1894 / 39 p. 2 (Deutscher Reichsanzeiger, Wed, 14 Feb 1894 18:00:01 GMT) scan diff

Schiffe von 10 Kopeken auf 1 Rubel für die Last (= 42 Diese Maßregeln, von denen die zolltarifarischen demnächst beiderseits auch auf Finland erstreckt wurden, sind bisher noch in Kraft. Gleichwohl wurden die nur auf kurze Zeit unterbrochenen Verhandlungen wieder aufgenommen durch Einleitung eines erneuten Meinungsaustausches über die beiderseits aufzustellenden Forderungen.

Was Rußland als Gegenleistung für die seinerseits zu machenden Zugeständnisse von Deutschland verlangte, war im wefentlichen die Gewährung der Meistbegünstigung für die russischen Bodenerzeugnisse. Nachdem in den letzten Jahren nach und nach alle an der Getreide⸗ einfuhr nach Deutschland betheiligten Länder die zunächst an Oesterreich⸗ Ungarn zugestandenen Zollermäßigungen für landwirthschaftliche Er⸗ zeugnisse durch Verträge beziehungsweise durch Meistbegünstigung er⸗ langt hatten, war Rußland als der einzige Staat übrig geblieben, der hinsichtlich seiner Getreideausfuhr an dem deutschen Vertragstarif nicht theilnahm, sondern auf die Zollsätze des autonomen deutschen Tarifs angewiesen blieb.

Bei der Prüfung des russischen Vorschlags kam es darauf an, ein klares Bild darüber zu gewinnen, wie die Gewährung der Meist⸗ begünstigung an die Bodenerzeugnisse Rußlands auf unsere Volks⸗ wirthschaft wirken würde.

Gegenwärtig wird die Differenzierung des russischen Getreides deutscherseits durch Anwendung des Spstems der Ursprungszeugnisse und Beobachtung des russischen Getreideverkehrs nach den anderen europäischen Ländern erfolgreich durchgeführt. Dem russischen Ge⸗ treide bleibt, wenn es nicht die deutschen Kampfzölle entrichtet, der Eingang nach Deutschland verwehrt, ohne daß es auf dem Umwege über meistbegünstigte Länder unter fremder Flagge über die deutsche Grenze zu dringen vermag. Wenn nun auch diese differentielle Be⸗ handlung des russischen Getreides zur Zeit sichergestellt ist, so ist es doch in A2 Maße zweifelhaft, ob sich dieselbe auf längere Zeit mit dem gleichen Erfolge würde durchführen lassen, namentlich im Falle einer Ausdehnung des Müllereigewerbes in den meistbegünstigten Nachbarländern. Aber selbst wenn sich zolltechnisch eine diffecentielle Behandlung Rußlands andauernd sollte ermöglichen lassen, so würde doch der deutschen Landwirthschaft daraus kein Nutzen erwachsen, weil die Annahme, daß das Fernhalten des russischen Getreides den Preis der deutschen Bodenerzeugnisse günstig zu beeinflussen ge⸗

ignet sei, nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht zutrifft.

Die russische Getreideausfuhr ist bezüglich der von ihr zu er⸗ zielenden Preise lediglich abhängig von der jeweiligen Lage des Welt⸗ marktes und der Preisbildung für die Welthandelsartikel der Getreide⸗ börse, einschließlich des Roggens. Die großen russischen Ausfuhrplätze folgen daher in ihren Preisnotierungen den Börsenpreisen der Welt⸗ handelsplätze, in erster Linie Londons, dergestalt, daß die Notierungen der russischen Getreidebörsen an den Ausfuhrhäfen, in Kredit⸗ Rubeln zum Tageskurse ausgedrückt, den gleichzeitigen Londoner Notierungen in Gold, nach Abzug von Fracht und Spesen, ent⸗ sprechen. Rußland vermag also sein Getreide im Auslande nur zu den Weltmarktpreisen zu verkaufen, die Getreideausfuhr Rußlands nach Deutschland steht daher unter der vollen Einwirkung der Preis⸗ bildung auf dem Weltmarkte. Der Antheil Rußlands an der Getreideversorgung Deutschlands hatte in den letzten Jahren, besonders nach der guten Ernte Mittel⸗ und Süd⸗Rußlands im Jahre 1888, erheblich zugenommen. Seit dem Jahre 1892 aber haben sich diese Verhältnisse wesentlich verschoben. Als hauptsächlichster Faktor, und zwar von dauernder Bedeutung, wirkte zu dieser Verschiebung die er⸗ wiesene Steigerung der Leistungsfähigkeit der übrigen Getreide⸗ produktionsländer. Die hier in Betracht kommenden Staaten es sind vor allem die Vereinigten Staaten von Nord⸗Amerika, Argentinien, die Balkan⸗Staaten und Rumänien haben seit den letzten Jahren eine stetig wachsende Energie in der Aufnahme des Wettbewerbes mit Rußland auf dem Weltgetreidemarte bethätigt. Dazu kam ferner, daß die Mißernten in Rußland zu Beginn der neunziger Jahre zu Ausfuhrverboten führten, welche die russische Be⸗ theiligung an der Versorgung des europäischen Getreidebedarfs gerade in dem Zeitpunkte lahmlegten, wo die Leistungsfähigkeit und Aus⸗ fuhrthätigkeit jener anderen Länder einen nachhaltigen Aufschwung genommen hatte. Als Rußland sich vom Platze zurückzog und seine Getreideausfuhr einstellte, traten sofort jene Konkurrenzländer an seine Stelle und nahmen den Antheil Rußlands auf ihre Schultern. Die Folge war, daß trotz des Versiegens der russischen Bezugsquelle sich auf dem Weltmarkt ein Mangel an Brotfrucht nicht fühlbar machte. Diese Vorgänge vollzogen sich ohne erheb⸗ liche Störungen; sie haben den Beweis geliefert, daß der Welt⸗ getreidemarkt nunmehr auch ohne das Hinzutreten Rußlands in der Lage ist, den Getreidebedarf der europäischen Länder, insbesondere auch Deutschlands, zu decken. Als dann Rußland seine Getreideausfuhr wieder frei gab, war seine Konkurrenz auf dem Weltmarkte wesentlich

