zu entrichtende Abgabe erheblich erhöht. Für den Verkehr von und nach den Häfen der Ostsee und der Nordsee wird nach den angestellten Ermittelungen schon der Satz von 30 ₰ für jedes Connossementsexemplar eine Belastung zur Folge haben, die außer Verhältniß steht zu den in diesem Verkehr üblichen niedrigen Fracht⸗ sätzen. Dieser Verkehr besteht zum großen Theil in dem Versand von einzelnen Stückgutcolli, für welche der Frachtsatz in vielen Fällen 3 ℳ fü. die einzelne Sendung nicht erreicht. Die Zahl der Connossemente hat für die Reise eines Schiffs von Hamburg nach Norwegen 905, für ein anderes Schiff 714 betragen, unter denen sich 560 bezw. 280 Connossemente mit Frachtbeträgen bis zu 3 ℳ befanden. Hierzu kommt, daß für die Versendungen nach russischen Häfen den dortigen Zollvorschriften entsprechend die Ausstellung einer größeren Anzahl von Exemplaren eines Connossementes, in manchen Fällen bis zu sechs
Exemplaren, erforderlich ist. Es erscheint deshalb geboten, für diesen⸗
eeverkehr auf kurze Entfernungen den gleichen Stempelsatz, wie für die Flußschiffahrt zur Anwendung zu bringen. Der Verkehr mit Seeschiffen von und nach den Rheinhäfen, z. B. zwischen Köln und England, oder Köln und Bremen, wird selbstverständlich dem Verkehr von und nach den Nordseehäfen gleich zu behandeln sein.
Die Vorschrift in der Spalte „Berechnung der Stempelabgabe“ foll bewirken, daß, wer jeder einzelnen Wagen⸗ oder Schiffsladung beziehungsweise jeder Einzelsendung ein Frachtpapier beigiebt, in Bezug auf die Abgabenpflicht nicht ungünstiger gestellt wird, als der⸗ jenige, welcher für mehrere Wagenladungen nur einen Frachtbrief aus⸗ stellt beziehungsweise mehrere einzelne Sendungen zu einer Sammel⸗ ladung vereinigt.
Die Befreiung des Gepäcks der Reisenden endlich (Ziffer 2 der Befreiungen) ist vorgesehen, weil dessen Belastung mit dem Fracht⸗ stempel eine, wenn auch geringe Vertheuerung des Personenverkehrs bedeuten würde, die nicht beabsichtigt wird. Indeß⸗ soll sich die Be⸗ freiung nur auf das Reisegepäck im engeren Sinne beziehen, also das, was in Rücksicht auf den § 30 der Verkehrsordnung von den Eisenbahnen zu den Reisebedürfnissen gerechnet wird, namentlich Koffer, Mantel⸗ und Reisesäcke, Hutschachteln, kleine Kisten und dergleichen. Gepäckscheine über größere handelsüblich verpackte Kisten, Tonnen, Fahrzeuge und andere nicht zum Reisebedarf zu rechnende Gegenstände, die ausnahmsweise als Reisegepäck zugelassen werden, würden auf Grund dieser Vorschrift von der Stempelpflicht nicht frei zu lassen sein.
Zu Artikel II, §§ 29m bis 29r des Gesetzes.
Diese Bestimmungen sind im wesentlichen den für den Quittungs⸗ stempel erlassenen gleich; die strengere Bestrafung der den Güter⸗ transport berufsmäßig ausübenden Personen, Schiffer, Spediteure ꝛc. (§ 29 p), dürfte sich aus deren größerer Verantwortlichkeit recht⸗ fertigen. Falls auf Grund des § 290 in Verbindung mit § 33 Absatz 2 nur eine Ordnungsstrafe verhängt worden ist, findet die Bestimmung des § 29 p nicht Anwendung.
Die Vorschrift des § 29 m Absatz 2, wonach im Eisenbahn⸗ und Postverkehr nicht der Aussteller, sondern der Frachtführer die Abgabe
entrichten hat, ist aus Zweckmäßigkeitsgründen aufgenommen worden und liegt ebenso im Interesse der Reichskasse, wie in dem des verkehrtreibenden Publikums.
Der Eisenbahn⸗ und Postverwaltung ist dabei, um jedes Miß⸗ verständniß auszuschließen, noch ausdrücklich dasselbe Recht zur Ein⸗ ziehung des Stempelbetrags vorbehalten, das ihr in Ansehung der Fracht⸗ und sonstigen Kosten zusteht. Hieraus folgt weiter, daß der⸗ jenige, von welchem die Verwaltung den Stempel einzieht, für den Betrag nur dieser gegenüber aufzukommen hat und in seinem etwaigen Rückgriffsanspruch gegen Dritte nicht beschränkt werden soll.
In anderen Fällen — z. B. bei vom Auslande eingehenden Transporten — kann es erwünscht erscheinen, die Entrichtung der Abgabe nach der Aushändigung des Schriftstücks vorzuschreiben be⸗ ziehungsweise zuzulassen. Aus diesem Gesichtspunkte ist die Bestim⸗ mung des letzten Satzes im Absatz 1 dieses Paragraphen vor⸗ geschlagen.
Ertrag.
Der Ertrag der Steuer läßt sich etwa folgendermaßen s ätzen:
Im Bereich der deutschen Eisenbahnen hat nach statistischen Er⸗ hebungen die Zahl der im Laufe eines Jahres ausgestellten oder vom Auslande eingegangenen Frachtpapiere betragen: für eprehout (Gepäckscheine und Beförderungs⸗ für Fahrzeuge (Gepäckscheine, Beförderungs⸗
scheine, Frachtbriefe) .. .. 11A“ für lebende Thiere (Gepäckscheine, Beförderungs⸗
1111566“ 923 645 1116116664*“ 90 608 831 für Leichen (Frachtbriefe und Beförderungsscheine) 1“
2 Zusammen. 94128 781 Stüc.
Von dieser Stückzahl ist bei Berechnung des Steueraufkommens ein erheblicher Bruchtheil für die Papiere, bei denen der Frachtbetrag eine Mark nicht übersteigt, abzusetzen. Da jedoch andererseits die Zahl der ohne Ausstellung eines besonderen Frachtbriefs beförderten Wagenladungen und Einzelsendungen (bei Sammelladungen), sowie der vorstehend nicht berücksichtigten, nicht über Reisegepäck im engeren Sinne lautenden Gepäckscheine der Zahl der stempelpflichtigen Schrift⸗ stücke hinzutritt, auch für ganze Wagenladungen der doppelte Betrag der Steuer zu entrichten ist, wird die Einnahme immerhin auf annähernd 75 % der aus der Gesammtstückzahl nach dem Einheits⸗ satz von 10 ₰ sich ergebenden Steuersumme oder rund 7 000 000 ℳ veranschlagt werden können.
