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Ich brauche Ihnen bloß die beiden Namen Sherman und Mace Kinley zu nennen, und Sie wissen, was ich meine: die Silberfrage und den Schutzzoll. In Mittel⸗Amerika ist Krieg; in Süd⸗Amerika herrscht jetzt ein bellum omnium contra omnes. Die Verkehrsverhältnisse liegen so schlecht, daß, wie aus dem neulich dem Hause vorgelegten Bericht des Auswanderungskommissars hervorgeht, die Zahl der Auswanderer allein im vorigen Jahre um 100 000 zurückgegangen ist. Und eben erst wurde mir ein Schreiben des Norddeutschen Lloyd überbracht, welches die traurige Thatsache ankündigt, daß der Lloyd sich genöthigt sieht, von der nächsten Woche ab die zweiwöchent⸗ lichen Fahrten mit Schnelldampfern nach Amerika ein⸗ zustellen. (Hört! hört!) Dasselbe steht bei der Hamburg⸗ Amerikanischen Packetfahrt⸗Aktiengesellschaft bevor. Nehmen Sie dazu noch den Bankenkrach in Australien, wo es sich um 1200 Millionen gehandelt hat, an denen Europa mit 600 Millionen, also der Hälfte, mitbetheiligt ist; ferner die bekannten Zustände in Spanien, Portugal und Griechenland! Lahmheit des Verkehrs überall! Wie wollen Sie gegenüber dieser großen wirthschaftlichen Degression, dieser Darnieder⸗ lage in allen Geschäften und der geringen Unternehmungslust an⸗ nehmen, daß wir im Laufe eines Jahres, welches sich so einleitet, ganz erhebliche Ueberschüsse abliefern können?! Auch der Ausfall der Ernten spielt hierbei eine große Rolle.
Im weiteren möchte ich den vom Herrn Abg. Richter berührten Punkt wegen der Epidemie nicht in der geringschätzenden Weise be⸗ handeln, wie er es gethan hat. Im Falle der Epidemie werden sofort sämmtliche Häfen in den fernen Staaten geschlossen, der Schiffahrts⸗ verkehr wird völlig unterbrochen. Wir sehen das jetzt wieder in Konstantinovel; sofort hört der Postverkehr auf und wir haben erheb⸗ liche Einnahmeausfälle. —
Zu diesen wichtigen Momenten kommen noch Zufälligkeiten hinzu. Was glauben Sie zum Beispiel, daß uns der Sturm der beiden letzten Tage für Kosten verursacht hat? (Lachen links. Sehr gut! rechts.) Hören Sie nur gefälligst zu! Ich glaube, Sie werden dann die Sache etwas ernster ansehen. Dieser Sturm kostet uns nach vorläufigen Berechnungen allein für Reparaturen an Telegraphen⸗ leitungen 600 000 ℳ Dazu kommen die Dacharbeiten. Das ist sehr erheblich. Beispielsweise hat uns im vorigen Jahre eine einzige Nacht in Hamburg allein 197 000 ℳ gekostet. Das sind alles unvorhergesehene Ereignisse, auf die ein sorgsamer Hausvater rechnen muß.
Noch eins: wenn Sie den Etatsansatz so hoch schrauben, so verhindern Sie ja gerade die Verwaltung, auf dem Gebiete der. Gebührenermäßigung Fortschritte zu machen. Ich muß mich dann doppelt in Acht nehmen, dem Reichs⸗Schatzamt gegenüber einen dies⸗ bezüglichen Vorschlag zu machen. Z. B. bin ich seit Jahren bestreht, das Bestellgeld für die Telegramme nach den Landorten, also die 40 ₰, die immer noch bezahlt werden müssen, endlich ganz ab⸗ zuschaffen. Es handelt sich da um eine immerhin nennenswerthe Summe; glauben Sie, ich würde dies durchsetzen, wenn ich der Finanzverwaltung dabei sagen müßte: unsere Abschlüsse stehen so schlecht, daß wir den Etatsansatz lange nicht einhalten werden? Da würde ich einem äußerst widerstrebenden Finanz⸗Minister gegenüberstehen. Lassen Sie es aber bei dem Ansatz, wie er hier steht, so kann ich mit viel größerer Ruhe und Sicherheit der Finanzverwaltung gegenüber⸗ treten, wenn ich sage: wir erreichen den Etatsansatz oder haben sogar einen kleinen Ueberschuß. Also, meine Herren, nehmen Sie unsern Vorschlag an, damit wir solche Taxermäßigungen schaffen können. Sie verstärken andernfalls den Widerstand, gegen den die Post⸗ verwaltung überall zu kämpfen hat und für den hier uns immer Vor⸗ würfe gemacht werden, während wir doch die eigentlich Schuldigen nicht sind.
Auf die etatsrechtliche Seite, die ja in vollkommen ausreichender und erschöpfender Weise von dem Herrn Ministerial⸗Direktor Aschen⸗ born, von dem Herrn Abg. Dr. Hammacher und auch von dem Herrn Abg. Richter behandelt worden ist, gehe ich nicht ein. Ich wollte nur auf die sehr wichtigen praktischen Bedenken, die sich nach allen Seiten bei einem so hohen Etatsansatz ergeben, aufmerksam machen, und an die Thatsache erinnern, daß wir eine Erhöhung über⸗ haupt noch nie in dieser Weise gehabt haben, und daß es äußerst ge⸗ fährlich ist, die Last der Aufstellung des Etats und die Verantwort⸗ lichkeit dafür von den Schultern der Beamten auf die Reichstags⸗ mitglieder zu übertragen.
Abg. von Leipziger (dkons.) hält den Etatsansatz der Regierung für richtig. Eine dem Verkehr nicht entsprechende Vermehrung der
Einnahme könne die Finanzlage nicht verbessern. Seine werde deshalb für die Wiederherstellung der Regierungsvorlage stimmen.
Abg. Bebel (Soz.): Es ist garnicht wegzuleugnen, daß wir 1893 eine Steigerung der Posteinnahmen ge abt haben, und die Kom⸗ mission hat mit Recht angenommen, daß das laufende Jahr sich nicht schlechter stellen wird. Es ist auch nicht abzusehen, weshalb wir nicht jeden Augenblick das System des Etatsanschlages ändern sollen, wenn sich dazu ein Anlaß bietet. Wir wollen keine Verdunkelung des That⸗ bestandes aufkommen lassen. Eine Erhöhung des Gewichts der einfachen Briefe von 15 auf 20 g halte auch ich für erwünscht. Interessant ist nun, daß der bayerische Verkehrs⸗Minister in der bayerischen Kammer erklärt hat, er habe eine solche Reform in Bayern durchführen wollen, diese Reform sei aber an dem Wider⸗ stand des Staatssekretärs Dr. von Stephan gescheitert. Auch eine Herabsetzung des Berliner Stadtportos von 10 auf 5 ₰ sei höchst nothwendig. Warum soll Berlin allein eine Ausnahme machen, die nur der Packetfahrt⸗Gesellschaft zu gute käme? 8 8
Staatssekretär Dr. von Stephan:
Ich wollte nur einen Punkt thatsächlich berichtigen, der hier auf die Parteigenossen und die nähere Umgebung des Herrn Redners einigen Eindruck gemacht zu haben scheint.
