1894 / 65 p. 2 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 16 Mar 1894 18:00:01 GMT) scan diff

Die Kammer der Reichsräthe ging in ihrer gestrigen Sitzung über den von der Abgeordnetenkammer gegen das Duell, namentlich gegen die militärischen Duellanschauungen gefaßten Beschluß zur Tagesordnung über mit der Moti⸗ vierung, daß das Duell durch die Gesetze des Staats und der Kirche verboten sei und die Regierung den rücksichtslosen Voll⸗ zug des Gesetzes erklärt habe. Ferner ging die Kammer über

den von dem Abg. Ratzinger gestellten Antrag auf eine Börsenreform zur Tagesordnung über, wobei hervorgehoben wurde, daß zwar Mißstände vorhanden seien, im Antrage der Abgeordnetenkammer aber spezielle Mißstände nicht angeführt seien, auch bestehe bereits eine Reichsenquéte, und die Regierung habe thunlichste Abhilfe der bestehenden Mißstände versprochen. Die Anträge des Abg. Daller, betreffend den Handelsvertrag mit Rußland und die Aufhebung des Identitätsnachweises wurden als von den Thatsachen überholt abgesetzt. Ueber die Anträge des Abg. Ratzinger bezüglich der Unfall⸗ und Altersversiche⸗ rung wurde eine motivierte Tagesordnung beschlossen. Das Haus vertagte sich sodann bis nach Ostern. Die Kammer der Abgeordneten lehnte gestern mit 67 gegen 64 Stimmen den Antrag auf staatliche Mobiliar⸗ Brandversicherung unter allmählichem Ausschlusse der Privat⸗ gesellschaften ab und nahm den Antrag des aiss ehhes auf Revision der Statuten sämmtlicher 26 in Bayern zugelassenen Gesellschaften behufs Herabsetzung der Prämien und Verhinde⸗ rung eines unkulanten Gebahrens an. Der Minister des Innern Freiherr von Fenss ch bekämpfte bei der Debatte das Staatsmonopol auf das bestimmteste aus politischen, finanziellen und volkswirthschaftlichen Erwägungen.

Sachsen. Der Landtag wurde heute von Seiner Majestät dem König mit einer Thronrede geschlossen, worin Allerhöchst⸗ derselbe zunächst mit wärmstem Dank der rührenden Theilnahme während seiner letzten Krankheit gedachte und auf das erfreuliche Ereigniß der demnächstigen Vermählung des Prinzen Johann Georg hinwies. Der Landtag habe bei der Berathung des Staatshaushalts⸗Etats Anlaß gehabt, sich mit den wichtigsten Interessen des Landes zu beschäftigen und dabei die gerechte der Wohlfahrt aller Klassen der Bevölkerung im Auge gehabt. Die Sorge für die Beschaffung der erforder⸗ lichen Mittel habe dazu geführt, auf den weiteren Aus⸗ bau der Einkommensteuer unter gleichzeitiger Erleichterung der weniger bemittelten Klassen Bedacht zu nehmen. Hier⸗ durch sei auch eine wesentliche Stärkung der Finanz⸗ kraft des Landes erreicht worden. Dies sei von um so größerer Bedeutung, als die Steuerkraft zur Deckung der Be⸗ dürfnisse des Reichs in bei weitem höherem Maße als bisher in Anspruch genommen werden dürfte, so lange es nicht gelinge, zu der von der Gesammtheit der Bundesregierungen als un⸗ abweislich nothwendig erkannten Finanzreform des Reichs zu kommen. Wenn auch dieses Ziel in nächster Zeit vielleicht noch nicht zu erreichen sei, so lasse sich doch die Hoffnung nicht aufgeben, daß die Dringlichkeit der Reform und die Berechtigung des ihr zu Grunde liegenden gesunden Ge⸗ dankens immermehr anerkannt und gewürdigt werden werde. Durch die der Regierung ertheilte Ermächtigung zur Erhebung eines allgemeinen Zuschlags zur Einkommensteuer werde die sonst nicht zu umgehende Einberufung eines außerordentlichen Landtags vermieden. Immerhin sei zu hoffen, daß die Noth⸗ wendigkeit nicht eintreten werde, von dieser Ermächtigung Gebrauch zu machen. Württemberg.

Seine Majestät der König empfing vorgestern den bis⸗ herigen Königlich niederländischen außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister Jonkheer van der Hoeven in Audienz, um dessen Abberufungsschreiben entgegenzunehmen.

Hessen.

Die Zweite Kammer hat gestern einstimmig den Gesetzentwurf über die Befreiung der gemeinnützigen, auf Errichtung von Wohnungen für Unbemittelte gerichteten Unternehmungen von Steuer und Stempeln angenommen.

Braunschweig.

Der Landtag genehmigte den Vorschlägen der Regierung gemäß den Erlaß der zehnten Klasse der Personalsteuer, den Erlaß einer Monatsrate der Grundsteuer und der Gewerbe⸗ steuer und die Ueberweisung von 23 Proz. aller direkten Steuern an die Gemeinden, sowie von 270 000 an die Kreisverbände.

Sachsen⸗Meiningen.

Seine Hoheit der Herzog hat, wie die „Ger. Ztg.“ meldet, eine längere Reise nach Italien angetreten.

Elsaß⸗Lothringen. Der eteazschus⸗ hat in seiner Sitzung vom 14. d. M. sämmtliche Positionen des Etats in dritter Lesung nach den Tcrsgen der zweiten Lesung unverändert an⸗ enommen. Ebenso erhielt das Finanzgesetz die endgültige .“ des Hauses in dritter Lesung.

Deutsche Kolonien.