Unter Zugrundelegung des Verhältnisses zwischen der Tragfähig⸗ keit der Schiffe und der Zahl der Connossemente nach den handels⸗ statistischen Aufzeichnungen in Hamburg berechnet sich ferner die Zahl der Connossemente für das Reich für die Aus fuhr seewärts auf rund 2 950 000 Stück, für die Einfuhr seewärts (mit Rücksicht darauf, daß der Verkehr mit deutschen Häfen hier nicht in Betracht kommt, da die Connossemente bereits bei der Ausfuhr dem Stempel unterlegen haben) auf rund 680 000 Stück, zusammen auf 3 630 000 Stück.
Bei der Berechnung über die Zahl der Connossemente ist von der Annahme ausgegangen, daß bei der Ausfuhr für jeden Transport im europäischen Verkehr durchschnittlich zwei Connossemente, im außer⸗ europäischen Verkehr durchschnittlich vier Connossemente außer dem Capitänsexemplar ausgestellt werden. Bei der Einfuhr ist dagegen für jede Verladung nur ein Connossement in Rechnung gestellt, da von den mehreren im Auslande ausgestellten Exemplaren oft nur eines, nämlich dasjenige, gegen welches der Schiffsfü rer die Waare ausliefert, im Inlande ausgehändigt werden wird.
Die Einnahme würde hiernach betragen:
1) für die Frachtpapiere im Eisenbahnverkehr . 7 000 000 ℳ 2) für die Connossemente, hinsichtlich deren nicht feststeht, in welchem Umfange sie dem er⸗ mäßigten Satze unterliegen werden, etwa rund 1 000 000 b Zusammen .8 000 000 ℳ
Unter fernerer Berücksichtigung der im Binnenschiffahrtsverkehr ausgestellten Ladescheine, für deren Zahl sich auch nur einigermaßen zuverlässige Anhaltspunkte nicht haben gewinnen lassen, kann danach die Gesammteinnahme auf mindestens 8 bis 9 Millionen Mark an⸗ genommen werden.
VI. Allgemeine Bestimmungen. Artikel 1 Ziffer 5 und 6 (§§ 33 und 38 Absatz 1 und Artikel V des Gesetzes. 8 Zu Artikel I Ziffer 5 (§ 33) des Gesetzes. Zuwiderhandlungen gegen das Gesetz oder die Ausführungs⸗ vorschriften, die mit keiner besonderen Strafe belegt sind, unterliegen bisher einer Ordnungsstrafe von 3 bis 30 ℳ Diese Begrenzung der Strafbefugniß erscheint nach beiden Seiten hin zu eng. Während auf der einen Seite die Gewährung der Möglichkeit, mit der Ordnungs⸗ strafe in geeigneten Fällen höher hinaufzugehen, im Bedürfniß liegt, ist es auf der anderen Seite erwünscht daß bei unbedeutenden . verletzungen die Strafe noch weiter, als es bis jetzt zulässig ist, er⸗ äßigt werden kann. 8
2 581 194 Stück,
Ziffer 6 (§ 38 Absatz 2) des Gesetzes.
aut § 38 Absatz 2 des geltenden Gesetzes sind die Schriftstücke der öffentlichen und der von Actiengesellschaften oder ECommandit⸗ gesellschaften anf Actien betriebenen Bank⸗, Credit⸗ oder Versicherungs⸗ anstalten sowie der zur Erleichterung der Liquidation von Zeit⸗ geschäften bestimmten Anstalten (Liquidationsbureaux u. s. w.) periodisch bezüglich der Abgabenentrichtung zu prüfen. Der Entwurf schlägt vor, die Transportanstalten, schon mit Rücksicht auf den neu einzu⸗ führenden Stempel für Frachtpapiere, unter die revisionspflichtigen
Institute aufzunehmen.
Daneben ist es nothwendig erschienen, allgemein den Actiengesell⸗
schaften und Commanditgesellschaf
pflichtige Geschäfte in umfassender Weise betreiben.
Bei allen genannten Anstalten, auch bei denen mit geringem Ge⸗ schäftsumfange, in bestimmten Zeitabschnitten eine Revision eintreten zu lassen, wird nicht erforderlich sein; um dem Ermessen der Behörden hierin einen freieren Spielraum zu gewähren, dürfte das Wort
„periodisch“ im Gesetz wegzulassen sein. Endlich ist, sowohl von
Bestimmung wird schon deshalb nicht
gesetzlichen Vorschriften zu bestimmen. Zu Artikel v Absatz 2 des Gesetzes.
Die Einführung der Reichsgesetze auf der Insel Helgoland, sofern sie vor Einverleibung der Insel in den preußischen Staat erlassen sind, ist für die Folge gemäß §§ 2 und 6 des Gesetzes, betreffend die Vereinigung von Helgoland mit dem Deutschen Reich, vom 15. De⸗ zember 1890 (Reichs⸗Gesetzblatt S. 207) der Kaiserlichen Verordnung unter Zustimmung des Bundesraths vorbehalten worden. Gesetz vom 1. Juli 1881/29. Mai 1885 dort noch nicht in Geltung gesetzt ist, wird für das Inkrafttreten der vorliegenden Novelle zu
diesem Gesetz der gleiche Vorbehalt zu machen sein. Zu Artikel V Absatz 3 des Gesetzes.