Der Herr Abgeordnete hat gesagt, es habe einer der bayerischen Herren Staats⸗Minister im Landtag zu München erklärt, Bayern wäre geneigt ge⸗ wesen, die Gewichtsgrenze für einfache Briefe von 15 auf 20 g zu er⸗ höhen, aber die Maßregel wäre an dem Widerstande des General⸗ Postmeistes des Deutschen Reichs gescheitert. Ich muß das für eine vollständige Erfindung erklären, (Zuruf von den Sozialdemokraten) denn es hat mit Bayern überhaupt keine Korrespondenz über die Ab⸗ sicht dieser Erhöhung des Briefgewichts stattgefunden und auch im Bundesrath ist die Sache niemals erörtert worden. Also der Herr Abgeordnete ist jedenfalls nicht richtig informiert, da ich mir nicht denken kann, daß der betreffende Königlich bayerische Minister un⸗ richtig informiert gewesen ist. Jedenfalls liegt nicht die geringste Thatsache vor, welche darauf hinweist, daß Bayern überhaupt jene Absicht gehabt habe, und daß dieselbe an dem diesseitigen Widerstande gescheitert sei.
Auf die anderen Punkte gehe ich nicht ein, es würde die Dis⸗
kussion nur noch weiter hinziehen. Wir haben uns über dieselben schon durch eingehende Erklärungen geäußert und bleiben dabei stehen, daß die Regierung von ihrem Standpunkt nicht abgehen kann, ehe nicht eine gründliche Besserung der Finanzverhältnisse eingetreten ist.
Regierungskommissar, Direktor im Reichs⸗Schatzamt, Wirklicher Geheimer Rath Aschenborn weist den Vorwurf, daß die Reichs⸗ verwaltung bei der Aufstellung des Etats etwas verdunkelt oder ge⸗ färbt habe, als unbegründet zurück. .
Abg. Rickert (frs. Vg.) will seinerseits der Regierung eine tendenziöse Aufstellung des Etats nicht vorwerfen, kann aber nicht zugeben, daß der Reichstag kein Recht habe, über den Etatsanschlag der Regierung hinauszugehen. Es handele sich hier um keine grund⸗ sätzliche Etatsfrage. Dem Staatssekretär Dr. von Stephan könne es doch ganz gleich sein, ob der Ueberschuß höher oder niedriger normiert werde. Auch die Steuerfrage gehöre nicht hierher. Er werde für den Kommissionsvorschlag stimmen. 1 3
Abg. Dr. Bachem (Zentr.) tritt ebenfalls für den Kommissions⸗
vorschlag ein.
Abg. Bebel (Soz.): Daß meine Behauptungen bezüglich des bayerischen Portos keine Erfindung sind, beweifen die heutige Nummer der „Frankfurter Zeitung“, ein Bericht der „Augsburger Abendzeitung“ und die Mittheilung des Abg. Grillenberger, der in der baverischen Kammer gehört hat, wie der Minister Crailsheim gesagt hat, eine derartige Reform in Bayern sei an dem Widerstande der Reichs⸗ Postverwaltung gescheitert.
Der Antrag der Budgetkommission wird angenommen.
Der Rest der Einnahmen des Post⸗Etats wird ohne
Debatte erledigt.
Beim Etat der Reichsdruckerei spricht der Abg. Dr. Freiherr von Heereman (Zentr.) dem Staatssekretär von Stephan seine besondere Anerkennung dafür aus, daß er die Sonntagsruhe in diesem Institut, dessen Leistungen auf dem Gebiet der Gravier⸗ und Druck⸗ kunst, der Kartographie ꝛc. besonderes Lob verdienen, in einem so er⸗ freulichen Maße zur Durchführung gebracht habe. (Lebhafter Beifall.)
Staatssekretär Dr. von Stephan:
Meine Herren! Ich fühle mich verpflichtet, dem geehrten Herrn, der eben gesprochen hat, meinen aufrichtigsten Dank zu sagen, nament⸗ lich im Namen der Männer, denen seine Anerkennung besonders galt; das sind die ausführenden Künstler und leitenden Beamten der Reichs⸗ druckerei.
Ich wollte auch noch erwähnen, daß wir diese Leistungen nicht hätten entfalten können, wenn uns nicht vom Reichstag immer mit munifizenter Hand Mittel für die Ausdehnung dieses großen Instituts wären bewilligt worden. Ich freue mich sehr, daß der geehrte Herr Abgeordnete zu dieser Ansicht gekommen ist, und ich hoffe und wünsche, daß, wenn er erst von der großen Reichs⸗ Post⸗ und Telegraphenverwaltung so genau Kenntniß genommen hat, wie von der Reichsdruckerei, was ja allerdings sehr viel schwieriger ist (Heiterkeit), der Moment kommen wird, in welchem er seine An⸗ erkennung vielleicht auch der Reichs⸗Postverwaltung zu theil werden läßt. (Heiterkeit.)
Abg. Schmidt⸗Elberfeld (fr. Volksp.) wünscht, daß die Er⸗ fahrungen und Entdeckungen der Reichsdruckerei auch anderen Industriellen zugänglich gemacht werden.
Der Etat wird genehmigt. Schluß 6 ¼ Uhr. 8
Preußischer Landtag.
Herrenhaus. 5. Sitzung vom 15. Februar 1894.
Der Sitzung wohnen der Minister der öffentlichen Ar⸗ beiten Thielen und Kommissarien bei.
Der neu in das Haus eingetretene Fürst zu Salm⸗ Reifferscheidt Dyck wird auf die Verfassung vereidigt.
Ueber die Verhandlungen des Landes⸗Eisen⸗ bahnraths im Jahre 1893 berichtet Bürgermeister Hammer⸗ Brandenburg; er beantragt, den Gegenstand durch Kenntniß⸗ nahme für erledigt zu erklären.