Ueber Verwaltung und Rechtspflege in Deutsch⸗ Ostafrika schreibt das „Deutsche Kolonialblatt“:

In Bezug auf die Verwaltung ist ebenso wie in wirthschaftlicher Beziehung scharf zwischen dem Küstenstreifen und den übrigen Theilen des Schutzgebiets zu scheiden. In dem ersteren ist, da anzunehmen ist, daß dort die Ruhe nicht mehr gestört wird, die Zivilverwaltung ein⸗ geführt; in den letzteren sind, je nach politischem oder handels⸗ politischem Bedürfniß, Militärstationen errichtet, welche die Aufgabe haben, den ihnen zugewiesenen Bezirk in Ruhe zu halten bezw. gegen fremde Einfälle zu schützen. Die Zivil⸗ verwaltung ist derartig organisiert, daß das Küstengebiet in sechs Bezirksämter eingetheilt ist, nämlich Tanga, Pangani, Bagamoyo mit dem Nebenamt Sadani, Dar⸗es⸗Salam, Kilwa und Lindi mit dem Nebenamt Mikindani. Den Bezirksämtern ist eine Polizeitruppe, welche bisher der Schutztruppe entnommen war, zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Bezirke beigegeben. Organe des Bezirksamts sind ferner die in den einzelnen Ortschaften eingesetzten Akidas oder an⸗ gestammte Jumbes, welche für die Ordnung in ihrem Orte verant⸗ wortlich sind und Befehle der Regierung, mögen diese Wegebauten, Lieferungen irgend welcher Art, natürlich gegen angemessene Bezahlung, 89 Gestellung von Arbeitern oder dergleichen betreffen, auszuführen aben.

Der Bezirksamtmann hat in seinem Bezirke die Gerichtsbarkeit über die farbige Bevölkerung, sowohl in bürgerlichen Rechtsstreitig⸗ keiten wie in Strafsachen mit unbegrenzter Kompetenz. In Zivil⸗ sachen unterliegen seine Urtheile der Berufung an den Gouverneur,

alle Urtheile, welche auf Geldstrafe über 200 Rps. oder Gefängniß über sechs Monate lauten, der Genehmigung des Gouverneurs. Sowohl in Straf⸗ wie Zivilsachen ist der Bezirksamtmann gehalten, angesehene farbige Gerichtseingesessene als Beisitzer mit berathender Stimme zu⸗ zuziehen, ohne daß er dadurch von seiner ausschließlichen Verant⸗ wortlichkeit frei wird. Diese Einrichtung dient vornehmlich dazu, dem rechtsprechenden Beamten Gelegenheit zu geben, die Rechtsgewohnheiten derjenigen Bevölkerungsklassen, welchen die Parteien oder die An⸗ geklagten angehören, in Rücksicht zu ziehen; jedoch nur insoweit, als sie nicht dem deutschen Rechtsbewußtsein das im allgemeinen mangels eines geschriebenen Rechts als Rechtsquelle dient, zuwiderlaufen.

„Die Gerichtsbarkeit des Bezirksamtmanns erstreckt sich grund⸗ sätzlich über seinen ganzen Bezirk, thatsächlich aber beschränkt sie sich auf einige Tagereisen im Umkreise seines Amtssitzes. Bei weiteren Entfernungen muß den Jumben oder Akidas ein ziemlich weiter Spiel⸗ raum gelassen werden und in solchen Fällen, welche über die diesen ausdrücklich zugelassene Kompetenz hinausgehen, ist es dem

ezirksamtmann bei der in spärlichen Grenzen gehaltenen Polizei⸗ macht nicht immer möglich, seine S. Gewalt auf weitere Ent⸗ fernungen auszuüben. Es ist aber erstaunlich und als ein gutes Zeichen 8 das Vertrauen der Eingeborenen zu der Gerechtigkeit der herrschenden

erwaltung zu betrachten, daß sie auf fünf, sechs Tagereisen weit in das Schauri des Bezirksamtmanns kommen und den Vorladungen, welche in der Regel nicht durch Polizisten, sondern 1 den Kläger oder Beschädigten überbracht werden, fast ausnahmslos olge leisten, sodaß eine gewaltsame Vorführung nur selten erforderlich wird.

32 auch die höher stehenden Klassen der farbigen Bevölkerung, wie Araber und Inder, mit dieser Art der Recktepftege durchaus zu⸗ frieden sind, geht daraus hervor, daß in dem Berichtsjahre nicht eine Berufung an den Gouverneur gelangt ist, obwohl in jedem einzelnen dazu geeigneten Falle auf das Recht der Berufung ausdrücklich hin⸗ gewiesen wird.

Ein im „Deutschen Kolonialblatt“ veröffentlichtes Gut⸗ achten des Dr. Volkens faßt die Aussichten tropischer Kulturen am Kilimandjaro, wie folgt, zusammen:

Eiiner Plantagenwirthschaft, wie sie jetzt in Usambara betrieben wird und später auch in Pare und dem Uguenegebirge betrieben werden kann, dürfte am Kilimandjaro kein günstiges Prognostikon zu stellen sein. Das Klima spricht dagegen, daß Kaffee, Kakao, Taback, Baum⸗ wolle, überhaupt alle Tropenpflanzen, die neben vielem Regen auch eine reichlichere Besonnung und höhere Temperaturgrade verlangen, hier jemals hervorragend gedeihen werden. Es thut diesem Urtheil keinen Abbruch, wenn auch hier und da am Fuß des Berges zwischen 1000 und 1200 m Seehöhe einige günstige Plätze für Tropenkultur sich finden sollten. Nach der anderen Seite bietet der Kilimandjaro einen erheblichen Vortheil gegenüber den südöstlichen Distrikten des Schutzgebietes. Nach meiner vollen Ueberzeugung ist der Weiße in den Berglagen zwischen 1200 bis 2000 m genau so arbeitsfähig wie in der Heimath. Fieber ist kaum endemisch; alle Fälle, die mir bekannt geworden, ließen sich auf eine in der Ebene erfolgte An⸗ steckung zurückführen. Demnach also: für Usambara Plantagenbetrieb, für den Kilimandjaro Besiedelung in ähnlichem Sinne, wie sie in Südwest⸗Afrika in Angriff genommen worden ist, d. h. Besiedelung, vor allem mit Verzichtleistung auf eingeborene Arbeitskräfte.