Das zur Zeit gültige Stempelgesetz ist bei vollständiger Bezeich⸗ nung als Gesetz, betreffend die Erhebung von Reichsstempelabgaben, vom 1. Juli 1881 /29. Mai 1885 (Bekanntmachung des Reichskanzlers vom 3. Juni 1885) zu citiren. Nach Hinzutritt des neu zu erlassenden Gesetzes würde sich die Zahl der jedesmal anzugebenden Daten noch um eines vermehren. Zur Vermeidung dieser lästigen Weitläusigkeit empfiehlt sich die vorgeschlagene Neuredaction und kurze Bezeichnung des Gesetzes. Die Ermächtigung des Reichskanzlers zu der ersteren
entspricht früheren Vorgängen. Zusammenstellung
der Einnahmen aus den Reichsstempelabgaben
ften auf Actien die eingetragenen Genossenschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung gleich⸗ zustellen, da diese zum theil, z. B. als Vorschußvereine, stempel⸗
eamten, welche in der Prüfung der Stempelverwendung Erfahrung haben, wie auch von Vertretern der gegenwärtig revisionspflichtigen Anstalten darauf hingewiesen worden, daß, einem Gebote der Gerechtigkeit und des fiscalischen Bedürfnisses entsprechend, die Revisionsbefugniß auch auf einzelne Perso abgabepflichtige Geschäfte der Nr. 4 des Tarifs gewerbsmäßig betreiben oder vermitteln, auszudehnen sei. Eine entbehrt können, weil die in der neuen Fassung des § 12 Absatz des Gesetzes den Provinzialbanquiers gewährte Vergünstigung auch eine Erweiterung der Controle bedingt. Hierbei wird übrigens davon ausgegangen, daß die Prüfung der Abgabenentrichtung bei den vor⸗ benannten Personen nicht regelmäßig, sondern nur vereinzelt vorzu⸗ nehmen ist. Die bloße Möglichkeit der Revision wird genügen, weniger gewissenhafte Geschäftsleute zu einer strengeren Befol
nen, welche
(du Spalte 2, 3 und 4 abzüglich der 2 Procent Verwaltungskosten).
FürActien, Für Kauf⸗ 1 Renten⸗ u. u. sonstige Für Schuld⸗ Anschaf⸗ verschrei⸗ fungs⸗ bungen geschäfte
Für
Etatsjahr Privat⸗ Staats⸗
Loose der Loose der
lotterien lotterien
1886/87 4 850 232 7 782 915 750 586 61 1887/88 4 704 494 7 250 084 430 531 6 1888/89 . . 7 751 420/ 12 207 687 533 805 67 1889/90 9 330 153/14 840 462 2 487 075 6 1890 9—l1 5 223 551 13 186 845 539 316 7 LE“
jährlich für b. Kauf⸗ und sonstige Anschaffungsgeschäfte . 6X“ d. Quittungen (6 bis 7 000 000 ℳ) . . . 6. Ch s d bis 800 000 Gh) 6 f. Frachtpapiere (8 bis 9 000 000 ℳ) .. . .
125 689 19 508 525 624 040/19 009 149 09 502 27 202 414 33 455 916 32 648 26 082 360 4 491 945/10 800 738 1 443 737 7 327 267 24 063 687 1892/93 . 3 577 899 9 133 861 1 739 998 7 316 063 21 767 821
Die nach dem Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzentwurfs zu erwartenden Mehreinnahmen sind geschätzt worden auf durchschnittlich
4 400 000 ℳ 11 000 000
5 400 000.
6 500 000
8 500 000
* 798 226
zusammen.
. 36 450 000 ℳ oder rund 36 000 000 ℳ
Deutscher Reichstag.
4. Sitzung vom Freitag, 24. November, 1 Uhr.
Die erste Berathung der Handelsverträge mit Ru⸗ mänien, Spanien und Serbien wird fortgesetzt.
Ueber den ersten Theil der Rede des Abg. Dr. (nl.), der zunächst das Wort hatte, ist bereits in der vom Freitag berichtet worden. Der Schluß dieser Rede hatte
899
nachstehenden Inhalt:
Der Regierung wird ein Vorwurf daraus gemacht, d
den Branntwein bei Spanien nichts durchgesetzt hat.
wirthschaft. Deswegen sehe ich auch nicht so trübe in
Rußlands liegt die Sache anders als gegenüber
Redner empfiehlt eine gründliche Commissionsberathung.
Abg. von Ploetz (dcons.) wendet sich namentlich gegen die Aus⸗ führungen des Abg. Rickert über den Bund der Landwirthe. Es wird be⸗ hauptet, daß er (Redner) nur agitire und die Bauern aufhetze; von anderer Seite aber wird dem Bund der Landwirthe z. B. zum Vorwurf ge⸗ macht, daß er nicht gegen die Weinsteuer auftrete, die noch gar nicht auf der Tagesordnung stehe. Der Abg. Rickert bemängelt die statistische Angabe über die Einfuhr aus Spanien, welche lediglich den amtlichen Veröffentlichungen des Statistischen Amts des Reichs ent⸗ nommen ist. Der Abg. Rickert vermißt bei uns technische
Leistungen, wie sie die deutsche Landwirthschaft Abg. Schultz⸗Lupitz aufzuweisen habe. Aber
aß sie für r Dieser Vor⸗ wurf ist durchaus unberechtigt, denn durch die Gesetzgebung Spaniens ist die dortige Regierung nicht im stande, uns Concessionen zu mach weil dort Sprit nicht eingeführt werden darf, der aus Kartoffeln her⸗ gestellt ist. Der Zoll, der jetzt seit 1892 auf 3,50 ℳ festgesetzt ist, wird durch die Verträge nicht geändert; wenn wir den Weizen nicht aus Rumänien bekommen, bekommen wir ihn aus über England. Ein Vortheil für die Landwirthschaft besteht also nicht, wenn wir gegenüber Rumänien den Zoll von 5 ℳ aufrechterhalten; weil die Verträge aber der Industrie Nutzen bringen, deshalb nützen sie auch indireet der die Zukunft, wiegder Abg. Graf Kanitz. (Zuruf rechts: Sie sind auch kein Land⸗ wirth!) Ich habe zuerst als Landwirth mein Brot gegessen und bin nachher Professor für Volkswirthschaft geworden und halte es immer noch für meine Aufgabe, mich um die Verhältnisse der Landwirth⸗ schaft zu kümmern. Ich habe auch Studien in Amerika gemacht und weiß, daß die Farmer nicht mehr bloß ihren Weizen auf den Prärie⸗ boden ausstreuen und ernten können; es ist auch schon jetzt intensive Arbeit nöthig, welche Geld kostet und die Preise vertheuert. Ich will nicht unter allen Umständen Handelsverträge gsen Bezüglich
. kumänien Serbien; Rußland hat eine schlechtere Währung als Rumänien.