Graf von Klinckowstroem regt, wie in der Eisenbahn⸗ kommission, die Frage der Staffeltarife an, wegen der Stellung Bayerns zu dieser Frage; er wolle keine Debatte hervorrufen über die Staffeltarife an sich; deshalb bitte er auch die Herren aus dem Westen, die sachlichen Erörterungen zurückzustellen und nur den preußischen Standpunkt zu vertreten. Ob Bayern die Zustimmung zum russischen Handelsvertrage von der Aufhebung der Staffeltarife abhängig gemacht habe oder nicht, sei gleichgültig. Jedenfalls habe sich Bayern in preußische Angelegenheiten eingemischt und dagegen müsse man diesseits protestieren, wie fast die gesammte Presse dagegen protestiert habe, sogar der „Börsen⸗Courier“, der allerdings auch die kurze Nachricht bringe, daß die preußische Regierung die Aufhebung der Staffeltarife beschlossen habe. Redner bittet den Minister, die Unrichtigkeit dieser Nachricht zu bestätigen.
Minister der öffentlichen Arbeiten Thielen:
Meine Herren! Ich bin nicht in der Lage, namens der Staats⸗ regierung auf die Anfrage des Herrn Grafen von Klinckowstroem eine Antwort geben zu können. Wohl aber bin ich in der Lage, über die mir bekannten thatsächlichen Verhältnisse persönlich Auskunft zu er⸗ theilen. Meine Herren, die bayerische Regierung hat bereits im vorigen Jahre durch ihren hiesigen Gesandten die preußische Regierung davon in Kenntniß gesetzt, daß sich über die Wirkungen des Staffel⸗ tarifs im Königreich Bayern eine große Besorgniß geltend macht. Sie hat ferner wiederholentlich mitgetheilt, daß diese Besorgniß im Wachsen begriffen sei und bereits Dimensionen angenommen habe, die es der bayerischen Regierung zur Pflicht machen, sich mit der preußi⸗ schen Regierung dieserhalb in Verbindung zu setzen. Das war zu einer Zeit, wo von Verhandlungen über den russischen Handelsvertrag noch nicht die Rede war. Infolge dessen hat die preußische Regierung sich bereit erklärt, in nähere Erörterungen über die Frage einzutreten, ob und inwieweit die Besorgnisse, welche die bayerische Regierung geltend gemacht hat, begründet wären, beziehungs⸗ weise inwiefern etwa durch eine Revision der Staffeltarife Abhilfe geschaffen werden könnte. Auf Grund dieser Bereitwillig⸗ keit hat die bayerische Regierung bereits im Januar Ver⸗ treter hierhergesandt, mit denen verhandelt worden ist. Diese Verhandlungen haben sich auf den Austausch desjenigen statistischen Materials bezogen, welches geeignet war, diese Frage näher zu beleuchten. Es ist darauf eine Pause in den Verhandlungen eingetreten, die dazu benutzt worden ist, beiderseits das gegebene Material zu sichten und an der Hand des eigenen Materials zu prüfen. Heute haben die Verhandlungen mit den Ver⸗ tretern der bayerischen Regierung ihren Fortgang ge⸗ nommen und werden voraussichtlich auch in den nächsten Tagen noch fortgesetzt werden. Welches Ergebniß diese Verhandlungen haben werden, läßt sich zur Zeit noch nicht übersehen. Ebensowenig läßt
sich natürlich heute schon sagen, welchen Standpunkt die preußische
Staatsregierung den Wünschen der bayerischen Regierung gegenüber einnehmen wird. (Hört! hört!)
Meine Herren, es hat nicht nur die bayerische Regierung, sondern auch die übrigen süddeutschen Regierungen haben dieselben Rekri⸗ minationen an die preußische Regierung bezüglich der Staffeltarife gerichtet. Es sind daher auch Verhandlungen mit den Regierungen von Hessen, Baden, Württemberg und neuerdings auch mit Sachsen in Aussicht genommen worden, die gleichfalls zum Ziele haben, durch mündliche Erörterungen zwischen den beiderseitigen Vertretern die ein⸗ schlägigen Fragen zu prüfen. Diese Berathung wird voraussichtlich am 26. d. M. beginnen. Sie werden daraus ersehen, meine Herren, daß die Annahme, die bayerische Regierung habe von Regierungs⸗ wegen schon eine ganz bestimmte Stellung zu der Sache genommen und, wie die Blätter mittheilen, also ihre Abstimmung bei dem rus⸗ sischen Handelsvertrag von der unbedingten Aufhebung der Staffel⸗ tarife abhängig gemacht, thatsächlich nicht begründet ist — wenigstens ist mir von einer solchen formellen Eröffnung der bayerischen Regie⸗ rung nichts bekannt. Daß die preußische Regierung unter diesen Um⸗ ständen eine Entscheidung darüber, ob die Staffeltarise aufzuheben oder ob und welche Aenderung der Staffeltarife etwa eintreten soll, bis jetzt noch nicht getroffen hat, werden Sie erklärlich finden.
Graf von Mirbach spricht seine Freude darüber aus, daß durch die Rede des Ministers klargestellt sei, daß es sich bei den
bayerischen Anträgen nicht um den russischen Handelsvertrag handele. Dem sächsischen Landtage habe der Minister von Metzsch ausdrücklich
gesagt, daß Sachsen bei der Verhandlung über den russischen,
111“ gegen die Staffeltarife ankämpfen werde, und daß arantie gegeben werden müsse, daß solche Tarife nicht wieder ein⸗ geführt würden. Nach dem Vorgang der württembergischen Regierung im Reichstage sei ja das weitgehendste Maß der Einigkeit im Bundesrath zu erwarten. Redner geht dann ausführlich auf die Verhandlungen des bayerischen Landtags über die Staffeltarife ein und meint, daß man gegenüber solchen Bestrebungen der Bundes⸗ staaten gegen Preußen in der Abwehr zusammenstehen müsse, namentlich bei der gegenwärtigen Zwangslage Preußens.