geschwächt, da es überall dem Wettbewerbe jener Länder begegnete,

schränkung

erblicken für den Preisrückgang der Brotfrüchte,

die sich in der Zwischenzeit eine feste Position bei ihren Abnehmern geschaffen hatten. Noch unzwejdeutiger aber trat die gedachte Ver⸗ schiebung der Getreisebenhsecen während des deutsch⸗russischen Zollkrieges hervor, der das russische Getreide behinderte, auf dem deutschen Markte den Wettbewerb wiederaufzunehmen. Diese Ein⸗ war von um so größerem Einfluß, als Rußland im Jahre 1893 über eine gute Ernte zu verfügen hatte n nunmehr gezwungen ve Ueberschüsse an Weizen und Roggen neue Absatzgebiete zu niedrigeren Preisen auf⸗ zusuchen. In der durch die Unzulänglichkeit des hauptsächlichsten Absatzgebietes für das russische Getreide hervorgerufenen Minder⸗ werthigkeit des letzteren auf dem Weltmarkt ist eine der Ursachen zu welcher gegenwärtig

die Landwirthschaft aller Getreideproduktionsländer bedrückt. Wollte

unter solchen Umständen Deutschland die Bodenerzeugnisse Rußlands

andauernd differentiell behandeln, so würde die deutsche Landwirtbschaft einen Nutzen davon nicht ziehen, denn der deutsche Markt würde dann

statt mit russischem Getreide, mit amerikanischer, rumänischer und anderer deutscherseits meistbegünstigter Waare versorgt werden, und

8

zwar zu den Weltmarktpreisen, die durch das anderweit Absatz suchende russische Getreide fortgesetzt beeinflußt werden.

In Deutschland konnte sich diese Versorgung mit nichtrussischem Getreide um so glatter vollziehen, als die deutschen Ernten der leßten beiden Jahre gut ausgefallen waren, sodaß der Bedarf an auslän⸗ dischem Getreide erheblich geringer war als in den Vorjahren. Wie sehr aber die Leistungsfähigkeit der Getreideproduktionsländer in der

Fähigkeit zur Versorgung des deutschen Markts an Stelle Rußlands

während der letzten Jahre zugenommen hat, ergiebt sich aus den folgenden Zahlen der deutschen Reichs⸗Statistik. Es gingen nach Deutschland ein: B Vereini oppel⸗Ztr.

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3,01 % 232 996 286 176 527 400 aus der Türkei (:m 330 955 Doppel⸗Ztr. 1 1338

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1891 1892 1893 1891 1892

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aus den Vereinigten Staaten: 8 12 175 Doppel⸗Ztr. = 0,16 % der Gesammteinfuhr, 122 409 4 1,68 % 3 102 936 1,76 % 8 aus Rumänien: 475 998 Doppel⸗Ztr. 6,4 % der Gesammteinfuhr, 526 084 8 7 773 035 8 2 027 244 2 1u“ aus der Türkei (mit Bulgarien): 1 41 036 Doppel⸗Ztr. 0,56 0% der Gesammtei 183 481 3,14 % 145 873

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167 016 D 153 764 501 406 8 132 764 . Im ganzen führte Deutschland arten an b Weizen Roggen Gerste Mais Hafer Doppel⸗Ztr. Doppel⸗Ztr. Doppel⸗Ztr. Doppel⸗Ztr. Doppel⸗Ztr. 1891. 9053 317 8 426 541 7 255 193 4 083 266 1 198 835 1892 12 962 126 5 832 966 7 173 102 878 368 1893. 7 034 530 22 9 8 517 404 7 610 793 2 429 460 zusammen in den fünf Hauptgetreidearten in den Jahren: 1891 .30 017 ,152 Doppel⸗Ztr., 1892 .32 332553 1893 27 867 966 davon aus Rußland: EI P8E11“ 2

Diese Zahlen beweisen einerseits den großen Aufschwung in der Ausfuhrthätigkeit der meistbegünstigten Länder, nachdem das deutsche Absatzgebiet für Rußland verschlossen war; andererseits legen diese Zahlen die Fähigkeit jener Länder dar, sich dem Bedarf des deutschen Absatzgebiets anzupassen. Ferner zeigen diese Ziffern, daß infolge der guten Ernte Deutschlands im Jahre 1892 und 1893 eine starke Abnahme der deutschen Getreideeinfuhr trotz der Ermäßigung der deutschen Eingangs⸗ zölle eingetreten ist. Der Rückgang in den Einfuhrmengen würde noch erheblicher sein, wenn nicht die Fehlernte Deutschlands in Futter⸗ stoffen im Jahre 1893 stärkere Zufuhren in gewissen Getreidearten bedingt hätte.

Wenn nun, wie die vorstehenden ziffermäßigen Angaben darthun, die Einfuhr Deutschlands in den wichtigsten, unter den Vertragstarif fallenden Artikeln, in welchen, außer Rußland, noch eine Reihe anderer Länder lieferungsfähig ist, von diesen in größtem Um⸗ fange gedeckt wird, so hat schon gegenwärtig, vor Einräumung der Meistbegünstigung an Rußland, die deutsche Landwirthschaft gegen⸗ über dem ausländischen Mitbewerb nur mit dem Zollschutz des deutschen Vertragstarifs zu rechnen, und die Sätze des letzteren sind schon jetzt auch für die thatsächlichen Zolleinnahmen des Reichs in der Hauptsache maßgebend.

