange diese Forde⸗ rung im Schoße der Kirchenvertretungen gestellt worden ist, niemals fassen können, worin die Wichtigkeit dieser Forderung liegt. Es ist doch völlig gleichgültig, ob das Staats⸗Ministerium die Unbedenklich⸗ keitserklärung abgiebt, oder der Cultus⸗Minister, der vorher doch in allen wichtigen Dingen das Staats⸗Ministerium hören muß. Wie die Kirche einen Vortheil davon haben soll, das, meine Herren, muß ich gestehen, ist für mich einfach unerfindlich.

Wichtiger ist der dritte Punkt: die Frage des Procentsatzes in Bezug auf den Steuerbetrag, den die General⸗Synode bei Beschließung kirchlicher Umlagen inne zu halten hat. Ich kann in dieser Beziehung mittheilen, daß das Staats⸗Ministerium seinerseits bereits beschlossen hat, sich mit einer Erhöhung des Procentsatzes auf 6 % einverstanden zu erklären. Eine Vorlage ist noch nicht ausgearbeitet, die Sache befindet sich noch in dem vorbereitenden Stadium.

Im übrigen brauche ich auf die weiteren Fragen, die der Herr Abg. Stöcker der Regierung zur wohlwollenden Erwägung empfohlen hat, hier nicht näher einzugehen. Eine Dotation der evangelischen Kirche ist eine so große und weittragende Frage, daß der gegenwärtige Zeitpunkt, wie ich glaube, der denkbar ungünstigste wäre, um diese Frage in Angriff zu nehmen. Wir befinden uns einer Finanzlage gegenüber, bei der es garnicht denkbar ist, daß man in so weittragende finanzielle Pläne eintreten kann.

Was dann die Stellung der großen kirchlichen Gemeinden und den Wunsch betrifft, daß doch der Staat auch einmal mit einem staatlichen Beitrage eintreten möchte für die Linderung der kirchlichen Nothstände, so halte ich diesen Wunsch nicht für unberechtigt. Aber, meine Herren, das geschieht ja toto die und in dem allergrößten Umfange. Die 20 Kirchen, die hier in Berlin theils schon gebaut, theils im Bau begriffen sind, sind ja zum großen Theil nur dadurch zu stande gekommen, daß aus staatlichen Fonds, aus Allerhöchsten Dispositionsfonds (hört! hört!) ganz außerordentlich hohe Summen dafür bewilligt worden sind. (Hört! hört!) Wir thun es ja täglich, und wir danken es dem Landesherrn, daß er diese Dispositionsfonds in diesem reichen Maße zur Besserung der kirchlichen Zustände und zur Beseitigung der kirchlichen Nothstände zur Verfügung gestellt hat. Und das sind Beträge ich kann hier augenblicklich, nicht zahlen⸗ mäßige Auskunft geben, bin aber übrigens bereit dazu, wenn es er⸗ fordert wird —, Beträge so reichlicher Art, daß wir darüber zur Zeit wenigstens nicht hinausgehen können. Ich bin bereit, alle Wünsche der General⸗Synode, alle Wünsche der evangelischen Kirche, die durch den Mund der General⸗Synode zur Kenntniß der Regierung kommen, nicht bloß in wohlwollende Erwägung zu nehmen, sondern sie mit allen meinen Kräften zu fördern. Aber ich bitte auch, andererseits darauf Rücksicht zu nehmen, daß der Cultus⸗Minister an die Gesetze des Staats gebunden ist, wie sie bestehen, und daß es dem Abgeord⸗ netenhause gegenüber außerordentlich schwer ist, hier eine Vorlage ein⸗ und mit Erfolg durchzubringen, die die Rechte des Abgeordneten⸗ hauses wesentlich verringern würde.

Im weiteren Verlauf der Debatte nahm nach dem Ministerial⸗Director Dr. Kuegler, dessen Rede bereits mit⸗ getheilt worden ist, das Wort.