Frhr. von Stumm: Weshalb sollen nicht die einzelnen Bundesstaaten dasselbe Recht haben wie die einzelnen Abgeordneten oder Parteien, welche sich privatim in Konventikeln und in der Presse öffentlich gegen die Staffeltarife erklären? Das Vorgehen der baye⸗ rischen Regierung ist speziell getadelt worden. Der Herr Minister hat gesagt, daß es mit dem russischen Handelsvertrag nicht in Verbindung steht. Indirekt steht es doch damit im Zusammenhang, denn eine Folge des russischen Handelsvertrags wird die Aufhebung des Iden⸗ titätsnachweises sein, wodurch eine Benachtheiligung der süddeutschen Staaten entstehen wird. Daß die ausgestellten Zollscheine nicht bloß bei der Einfuhr von Getreide, sondern auch bei Einfuhr anderer Waaren verwendet werden können, schließt eigentlich eine Benachtheiligung anderer Landstriche aus. Meiner Meinung nach ist die Aufhebung des Iden⸗ titätsnachweises für den Osten sehr viel mehr werth als die Staffel⸗ tarife. Jedenfalls ist im Reichstag ohne Aufhebung der Staffeltarife eine Mehrheit für die Aufhebung des Identitätsnachweises nicht zu erzielen. Im Landes⸗Eisenbahnrath hat sich keine Mehrheit für die Staffeltarife gefunden. Aber das ist selbstverständlich: die Staffel⸗ tarife dürfen nicht eher aufgehoben werden, als die Aufhebung des
Identitätsnachweises beschlossen ist.
Miinnister der öffentlichen Arbeiten Thielen:
Miine Herren! Ich möchte bestätigen, daß für die Aufhebung der
Staffeltarife sowohl Gründe hergeleitet werden aus dem russischen
Handelsvertrage wie aus der etwaigen Aufhebung des Identitätsnach⸗ weises, und daß namentlich im Süden Deutschlands, besonders in Bayern, vielfach die Aufhebung des Identitätsnachweises als eine Schädigung der dortigen Interessen angesehen wird. Ich möchte bei dieser Gelegenheit noch darauf aufmerksam machen, daß die allgemeine und uneingeschränkte Aufhebung der Steaffel⸗ tarife wohl kaum von irgend einer der süddeutschen Bundes⸗ regierungen gefordert wird. Der bayerischen Regierung und den anderen süddeutschen Regierungen kann und wird es durchaus gleichgültig sein, wenn unsere alten, schon vor dem 1. September 1891 gültigen Staffeltarife wieder aufleben, oder wir aus den östlichen Theilen, z. B. von Oderberg aus nach Berlin oder Hamburg, Staffel⸗ tarife einführen. Die süddeutschen Regierungen und auch der Westen, glaube ich, befinden sich in derselben Lage; sie streben nur dahin, daß das östliche Getreide und vorzugsweise das östliche Mehl auf den⸗ jenigen Märkten, die sie bisher beherrscht haben, mit ihren eigenen Produkten nicht in eine überlegene, preisvermindernde Konkurrenz treten. Darum, glaube ich, kann man auch nicht behaupten, daß die bayerische Regierung darauf ausgehe, die Tarifautonomie des preußischen Staats zu beschränken. Die bayerische Regierung will sich nur wehren gegen angeb⸗ liche oder wirkliche Schäden, die ihr aus bestehenden Tarifen erwachsen, und daraufhin gehen ihre Bestrebungen, wie ich mir vorher bereits erlaubt habe anzuführen, bereits seit Jahr und Tag. Daß die Verhandlungen über diese Frage zeitlich mit den Verhandlungen über den russischen Handelsvertrag zusammenfallen, ist thatsächlich richtig. (Aha!) Der Beginn der Erörterungen zwischen den Regierungen über diesen Gegen⸗ stand liegt aber weit früher. Daß die bayerische Regierung nicht ohne weiteres die totale Aufhebung der Staffeltarife fordert, geht am besten doch daraus hervor, daß ihre Vertreter noch heute mit unseren Vertretern darüber verhandeln, ob und durch welche Aenderungen an den Staffeltarifen ein Ausgleich zwischen den beiderseitigen Interessen herbeigeführt werden kann.
Kammerherr von Helldorff⸗Bedra: Die Stgaffeltarife haben miteingewirkt auf die allgemeine Ermäßigung der Preise. Des⸗ wegen hat sich der sächsische Zentralverein, der wohl den intelligentesten Theil der Landwirthschaft vertritt, gegen die Staffeltarife ausge⸗ sprochen. Die Frage, daß es sich nicht um eine unberechtigte An⸗ maßung der Einzelstaaten gegen Preußen handelt, ist durch die Er⸗ klärung des Herrn Ministers erledigt. Die Aufhebung des Identi⸗ tätsnachweises ist viel wichtiger als die Frage der Staffeltarife. Aber freilich kann die Aufhebung des Identitätsnachweises nur zu⸗ werden, wenn die Staffeltarife beseitigt sind. Die jetzige Tarifpolitik hat die Bedingungen der Produktionsverhältnisse ge⸗ ändert; solche veränderlichen Tarife schaden den landwirthschaftlichen Verhältnissen des Ostens. Die Reichsverfassung giebt dem Reich Be⸗ fugnisse in Betreff der Tarife; davon ist aber nur minimaler Gebrau gemacht worden. Preußen hat die Verstaatlichung der Eisenbahnen vorgenommen und damit den anderen Einzelstaaten, welche bereits früher ihre Bahnen verstaatlicht hatten, nachgeahmt. Preußen hat jetzt die stärkste Eisenbahnverwaltung; dafür hat es aber au die Ver⸗ pflichtung, die allgemeinen “ in den Vordergrund zu stellen und nicht die finanziellen Rücksichten. Deswegen ist nicht bloß im landwirthschaftlichen Interesse des Westens in Preußzen ondern b--Ns allgemeinen Interesse die Aufhebung der Staffeltarife noth⸗ wendig.
Graf von Mirbach: Wir leben in Zeiten des Verkehrs. Des⸗ halb ist eine Abschließung einzelner Landestheile nicht mehr möglich. Billige Tarife, namentlich eine Verbilligung der Massentransporte ist nothwendig. Mit der Intelligenz der sächsischen Landwirthe können wir freilich nicht konkurrieren. Unsere Landwirthschaft Fbt zurück wegen der Disparität zwischen dem Westen und Osten. ir können jetzt die Märkte nur unter großen Kosten und Verlusten erreichen.
reußen muß allerdings eine wohlwollende Stellung im Reich ein⸗
nehmen, aber es hat dem Bundesrath schon die weitgehendsten Konzes⸗
ionen gemacht, namentlich auch in Bezug auf das Stimmenverhältniß, odaß jetzt jede Pression, die von den Einzelstaaten ausgeübt wird,
eine unberechtigte ist. Früher, als wir noch keine Staffeltarife hatten, . hatte die Aufhebung des Identitätsnachweises für uns eine große
Bedeutung; für die Zukunft halte ich die Staffeltarife für wichtiger als die Aufhebung des Identitätsnachweises, ja sogar für eine Lebensfrage. 2 . : Rittergutsbesitzer v. Graß⸗Klanin: Er sehe in den Staffel⸗ tarifen keinen Vortheil; im Gegentheil glaube er, daß dadurch die Preise herabgedrückt worden seien; das ersehe man namentlich daraus,
daß die stabile Differenz, welche zwischen den Danziger und Königs⸗
berger bezw. den Berliner Getreidepreisen von jeher bestanden habe, nicht abgeändert worden sei. In Bezug auf den Identitätsnachweis sei er vollständig mit Herrn v. Stumm einverstanden. Für die Auf⸗ hebung könnte die östliche Landwirthschaft ruhig die Staffeltarife aufgeben. Bei Aufhebung des Identitätsnachweises sei die Aufrecht⸗ erhaltung der Staffeltarife wirthschaftlich und politisch unmöglich.