Die in dieser Hinsicht hervorgetretenen Bedenken gegen eine Ein⸗ räumung des deutschen Vertragstarifs an Rußland können daher als zutreffend nicht erachtet werden. Ergiebt sich aus den vorstehenden

arlegungen zugleich, daß die Gewährung der Meistbegünstigung für die russischen Bodenerzeugnisse ohne Schädigung der deutschen Landwirthschaft erfolgen kann, so sprachen andererseits die Interessen der Industrie, des Handels und der Schiffahrt Deutschlands in zwin⸗ gender Weise dafür, die russischerseits angebotene Verständigung auf der Basis der gegenseitigen Meistbegünstigung und der Ermäßigung des russischen Zolltarifs nicht abzulehnen. Die russischerseits bei Be⸗ ginn der Vorbesprechungen für die Vertragsverhandlungen vertretene Auffassung, daß Rußland die Vorenthaltung von Tarifermäßigungen, für welche letztere es eine genügende Gegenleistung nicht bot, als eine zur schwerde berechtigende Unbilligkeit ansehen müßte, konnte zwar deutscherseits nicht getheilt werden. Dagegen ließ sich die Anschauung nicht abweisen, daß Rußland auf den Mitgenuß jener Vortheile werde rechnen dürfen, wenn es sich zu analogen Gegen⸗ leistungen, wie die uns von anderen Vertragsstaaten gewährten, bereit finde. Eine prinzipielle Ablehnung des russischen Vertragsvorschlags würde nicht nur einen Verzicht auf die von der Industrie, dem Handel und der Schiffahrt dringend gewünschte Besserung und Sicherstellung unserer Handelsbeziehungen zu Rußland, sondern eine Fortsetzung und voraussichtlich eine Verschärfung der im Sommer 1893 von beiden Seiten getroffenen Zollmaßnahmen und zwar, wie oben dargelegt, ohne Vortheil für die deutsche Landwirthschaft bedeutet haben.

Ein Rückblick auf den Stand der Handelsbeziehungen Deutsch⸗ lands zum russischen Reich während der letzten Jahre ergiebt, welche Interessen für Deutschland auf dem Spiel standen, wenn der zwischen beiden Ländern entfesselte Zollkrieg zu einem dauernden Zustand wurde.

Was zunächst die Bedeutung des russischen Markts für die deutsche Ausfuhr anlangt, so hatten sich die Absatzverhältnisse in Rußland während des letzten Jahrzehnts zum Nachtheile Deutschlands fortgesetzt verschlech⸗ tert. Unter dem Schutze systematisch erhöhter Eingangszölle hatte im russischen Reich die einheimische Industrie sich schnell entwickelt, be⸗ sonders auf dem Gebiete des Eisens und der Gewebe. Mit dem Em⸗

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rblühen dieser Industrie verlor der deutsche Absatz stetig an Boden in ußland. Wenn auch für eine Reihe von Gegenständen der deut⸗ schen Ausfuhr, wie gewisse Arten von Chemikalien, Maschinen und Instrumenten, welche die junge russische Industrie entweder noch gar nicht oder nicht in der genügenden Menge und Beschaffenheit oder nicht zu den sachentsprechenden Preisen herzustellen vermag, die deut⸗ schen Interessen noch nicht unmittelbar bedroht erschienen, so war doch zu befürchten, daß mit dem Erstarken der russischen Industrien auch der Rückgang der deutschen Ausfuhr nach Rußland weiter Schritt halten werde. Schon um nur das bisher von der deutschen Industrie noch behauptete Gebiet zu halten, war eine Sicherung desselben durch Bindung der in Frage kommenden Positionen des russi⸗ schen Tarifs im hohen Grade wünschenswerth. Viel ge⸗ wichtiger aber war die Aussicht, welche die Eröffnung der jetzt abgeschlossenen Handelsvertragsverhandlungen bot, durch Erreichung von Zollermäßigungen für hervorragende Artikel der deutschen Ausfuhr den bereits verlorenen Markt wieder zu gewinnen und für andere eine weitere Ausdehuung des deutschen Absatzes anzubahnen. Andererseits hatte gegenüber diesen Erwartungen, welche sich an ein günstiges Ergebniß der Verhandlungen knüpften, der Verlauf des Zollkrieges im vergangenen Jahre gezeigt, daß Deutschland in Gefahr stand eine ansehnliche Zahl von Artikeln, die es früher nach Rußland geliefert, an andere Länder zu verlieren. Be⸗ stellungen, die sonst nach Deutschland gingen, und zwar in wichtigen Gegenständen der deutschen Industrie, richteten sich jetzt nach anderen Staaten, aus deren Gebiet der russische Abnehmer die Waare zu ge⸗ ringeren Zollsätzen beziehen konnte. 8

Ebenso wie die deutsche Waarenausfuhr nach Rußland litt auch unter dem Zollkrieg der deutsche Handel, welcher sich bis dahin lebhaft an der Vermittelung der russischen Ausfuhr und an der Versorgung Ruß⸗ lands mit fremden Erzeugnissen betheiligt hatte. Beispielsweise gingen an Rohbaumwolle von Deutschland nach Rußland

1892 34 194 Doppel⸗Ztr. 1893

Am schwersten aber wurden durch den Zollkrieg betroffen die deutschen Rhedereien, welche bisher einen regen Verkehr von den deutschen Ost⸗ und Nordseeplätzen nach Rußland und Finland unter⸗ halten hatten und jetzt durch die russischerseits verfügte Erhöhung der Schiffsabgaben von diesem Verkehr ferngehalten wurden.