Oesterreich⸗Ungarn.

Der Kaiser hat Mentone gestern Nachmittag wieder ver⸗ lassen. Wie „W. T. B.“ berichtet, bereitete die Menge Aller⸗ höchstdemselben bei der Abreise eine sympathische Ovation.

Das österreichische Abgeordnetenhaus hat in seiner gestrigen Sitzung das Budgetprovisorium angenommen. An der Debatte betheiligten sich nur Gegner der Vorlage, nämlich die Jungczechen Eym, Sokol und Vasaty sowie der Dalmatiner Bianchini, die lebhaft gegen die Koalition der Parteien polemisierten. Bianchini erhielt einen Ordnungsruf, ebenso der Jungczeche Breznowsky wegen beleidigender Brnsscherufe Der ruthenische Abgeordnete Wachnianin erklärte sich gegen das Vorgehen der Jungezechen; die Ruthenen würden auch ohne eine slavische Koalition den richtigen Weg finden, um die Entwickelung des ruthenischen Volkes zu erreichen. Der galizische Abgeordnete Romanezek bemerkte hierauf, Wachnianin habe nicht die Ansicht der Majorität des ruthenischen Klubs ausgedrückt.

Großbritannien und Irland.

Nach der Niederlage, welche die Regierung am Dienstag im Unterhause durch die Annahme des Amendements Labouchere erlitten, hätten, wie die „Daily News“ melden, einige Minister die Absicht kundgegeben, zurückzutreten; sie hätten davon nur Abstand genommen, nachdem man sich dahin ver⸗ ständigt habe, daß bei der Wiederholung ähnlicher Umstände die Regierung entweder zurücktreten oder das Par⸗ lament al5 sen werde.

Das Unterhaus bewilligte gestern, wie „W. T. B.“ berichtet, mit 198 gegen 9 Stimmen den Nachtragskredit für die Mission nach Uganda. Im Laufe der Debatte erklärte der Unter⸗Staatssekretär des Auswärtigen Sir E. Grey, die Regierung werde nach Ostern ihre Entschließung bezüglich Ugandas mittheilen; sie wünsche keinen Verzug darin herbeizu⸗ führen, wünsche vielmehr eine Diskussion darüber, die hoffentlich die Hemnic Ugandas auf lange Jahre, vielleicht für immer, regeln werde. Im weiteren Verlaufe der Sitzung erklärte der Unter⸗Staatssekretär des Kolonialamts Buxton, hin⸗ sichtlich des Matabele⸗Landes sei beabsichtigt, die Ver⸗ waltung unter drei Administratoren zu stellen, welche die Süd-afrikanische Gesellschaft mit Zustimmung Englands er⸗ nennen solle.

Der Erste Lord der Admiralität Lord Spencer schlägt vor, den Marine⸗Etat für 1894/95 um 3 126 000 Pfund Sterl., d. h. auf 17 366000 Pfund Sterl. zu erhöhen. Das Personal der Flotte soll um 6700 Mann vermehrt und mit dem Bau von sieben Schlachtschiffen I. Klasse, sechs Kreuzern II. Klasse und zwei Korvetten begonnen werden.

Der deutsche Graf Hatzfeldt leidet an einem heftigen Anfall von Bronchitis.

Frankreich.

Der Herzog von Cambrihge stattete, wie „W. T. B.“ berichtet, gestern Nachmittag dem Präsidenten Carnot einen Besuch ab, den dieser bald darauf erwiderte. Später wohnte der Herzog der Sitzung der Deputirtenkammer bei.

n dem gestern E Ministerrath gab der Unter⸗Staatssekretär für die Kolonien Lebon seine Ent⸗ lassung, weil er seine Autorität für ungenügend und unter den gegenwärtigen Umständen die Errichtung eines eigenen Kolonial⸗Ministeriums für nothwendig hält. Lebon wird in⸗ dessen die Geschäfte provisorisch weiterführen.

Im Senat brachte gestern der Senator Fabre eine Vorlage ein, wonach der 8. Mai zum Nationalfeiertag zu Ehren der Jungfrau von Orleans erklärt werden soll. Die Deputirtenkammer bewilligte gestern den verlangten

Kredit von einer Million für die Verstärkung der Garnisonen

der Werth des Streitgegenstandes 1000 Rps. übersteigt, in chen ist eine eigentliche Beruf zula doch b dürfe

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Réunion und nahm dann die Debatte über die Verfas fungs⸗ revision wieder auf. Der Deputirte Naquet bespra in längerer Rede die verschiedenen Vorschläge und befürwortete das System einer finzigen Kammer, eines außerhalb des Parlaments gewählten Kabinets und der Verantwortlichkeit des Präsidenten der Republik. Der Minister⸗Präsident Casimir Pörier betonte die zwischen den Anhängern der Verfassungs⸗ revision bestehende Uneinigkeit. Das Land erwarte keineswegs eine Verfassungsänderung, sondern vielmehr andere, dringendere Reformen. Der Augenblick sei für eine Aenn berns der Ver⸗ fassung wenig geeignet.