Minister des Königlichen Hauses v. Wedel⸗Piesdorf: Die Er⸗ klärung des Ministers, daß Bayern gegen einen Staffeltarif nach Magdeburg ꝛc. nichts einzuwenden habe, wird manchen erschrecken; denn dadurch würde die Provinz Sachsen erheblich benachtheiligt werden. Ein einheitliches Produktionsgebiet ist Preußen nicht, denn Sachsen arbeitet theurer als Ostpreußen; deshalb wäre es besser, den Identitätsnachweis aufzuheben, als die Staffeltarife zu behalten.
Graf von Klinckowstroem bestreitet das; denn die Auf⸗ hebung des Identitätsnachweises zwinge zum Seeexport und darauf müsse sich die Landwirthschaft durch Anbau anderer Getreidearten vor⸗ bereiten, während man jetzt Getreide baue, wie es in Sachsen ꝛc. be⸗ liebt sei. Der Zweck der Debatte sei verloren gegangen; denn er habe nur hervorheben wollen, daß Preußens Zwangslage von den anderen Crs st nicht ausgenutzt werden sollte, um eine solche Pression auszuüben. 8
Nach einigen kurzen Bemerkungen der Herren von Hell⸗ dorff⸗Bedra und Graf Mirbach schließt die Debatte.
Der Bericht wird durch Kenntnißnahme für erledigt erklärt, ebenso die Berichte, betreffend die Betriebsergebnisse und die Bauausführungen der Eisenbahnen.
Schluß 4 ¼ Uhr. Nächste Sitzung Freitag 1 Uhr.
Haus der Abgeordn 1 163. Sitzung vom 15. Februar 1894. In der fortgesetzten zweiten Berathung des Staats⸗
haushalts⸗Etats, und zwar beim Etat der Justiz⸗
verwaltung (dauernde Ausgaben, Kapitel 71: Gehalt des Ministers) hatte der Abg. Böttinger (nl.) die Frage der Ein⸗ tragung von Vornahmen in die Standesamtsregister berührt, eine darauf bezügliche Verordnung der Ober-⸗Staatsanwalt⸗ schaft in Köln kritisiert und die Aufhebung dieser Verordnung bezw. die Beseitigung des rheinischen Gesetzes, welches ihr zu Grunde liegt, gefordert. (Vergl. die Donnerstags⸗Nummer d. Bl.).
Ober⸗Landesgerichts⸗Rath Skonietzki: Das rheinische Gesetz will nur verhindern, daß Namen aus der französischen Revolution, wie Robespierre, Danton eingetragen werden. Der Herr Justiz⸗ Minister hat im vorigen Jahre eine Verfügung an den Ober⸗Staats⸗ anwalt in Köln erlassen, worin ihm aufgegeben wird, die Standes⸗ beamten in obigem Sinne zu informieren. Es wird abzuwarten sein, ob diese Verfügung genügt, die vorhandenen Mißstände zu be⸗ seitigen. Andernfalls würde die Gesetzgebung geändert werden müssen. Im übrigen steht ja den Vätern der Beschwerdeweg offen.
Abg. von Eynern (nl.): Es ist interessant, daß der Vertreter der preußischen Justizverwaltung dieses Gesetz in Schutz nimmt. Besser wäre es gewesen, wenn das Ministerium dasselbe beseitigt hätte. Wir Rheinländer wollen gleichmäßig mit den übrigen Deutschen behandelt werden und nicht unter einem alten französischen Gesetz leiden. Kurt, wurde einem Vater gesagt, sei kein alter geschichtlicher Name, es müsse Konrad Nebukadnezar darf ich meinen Jungen taufen lassen, Fritz nicht. Wir wollen keine Franzosen sein und verlangen, daß das französische Gesetz für uns aufgehoben wird.
Abg. Böttinger (nl.) spricht sich nochmals in gleichem Sinne wie vorher aus. 8 8
Abg. Dr. Arendt (fr. kons.) beschwert sich darüber, daß man bei ge⸗ richtlichen Einzahlungen an Hypotheken⸗ und andere Gläubiger Silber bis über einen bestimmten Betrag hinaus zurückgewiesen habe. Zwischen Reichswährung und Reichs⸗Goldwährung sei ein großer Unterschied. Letztere bestehe bei uns garnicht. Der Justiz⸗Minister 88. die ausführenden Behörden auf den klaren Wortlaut des Ge⸗ etzes hinweisen, daß bei allen Eintragungen eine andere Eintragung
8
als in Reichswährung nicht zulässig ist. Jusriz Minister Dr. von Schelling Die Darlegung des Herrn Dr. Arendt ist mir eine sehr inter⸗ essante gewesen. Ich kann jedoch den Zweifel nicht unterdrücken, ob
es mir möglich sein wird, der Anregung des verehrten Abgeordneten
in der von ihm gewünschten Weise zu entsprechen.
Ich trete dem Herrn Dr. Arendt darin vollständig bei, daß Schuldurkunden in das Grundbuch nur eingetragen werden können, wenn sie auf Reichswährung lauten; denn das ist ein ausdrückliches Gebot des Eigenthumserwerbsgesetzes.