Angesichts dieser Sachlage haben der Handel und die Industrie Deutschlands auf das nachdrücklichste bekundet, daß sie das allergrößte Gewicht darauf legen, von den Fesseln, die der von Rußland hervor⸗ zerufene Zollkrieg ihnen angelegt, so schnell wie irgend möglich wieder efreit zu werden. 8

Unter Berücksichtigung der vorstehenden Momente ist nach pflicht⸗ mäßiger, unter dem Beirath berufener Vertreter der Landwirth⸗ schaft, der Industrie und des Handels erfolgter Unscamß er für und wider sprechenden Momente in die Verhandlungen mit Rußland eingetreten und unter ständiger dankens⸗ werther Mitwirkung jener Vertrauenspersonen der vorliegende Handels, und Schiffahrtsvertrag vereinbart worden, durch welchen Rußland auf der Basis gegenseitiger Meistbegünstigung für den deutscherseits gewährten Vertragstarif nicht bloß die inzwischen anderen Staaten eingeräumten Tarifetmäßigungen, sondern erheblich weitergehende, von den Interessenten als werthvoll erfannte Ver⸗ günstigungen zugesteht. Die Dauer des Vertrages ist auf zehn Jahre bemessen, wodurch für unsere Verkehrsbeziehungen mit Rußland die nothwendige Stabilität geschaffen wird.

8

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Die vereinigten Ausschüsse des Bundesraths für Zoll⸗ Steuerwesen und für Handel und Verkehr hielten heute Sitzung

und

Die Kommission für Arbeiterstatistik trat heute

im Reichsamt des Innern unter dem Vorsitz des Unter⸗ Staatssekretärs Dr. von Rottenburg zu einer Sitzung zu⸗ sammen. Als Kommissare des Reichskanzlers wohnen die Geheimen Regierungs⸗Räthe Dr. Wilhelmi und Dr. Sell, sowie die Regierungs⸗Assessoren Lohmann und Koch, als Kommissare des Ministers für Handel und Gewerbe die Regierungs⸗Assessoren Dönhoff und von Meyeren den Ver⸗ handlungen bei.

Die Tagesordnung ist folgende:

1) Eingänge und geschäftliche Mittheilungen.

2) Untersuchung uͤber die Arbeitszeit in Bäckereien und Konditoreien.

3) Antrag einer Kommission von Bureauangestellten: eine Abänderung hes Regulativs der Kommission für Arbeiter⸗ statistik dahin herbeizuführen, „daß die Aufnahme von Berufs⸗ statistiken neben den gewerblichen Berufen auch für den Stand der Bureauangestellten erfolgen könne“.

An den Verhandlungen über den zweiten Gegenstand der Tagesordnung nehmen als Beisitzer 5 Sachverständige, nämlich der Garnison⸗Backmeister der Garnison Berlin sowie 2 Bäcker⸗ meister und 2 Bäckergesellen theil. Ferner sind 40 Auskunfts⸗ personen, 24 für Bäckerei, 16 für Konditorei zur mündlichen Vernehmung geladen. 1 v 1“

Nach der im Reichs⸗Eisenbahnamt aufgestellten weisung der auf deutschen Eisenbahnen aus⸗ schließlich Bayerns im Monat Dezember v. J. beim Eisenbahnbetriebe (mit Ausschluß der Werkstätten) vor⸗ gekommenen Unfälle waren im ganzen zu verzeichnen: 3 Entgleisungen und 3 Zusammenstöße auf freier Bahn, 30 Ent⸗ gleisungen und 16 Zusammenstöße in Stationen und 229 sonstige Unfälle (Ueberfahren von Fuhrwerken, Feuer im Zuge, Keffel⸗ explosionen und andere Ereignisse beim Eisenbahnbetriebe, sofern bei letzteren getödtet oder verletzt worden sind). Bei diesen Unfällen sind im ganzen, und zwar größtentheils durch eigenes Verschulden, 255 Personen verunglückt, sowie 33 Eisenbahnfahrzeuge erheblich und 146 unerheblich beschädigt. Von den beförderten Reisenden wurden 8 getödtet und 16 ver⸗ letzt, und zwar entfallen: je eine Tödtung auf die Krefelder Eisenbahn, auf die Reichseisenbahnen in Elsaß⸗Lothringen und auf den Verwaltungsbezirk der Königlichen Eisenbahn⸗Direktion in Breslau, zwei Tödtungen auf den Verwaltungsbezirk der Königlichen Eisenbahn⸗Direktion in Berlin und je eine Tödtun auf die Verwaltungsbezirke der Königlichen Eisenbahn⸗Diret⸗ tionen in Bromberg, in Magdeburg und in Hannover, elf Verletzungen auf den Verwaltungsbezirk der Königlichen Eisen⸗ bahn⸗Direktion in Erfurt, je eine Verletzung auf die Reich eisenbahnen in Elsaß⸗Lothringen, auf die Großherzoglich badischen Staatseisenbahnen und auf die Verwaltungsbezirte der Königlichen Eisenbahn⸗Direktionen in Frankfurt a. M. in Köln (rechtsrheinische) und in Köln (linksrheinische). Von Bahnbeamten und Arbeitern im Dienst wurden beim eigent⸗ lichen Eisenbahnbetriebe 37 getödtet und 161 verletzt, von Steuer⸗ u. s. w. Beamten einer getödtet und zwei verletzt, vor fremden Personen (einschließlich der nicht im Dienst find⸗ lichen Bahnbeamten und Arbeiter) 19 getödtet und 11 verlezt.