Schultz⸗Lupitz hat dringend gebeten, daß der Bund der Landwirthe ihm auf diesem Gebiete nicht in die Wege kommen solle. Das ist nicht beabsichtigt. Der Bund der Landwirthe redet den Leuten nichts vor und hetzt sie nicht auf. Von dem Abg. Dr. Paasche hätte ich nur gewünscht, daß er seine Rede vor den Wahlen gehalten hätte. (Zuruf des Abg. Dr. Paasche: Das habe ich!) Früher stand er ganz anders zum Bund der Landwirthe. Der Staats⸗ secretär Freiherr von Marschall hat ebenfalls seine Angriffe gegen den Bund der Landwirthe gerichtet, aber er hat unrecht, wenn er meint, daß wir den Zustand schlimmer machen, als er ist. So schlimm, wie er ist, haben wir es noch niemals gemacht. Ein Tropfen bringt es zum Ueberlaufen. Wenn dem Bauern am Neu⸗ jahrstage ein Goldstück zur Bezahlung der Zinsen fehlt, so kann das sein Ruin sein. Die Erregung ist nicht vom Bund der Landwirthe hineingetragen worden, sondern sie war vorhanden, weil Mißtrauen gegenüber der Regierung vorhanden war. Der Bund der Landwirthe ist erst eine Folge der Erregung und ist nur geschaffen, um noch weitergehende Excesse zu verhüten. Daß 156 scharfe Worte fallen, gebe ich zu; aber mit sanften Worten ist so etwas nicht zu machen. Industrie und Landwirthschaft haben gemeinschaftliche In⸗ teressen, beide sind aber belastet durch die hohen Löhne und die social⸗ politischen Gesetze. Die letzteren haben wir mitgemacht, aber umso⸗ mehr müssen wir uns sträuben, daß die Landwirthschaft weiter belastet wird. Ein weiterer Uebelstand ist die Goldwährung, welche den Zoll⸗ schutz illusorisch macht. Die Regierung hat durch die Handels⸗ verträge von 1892 die Gemeinsamkeit der Interessen durchbrochen, indem die Industrie begünstigt wurde auf Kosten der Landwirthschaft. Wenn es der Industrie gut geht, so freuen wir uns, aber der Land⸗ wirthschaft wird dadurch kein directer Nutzen zugeführt. Speck und Schinken wird nicht mehr aus Deutschland, sondern aus Amerika be⸗ zogen. Bei der Militärvorlage stützte sich die Regierung auf die ländliche Bevölkerung. Es hat auch kein ländlicher Wähler gegen die Militärvorlage gestimmt. Von den Handelsverträgen haben schließlich nur die Socialdemokraten Vortheil, die mit desnenbern Schritt in die Dörfer einziehen werden, wenn die Bauern zur Verzweiflung gebracht sind. Man soll doch nicht von den kleinen Handelsverträgen sprechen. Wenn man den Vertrag mit Rumänien und Spanien an⸗ genommen hat, dann wird es heißen: Nun könnt ihr dem Zoll auf russisches Getreide auch nicht widersprechen. Wenn dieser aber angenommen wird, dann wird Deutschland mit russischem Getreide überschwemmt und der Bauer kann sein bischen Getreide garnicht los werden. Dem Bauern geht es nicht nur finanziell schlecht, sondern er muß seine Söhne in vermehrter Anzahl in die Armee geben. Bezweifeln Sie das? Der Bauer thut es gern, aber es hat Alles seine Grenzen. Der Bauer muß immer mehr Schulden machen. Wenn ich nicht Hoffnung hätte, daß die Verträge abgelehnt würden, dann könnte man dieselben vielleicht im Sturmschritt zur Ablehnung bringen. Aber ich halte eine gründliche Prüfung für nothwendig, nicht bloß nach der Seite hin, ob die Industrie Vortheile hat, sondern auch ob die Land⸗ wirthschaft die Nachtheile, welche ihr zugefügt werden, tragen kann.
Reichskanzler Graf von Caprivi:
Der Herr Abg. Graf Limburg⸗Stirum hat gestern im Eingang seiner Rede geäußert, er beklage die Gleichgültigkeit der leitenden Stellen gegenüber der Landwirthschaft. Es blieb das leitende Motiv seiner Rede. Es ist vielleicht nicht anmaßend, wenn ich annehme, daß die Mehrzahl der Angriffe, die er gegen die leitenden Männer, gegen die Regierungen richtete, auf mich gemünzt waren. Ich halte mich schon um deshalb für berechtigt, diese Angriffe auf mich zu beziehen, weil seit Monaten in der Presse, die dem Herrn Grafen Limburg⸗Stirum nahe steht, ein gehässiger Kampf gegen meine Person geführt wird.
Der Herr Abg. von Ploetz hat dann heute in ähnlicher Weise einen Vorwurf gegen mich gerichtet, indem er sagte, das Vertrauen zur Reichsregierung wäre in der Landwirthschaft verloren gegangen. Ich weiß nicht, wodurch ich diese Vorwürfe verdient habe, und bin der Meinung, wenn der Herr Abg. Graf Limburg⸗Stirum 'einen so schweren Vorwurf gegen mich richten wollte — schwer ist der Vor⸗ wurf bis aufs äußerste, wenn einem leitenden Staatsmanne vorge⸗ worfen wird, daß er eine der wichtigsten Bedingungen des Daseins unseres Reichs übersieht oder ohne Grund schädigt —, wenn Herr Graf Limburg⸗Stirum einen solchen Vorwurf gegen mich richten wollte, so war er doch wohl verpflichtet, einen Beweis dafür bei⸗ zubringen. Ich glaube, das würde ihm um so schwerer geworden sein, als ich im Dezember 1891 hier an dieser selben Stelle bestimmt meine Stellung zur Landwirthschaft nicht allein, sondern auch zu denen, in deren Händen der Besitz gegenwärtig ruht, bezeichnet habe. Ich glaube nicht, daß man viel mehr zu Gunsten der Landwirthschaft sagen kann, als ich damals gesagt habe. Es hat mich deshalb überrascht, daß Herr Graf Limburg⸗Stirum sich für berechtigt hielt, anzunehmen, daß jetzt das Gegentheil der Fall sei. Wie kommt der Graf Limburg⸗Stirum dazu? Wo habe ich je eine Aeußerung gethan, die eine andere Deutung zugelassen hätte? Ich nehme alle diese Vorwürfe willig auf mich, obwohl ich mich auf den Artikel 4 der Reichsverfassung stützen und nachweisen könnte, daß die Landwirthschaft an sich garnicht zu den Dingen gehört, die von den Einzelstaaten an das Reich abgetreten sind. Ich habe hier nur concurrirt dabei, daß Verträge abgeschlossen wurden, welche auch die Landwirth⸗ schaft berührten, und concurrire nach dem Passus des Artikels 4 der Reichsverfassung in Bezug auf Veterinär⸗ und Medizinalwesen. Können