Nun liegen die Fälle, die der Herr Abgeordnete im Auge hat, so, daß der Schuldbetrag in der Urkunde allerdings auf Reichswährung angegeben, dieser Angabe aber eine Klausel hinzugefügt ist, wonach die Rückzahlung nur in Gold erfolgen solle. Eine solche Klausel unterliegt meines Erachtens der Möglichkeit einer sehr verschiedenen Deutung und Auffassung. Der Herr Abgeordnete geht aber selbst von der Annahme aus, daß diese Klausel beliebt werde in der aller⸗ dings von ihm für unnöthig erachteten Vorsorge, daß künftig etwa einmal im gesetzlichen Wege eine Aenderung des Währungssystems eintritt. Von derselben Auslegung ist auch das Kammergericht in einer im Wege der weiteren Beschwerde an dasselbe gelangten Grundbuchsache ausgegangen. Es ist indessen nicht zu einer Entscheidung gelangt, wie sie der Herr Vorredner zu befürworten scheint, sondern er hat im Gegegentheil diese Goldklausel für zulässig erklärt. Diese Entschei⸗ dung des Kammergerichts vom 27. April 1889 liegt mir vor und lautet in ihren entscheidenden Theilen dahin:
Diese Abrede würde für den Fall der Einführung der Silber⸗ währung neben der jetzt bestehenden Goldwährung insofern von Erheb⸗ lichkeit sein, als sie den Schuldner dann verpflichtete, die Zahlungen, anstatt nach seiner Wahl in einer der beiden Währungen, nach Maßgabe der Goldwährung zu leisten. Da sonach jenes Abkommen der Gläubigerin für einen denkbaren Fall mehr Rechte, als ihr bei dem gegenwärtigen Stande der Intabulate zukommen, gewährt, so erscheint die Eintragung des Vermerks, durch welche die ge⸗ troffene Abrede gegen jeden nachfolgenden Grundstückseigen⸗ thümer wirksam wird, keineswegs überflüssig. Nach alledem mußte unter Aufhebung der Vorentscheidungen die bisher abgelehnte Eintragung wie geschehen angeordnet werden.
Der Herr Vorredner wird mir wohl darin Recht geben, daß ich gegenüber dieser Judikatur, die zwar vielleicht keine unabänderliche,
aber vorläufig feststehende ist, nicht in der Lage bin, irgend eine Ein⸗ wirkung auf die Praxis der Gerichte auszuüben, selbst wenn dies unter anderen Umständen mir möglich wäre. (Sehr zichtig!)
Abg. Brandenburg (Gentr.) befürwortet eine weitere Ver⸗ mehrung der Richterstellen und die Durchführung der Dienstalters⸗ stufen im Justizdienst. Was den anderen Ressorts recht, sei der Justiz 58. Das Gehaltsmaximum der Justizbeamten sei allerdings ziem⸗ lic. soch, aber was helfe es, wenn sie es erst am Ende ihres Lebens erhielten.
Geheimer Justiz⸗Rath Vierhaus weist darauf hin, daß seit Durchführung der Justizorganisation die Zahl der Richterstellen erheblich vermehrt worden sei. Dank dem Entgegenkommen des Finanz⸗Ministers sei dieses Bestreben auch im vorliegenden Etat zum Ausdruck gekommen. Der Justiz⸗Minister erkenne an, daß es eine außerordentliche Wohlthat für die Richter sein würde, wenn an Stelle der gegenwärtigen ungleichen und unberechenbaren Gehaltsverhältnisse in den einzelnen Landestheilen ein festes System von Dienstalters⸗ stufen treten könnte. Zur Zeit handle es sich aber bei den Schwierig⸗ keiten der Durchführung dieses Systems um ein Uebergangsstadium, welches keinen Theil schädige.
Abg. Wurmbach 89 Es ist zu beklagen, daß der Ober⸗ Landesgerichtsbezirk Frankfurt a. M. in dem Aufrücken der Gehälter die
eringste Stelle einnimmt. So bekommt z. B. im Bezirk Köln ein Richter, der mit 2700 ℳ anfängt, nach 30 Jahren volle 6000 ℳ, während derselbe Richter nach derselben Dienstzeit im Bezirk Frankfurt erst 5400 ℳ erhält. Das kommt daher, daß die Zahl der Vormänner hier 27 und in Köln nur 17 beträgt. Aus demselben Grunde hat auch beispielsweise ein Richter in St. Goar schon 6000 ℳ, während in dem gegenüberstehenden St. Goarshausen ein Richter, der bereits fünf Dienstjahre mehr hinter sich hat, erst 5400 ℳ bekommt. Da der Minister versprochen hat, alle Schwierig⸗ keiten, die sich der Einführung des Systems der Dienstalterszulagen entgegenstellen, zu beseitigen, so hoffe ich, daß diesen Uebelständen bald abgeholfen wird. 8
Abg. Munckel (frs. Volksp.) kommt auf die Frage der Ein⸗ tragung von Vornamen zurück und meint, 8 man nur unsittliche und anstößige Vornamen zurückweisen sollte. Die Anregung des Abg. Arendt sei ihm sehr erwünscht gewesen. Gegen die Entscheidung des Kammergerichts werde Herr Arendt nichts machen können. Eigentlich hätte Redner sich gegen diesen Titel zum Worte melden wollen, aber wer würde den Muth haben, von diesem Etat irgend etwas abzustreichen? Ueber die Bescheidenheit der Juristen könne kein Zweifel sein. Die Bedürfnisse wüchsen fortwährend, aber die Verwaltung begnüge sich mit winzigen Abschlagszahlungen. „Die Einnahmen des Justiz⸗Etats seien diesmal stärker e als die Ausgaben. Es sei der preußischen Rechtspflege nicht ganz würdig, daß man eine große Anzahl von Hilfsrichtern habe und zu Richtergeschäften eine Unzahl unbesoldeter Assessoren verwenden müsse. Ein gesundes Verhältniß sei es auch nicht, daß die Referendarien in so starkem Maße zum Schreibwerk der Gerichtsschreiber hinzugezogen würden.
Der Justiz⸗Minister werde anerkennen, daß seit Einführung des
mündlichen Verfahrens das Schreibwerk außerordentlich zugenommen habe. Was würde ein Fremder wohl für eine Idee von der preußi⸗ schen Justiz bekommen, wenn er den Justizpalast in der Jüden⸗ straße sähe! Eine Stunde in dem dortigen Anwaltszimmer sei eine Leistung, worauf ein Anwalt stolz sein könne. Für die Gerichts⸗ gebäude in Berlin geschehe nichts. Der Justiz⸗Minister müsse den Se veranlassen, etwas mehr Mittel herzugeben. Es andele sich um einen wirklichen Nothstand. Man möge nicht erst warten, bis die Finanzlage sich verbessere — da könne man lange warten —, sondern sofort Hilfe bringen. Redner fragt schließlich den Minister, ob er für den Fall, daß der Reichstag bei der Berathung der Novelle zur Konkursordnung die Frage der Beschränkung des Retentionsrechts gegenüber solchen Gegenständen, die im Wege der Zwangsvollstreckung pfändbar sind, und die Frage der Sicherstellung der Rechte der Bauhandwerker der Partikulargesetzgebung überweise, bereit sei, womöglich noch in dieser Session, jedenfalls aber noch in dieser Legislaturperiode, eine entsprechende Gesetzesvorlage zu machen.