Außerdem wurden bei Nebenbeschäftigungen 36 Bahnbeamte

8

teoffen.

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der

wegen find leider noch immer nicht befriedigend.

und Bahnarbeiter verletzt. Von den sämmtlichen Unfällen beim Eisenbahnbetriebe entfa auf: A. Staatsbahnen und unter Staatsverwaltung stehende Bahnen l(bei zu⸗ sammen 34 858,53 km Betriebslänge und 976 124 971 geför⸗ derten Achskilometern) 264 Fälle; davon sind verhältniß⸗ mäßig, d. h. unter Berücksichtigung der geförderten Achs⸗ klon und der im Betriebe gewesenen Längen, auf der Main⸗Neckar⸗Eisenbahn und in den Verwaltungsbezirken der Königlichen Eisenbahn⸗Direktionen in Köln (rechtsrheinische) und in Elberfeld die meisten Unfälle vorgekommen. B. Privat⸗ bahnen (bei zusammen 2543,22 km Betriebslänge und 30 832 957 geförderten Achskilometern) 17 Fälle; davon sind verhältnißmäßig auf der Krefelder Eisenbahn, auf der Hesfischen Ludwigsbahn und auf der Dortmund⸗Gronau⸗ Enscheder Eisenbahn die meisten Unfälle vorgekommen.

Der Bevollmächtigte zum Bundesrath, Königlich bayerische Ministerial⸗Rath Geiger ist in Berlin angekommen, und der Bevollmächtigte zum Bundesrath, Fürstlich lippische Kabinets⸗ Minister von Wolffgramm ist von hier wieder abgereist.

Nach den der Woermann⸗Linie in Hamburg zugegangenen

telegraphischen Nachrichten sind die mit dem Dampfer „Adolf

Woermann“ an der Liberiaküste gestrandeten Passagiere

auf den Dampfer „Carl Woermann“ aufgenommen und in Accra angekommen, von wo sie nach Kamerun und Togo

ebracht werden sollen.

S. M. Kreuzer „Falke“, Kommandant Korrvetten⸗

apitän Graf von Moltke (Heinrich), ist laut telegraphi⸗ scher Meldung an das Ober⸗Kommando der Marine am 13. Februar in Sydney eingetroffen.

Bayern.

Die Kammer der Abgeordneten genehmigte in ihrer gestrigen Sitzung nach lebhafter Debatte die Gesammt⸗ einnahme des Post⸗Etats, die mit 24 450 870 ab⸗ schließt. Im Laufe der Debatte erklärte der Minister⸗Präsident Freiherr von Crailsheim die Herabsetzung der Telephon⸗ gebühr für unthunlich.

Sachsen. Seine Majestät der König hat, wie das heute früh aus⸗ gegebene Bulletin besagt, gut geschlafen; die gestern be⸗ richtete Besserung macht weitere Fortschritte. In der gestrigen Sitzung der Zweiten Kammer brachte Abg. von Oehlschlägel eine Interpellation ein: ob die Regierung bei der Abstimmung im Bundesrath über

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den deutsch⸗russischen Handelsvertrag die der sächsischen Land⸗

wirthschaft durch die preußischen Staffeltarife auf Getreide entstehenden Schäden zu berücksichtigen gedenke. Der Inter⸗ pellant wies, wie das „Dr. J.“ berichtet, auf die schwierige Lage der Landwirthschaft hin und legte es der Regierung nahe, für den Fall, daß Preußen seine Staffeltarif⸗ politik nicht aufgäbe, gegen den russischen Handels⸗ vertrag zu stimmen. Der Minister des Innern von Metzsch beantwortete die Interpellation dahin, daß sich die Staatsregierung heute über ihre Abstimmung im Bundes⸗ rath nicht binden könne. Die Staffeltarifpolitik und der Handelsvertrag seien jedoch nicht so verquickt, daß man von der Haltung der preußischen Regierung in der ersteren Frage die Abstimmung im Bundesrath abhängig machen könne, wenn sie auch gelegentlich dieses Vertrags im Bundesrath diskutierbar sei. Die Regierung werde mit allen Kräften dafür eintreten, daß die Staffeltarife aufgehoben würden. Es sei auch Hoff⸗ nung vorhanden, darin Erfn zu haben. Das Haus trat so⸗ dann in die Besprechung der Interpellation ein.

Baden. Die Rekonvalescenz Ihrer Königlichen Hoheit der Groß⸗ herzogin hat, wie die „Karlsr. Ztg.“ meldet, in der ver⸗ gangenen Woche langsame, aber gute Fortschritte gemacht. Ihre Königliche Hoheit bringt jetzt den größeren Theil des Tages außer Bett zu, muß aber noch viel der Ruhe pflegen. Der Katarrh ist noch immer vorhanden und die Eßlust gering, weshalb auch die Kräfte nur langsam wiederkehren. ie Nachrichten über das Befinden Ihrer Königlichen Hoheit der Kronprinzessin von Schweden und Nor⸗ Seit ihrer Ankunft in Rom hat die Kronprinzessin nur zweimal das Bett verlassen, um auf dem Ruhebett einige Stunden zu verbringen. Die Schwächezustände sind auch jetzt noch vorhanden und er⸗ fordern die größte Ruhe und sorgfältige Pflege.