nun die Vorwürfe etwa aus meiner früheren Thätigkeit als preußischer Minister⸗Präsident hergenommen werden? Ich wüßte nicht, daß ich da irgend dazu Grund gegeben habe. Im Gegentheil, das Gesetz von 1891 über die Rentengüter trägt meine Unterschrift. Ich will mir nicht und kann mir nicht das Verdienst anmaßen, der Vater dieses Gesetzes zu sein; ich kann aber den Wunsch haben, daß, wenn man einmal meine Thätigkeit für die Landwirthschaft oder gegen die Landwirthschaft im ganzen in Betracht zieht, man dann die Gefälligkeit hat, auch dies zu erwägen; und ich bin der Meihung, daß dies Gesetz, das unter meiner Minister⸗Präsidentschaft eingebracht und angenommen ist, wahrscheinlich der größte und folgenreichste Schritt für die Landwirth⸗ schaft ist, der seit langem gemacht ist. Wir werden durch diesen Schritt gerade das erzielen, was Sie ja auch wollen: einen leistungsfähigen Bauernstand, einen ländlichen Mittelstand erhalten. Ich weiß also nicht, wenn ich mir an diesem Gesetz wenigstens eine gewisse Mitverantwortung zuschreiben darf, wie man einen Vorwurf gegen mich aus meiner preußischen Thätigkeit herleiten kann. Ich will hier aber noch einmal wiederholen — in einer Zeit, wo die große Menge der Bevölkerung an den öffentlichen Angelegenheiten einen lebhaften Antheil nimmt, ist es unvermeidlich, daß man die⸗ selben Dinge wiedersagt; und ich habe in dieser Beziehung auch von den Herren des Bundes der Landwirthe manches gelernt, man muß mit denselben Argumenten immer wiederkommen —, ich wiederhole also, daß ich den Werth der Landwirthschaft hochschätze. Sie giebt uns eine relativ gesunde Bevölkerung, geistig und körperlich gesund; sie ist mehr geeignet, Charaktere zu erziehen als ein anderer Beruf; sie giebt uns Soldaten, brauchbarer, geeigneter, in der freien Luft, in der Natur sich
zurecht zu finden, auszuhalten, als der Beruf der Städter. Die Landwirthschaft ist unbedingt erforderlich; und was die Regierungen thun können, um sie als ein einträgliches, ertragbringendes Gewerbe zu erhalten, muß geschehen. Das ergiebt sich für mich schon aus militärischen Motiven, die mir vielleicht näher liegen als andere.
Wenn ein Staat sich nicht mehr durch eigenen Körnerbau ernähren.
kann, so wäre im Kriegsfall eine Art des Angriffs denkbar, daß seine Nachbarn sich vereinigen, ihm das Korn abzuschnéiden, wie man einer belagerten Festung die Zufuhr abschneidet; und es wäre denkbar, daß, ohne daß ein Schuß fiele, der Staat unterworfen wird. (Sehr richtig! rechts.)
Wir haben also das lebhafte Bedürfniß nach der Landwirthschaft. Es freut mich, daß Sie mir darin zustimmen; aber warum haben Sie mich denn angegriffen? Dann sollten Sie doch den Beweis dafür erbringen können, daß ich jemals anders gedacht habe; niemals habe ich aber anders gedacht, trotzdem ich von dieser Seite hier auf das allerschärfste angegriffen bin.
Ich bin aber noch weiter gegangen in dem, was ich damals ge⸗ sagt habe, und will auch heute weiter gehen. Ich habe damals an⸗ geführt, welches Interesse es für den Staat hat, den Stand der Besitzer, der einmal besteht, zu erhalten. Ich habe ausgeführt, wie jeder Besitzwechsel aus Noth mit einer gewissen Aussaugung, Ver⸗ schlechterung des Bodens verbunden ist; wie dann, nachdem der vorige
Besitzer es ausgesogen hat, der neue erst anfängt, seine Erfahrungen
zu machen; wie lediglich vom culturellen Standpunkt ein solcher Wechsel im Besitzstand meist unerwünscht und für das Ganze schädlich ist. Ich erkenne auch weiter an, daß die Familien, die seit langem sich im Besitz des Grund und Bodens bei uns befunden haben, des Ritterguts sowohl wie des bäuerlichen — und ich beziehe mich da allerdings auf die Erfahrungen, die ich in meiner engeren Heimath gemacht habe, in Preußen —, daß diese Familien von hohem Werth für den Staat sind, und daß es kein Staatsmann würde verant⸗ worten können, leichtherzig, und solange er Hilfe bringen kann, diese Familien von Grund und Boden scheiden zu sehen. Ich weiß, wie schwer die Provinz Ostpreußen durch die Krisis in den zwanziger und dreißiger Jahren geschädigt worden ist. Man hat gestern auf diese Provinz exemplificirt, und so möge es auch mir erlaubt sein, darauf weiter einzugehen,
Ich bin der Meinung, diese Provinz verdient in jeder Beziehung die Berücksichtigung seitens der übrigen Theile des Reichs. Sie kämpft mit Schwierigkeiten, sie hat im Jahre 1807 zwei fremde Armeen einen ganzen Krieg durch, einen Winter über unterhalten; sie hat dann lange noch französische Truppen getragen; sie hat fast die ganze französische Mobilmachung 1812 bestritten, und sie hat dann im Jahre 1813 trotz aller Opfer, die sie gebracht hat, zuerst die Fahne erhoben, um den fremden Eroberer vom deutschen Boden zu verjagen. Eine Provinz, die das gethan hat, die das hauptsächlich durch die Kraft ihrer ländlichen Besitzer, der Ritterschaft wie der Landgemeinden, gekonnt hat, eine solche Pro⸗ vinz schädigen, deren Besitzstand ohne Noth wechseln wollen, das würde ich für nahezu verbrecherisch halten. Die Leiden, die die Pro⸗ vinz im Kriege durchgemacht hat, haben dazu geführt, daß in den 2Oer und 30 er Jahren eine Krisis eintrat, von der man sagt, daß 70 % der adligen Gutsbesitzer, wie es damals hieß, die Scholle haben verlassen müssen. Darunter leidet die Provinz in gewisser Weise noch heute, und es ist nicht zu verkennen, daß eine Provinz, die dergleichen durchgemacht hat, aller Schonung noch auf lange Jahre bedarf.
Ich habe dies Beispiel gewählt, weil das diejenige preußische Provinz ist, die nach meiner Ansicht am meisten in der schweren Zeit geleistet und gelitten hat. Eine solche Provinz bedarf des Schutzes. Wer würde da geneigt sein, ihr den Schutz zu entziehen? Ich ganz gewiß nicht!