Justiz⸗Minister Dr. von Schelling:
Ich habe mit großem Interesse die Verhandlungen des Reichs⸗ tags verfolgt, von denen der Herr Abg. Munckel soeben gesprochen hat. Auch ich halte es für dringend wünschenswerth, daß die beiden Fragen, einmal die Beschränkung des Retentionsrechts gegenüber solchen Gegenständen, die im Wege der Zwangsvollstreckung pfändbar sind, und zweitens die Sicherstellung der Rechte der Bauhandwerker, — daß diese beiden Gegenstände recht bald einer gesetzlichen Feststellung entgegengeführt werden. Mir ist es nicht bekannt, wie die Aussichten der betreffenden Gesetzesvorlage im Reichstag liegen; ich bin aber bereit, sofern im Reichstag die Ansicht die Oberhand gewinnen sollte, daß die Frage besser im Wege der Landesgesetzgebung geregelt werde, meinerseits dieser Frage näher zu treten und die nöthigen Vor⸗ bereitungen dazu zu treffen. (Bravo!)
Abg. Dr. Lohmann⸗Hagen (nl.) beklagt, daß in Fällen der Hinterlegung zur Abwehr von Zwangsvollstreckungen die Kompetenz der ordentlichen Gerichte ausgeschlossen und die Entscheidung den Hinterlegungsstellen übertragen sei, was zu erheblichen Belästigungen für das Recht suchende Publikum führe. 8
Geheimer Rath Vierhaus: Die Verwaltung wird erwägen, ob diese Beschwerden eine Aenderung der Hinterlegungsordnung noth⸗ wendig machen. b
Abg. Dr. Eckels (nl.) beklagt sich über die Verzögerung der Einführung des Grundbuchgesetzes in der Provinz Hannover, was zu außerordentlichen Schwierigkeiten und nestree namentlich in Bezug auf die Beleihung von Grundstücken, Anlaß gegeben habe.
Abg. Nadbyl (Zentr.) führt Beschwerde über die schlechte Be⸗ handlung von Anwalten seitens einiger Richter. Er exemplifiziert dabei auf zwei beg am⸗ Landgericht in Köln und in Schlesien, wo die Richter die Anwalte zum Stande der Gerichtsdiener degradiert hätten. Bei einem Gericht in Schlesien sei den Anwalten ein Zimmer zugewiesen worden, welches mit dem Sitzungssaal für Zivil⸗ prozese in Verbindung stehe. Auf die Beschwerde der Richter, daß die Anwalte beim Passieren dieses Saales Störungen verursacht hätten, sei von der entgegengesetzten Behörde entschieden worden, daß den Anwalten das Gerichtsdienerzimmer überwiesen werde. Redner schildert dieses Zimmer des näheren; es habe die Aufschrift getragen: Gerichtsdienerzimmer, und darunter: Anwaltszimmer. Das sei eine ganz empörende Behandlung. Allerdings habe der Justiz⸗Minister jene Verfügung wieder umgestoßen, aber leider nicht sein Bedauern über diese unwürdige Behandlung der Anwalte ausgesprochen.
Abg. Dr. Krantz (b. k. Fr.) bittet das Haus, aus diesen zwei Fällen keinen Schluß auf den ganzen Rechtszustand zu ziehen. Er als Rechtsanwalt könne nur sagen, daß die Richter, soweit nicht in der Person der Rechtsanwalte ein Grund zur Beschwerde vorgelegen habe, den Anwalten mit der gebührenden Achtung begegnet seien. Redner weist auf die zunehmende Umgehung der ordentlichen Ge⸗ richte in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten hin und führt dies auf Mängel in der Zivilprozeßordnung zurück. Es sei deshalb wünschens⸗ werth, der Frage näher zu treten, ob nicht eine Revision der deutschen Sthilpeogeßordanng geboten sei. Die Mündlichkeit des Verfahrens abe in der That, wie Herr Munckel sehr Tichtig ansgefabete se
en. in weiterer Mangel sei, daß den Richtern die eigentliche Prozeßleitung abgenommen worden sei. Die lange Dauer der Prozesse, die Schwierigkeiten bei der exekutiven Eintreibung hielten viele Leute ab, überhaupt zu prozessieren. Diese und dhnliche Mißstände müßten noch vor Fertigstellung des neuen Bürgerlichen Gesetzbuches ge⸗ setzlich beseitigt werden. Endlich müßte auf eine mehr wissenschaft⸗ liche Fortbildung der abgehenden Juristen durch eine neue Prüfungs⸗ ordnung unter Vermeidung der Repetitorien hingearbeitet werden.
einer Vermehrung des Schreibwerkes Veranlassung 8b
Justiz⸗Minister Dr. von Schelling: 7
Ich kann dem Herrn Dr. Krantz versichern, daß seine Aus⸗ führungen mir im allgemeinen durchaus sympathisch sind, und daß ich ihm für seine Anregungen, die ich übrigens meinerseits nicht veranlaßt habe, sehr dankbar bin. (Heiterkeit.)
Auch ich habe meinerseits wiederholt die Wahrnehmung gemacht, daß in weiten Kreisen eine Abneigung besteht, sich mit der Justiz zu befassen. Indem ich andere Umstände, die dazu vielleicht mitwirken, bei Seite lasse, glaube ich mit dem Herrn Vorredner, daß ein Theil der Schuldrauch die Prozeßgesetze tragen. Die deutsche Zivilprozeßordnung ist ein wohl durchdachtes, nach großen Prinzivien angelegtes Werk; aber in dem Streben nach Systematik ist es in einigen Punkten zu Folgerungen gelangt, die mit den praktischen Bedürfnissen nicht ganz im Einklang stehen. (Sehr richtig!) Ich habe michsschon seit mehreren Monaten mit dem Gedanken einer Revision der Zivil⸗ prozeßordnung beschäftigt. Die stattgehabten Erörterungen haben sich zu bestimmten Vorschlägen verdichtet, und ich habe diese Vorschläge dem Staats⸗Ministerium unterbreitet. Ich habe dabei im wesent⸗ lichen die Zustimmung des Staats⸗Ministeriums gefunden, und es ist vom Staats⸗Ministerium beschlossen worden, in einem Schreiben an den Herrn Reichskanzler die Frage einer Revision der Zivilprozeßordnung nach Maßgabe der von mir angedeuteten Gesichtspunkte anzuregen.