Abg. Rickert (dfr.): Ob der eine Theologe, den der Abg. Stöcker als Autorität empfahl, Katholik ist, ändert an seiner wissen⸗ schaftlichen Autorität garnichts. Die Sache ist mir zu ernst, als daß ich in der Stöcker'schen Manier, die er immer annimmt, wenn er keinen anderen Ausweg kennt, darüber reden sollte. Er ist ja seines Chors immer gewiß, wenn er auch dieselben Witze zehnmal macht. Ich überlasse den Herren (rechts) den Abg. Stöcker anz und gar; er ist Ihnen allen über, und Sie werden ihm fo gen müssen. Die 1 in der conservativen Partei zeigen, daß er auf seinen Erfolg stolz sein kann; ob er damit der conservativen Sache einen Dienst leistet, lasse ich dahingestellt. Ich halte mich verpflichtet, als Kind meines Landes, als Patriot mitzukämpfen daran, daß die Juͤdenhetze, diese Schmach des Jahrhunderts das deutsche Volk nicht länger beflecke. Ich habe das Zutrauen zu dem gesunden Sinn unseres Volkes, daß alle Bestrebungen, den Juden die ver⸗ fassungsmäßig garantirten Rechte zu nehmen, keinen Erfolg haben werden. Ein Vorzugsexemplar der Erklärung der Rabbiner habe ich nicht erhalten; ich habe mehrere Exemplare zu derselben Zeit erhalten, wie die Redactionen aller Blätter. Freilich dem Stöcker'schen „Volk“ wird eine solche Erklärung wohl nicht zugegangen sein. Denn man kennt den Abg. Stöcker und sein „Volk.“ „Da könnten die Engel mit Engelszungen reden, sie würden den Abg. Stöcker nicht überzeugen. Auf den Abg. von Wackerbarth scheint die Erklärung der Rabbiner einen Eindruck gemacht zu haben. Ich ver⸗ wahre mich dagegen, daß ich die Discussion veranlaßt habe; der Abg. Stöcker hat mich aber schulmeistern wollen; er spricht über den Talmud und Schulchan Aruch, als ob er der belesenste Mann wäre in allen diesen Dingen. Ich berufe mich auf die Autoritäten. Daß der Abg. Dasbach die Sache aufgerührt hat, thut mir leid, um so mehr, als das Centrum und hohe Würdenträger der katholischen Kirche eine correcte Stellung in dieser Frage eingenommen haben. Redner giebt nun eine ausführliche Darlegung der Kritiken und Uebersetzungen des Talmud. 8 kann nur meine Bitte an den Cultus⸗Minister wiederholen, die veteria hean über die jüdischen Religionsbücher zu beschleunigen, damit nicht Behauptungen, die aus den entlegensten Scharteken entnommen sind, noch länger in der Welt Le Daß der Minister auch die Echtheit der hundert Thesen des „Juden⸗ spiegels“ untersuchen lassen möge, will ich ihm nicht zumuthen; es ge⸗ hört wohl nicht zu seinem Ressort. Der Abg⸗ Stöcker hat die These 31 des „Judenspiegels“ citirt, die nach den Urtheilen von Sachverständigen hanftändis entstellt ist. Veranlassen Sie es doch, daß vor Gericht Klage erhoben wird gegen die Berteürfe, die Professor Strack öffentlich gegen Ecker und Rohling erhoben hat. Ein culturhistorisches, vaterländisches Interesse steht auf dem Spiel. Sind Ihre An⸗ klagen begründet, dann werden wir in der Mißbilligung mit Ihnen gehen, genau so wie ich für den ver⸗ folgten Abg. Stöcker eintreten würde, obgleich ich nicht glaube, da das einmal passiren wird. Ich möchte ihn bitten, daß er si endlich einmal von seinen Vorurtheilen loslöst und sich wieder besinnt auf seinen Charakter als Diener der christlichen Liebe. Jedenfalls bitte ich den Cultus⸗Minister, keinen Tag länger als nothwendig vergehen zu lassen, damit öffentlich erkannt wird, was die Untersuchung der jüdischen Religionsbücher ergeben hat. Wenn ein Buch unmoralische Lehren enthält, so werden wir den Minister nach besten Kräften dabei unterstützen, es zu beseitigen.

Minister der geistlichen ꝛc. Angelegenheiten Dr. Bosse: In Bezug auf die Veröffentlichung des Resultats der jetzt an⸗ geordneten Untersuchung habe ich neulich dem Herrn Abg. Rickert gegenüber bereits eine bestimmte Erklärung abgegeben, die ich heute nur wiederholen kann. Ich würde auch gar keinen Anstand nehmen, den Wünschen zu entsprechen, eine Beschleunigung herbeizuführen. Ich glaube aber einmal, daß die heutige

Verhandlung und auch die neuliche, das allersicherste Excitatorium

für den betreffenden Schulrath ist, der mit der Prüfung dieser Bücher beauftragt ist, und sodann möchte ich nicht gern auch nur den leisesten Schein erwecken, als wenn ich eine bloß oberflächliche Prüfung be⸗ sonders begünstigte. Ich möchte dem Manne, einem sehr zuverlässigen Beamten unseres Ressorts, die volle Zeit lassen, die doch immerhin nöhig ist, um einige hundert Bücher zu prüfen.