Wenn also von der Landwirthschaft durch mich Opfer verlangt worden sind, auch von dieser Provinz — und ich glaube nicht, daß sie groß und nennenswerth gewesen sind in dem Herabgehen von 5 auf 3 50 ℳ — wenn solche Opfer verlangt sind, so kann ich für mich in Anspruch nehmen, daß sie nur dann verlangt worden sind, wenn ich aus innerster Ueberzeugung dahin gekommen bin: es giebt kein anderes Mittel, um unsere Industrie im Gang zu erhalten, um unsere Be⸗ völkerung zu ernähren und um damit, Herr von Manteuffel, der Land⸗ wirthschaft auch die Existenzfähigkeit zu sichern; wäre ein anderes Mittel dagewesen, so würde ich jenes nicht gewählt haben.
Ich will auf die Handelsverträge hier nicht weiter eingehen, das ist gestern zur Genüge geschehen; nur möchte ich mich dagegen ver⸗ wahren, daß jeder Mensch, der jetzt für Handelsverträge eintritt, von den Blättern dieser Partei (nach rechts) entweder dem Vorwurf aus⸗ gesetzt ist, daß er ein am grünen Tisch verkommener Beamter sei (Heiterkeit links), oder ein Manchestermann. Ich will ein Zeugniß dafür beibringen, daß auch andere, ganz agrarische Menschen derselben Ansicht gewesen sind, dem Sie schwerlich werden widersprechen können.
Mir liegt hier ein an den Fürsten Bismarck gerichteter Bericht vor, eine Petition vom September 1887; es handelte sich um die Erhöhung des Zolls auf 5 oder 6 ℳ Es wird zuerst ausgeführt, daß man, um der Provinz Ostpreußen zu helfen, ja den Zoll auf 6 bis 8 ℳ erhöhen könne. Dann heißt es weiter:
Eine so bedeutende Erhöhung unserer, nach dem Werthe des Getreides bemessen, procentuell bereits hohen Zölle erscheint jedoch nicht ganz unbedenklich. Auf dem Gebiete der Volkswirthschaft straft sich jede Uebertreibung eines an sich richtigen Princips durch einen unvermeidlichen Rückschlag; im vorliegenden Falle wahrscheinlich unter dem Drucke demagogischer Agitation. Ob nicht auch eine unerwünschte Trübung unserer handelspolitischen Beziehungen zu den Nachbarstaaten, insbesondere zu Oesterreich, die Consequenz sehr hoher Getreidezölle sein würde, das entzieht sich unserer Beurtheilung.
Gezeichnet: Graf Udo Stolberg und Freiherr von Mirbach. (Keiterkeit. Hört! hört!)
Auf diejenigen Anschuldigungen, die gegen mich als den Urheber der Verträge in Bezug auf Vieheinfuhr und Viehstand gerichtet sind, denke ich nachher zurückzukommen. Ich will aber jetzt constatiren, daß auch ich der Ueberzeugung bin, wie unsere Landwirthschaft sich zur Zeit in einer sehr schwierigen Lage befindet. Sie kämpft mit. exceptionellen Verhältnissen. Ich halte es ebenso wenig wie der Herr Abg. Paasche für zweck⸗ mäßig, diese Verhältnisse zu schwarz zu malen: wir dürfen die Wider⸗ tandskraft derjenigen, die gegen widrige Ereignisse kämpfen, nicht da⸗ durch schwächen, daß wir ihnen ihre eigene Lage noch schwärzer malen,
und ich schließe mich da dem an, was neulich einer der Königlich !
bayerischen Herren Minister in derselben Weise im bayerischen Landtag
geäußert hat: man soll sich vor Schwarzmalerei in einer solchen Lage erst recht hüten. —
Ich habe es für sehr verständig und gut gehalten, daß die Land⸗ wirthe sich zusammenthaten zu einem Bund der Landwirthe, um ge⸗ meinsam darüber zu berathen, wie sie sich der Noth erwehren können. Die Weise, wie dieser Bund in die Welt trat, ist mir nicht gerade sympathisch gewesen; aber ich habe mich doch der Hoffnung hin⸗ gegeben, daß dies gemeinsame Wirken nicht ohne guten Erfolg sein werde. Ich glaube, daß auf dem Boden der Land⸗ wirthschaft gerade durch genossenschaftliches Zusammenwirken noch viel zu machen ist; ich glaube, daß es da sehr schwierige Fragen noch zu lösen giebt. Nur war mir zweifelhaft, ob diese Fragen in großen Massen zu lösen sein würden, ob da nicht doch etwas grüner Tisch und ruhiges Ueberlegen nothwendig wären, mehr Ueberlegen, als man es in großen Vereinen und Versammlungen zu finden pflegt. Ich habe nun die Bewegung des landwirthschaftlichen Bundes, soweit mir das möglich war, verfolgt, habe mich zu orientiren gesucht, und wenn ich nun noch einmal betone, daß ich diesen Bund als Ganzes nach seinem Zweck, in seiner ursprünglichen Idee für löblich und gut halte, so wird es mir nun erlaubt sein, auch diejenigen Bedenken anzuführen, die ich gegen dessen Gebahren zu machen habe, und ich kann mich — die Herren, die den Bund leiten, wollen mir das nicht übelnehmen; es ist ja eine nothwendige Folge davon, daß die Bewegung in die Massen getragen wird — des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß der Bund arm an schöpferischen Ideen ist. (Heiterkeit)) Er ist in die Welt getreten mit einem Mal als ein erwachsenes Wesen, und es fehlte ihm der geistige Inhalt: man tappte noch herum; man hatte nur gemeinsam das Gefühl: es geht uns schlecht, es muß etwas geschehen. Man war sich aber nicht darüber klar, was geschehen müßte. Ich bin in dieser Auffassung wesentlich bestärkt dadurch, daß ich selbst in dem leitenden Blatte dieses Bundes Artikel gefunden habe, von denen ich mir sagte: nach der Vergangen⸗ heit dieses Blattes, nach dem Werth, den es sonst hat, ist es auf⸗ fallend, wie es Artikel mit so geringem geistigen Inhalt aufnimmt und gar an hervorragenden Stellen abdruckt. (Heiterkeit.)