Ueber ein neues Bomben⸗Attentat in Paris meldet „W. T. B.“: An der Thür des Haupteingangs zur Made⸗ leine⸗Kirche explodierte gestern Nachmittag um ½ 3 Uhr eine Bombe, wobei der Urheber des Attentats getödtet wurde. Die Explosion fand in dem von dem äußeren Hauptthor und der mehrflügeligen Innenthür gebildeten Raume statt; die Metallplatte des Opferstocks wurde abge⸗ rissen, außerdem wurden einige Scheiben zertrümmert. Die Person, welche die Bombe trug, muß an einen Thuür⸗ pfeiler angestoßen sein, wodurch jedenfalls die Explosion hervorgerufen wurde. Andere Personen wurden durch die Explosion nicht verletzt, auch der sonst angerichtete Schaden ist unbedeutend. Die Panik unter den in der Kirche An⸗ wesenden es waren dies meistens Frauen war groß, alle suchten zu fliehen, jedoch waren die Ausgänge bereits abgesperrt. Zahlreiche Deputirte kamen aus dem Palais Bourbon, wo die starke Detonation vernommen wor⸗ den war, nach der Madeleine herbeigeeilt. Der Leichnam des Urhebers der Erplosion ist infolge der er⸗ littenen Verletzungen fast unkenntlich. Eine bei der Leiche vorgefundene Brieftasche enthielt zahlreiche Papiere und eine Photographie Ravachol's. Die Polizei hat als den Thäter den ausgewiesenen vierzig Jahre alten, aus Belgien ge⸗ bürtigen Anarchisten Pauwels konstatiert, der, wie die über die Explosion verbreiteten Extrablätter mittheilen, ein intimer Freund von Paul Reclus gewesen ist. Drei nach der Explosion verhaftete Individuen sind ein Kammer⸗ diener Roquet, ein Gärtner Sagnet und ein Straßen⸗ verkäufer Maurel. Letzterer kam mit einer tiefen Schenkel⸗ wunde in eine Apotheke und gab an, er habe sich bei dem Uebersteigen des Gitters an der Madeleine⸗Kirche verletzt. Bei dem Verhör verwickelte er sich in Widersprüche. Alle drei wurden später aber wieder freigelassen. Eine in St. Denis in der Wohnung der Frau des getödteten Anarchisten Pauwels vorgenommene Haussuchung führte zur Beschlagnahme von zahlreichen Papieren. Die helthe scheint überzeugt zu sein, daß Pauwels und der falsche Rabardy ein und dieselbe Persönlichkeit seien, jedoch haben die Recherchen nach dieser Richtung noch kein Resultat ergeben. Das Absteigequartier des Pauwels in Paris hat die Polizei bisher noch nicht ermittelt. Man glaubt, daß Pauwels der Komplice Henry'’s bei dem Attentat im Terminus⸗Hotel war.

Die heutigen Blätter kritisieren scharf die durch das estrige Attentat bewiesene Ohnmacht der Polizei und die

nzulänglichkeit der getroffkenen Maßregeln. Der „Figaro“ meint, die Volksstimmung werde die Regierung früher oder später zwingen, für anarchistische Verbrechen ein Kriegsgericht einzuführen. haft früh wurden in Paris vier Anarchisten ver⸗ haftet.

Auf dem Bahnhof in Marseille ist ein Individuum verhaftet worden, in dessen Handtasche sich mehrere Spreng⸗ maschinen vorfanden.

Italien.

Der König empfing gestern den zum serbischen Minister⸗ Präsidenten ernannten v serbischen Gesandten Simic, der sein Abberufungsschreiben überreichte. Der König wünschte, wie „W. T. B.“ meldet, Simic Erfolg in seiner neuen Stellung und sprach die besten Wünsche für den König von Serbien aus. Später fand bei dem Minister des Auswärtigen ein diplomatisches Diner zu Ehren Simic's statt. Letzterer suchte auch eine Audienz bei dem Papst nach, die er unverweilt erhalten wird. Die Gerüchte, Simic wolle über das Konkordat unterhandeln, werden als unzutreffend bezeichnet, da die die serbischen Katho⸗ liken betreffenden Fragen auf freundschaftlichem Wege gelöst worden seien, und der Vatikan das größte Entgegenkommen zeige, was vielleicht die Ernennung eines katholischen Bischofs für Serbien herbeiführen werde.

Dem „Popolo Romano“ zufolge sind die auswärts ver⸗

breiteten Nachrichten über einen zwischen dem Ministerium und der Finanzkommission entstandenen Zwiespalt, der darauf zurückzuführen wäre, daß die Kommission die Rentensteuer auf 30 Prozent erhöhen wolle, durchaus unbe⸗ gründet. Wenn überhaupt ein Zwiespalt vorhanden sei, so bestehe er darin, daß die Kommission geneigt sei, die im Aus⸗ lande placierte Rente von der Erhöhung der Steuer auszu⸗ schließen. Weährend der Abwesenheit des auf Urlaub befindlichen italienischen Gesandten in Teheran wird der dortige deutsche Gesandte Graf von Wallwitz die Interessen der Italiener in Persien wahrnehmen.

Spanien.

Der Ministerrath hat in seiner am Mittwoch abge⸗ haltenen Sitzung eine Erklärung abgefaßt, worin dem „W. T. B.“ zufolge gesagt wird, daß das neue Kabinet die Politik des früheren fortsetzen werde und sich die Herstellung des Gleichgewichts im Staatshaushalt als Grundlage für den nationalen Kredit zum Ziel setze. Besondere Gesetze gegen die Störer der sozialen Ordnung würden den auf den 4. April einzuberufenden Kortes vorgelegt werden. Das Kabinet werde die Annahme des früheren Butgets mit geringen Abänderungen beantragen.