Hessen. Seine Königliche Hoheit der Großherzog und Ihre

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Großherzogliche Hoheit die Prinzessin Alix sind, wie die

„Darmst. Ztg.“ meldet, gestern Vormittag in London einge⸗ Am Bahnhof waren Seine Durchlaucht der Prinz und Ihre Großherzogliche Hoheit die Prinzessin Ludwig von Battenberg zur Begrüßung erschienen. 18 Mecklenburg⸗Strelitz. I Ihre Königliche Hoheit die Großherzogin ist an Luft⸗ röhrenkatarrh erkrankt. Oldenburg.

Die Rekonvalescenz Ihrer Königlichen Hoheit der Erb⸗

8 gaoßherzogin schreitet, wie die „Wes.⸗Ztg.“ meldet, in erfreu⸗

cher Weise fort. Der Rückkehr der erbgroßherzoglichen Familie

von Schloß Panker in Holstein nach Oldenburg wird zum

28. Februar entgegengesehen.

Oesterreich⸗Ungarn.

3 In dem niederösterreichischen Landtag wurde, wie „W. T. B.“ berichtet, gestern das Landesgesetz über das An⸗ lehen der Stadt Pien im Betrage von 4 Millionen Gulden nach längerer Debatte angenommen. Die Abgeordneten Lueger, Schneider und Gregorig wurden im Laufe der Sitzung vegen heftiger Angriffe auf die Finanzwirthschaft der Kommune zur Ordnung gerufen. v“ 8

Der oberösterreichische Landtag hat in seiner gestrigen Sitzung mit 32 gegen 15 Stimmen nach längerer Berathun bei der der Bischof Doppelbauer wiederholt das Wort ergriff, den Antrag des Schulausschusses angenommen, der dahin geht, der Landtag möge dem Verlangen der Bevölkerung Ober⸗ österreichs nach Wiederherstellung der konfessionellen Volksschule Ausdruck verleihen.

Im böhmischen Landtag entwickelte gestern bei der Eröffnung der Budgetdebatte der Abg. Sil das Programm der Jungczechen und griff den böhmischen Adel heftig an. Der Abg. Rieger bemerkte, es dürfte eine Zeit kommen, in welcher die Jungczechen den Widerstand gegen die Wiener Aus⸗ gleichs⸗Punktationen bitter bereuen würden, und be⸗ tonte, das Koalitions⸗Kabinet sei nicht an die Punktationen gebunden; eine Verständigung mit den Deutschen auf der Basis der Gleichberechtigung sei mögkich; der kernhafte deutsche Stamm in Böhmen habe auf allen Kulturgebieten Bedeutendes geleistet. Die Czechen müßten darnach trachten, den deutschen Volksstamm durch die Sicherung der nationalen Stellung für die Bestrebungen des böhmischen Volks zu ge⸗ winnen; der Großgrundbesitz habe die Mission des Friedensstifters, das allgemeine Wahlrecht sei schädlich und undurchführbar. Das czechische Volk habe keine Hoffnung, keine Zukunft ohne Oesterreich; auf ander⸗ weitige Kombinationen könnten die Czechen sich nicht ver⸗ lassen, die geographische Lage knüpfe dieselben fest an Oesterreich. „Wir brauchen die Dynastie und die Dynastie braucht uns, wir werden uns wechselseitig immer finden. Als alter Mann, vor dem Grabe stehend, rathe ich meiner Nation, ihr Schicksal nur rechtschaffenen und vernünftigen Leuten an⸗ zuvertrauen, die mit dem Adel und dem Klerus gemeinsam den Frieden mit den Deutschen suchen.’“ Graf Buquoy be⸗ merkte, die Leichtgläubigkeit und die leichte Erregbarkeit des czechischen Volks bildeten von Alters her die Schwäche, die ühr unheilvolles Spiel mit diesem tüchtigen Volke getrieben habe. Die jungczechische Schwärmerei für das allgemeine Wahlrecht bezwecke, den Slaven die Majorität zu ver⸗ schaffen. Den Nutzen hiervon habe aber keine nationale, son⸗ dern eine internationale Partei, nämlich die besitzlosen Klassen, die einer jeden Umsturzidee zugänglich seien. Die neue Wahl⸗ ordnung müsse das Prinzip der Interessen⸗Vertretung wahren und verhüten, daß der Bürger⸗ und Bauernstand zu Gunsten der Besitzlosen unterdrückt würden. Die neue Wahlordnung sei auf der Basis aller Berufsklassen v“ unter Be⸗ rückfichtigung der Verschiedenheit der beiden Länder. Der Redner sprach sich sodann für den Zusammenschluß der Deutschen und Czechen gegenüber den Umsturzelementen aus. Die Religion müsse vor allem erhalten werden. Die Gesellschaft müsse trachten, die Unzufriedenen soweit als möglich zu befriedigen, sie sei aber verpflichtet, der Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Im Kampfe gegen die Feinde der bestehenden Gesellschafts⸗ ordnung bilde neben dem Parlament auch jener Faktor eine mächtige Stütze, zu welchem alle Völker Oesterreichs vertrauens⸗ voll emporblickten. Man müsse daher alles vermeiden, wodurch die Treue gegen die Dynastie verletzt würde. (Stürmischer Beifall.) Darauf wurde die Sitzung geschlossen.