Erlauben Sie mir, zwei kleine Beweise dafür anzuführen. Es kam ein Artikel, der war überschrieben: Schafft Klarheit! Ich habe diese Ueberschrift mit Freuden gelesen. (Heiterkeit.) Denn daß Klarheit nöthig war, das hatte ich auch erkannt. ( Heiterkeit.) Ich las den Artikel, ich las ihn noch einmal, und es war mir nicht möglich, zu erkennen, worin er die Klarheit fördern sollte. Er brachte keinen neuen Gedanken, er polemisirte im wesentlichen gegen mich und sprach dann nur eins aus, was mir bis dahin fremd gewesen war: daß mich doch der Vor⸗ wurf träfe, gegenüber der Futternoth nicht aus dem verdorrten Westen Vieh frei in den futterreichen Osten gefahren zu haben. Ich würde gewünscht haben, daß der Herr Verfasser sich die Mühe gegeben hätte, mitzutheilen, wie dieser Gedanke praktisch auszuführen wäre. Bisher habe ich mir keine Vorstellung davon machen können, wie eine solche Feriencolonie für westliches Vieh im Osten eingerichtet werden könnte. (Heiterkeit.)
Ein zweiter Artikel in demselben Blatte war überschrieben: Rück⸗ blicke. Ich habe auch den mit aller Aufmerksamkeit gelesen. Der Artikel handelte von der Militärvorlage, und ich erkenne, anknüpfend an das, was der Herr Vorredner sagte, noch heute mit Freuden und mit Befriedigung das an, was von Seiten der conservativen Partei für die Militärvorlage geschehen ist; es würde mir eine Freude gewesen sein, mit dieser Partei weiter Schulter an Schulter gehen zu können, wenn sie es mir nicht selbst unmöglich gemacht hätte. (Oh! rechts.) In diesem Artikel über die Militärvorlage kam dann etwa folgender Satz vor: Da hätten wir nun die Handelsverträge gemacht, und daraus erwüchse Rußland ein Vortheil, den es sich auf zwei Armee⸗Corps im nächsten Kriege anrechnen könne. Mir fehlt die Fähigkeit, Armee⸗Corps in Roggen umzurechnen (Heiterkeit); und so hat auch der einzige neue Punkt in diesem Artikel zu meiner Auf⸗ klärung über die schwebenden Fragen nicht im mindesten beitragen können.
Sie werden mir zugeben: wenn das Artikel von Koryphäen des landwirthschaftlichen Bundes sind, so glaube ich — nicht, daß die Herren nicht fähig wären, viel Besseres zu schreiben —, ich glaube aber, sie halten es um des Publikums in großen Massen willen, welches sie vor sich zu haben glauben, für nöthig, auf dieses Niveau herabzusteigen. (Heiterkeit.)
Ich komme nun auf einen zweiten Einwand, den ich gegen den Bund der Landwirthe habe, das ist die agitatorische Betriebsweise. Der Abg. Herr von Ploetz hat eben die Güte gehabt, zuzugeben, daß der Bund für seine Ziele agitatorisch wirke. Auch wenn er es nicht zugegeben hätte, so wäre es ja offenkundig. Wenn der Bund sich so auf die großen Massen stützen will, so muß er wohl Agitation treiben; daß damit aber nicht gerade eine Vertiefung der Ideen verbunden ist, ist an sich selbstverständlich.
Aber auch weiter: es liegen noch andere Gefahren in der Agitation, unter anderen die, daß mit den conservativen Principien die Sache nicht immer vereinbar ist (sehr richtig! links); denn ich bin ein alter conservativer Mann, habe die Ursprünge der conservativen Partei miterlebt, habe Stahl und Hirsch auf dem Katheder gehört. Damals war eins der ersten Axiome, dem ich mein Leben⸗ lang zugestimmt habe und noch heute zustimme: Autori⸗ täten, und nicht Majoritäten! Jetzt haben Sie einen Weg beschritten — und es ist mir begreiflich, das allgemeine Wahlrecht bringt dazu —, indem conservative Männer dieses Princip umkehren und sagen: Majoritäten, und nicht Autoritäten! Ich meine hier mit Autoritäten nicht etwa die Regierungen. Ich würde wünschen, daß Autoritäten unter Ihnen sich nun bemühten, die Mittel und Wege zu finden, wie der Calamität abzuhelfen ist.
Weiter haben Sie nicht umhin gekonnt, die pecuntäre und wirth⸗ schaftliche Lage scharf zu betonen. Geschieht das agitatorisch, so folgt ganz von selbst, daß der Eigennutz des Einzelnen mit ins Gefecht ge⸗ führt wird; die Staatsidee tritt immer mehr zurück, die Interessen der Einzelnen treten immer mehr in den Vordergrund. Das ist ganz unvermeidlich, und der Einzelne, wenn er sich auch nur in be⸗ schränktem Maße zum Egoismus berechtigt hält, wird noch egoistischerl, wenn er in der Genossenschaft steht. Und so haben wir denn Dinge zu hören und zu lesen be⸗ kommen, die mich aufs stiefste betrüben, in denen ich einen Rückschritt unseres Staatslebens und patriotischen Empfindens erkenne;
Dinge, die, wenn man sie mit dem vergleicht, was früher in Deutsch⸗ land gedacht und gethan worden ist, tief beklagenswerth sind; Dinge, über die ein Fichte und Ernst Moritz Arndt mit der heiligsten Ent⸗ rüstung sprechen würden. Man stellt die Interessen einer Gruppe den Interessen des Staats voran. Das ist das, was ich beklage. (Sehr richtig!) Nicht, daß es der Ansicht der leitenden Herren ent⸗ spräche; aber es ist die unvermeidliche Folge des agitatorischen Vor⸗ gehens; das kann garnicht anders sein.
Ich will auch hier ein Beispiel anknüpfen. Ich habe gesagt, ich besäße kein Ar und keinen Halm. Das ist eine Behauptung, die den thatsächlichen Verhältnissen entspricht. (Heiterkeit. — Zuruf: „Leider“!) — Nun sagt einer der Herren: Leider. Ja, wenn ich nun ein Ar hätte und hätte das Ar so verschuldet, wie die Herren sagen, daß die Landwirthschaft jetzt dasteht, — glauben Sie, daß ein so ver⸗ schuldeter Reichskanzler ein wünschenswerther Reichskanzler wäre? Ich glaube nicht! (Heiterkeit.)