Der Ministerrath beauftragte Sagasta, einen Bürger⸗ meister von Madrid zu bezeichnen. Mehrere Persönlich⸗ keiten haben bereits den Antrag wegen der in der Stadt⸗ verwaltung herrschenden Unordnung abgelehnt.

8 Portugal. 8 8 . 8 2. Der Minister des Auswärtigen hat, wie „W. T. B. meldet, seine Entlassung genommen. 8 Schweden und Norwegen.

Die Geschäftsordnungskommission des Storthings hat eine Denkschrift vorgelegt, worin dem „W. T. B.“ zufolge dargelegt wird, daß das Storthing nicht vor Ende Juni ge⸗

schlossen werden koͤnne

Dänemark. 8

Das Folkething hat, wie „W. T. B.“ meldet, den Antrag der Partei der Linken angenommen, wonach der taat aus dem Ueberschuß des Budgets für 1894/95 die älfte der amtskommunalen Steuern bezahlen solle, um den andwirthschaftlichen Steuerzahlern die Steuerlast zu erleichtern. Der bezügliche Betrag dürfte sich voraussichtlich auf Millionen Kronen belaufen. Die Rechte stimmte getheilt.

Rumänien.

In der gestrigen Sitzung der Deputirtenkammer wurde die Berathung des Handelsvertrags mit Oester⸗ reich⸗Ungarn fortgesetzt. Der Minister des Auswärtigen Lahovari hob dabei, wie „W. T. B.“ berichtet, wieder⸗ dolt die Vortheile des Vertrags hervor. Die Kammer beschloß mit 62 gegen 21 Stimmen, auf die Spezialdebatte einzugehen.

Serbien.

Das Amtsblatt bespricht die Antwort des österreichischen Minister⸗Präsidenten Fürsten Windischgrätz auf die Inter⸗ pellation des Abg. Bianchini und betont, die maßgebenden serbischen Kreise ständen den in Umlauf gesetzten Mobilisierungs⸗ gerüchten vollständig fern und wären durch die erwä Gerüchte ebenso überrascht und unangenehm berühr wie die übrige politische Welt. S

Bulgarien.

Nach einem Communiqué über das Befinden der Prinzessin Maria Louise ist seitens der Aerzte eine Leberanschwellung infolge des Fiebers und eine lokale Ent⸗ zündung konstatiert worden. Es sei gegründete Hoffnung auf deren Verschwinden ohne außen vorhanden. Im übrigen sei der Zustand der Prinzessin befriedigend, die Nahrungsaufnahme genügend. Nach Ansicht der Aerzte werde die Prinzessin den Verlauf der Krankheit gut überstehen.

Der Prinz Ferdinand von Sachsen⸗Coburg hat den Metropoliten Klement begnadigt. v11“

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Amerika. 8

Wie „W. T. B.“ aus Washington berichtet, hat der Senat in seiner gestrigen Sitzung mit 44 gegen 31 Stimmen die Vorlage bezüglich der monatlichen Ausprägung von zwei Millionen Dollars aus dem im Staatsschatz be⸗ findlichen, von der Prägegebühr herrührenden Silber genehmigt. In Buenos Aires eingetroffenen Nachrichten aus Sao Paolo zufolge hätten sich die brasilianischen Aufständischen unter General Saraiva der Festung Itararé bemächtigt, die mit 3000 Mann kapituliert habe. Wie die Lissaboner Blätter melden, befände sich der Admiral da Gama mit 500 Mann an Bord der portugiesischen Korpette „Mindello“. Man glaube, daß er mit seinen Leuten nach Portugal kommen

werde. Asien.

Die Handelskammer von Bombay hat, wie das „Reuter'sche Bureau“ meldet, in einer am 13. d. M. abge⸗ haltenen Versammlung eine Resolution angenommen, worin gegen die zollfreie Einführung von Baumwollwaaren nach der neuen Tarifbill protestiert wird.

Afrika.

Nach einer Meldung des „Reuter'schen Bureaus“ aus Kairo genehmigte die gestern unter dem Vorsitz des Khedive abgehaltene Minister⸗Konferenz die Konversion der unifizierten Schuld auf Grund ähnlicher Bedingungen wie bei den früheren egyptischen Konversionen. Das bezügliche Dekret sollte noch gestern Abend den Vertretern der Groß⸗ mächte vorgelegt werden.

Ein bei der Regierung des Congo⸗Staats eingelangtes Telegramm theilt der „Köln. Ztg.“ zufolge mit, daß nach dem Rückzug der Truppen des arabischen Häuptlings Rumaliza der Hauptmann Dhanis, der im Westen des Congo⸗Staats die Truppen befehligt, den Feind nach Osten hin verfolgt habe. Bis jetzt habe ein einziger bedeutender Zusammenstoß, nämlich am 17. November, stattgefunden; dabei sei Sefu, der Sohn Tippu Tip's, getödtet worden. Seitdem sei kein ernsteres

usammentreffen erfolgt. Dhanis verfolge den Feind weiter; 1 hcths habe sich einige Tagereisen westlich von Luama ver⸗ 1111“

Parlamentarische Nachrichten.

Die Schlußberichte über die gestrigen Sitzungen des Reichstags und des Herrenhauses befinden sich in der Ersten, der Bericht über die gestrige Sitzung des Hauses der Abgeordneten in der Zweiten Beilage.

X

Der heutigen 73. Sitzung des Reichstags wohnten der Reichskanzler Graf von Caprivi, und die Staats⸗ ekretäre Dr. von Boetticher, Freiherr von Marschall und Dr. Graf von Posadowsky bei.