In dem Omladinaprozeß wurde gestern die Ver⸗ handlung in Abwesenheit der Angeklagten, die Disziplinar⸗ strafen erhalten haben, fortgeführt. An Stelle der abwesenden Vertheidiger wurde vom Gericht ein Vertheidiger bestellt. Der Staatsanwalt Lorenz legte in seinem Schlußplaidoyer dar, daß weder ein politisches noch ein nationales Streben aus den Thaten der Angeklagten hervor⸗ gehe⸗ sondern daß es sich einfach um gemeine Ver⸗ rechen gegen die Dynastie, den Staat, die Religion und die Buͤrger sowie gegen behördliche Organe handele, und daß selbst ein Staat, der den Aeußerungen und den Ideen, die ig den Köpfen der Angeklagten herumspukten, entspräche, sich mit aller Macht gegen solche Verbrechen wehren müßte. Die antidynastischen und antiösterreichischen Anschläge der Angeklagten seien wohl mit Erfolg abgewehrt worden, allein die Gefährlichkeit liege darin, daß ein solches Treiben auf die Massen Einfluß ausüben und deren loyale Gefühle abstumpfen könne. Niemand sei wegen seiner politischen oder nationalen Gesinnung verfolgt worden, sondern der Untergrund der Anklage sei nur gemeine Misse⸗ that; und daß es nicht Jugendstreiche gewesen seien, welche die Angeklagten ausgeführt hätten, bezeuge der Mord, der an Mrva verübt wurde. Der Staatsanwalt wies nach, daß Mrva weder agent provocateur gewesen noch in Polizei⸗ diensten gestanden habe.

Großbritannien und Irland.

Infolge des Unfalls der Prinzessin Eugenie hat die Königin ihre Abreise von Osborne nach Windsor auf die nächste Woche verschoben. Die Prinzessin befindet sich besser, bedarf aber noch der Ruhe.

Das Oberhaus hat gestern, wie „W. T. B.“ meldet, die Kirchspielraths⸗Bill in dritter Lesung angenommen. Im Unterhaus gab der Kanzler der Schatzkammer Sir W. Harcourt die Erklärung ab, es sei weder die Wiederöffnung der indischen Münzen für freie Silberprägung, noch die Wiedereinführung des Minimalkurses für den Verkauf indi⸗ scher Schatzamtstratten beabsichtigt. Ferner sei keine Einfuhr⸗ steuer auf Silber in Indien geplant und keine Veränderung der jetzigen Politik der indischen Regierung in Aussicht ge⸗ nommen.

Frankreich.

In dem gestern abgehaltenen Ministerrath wurden, wie „W. T. B.“ erfährt, die gestrige Explosion im Terminus⸗Hotel sowie die jüngsten Kundgebungen auf dem Kirchhofe von Ivry am Grabe Vaillant's be⸗ sprochen und beschlossen, fortan Kundgebungen und das Tragen von aufreizenden Emblemen auf allen

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In der gestrigen Sitzung der Deputirtenkammer wurde die Berathung über die Getreidezollvorlage wieder aufgenommen. Der Deputirte Siegfried sprach sich gegen die Zollerhöhung aus, worauf der Berichterstatter Graux er⸗ widerte. Der Deputirte Méline vertheidigte das Schutzzoll⸗ system und maß die Schuld an dem niedrigen Ge⸗ treidepreise der Entwerthung des Silbers bei; er wünsche deshalb die Rückkehr zur Doppelwährung. Redner schloß, der vorgeschlagene Zoll sei das einzige Mittel, um das Inland mit der ausländischen Konkurrenz gleichzustellen. Der Deputirte Bouge richtete sodann eine Anfrage an die Regierung über die am Sonntag am Grabe Vaillant'’s veranstalteten Kundgebungen und beklagte sich darüber, daß die von dem Deputirten Coutant geführten Manifestanten „Es lebe die Kommune!“ gerufen und rothe Fahnen getragen

hätten. Nach dem vorgestrigen Attentat sei es unmöglich, solche Kundgebungen ferner zu dulden. Der Minister des Innern Raynal erwiderte, derartige Kundgebungen würden verboten werden. Die Regierung werde ohne Schwäche handeln und die Gesellschaft zu vertheidigen wissen. (Lebhafter Beifall.) Der Deputirte Coutant (Sozialist) erklärte, er habe an der Kundgebung am Sonntag nicht theilgenommen, und brandmarkte sodann die anarchistischen Lehren. Hierauf wurde die Sitzung aufgehoben.

Der Urheber der im Café des Terminus⸗Hotel erfolgten Explosion hat vor dem Untersuchungsrichter ein⸗ estanden, sich einen falschen Namen beigelegt zu haben, jedoch hartnäͤckig seine Identität einzugestehen verweigert. Er wurde nach zweistündigem Verhör,⸗ wobei er sich sehr hernus⸗ fordernd benahm, nach dem Gefängniß Mazas gebracht. Es wird behauptet, er komme aus England und gehöre, wie aus gewissen Merkmalen und seiner Ausdrucksweise her⸗ vorgehe, nicht dem Arbeiterstande an; andererseits ist man der Meinung, er sei aus Saragossa. Der Sachverständige Girard erklärte, die Konservenbüchse, aus welcher die Bombe an⸗ gefertigt war, sei englischen Ursprungs. Der Zustand der Verwundeten, auch der Schwerverwundeten, ist nicht gefahr⸗ drohend. Der Polizeiagent, der die Verhaftung des Ver⸗ brechers vornahm, ist von dem Minister des Innern dekoriert worden.

Wie der „Soir“ meldet, hat der Kriegs⸗Minister die Bildung einer aus Eingeborenen bestehenden Saharatruppe (Kameelreiter und Fußtruppen) unter dem Kommando fran⸗ zösischer Offiziere beschlossen.

Die internationale Sanitäts⸗Konferenz in Paris hat in der gestrigen Sitzung beschlossen, zwei große technische Kom⸗ missionen zu bilden, von denen die eine sich mit den sanitären Verhältnissen des Gebiets des Rothen Meeres, die andere mit der Organisation der Gesundheitspolizei im Persischen Meer⸗ busen beschäftigen solle.

Serbien.