Was den Ecker'schen „Judenspiegel“ anbelangt, so muß ich es aller⸗ dings ablehnen, ihn in diese Untersuchung mit hineinzuziehen. Das geht mich absolut gar nichts an, und ich habe mit anderen Dingen

eine unnöthige Sorge aufladen möchte. (Sehr gut!)

Abg. Schmelzer inl.) spricht sich dagegen aus, daß der religions⸗ geschichtliche Unterricht von dem katholischen Religionsunterricht getrennt werde und daß an dem ersteren die Kinder der Dissidenten theilnehmen sollen. Eine solche Trennung ist nicht überall möglich, und es würde die Lehrer befangen machen, und damit würde die Herzlichkeit im Religionsunterricht, die dessen Grundlage sein soll, verschwinden. Es ist der Culturkampf gestreift worden. Zum pollen Frieden werden wir wohl nicht kommen, es müßten denn alle Katholiken zu Protestanten oder alle Protestanten zu Katholiken gemacht werden. Aber wir könnten zu einer Trennung der Gebiete kommen, um jeden Zwiespalt zu vermeiden. Eine voll⸗ ständige Trennung der Kirche von der Schule ist für mich unmöglich; zur Kirche die katholischen Facultäten der Universitäten, die Religionslehrer der höheren Schulen und der Volksschulen ꝛc. Die Leiter des Schulwesens, namentlich die Cultus⸗Minister sind nicht mit Rücksicht auf ihre Stellung zur Schule, sondern mit Rücksicht auf ihre kirchenpolitische Stellung berufen worden. Sie haben für die Schule vieles ““ aber sie mußten sich mehr mit Kirchen⸗ als mit Schulfragen beschäftigen, die letzteren sind daher zu wenig zum Austrage gekommen. Das Volksschulgesetz ist nicht zum Abschluß sekonimfa⸗ das Mädchenschulwesen, namentlich auch das höhere, ver⸗ angt eine Aenderung.

„Abg. Freiherr von Wackerbarth (cons.): Ein Vortrag, den ich in einem conservativen Bürgerverein gehalten habe, ist von dem

Zeitung“ ist dieser falsche Bericht richtig gestellt worden; der Be⸗ richterstatter erklärte, daß er geschrieben habe: Ein Rechtsanwalt N. N.; es habe sich darauf ein Rechtsanwalt in Sorau beleidigt gefühlt. Es sind über diese Sache Artikel im „Berliner Tageblatt“ und in der „Freisinnigen Zeitung“ erschienen; eine von mir diesen beiden Zeitungen vegesandt⸗ Berichtigung ist nicht aufgenommen worden. Der Abg. Rickert sollte ab und zu die „Staatsbürger⸗Zeitung“ lesen. Es scheint beinahe in freisinnigen Kreisen ein Verbrechen zu sein, die „Staatsbürger⸗Zeitung“ zu lesen. Es wurde in einem Bericht über einen Preßprozeß gesagt: Was soll man dazu segen, daß der Staatsanwalt während der Sitzung die „Staatsbürger⸗Zeitung“ liest? Ich habe nicht die Gerichte verdächtigen wollen, sondern ich habe nur aufklären wollen, weshalb solche Meinungen über die Richter und die Rechtsanwalte aufkommen können. Ich wollte nur davor warnen, daß die 624 der jüdischen Richter vermehrt wird. In Bezug auf die ngriffe gegen die Juden sollte man doch nicht so empfindlich sein. Der „Börsen⸗Courier“ sagt: Die Antisemiten gehören ins Narrenhaus, und es wird weiter ausgeführt, daß die Mörder des Knaben Hegemann unter denen hinter Stöcker und Genossen zu suchen seien. Die Herren sollten die antisemitischen Blätter lesen, damit sie endlich einmal erkennen, was das Volk bewegt.