Auf der Tagesordnung stand die dritte Berathung des Fandels⸗ und Schiffahrtsvertrags zwischen dem keich und Rußland. In der Generaldebatte nahm zu⸗ nächst das Wort der G Abg. Freiherr Heyl zu Herrnsheim (nl.): Die prinzipiellen

eggner einer jeden Herabminderung der Kornzölle konnten gegen den rumänischen und russischen Handelsvertrag selbst dann noch stimmen, nachdem der österreichische Vertrag angenommen war. Die Minderheit meiner Fraktion leiteten nur politische Motive; die Gründe, die die daese. vorgebracht hat, sind für uns nicht überzeugend. Die bezüglich vefs rei letzten entejahre angeführten Zahlen sind nicht maßgebend für die 8 kswirthschaftliche Beurtheilung des Vertrags. Für mich beweisen die wertletten Jahre nur die Unentbehrlichkeit des Roggens und die nufsß riebene Spekulation bei niedrigen Preisen. Wenn auch in den . Häfen nur geringe Mengen Getreide liegen, so beweist das Die ect daß nicht im Innern des Reichs große Mengen lagern. in f andwirthschaftlichen Engusten, die in den 80er Jahren die ast allen deutschen Staaten vorgenommen sind, haben Frankiett vorhandene Agrarkrisis vorausgesagt. Jetzt, wo die riceich vorwärts geht, gehen wir rückwärts. Welche Maßnahmen Beha Uülgen sind, wird die Zukunft erweisen. In der differentiellen

89 ung Rußlands kann eine politische Spitze gegen Rußland nicht eutschen mwerden. Wer der Heidelberger Vereinigung, welche die süd⸗ zu verbn kationalliberalen mit den agrarischen Interessen des Nordens gegennninden suchte, angehört, brauchte sich dem Bund der Landwirthe nur . garnicht erst zu binden. Eine exportierende Industrie kann blühenden ein Segen für unser Vaterland sein, wenn sie neben einer bb ühe Landwirthschaft besteht. Wir betrachten die agrarischen

8 8 als so tief ernste, daß wir unsere Sorge mehr auf die theile F rhandenen Schäden, als auf die in Aussicht stehenden Vor⸗ glauben richten zu müssen. Daher werden wir gegen den

1.

Abg. Dr. Freiherr von Heereman (e hält, obwohl er aus dem Westen komme, sich dennoch fuüͤr verpflichtet, auch die Interessen des Osten zu wahren, soweit er sie erkennen könne. Der Vertrag mit Rußland werde für den Westen keine Schädigung bringen, da die Staffeltarife für Getreide beseitigt werden sollen. Für den Osten habe die Aufrechterhaltun eines Differentialzolles keinen Vor⸗ theil gehabt; das beweise die Fect während welcher der Kampfzoll in Geltung war. Die verbündeten Regierungen haben aus den Verhandlungen ersehen, daß die Mehrheit den Handelsvertrag mit Rußland nur mit schwerem Herzen bewilligt. Um so mehr hätten sie Veranlassung, namentlich die preußische Regierung, sich zu fragen, warum seit Jahren versäumt worden ist, für die Landwirthschaft etwas zu thun. Alle Sicherung hat man der Landwirthschaft weg⸗ genommen, die Sicherung des Grundbesitzes überhaupt, die Sicherung gegen Subhastationen u. s. w., und wenn man eine Organisation der Landwirthschaft wieder schaffen will, so kann das doch immer nur sehr langsam geschaffen werden. Wenn die Landwirthschaft Opfer bringt für das Allgemeinwohl, dann muß sie gefördert werden auf allen Ge⸗ bieten, namentlich in Bezug auf das Kreditwesen, in Bezug auf die Erbfolge u. s. w. Eine unbegrenzte Erhöhung der Schutzzölle ist nicht möglich; es ist nur möglich, durch Handelsverträge ein gedeihliches Verhältniß herbeizuführen, wobei allerdings die Interessen der In⸗ dustrie und der Landwirthschaft, der konsumierenden und produzierenden Stände, gegen einander ausgeglichen werden müssen. In diesem Sinne geben wir der Vorlage unsere Zustimmung. Wir hoffen, daß die Landwirthschaft bald wieder ihren früheren Stand einnehmen wird, sonst würden wir nicht für den Vertrag stimmen.