Der „Pol. Korresp.“ wird aus Belgrad gemeldet, für den Wiener Gesandtschaftsposten sei der frühere Gesandte in Wien Milan Bogicevic bestimmt. Zum Gesandten in Bukarest sei der frühere Vertreter Serbiens in Sofia Danic ausersehen. An Stelle Velimirovic’'s dürfte Novakovic Ge⸗ sandter in Konstantinopel werden. Der ehemalige Regent Ristic habe dem Kabinet Simic seine Unterstützung zugesagt.

Amerika.

Wie die „Times“ aus Philadelphia weldet, empfiehlt der Ausschuß des Repräsentantenhauses die Annahme des Gesetzentwurfs über die Besichtigung der Auswanderer in den fremden Häfen durch die Konsuln, um die Ver⸗ sendung von Verbrechern und Armen zu verhindern.

Parlamentarische Nachrichten.

Der Schlußbericht über die gestrige Sitzung de tags befindet sich in der Ersten Beilage.

In der heutigen 49. Sitzung des Reichstags, welcher der Staatssekretär Dr. von Boetticher beiwohnte, wurde die zweite Berathung der Anträge Gröber (Zentr.) und Rickert (fr. Vg.) auf Abänderung des Wahlgesetzes fortgesetzt.

§ 11 a der Abänderungsvorschläge bestimmt, daß die Ab⸗ gabe der Stimmzettel in amtlich abgestempelten Umschlägen erfolgen soll, deren Beschaffenheit gleichmäßig für alle Wahl⸗ kreise vom Bundesrath festzustellen ist.

Abg. Dr. Freiherr von Heereman (Zentr.) empfiehlt die An⸗ nahme dieser Aenderung. Die Wahl solle nach der Verfassung ge⸗ heim sein, sie solle die wahre, unbeeinflußte Meinung der Wähler zum Ausdruck bringen. Diese Absicht der Verfassung sei durch die sattsam bekannten Manipulationen thatsächlich sehr oft illusorisch ge⸗ macht worden; diese Manipulationen hätten nur zu oft einen sehr unschoönen Charakter getragen. Es helfe nicht, wenn nachher die Wahl die unter solchen Beeinflussungen zu stande gekommen sei, kassiert werde; der große moralische Schade, der mit solchen Machenschaften angerichtet werde, sei damit nicht wieder gut zu machen. Man müsse also vorbeugen, indem man größere, wirksamere Kautelen für die Geheimhaltung der Wahl beschaffe, und dazu würden die Kuverts einen werthvollen Dienst leisten.

Abg. Dr. von Marquardsen (nl.) spricht sich ebenfalls für Umschläge aus; es werde dadurch die Geheimhaltung der Wahl wenigstens in den weitaus meisten Fällen erreicht werden.

Abg. Rickert (fr. Vg.): Die Wahlkuverts verbürgen allein die Gebheimhaltung der Wahl noch nicht. Der springende Punkt ist, daß man den Wählern einen Moment verschafft, in dem sie unbeobachtet den von ihnen aus freier Ueberzeugung gewählten Stimmzettel in den Umschlag stecken können. Wenn die Nationalliberalen noch der Beweise bedürfen, was alles in dieser Richtung an Zwang geschehen ist, so verweise ich auf ein Gerichtsurtheil aus Bochum, welches alle jene Mani⸗ pulationen, das Gebot des Hochhaltens der Zettel, das Verbot, die ausgehändigten Zettel in die Tasche zu stecken u. s. w. als Gesetzes⸗ übertretungen brandmarkt, ich verweise auf die Instruktionen, welche nationalliberale und konservative Wahlkomités in dieser Richtung erlassen haben.

§ 11 a wird angenommen.

S.11b soll einen neuen dritten Absatz erhalten, welcher die Schaffung des Isolierraums vorschreibt, in welchem der Wähler unbeobachtet den Stimmzettel in das Kuvert legen kann.

Die Abgg. Bassermann und Prinz Schönaich⸗ Carolath (nl.) wollen diesen Zusatz beseitigen.

Abg. Bassermann (nl.) hält dafür, daß die Anbringung dieser Isolierräume innerhalb des Wahllokals namentlich auf dem Lande garnicht möglich sein wird,“ man müßte denn von Staatswegen be⸗ sonders konstruierte Wahllokale bauen. Die Benutzung des Isolier⸗ raums würde in Wahlkreisen mit starker Bevölkerung das Wahl⸗ geschäft sehr verzögern und der Wahlanfechtung Thür und Thor öffnen, zumal eine Strafandrohung wegen Mißbrauchs dieser Be⸗ stimmung nicht vorgesehen sei. 1

Abg. Dr. von Marquardsen (nl.) bekämpft ebenfalls die praktisch und technisch gleich bedenkliche Dunkelkammer. Man möge doch einmal es mit dem Umschlagsystem allein versuchen. Nach dem Antrag Bassermann habe der Wähler, nachdem er an den Wahltisch getreten sei und einen Umschlag an sich genommen habe, vollauf Zeit, den Stimmzettel in den Umschlag zu stecken, bis sein Name vom Wahlvorsteher in der Liste gefunden sei.

Abg. Dr. Barth (frs. Vg.): Wenn das Hineinlegen des Zettels vor versammeltem Kriegsvolk geschehen soll, wird die Sache noch schlimmer, wie sie schon ist. Unser Vorschlag kann mit den primitivsten Mitteln hergestellt werden. Die Furcht vor einem Mißbrauch desselben durch einen Wähler, der sich darin festsetzt, reicht doch nicht aus, um eine sonst so unzweifelhaft nützliche Vorrichtung überhaupt abzulehnen. Ohne

Reichs⸗

von

diese Vorrichtung hat die ganze Reform des Wahlverfahrens gar keinen Werth. ö