Abg. Dauzenberg (Centr.): Wir werden bestrebt sein, den Beschwerden der evangelischen Kirche, soweit sie begründet sind, abzu⸗ helfen; wir müssen aber bestreiten, daß die katholischen Versamm⸗ lungen Hetze eßen die evangelische Kirche treiben. Wir sind stolz darauf, daß solche Dinge immer fern gehalten worden sind. Anders liegt es aber mit dem Evangelischen Bunde, der nur darauf ge⸗ richtet ist, die katholische Kirche anzugreifen. In den Petitionen gegen die Zurückberufung der Jesuiten wirft man diesen letzteren alles Mögliche vor, nicht bloß die Vertheidigung des Grundsatzes: „der Zweck heiligt die Mittel“, sondern auch des Königsmordes u. s. w. Unter den Unterschriften finde ich auch die des Abg. Stöcker. Er könnte sich doch den ausgesetzten Preis von 1000 Thalern ver⸗ dienen und nachweisen, in welchem Buche eines Jesuiten der Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heiligt, aufgestellt ist. Er wird sich aber wohl huͤten, den Versuch zu machen. Redner kommt dann auf die Rede des Abg. Porsch zurück und bedauext, daß der Minister die Erledigung katholischer Angelegenheiten durch katholische Räthe so schroff abgelehnt habe. Besonders bedenklich war die Berufung auf sein evangelisches Gewissen; er hätte wohl sich auf sein Gewissen ohne jedes Beiwort berufen können. Der Minister meinte, es sei Frieden vorhanden und der Frieden solle nicht gestört werden. Der Papst hat aber nur erklärt, daß ein aditus ad pacem, ein Zugang zum Frieden gefunden sei, daß der jetzige Zustand kein dauernder sein könne. Die Culturkampfgefetze drücken immer noch schwer auf uns. Redner zählt die einzelnen Gesetze und Bestimmungen auf: das Altkatholikengesetz, dessen Prin⸗ cipien die Katholiken niemals anerkennen können; das Gesetz über die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen; die polizeiliche Mas⸗ regelung der Orden u. s. w. Nach Recht, I Verfassung will der Minister die katholische Kirche behandeln. Die Verfassungsartikel über die Freiheit der Kirche sind gestrichen; die Gesetze widersprechen unseren katholischen Grundsätzen und müssen also beseitigt werden. Man nennt uns unzufriedene Leute. Zufrieden werden wir sein, wenn wir den Eindruck in uns aufnehmen, daß wir ehenso behandelt werden. wie die evangelische Kirche. Wir können allein die Gesetze nicht ändern, wir rufen die freundliche Hilfe aller Parteien an, und Pflicht der Regierung wäre es, unsere Beschwerden zu untersuchen und ihnen abzuhelfen. Die Evangelischen können nicht begreifen, was wir gelitten haben: Bischöfe und Geistliche sind ins Gefän niß geführt worden, trotzdem sie nur das thaten, was sie für ri stig hielten. Diese Schädigung sollte man wieder gut zu machen suchen. Kein einziger Minister, kein Ober⸗Präsident, kein Ober⸗Landesgerichts⸗ Peüdert ist katholisch; nur ein Regierungs⸗Präsident ist katholisch!

as ist doch kein reiner Zufall. Der Minister sollte also sein Wohl⸗ wollen uns zuwenden.

Minister der geistlichen ꝛc. Angelegenheiten Dr. Bosse: Meine Herren! Der geehrte Herr Vorreduer hat mich persönlich so rücksichtsvoll behandelt, daß ich kaum Anlaß haben würde, in Bezug auf meine persönlichen, neulich und heute von mir ausge- sprochenen Anschauungen nochmals das Wort zu ergreifen, wenn ich nicht fürchten müßte, daß aus meinem Stillschweigen doch falsche Folgerungen gezogen werden könnten. Ich hoffe aber, dieselben Rück⸗ sichten dabei zu beobachten, die, wie ich dankbar anerkenne, mir gegen⸗ über beobachtet worden sind, und ich will mich auch auf die aller⸗ kürzesten Bemerkungen, die ich für nothwendig halte, beschränken. Zunächst hat der Herr Vorredner vorhin erklärt, es sei ihm völlig unverständlich geblieben, was ich mit meinem „evangelischen Gewissen“ in meiner neulichen Antwort auf die Rede des Herrn Abg. Dr. Porsch eigentlich gemeint habe. Meine Herren, ich sollte meinen, das Verständniß dafür hätte nahe genug gelegen. Ich hatte ausdrücklich anerkannt: die beiden großen Gegensätze zwischen der katholtschen und evangelischen Kirche schaffen wir nicht aus der Welt; wohl aber werden sich die Katholiken zunächst noch darin finden müssen, daß der preußische Cultus⸗Minister evangelisch ist, und daraus ergiebt sich dann freilich, daß er seime Gut⸗ scheidungen nicht mit einem katholischen Gewessen in katholischen

Angelegenheiten und nicht u Gewissen in evangelischen Angelegenheiten, sondern daß er seine

die mich sehr viel angehen, soviel zu thun, daß ich mir nicht noch

Berichterstatter falsch wiedergegeben worden. In der „Staatsbürger⸗——