Abg. Freiherr von Hammerstein (dkons.): Der persönliche Hochdruck hat seine Schuldigkeit für den Vertra di üce unbefangene Würdigung des Vertrags hat noch nicht ö“ Der Staatssekretär Freiherr von Marschall erklärte im vorigen Monat, daß er mit Ruhe dem Tage entgegensieht, wo der russische Vertrag in Kraft treten werde. Ob er heute diesen Ausspruch no wiederholen wird? Inzwischen haben die Bauleiter selbst eine vernichtende Kritik an dem neuen Kurse geübt. Das Ziel war: Kräftigung unserer Bundesgenossen und Stärkung unserer Industrie, und da schließt man Rußland und Amerika in die Meistbegünstigung ein. Aber freilich, wir be⸗ finden uns in einer Zwangslage, wir müssen die Folgen unserer Fehler tragen. Man hat nicht beweisen können, daß die deutsche Landwirth⸗ schaft nicht geschsdigt wird durch die russische Konkurrenz. Alle trockenen Zahlen halten nicht stand gegenüber den praktischen Ver⸗ hältnissen. Nach statistischen Tabellen spielen sich die Verhältnisse in Rußland nicht ab. Unter Zuhilfenahme des schwankenden Rubel⸗ kurses wird man den russischen Getreideexport steigern. Man hat sich ja auch nach Kompensationen umgesehen! Was ist daraus geworden? Den Identitätsnachweis hebt man auf, aber die gemischten Transit⸗ lager behält man bei, und die Staffeltarife hebt man auf. Der Handelsvertrag mit Rußland soll nach dem Staatssekretär Freiherrn von Marschall ein Merkstein sein; aber das Fundament dieses Ge⸗ bäudes ist von den Erbauern selbst erschüttert, und wir wollen die Verantwortung nicht auf uns nehmen, daran mitzuwirken. Man sagt allerpinger unsere Opposition sei nur deshalb vorhanden, weil die Mehrheit gesichert wäre. Machen Sie (links) doch die Probe darauf, kommandieren Sie die entsprechende Anzahl ab, sodaß ohne uns die Mehrheit nicht mehr geschaffen werden könnte; Sie werden erleben, daß wir den Vertrag ablehnen. Der Reichskanzler hat gemeint, der Panslavismus würde durch die Ab⸗ lehnung des Vertrags gestärkt werden. Aber für das Linsengericht dieses Vertrags wird sich Rußland seine politische Stellung nicht abkaufen lassen. Die russische Politik geht ihren ruhigen Gang. In den baltischen Provinzen wird ein Druck sondergleichen geübt ohne jede Rücksicht auf das Deutsche Reich. Auch die katholiche Kirche wird drangsaliert. Das Zentrum gedenkt allerdings wohl feurige Kohlen zu sammeln; aber der Schädel eines rich⸗ tigen russischen Tschinowniks ist zu dick, er fühlt das Feuer nicht. Die besten Landwirthe in Rußland waren bisher die der deutschen Kolonien. Jetzt werden die Russen wohl auf den Gedanken kommen, daß sie sich an ihre Stelle setzen können. Die Hauptsache für uns ist, daß der Draht nach Rußland nicht zerrissen wird; denn ob die Russen nach Konstantinopel gehen, kann uns gleich⸗ gültig sein. Die politischen Beziehungen kann der russische Kaiser, wenn er den Willen dazu hat, aufrecht erhalten; aber die loyale Durchführung des Handelsvertrags kann der Kaiser nicht durchsetzen; er hat nicht die Macht, den geschlossenen Ring des Tschinownikthums zu brechen. Der Reichskanzler wird nicht im stande sein, mit der Handelsvertragsmehrheit die Politik des Reichs weiter zu führen. Wir werden unsere Politik weiter verfolgen. Die Solidarität der Industrie und der Landwirthschaft ist gelockert worden, und zwar durch Schuld der Industrie. Sie hat keinen Vortheil von dem russischen Handels⸗ vertrag und stimmt für denselben nur aus politischen Gründen. Wann hat die Landwirthschaft jemals der Industrie ihre Hilfe versagt? Dauernd kann die Solidarität allerdings nicht unterbrochen werden. In der Industrie wird sich die Erkenntniß, die der Abg. Freiherr von Stumm über den österreichischen Handelsvertrag jetzt bereits ge⸗ wonnen hat, bald geltend machen. Lassen Sie 8— nicht täuschen durch den Zustimmungsrummel; mir haben Industrielle aus dem Westen gesagt: die Industrie ist keineswegs begeistert für den Handelsvertrag, aber die Leute haben nicht den Muth, den Inter⸗ essen des Handels und der Börse entgegenzutreten, sie fürchten auch chikaniert zu werden durch Nichtertheilung von Aufträgen u. s. w. Ein Markstein wird der Handelsvertrag allerdings sein, aber ein Leichenstein; auf der einen Seite wird stehen: „Hier wurde die deutsche Landwirthschaft zu Grabe getragen“; die andere Seite wird eine Zeit lang leer bleiben und dann die Inschrift erhalten: „Die deutsche Industrie folgte ihr nach!“ Wenn erst die russisch Industrie gestärkt sein wird, dann wird die deutsche Industrie sich vergeblich nach einem inneren Markt um⸗ sehen. Die Landwirthschaft nicht nur, sondern auch die Kleinindustrie und das Handwerk in den kleinen Städten vertraut uns, daß wir sie vor jeder Benachtheiligung schützen. Wenn wir dieses Vertrauen täuschen, dann würden die Elemente, in denen das monarchische Gefühl noch lebt, von uns abfallen und sich auf die radikale Seite schlagen. Das wollen wir nicht verantworten.

Abg. Fürst Radziwill (Pole): Der Abg. von Staudy hat in der Rede des Herrn von Koscielski über den russischen Handelsvertrag einen Angriff gegen die konservative Partei erblickt, aber eine Erwide⸗ rung abgelehnt, weil jener Herr nicht mehr Mitglied des Hauses sei. Umsomehr fühlen wir uns verpflichtet, uns mit den Aeußerungen unseres früheren Mitgliedes für solidarisch zu erklären, als seine Mandatsnieder⸗ legung was ich ad usum der Mitglieder dieses Hauses und der Presse, auch der auswärtigen, berühren möchte unnöthig viel Staub auf⸗ gewirbelt hat. Wir bedauern, daß wir diesen Herrn nicht mehr unter uns haben, aber die sanguinischen Konsequenzen, welche Freunde und Feinde an diese Mandatsniederlegung geknüpft haben, werden durch die weitere Entwickelung nicht gerechtfertigt werden. Unserm frühern Mitglied wie uns liegt es gleichmäßig sehr fern, einen Streit mit der konservativen Partei provozieren zu wollen. Wenn Sie aber die Haltung der konservativen Partei gegenüber den heißen und sehnlichen Wünschen der polnischen Bevölkerung in Preußen auf Erhaltung ihrer Muttersprache in Betracht ziehen, dann werden Sie es erklärlich finden, daß unser früheres Mitglied darüber einen gewissen Unmuth geäußert hat. Heute, wo aus der Initiative Seiner Majestät des Kaisers und Seiner Räthe eine Wendung zur Besserung, der wir mit vollem Herzen zustimmen, erfolgt ist, scheint es die konservative Partei auf ihre Fahne geschrieben zu haben, daß alle diese Bestrebungen im Keim erstickt werden müssen. Ich möchte Sie (rechts) bitten, gerade zur Beför⸗ derung eines Einverständnisses mit Ihnen, doch recht zu erwägen, ob die geistige Verwüstung, welche eine systematische Untefege naer polnischen Sprache in Schule und Kirche zur Folge gehabt, den Abs. von Staudy berechtigt hat, uns hier das Bild einer wirthschaftlichen Wüste vorzuführen für den Fall, daß der russische Handelsvertrag an⸗ genommen wird.