Aber weiter! Ist es denn nicht traurig, wenn den ersten Beamten des Reichs dergleichen zum Vorwurf gemacht wird? Was heißt denn das? Entweder heißt es: Du hast von der praktischen Landwirth⸗ schaft nicht die erforderlichen Kenntnisse. — Nun bin ich der Meinung, daß solche Kenntnisse doch nur in beschränktem Maße erforderlich sind, um sich über die Lage eines Berufszweiges, auch eines so wichtigen Berufszweiges, zu unterrichten. Ich glaube nicht, daß es nothwendig ist — und ich glaube auch nicht, daß diese Herren alle es gethan haben —, den Dreschflegel zu schwingen und den Pflug zu führen, um diejenigen Kenntnisse zu erwerben, aus denen heraus man im ganzen die Lage der Landwirthschaft beurtheilen kann. Aber es kann sein, daß nicht bloß der Vorwurf einer solchen Unkenntniß mir damit hat gemacht werden sollen; ich glaube vielmehr, man hat sagen wollen — und ziemlich unverblümt ist das herausgekommen —: der Mann ist nicht interessirt an der Landwirthschaft, deshalb nimmt er an unseren Interessen nicht theil. Ja, meine Herren, wenn das der Fall wäre, wie weit wären wir dann gesunken, wenn man voraus⸗ setzte, daß der Egoismus der Hebel für die Handlungen eines Beamten ist! (Sehr richtig!) Ich behaupte noch heute und sage das immer wieder und sage es gern — denn es entspricht der Wahrheit —: ich habe einmal kein Ar und keinen Halm: trotzdem aber werde ich, soweit mein Erkennen und mein Vermögen reicht, für die Landwirth⸗ schaft weiter sorgen. (Bravo!)
Es werden Angriffe der sonderbarsten Art gegen die Regierung erhoben; so wurde neulich von agrarischer Seite — nicht hier im Hause — gesagt: wir müssen diese und diese Forderungen stellen; es scheint zwar unmöglich, sie zu erfüllen, aber von der Regierung sind wir berechtigt zu verlangen, daß sie das Unmögliche kann. Ja, meine Herren, das übersteigt doch die Grenze einer verständigen Agitation; das geht so weit, daß ich mich einer Kritik eines solchen Angriffs besser enthalten zu können glaube. Ich habe dies hier erwähnt, weil es eben zeigt, wie — gegen den Willen der Führer des landwirth⸗ schaftlichen Bundes, wider den Willen der Männer, die sich diesem Bunde angeschlossen haben, um ihn in gemäßigten Bahnen zu er⸗ erhalten, — die Agitation einen solchen Umfang annimmt, daß ich fürchte, die Herren, die jetzt die Leiter sind, werden sie nicht in den ihnen selbst wünschenswerthen Grenzen halten können. Sie haben die Agitation zum Schwungrad und in den großen Massen den Egoismus zum Motor ihres maschinellen Großbetriebs gemacht, und wo das auf⸗ hören wird, vermag ich nicht abzusehen.
Dann aber machen Sie noch den anderen Fehler: Sie nehmen die Landwirthschaft heraus aus dem Staatsleben, Sie denken sie sich isolirt. Dies ist auch gegenüber den Handelsverträgen vielfach zur Anschauung gekommen. Sie sind schon so weit, daß Sie gegen die Industrie, die Ihnen bisher so befreundet war, vorgehen. (Wider⸗ spruch rechts.)
Ich will auch hier wieder den Satz anführen, der landläufig bei Ihnen geworden ist, den man immer wieder als ein Argument dafür hört, daß vor allen Dingen für die Landwirthschaft gesorgt werden muß, gleichviel was aus dem Uebrigen würde, dem würde ja dann ein indirecter Vortheil zukommen — der Satz ist: „Hat der Bauer Geld, hat's die ganze Welt.“ (Sehr richtig! rechts.) Der Satz war einmal richtig, er war richtig, als wir ein Ge⸗ treideexportstaat waren, und er ist noch heute so weit richtig, als er etwa sagen will, daß eine gute Ernte ein Segen für das ganze Land ist; aber weiter paßt er nicht mehr auf die heutigen Ver⸗ hältnisse, denn münzt denn der Bauer Geld? Der Bauer bekommt erst Geld durch die Leute, die ihm seine Producte abkaufen. Das hat ja Herr Paasche nach meiner Ueberzeugung ganz richtig geschildert. Wenn diese anderen Stände nicht in der Lage sind, kaufen zu können, dann ist der Bauer auch nicht in der Lage, seine Schweine, Eier und was Herr Paasche sonst noch anführte, abzusetzen. Es besteht also eine Wechselwirkung zwischen den Ständen. Wir können nicht ohne die Landwirthschaft bestehen, wir können aber auch nicht allein von der Landwirthschaft leben, und die Frage, die von Ihnen so oft aufgeworfen wird: ob denn jemand behauptet, daß die Industrie der Landwirthschaft vorgeht, ist eine Etikettenfrage, ganz werthlos für das praktische Leben. Es ist gerade wie mit der Frage von Schutzzoll und Freihandel. Die hat keinen Werth, es handelt sich einfach darum: ein Berufszweig greift in den anderen ein, und der Schade des einen ist auch der Schade des anderen, und der Staat kann gar nicht existiren, wenn einzelne Berufszweige zu Grunde gehen. Sie aber haben eine Anschauungsweise angenommen, in der Sie immer nur die Landwirthschaft sehen und alles Andere vergessen. (Zwischen⸗ ruf rechts.) Es würde mir nicht zu schwer werden, aus einem heute aus der „Kreuzzeitung“ erschienenen Artikel Ihnen derartige Dinge nachzuweisen; aber ich bin schon erfreut, wenn ich vernehme, daß die Ansicht hier nicht unter allen Herren verbreitet ist. (Heiterkeit.)
Ich habe mir vorhin vorbehalten, auf das Vieh zurückzukommen. Es ist hier nicht erwähnt, aber in der Presse so viel und bis in die letzten Tage und auch wieder in der Verbindung mit den Handels⸗ verträgen von dem Schaden gesprochen, den ich angerichtet hätte, daß ich mir erlauben möchte, Ihre Aufmerksamkeit noch für einige Augen⸗ blicke darauf zu lenken.
Es ist mir vor einiger Zeit die Eingabe der pommerschen ökonomischen Gesellschaft zugegangen, sie sprach von den enormen Verlusten, welche die deutsche Landwirthschaft durch die Maul⸗ und Klauenseuche infolge der wieder freigegebenen Einfuhr von Schweinen aus verseuchten Ländern erleide. Erstens sind aber keine Verluste in⸗ folge der Verträge erlitten, wie ich nachher nachweisen werde, und zweitens, die Grenze ist nicht geöffnet worden. Es sind nur vie