Meine Vorschläge zielen u. a. auch dahin ab, das Schreibwerk bei den Gerichten, dessen Vermehrung ich mit dem Herrn Dr. Krantz und mit dem Herrn Abg. Munckel beklage, zu vermindern. Uebrigens bin ich — um dies in Parenthese zu bemerken — der Ansicht, daß auch schon innerhalb des Rahmens der jetzt be⸗ stehenden Gesetze sich sehr viel thun ließe, um das Schreibwerk ein⸗ zuschränken, und ich habe in diesem Sinne vor einigen Wochen eine Verfügung an die Ober⸗Landesgerichts⸗Präsidenten erlassen, von welcher ich hoffe, daß sie gute Früchte tragen wird.
Ich kann also nur damit schließen, daß ich dem Herrn Abg. Dr. Krantz sehr dankbar bin für das, was er gesagt hat. Ich erblicke in seinen Ausführungen eine Unterstützung meiner eigenen Bestrebungen und werde auf diesem Wege fortfahren, indem ich namentlich zu meiner Freude konstatiere, daß diese Anregung gerade von einem Ver⸗ treter des Anwaltstandes ausgegangen ist. (Lebhafter Beifall.)
Abg. Mooren (Zentr.) bittet die Justizverwaltung, den Richtern solche Schreibarbeiten abzunehmen, die früher von den unteren und mittleren Beamten besorgt worden seien. 1
Nachdem noch die Abgg. Hauptmann (Zentr.) und Freiherr von Eynatten (Zentr.) einige Wünsche namentlich in Bezug auf eine bessere Ausbildung der Regierungs⸗Referendare geäußert haben, wird der Titel 1 bewilligt.
Bei Titel 3, Gehalt des Ministerial⸗Direktors, fragt Abg. Nadbyl (Zentr.) nach dem Schicksal der beabsichtigten Aenderung des Gesetzentwurfs über die Notariatsgebühren.
Geheimer Ober⸗Justiz⸗Rath Viets ch erklärt, die Regierung könne den Zeitpunkt nicht angeben, bis zu welchem es möglich sein werde, den neuen Gesetzentwurf, betreffend die Gerichtskosten und die neue Gebührenordnung für die Notare, dem Landtag vorzulegen. Die Notariatsgebührenordnung sei zunächst den Anwaltskammern zur Kenntniß übergeben worden. Es sei dabei auf eine Erhöhung der Beglaubigungsgebühren Bedacht genommen, um dadurch auf eine Vermehrung der notariellen Rechtsakte hinzuwirken.
Bei Kap. 73, Ober⸗Landesgerichte, führt
Abg. Nadbyl (Zentr.) darüber Klage, daß bei der Besetzung höherer Stellen die Katholiken disparitätisch behandelt würden.
Abg. v. Kölichen (kons.) bittet den Minister, den Ober⸗Landes⸗ gerichts⸗Präsidenten in Breslau zu veranlassen, daß künftig in der ersten Woche des Januar und Juli keine Geschworenensitzungen statt⸗ finden, weil zu dieser Zeit die Geschworenen mit ei Geschäften allzusehr belastet seien. nsg
Justiz⸗Minister Dr. von Schelling: “
Ich erkenne mit dem Herrn Abg. von Kölichen die Schwierig⸗ keiten des Berufs eines Geschworenen an und bin ganz mit ihm darin einverstanden, daß der Ausübung dieses Berufs keine un⸗ nöthigen Schwierigkeiten bereitet werden. Ich werde die Frage in Erwägung nehmen, ob nach dem speziellen Vorschlag des Herrn Vor⸗ redners die erste Juli⸗ und die erste Januar⸗Woche — so glaube ich ihn verstanden zu haben (Zustimmung) — immer von Schwurgerichts⸗ Sitzungen freizulassen sind, ob das insbesondere vielleicht für den Ober⸗Landesgerichtsbezirk Breslau geschehen kann. Ich werde mich in diesem Sinne mit dem Herrn Ober⸗Landesgerichts⸗Präsidenten in Verbindung setzen. (Bravol rechts.)
Abg. Nadbyl (Zentr.) tadelt es, daß die Gerichtsdiener nach einer Verfügung des Ober⸗Landesgerichts⸗Präsidenten in Breslau an Sonntag⸗Nachmittagen die Post von den Postämtern abholen müßten, wodurch ihnen die Sonntagsruhe beschränkt werde.
Geheimer Justiz⸗Rath Vierhaus bemerkt, daß eine solche Verfügung der Justizverwaltung nicht bekannt sei; die Sache werde untersucht werden. .
Bei Titel 6, Gerichtsschreiber u. s. w., befürwortet
Abg. Hornig⸗Liegnitz (kons.) eine Gehaltsaufbesserung für die Gerichtsschreibergehilfen. ,
ei Kap. 74, Landgerichte und Amtsgerichte, bringt
Abg. Brandenburg (Zentr.) die Beschäftigung der Gerichts⸗ Assessoren bei den Gerichten zur Sprache und wünscht, daß ihnen nicht alle Materien, z. B. das Entmündigungsverfahren und das Sühne⸗ verfahren in Ehesachen selbständig überwiesen würden.
Abg. Wurmbach (nl.) beklagt sich über den häufigen Wechsel mit den Assessoren bei den Gerichten.
Abg. Dr. Bachem (Zentr.) hält es für nothwendig, daß in Krefeld ein vollständiges Landgericht eingerichtet werde. 1
Unter⸗Staatssekretär Dr. Nebe⸗Pflugstaedt kann eine Er⸗ füllung dieses Wunsches nicht in bestimmte Aussicht stellen. Der Krefelder Kreis sei für ein eigenes Landgericht zu klein, und gegen eine Abzweigung einzelner Theile des Düsseldorfer Landgerichtsbezirks würden gewichtige Bedenken geltend gemacht. Indessen werde die Verwaltung den Gegenstand im Auge behalten.
Gegen 4 Uhr wird die weitere Berathung des Justiz⸗ Etats auf Freitag 11 Uhr vertagt.
Statistik und Volkswirthschaft.
Die deutsche überseeische Auswanderung über deutsche Häfen und Antwerpen stellte sich nach den Ermittelunge des Keentiche 9 tatistischen Amts im Januar 1894 und im vkeises Zeitraum des Vorjahres folgendermaßen:
Es wurden befördert im Januar über 8 1894 1893
ͤv 501 1116“* 620 deutsche Häfen zusammen . 1 300 1 121 “ 121 3 Ueberhaupt. 1 421 1 124 Aus deutschen Fölen wurden im Januar d. J. neben den vorgenannten 1300 deutschen Auswanderern noch 2122 Angehörige
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