Abg. von Kardorff (Rp.): Ich sehe mit schweren, großen Sorgen in die Zukunft, auch in Bezug auf die Bath bn preußische Regierung den Polen gegenüber eingeschlagen hat. (Zuruf: Die Versöhnung ist oft versucht, aber immer fehl⸗ geschlagen. Ob die Versöhnung jetzt so vorsichtig gesucht wird, daß die deutschen Interessen nicht geschädigt werden, lasse ich dahin ge⸗ stellt. Die Haltung der Sozialdemokratie bei der Denkmals⸗ frage rechtfertigt es, daß wir auch nach dieser Seite hin mit schweren Bedenken in die Zukunft sehen müssen. Niemals ist mit diesem Nachdruck betont worden, daß sie eine antimonarchische, eine republikanische Partei ist. Niemals ist das so offen ausgesprochen worden wie jetzt. Auch in der Kolonialpolitik haben wir das Gefühl, daß nicht mehr der frische, fröhliche Zug vorhanden ist, der früher in diesen idealen Bestrebungen herrschend war. Und endlich, als Fürst Bismarck aus dem Amte schied, war Deutschland die leitende Mäcst in Europa. Ist das heute noch so? (Zuruf des Abg. Rickert: Es ist nicht anders wie früher! Man macht sein Vater⸗ land nicht schlecht.) Die internationale Regelung der Währungsfrag wäre ein Weg gewesen, um der Landwirthschaft zu helfen, und in dem Augenblick, in welchem die Regierung diesen Weg einschlagen zu wollen scheint, da wird eine Maßregel ergriffen, die im Widerspruch mit einer internationalen Regelung der Währungsfrage steht. Sie können sich deshalb nicht wundern, wenn wir in unserem ablehnenden Votum beharren! 1 Abg. Thomsen (fr. Vg.): Auch in meiner Heimath Schles⸗ wig⸗Holstein besteht ein unbedingt freies Verfügungsrecht über den Grund und Boden, aber wir haben seit 1559 denselben seßhaften Bauernstand. Dahin sollten die Herren im Osten auch streben, eine kräftige, unabhängige, intelligente Bauernbevölkerung zu schaffen. Die Schaffung stabiler wirthschaftlicher Zustände, ein reger Güter⸗ austausch zwischen den Kulturvölkern wird zur Gesundung des Bauernstandes mehr beitragen, als wirthschaftliche Kriegs⸗ zustände. Durch den Identitätsnachweis wird meine Heimath vollständig entschädigt für die Ermäßigung des Zolls an der russischen Grenze. Auch der Osten wird dadurch heaee. der Verdienst überall steigen. Schon aus materiellen Gründen stimmen wir für den Ver⸗ trag. Der Großgrundbesitz giebt sich hier immer für den Vertreter der Interessen des kleinen Bauernstands aus. Aber den 5 Millionen kleiner Besitzer stehen 2500 Großgrundbesitzer gegenüber, welche Millionen von Hektaren besitzen. Darin besteht die tiefe Kluft zwischen beiden: der Bauernstand ist schon durch seine ungeheure Population an die Scholle gebunden. Wes⸗ halb bestehen die Patronate noch, weshalb die Lasten der Armen⸗ pflege? Wohin man durch eine falsche Agrarpolitik gelangt, zeigt Mecklenburg. Wir stimmen der Vorlage zu in der Voraussetzung, daß die Regierung den jetzt bestehenden Zollschutz für die Sn schaft aufrecht erhält, so lange die Industriezölle nicht ermäßigt werden, wir stimmen der Vorlage zu aus einer ausgeprägten Ge⸗ rechtigkeitsliebe, nach dem Grundsatz: Leben und leben lassen, wir stimmen ihr zu aus allgemeinen patriotischen Gesichtspunkten, im Interesse einer friedlichen Gestaltung der europäischen Verhältnisse. Abg. Liebermann von Sonnenberg (b. k. F.): Es kommt hier nicht auf Schutzzoll oder Freihandel an, sondern darauf, ob der Zeitpunkt für die Handelsvertragspolitik richtig gewählt war. In dem Augenblick, wo die Regierung die Heeresreform durchführen wollte, wo große Mehrausgaben bevorstanden, da war es nicht richtig, eine Vertragspolitik durchzuführen, welche Einnahmeausfälle herbeiführt. Ist eine Regierungspolitik weise, welche das Geld weggiebt, wo sie dasselbe braucht, die Unzufriedenheit schafft in der Landwirthschaft, dieser festen Säule der Monarchie, die vertraut der Industrie, der schwächsten Stütze der Staaten? Der Mangel an Fe gentist zeigt sich in dem Verhalten gegenüber dem Bunde der Landwirthe, dem die Regierung Agitation vorwirft, während sie in der B für den vertrag diesen Bund der Landwirthe weit übertroffen hat. it dem Fortbestehen der Landwirthschaft ist das Fortbestehen des Staats verknüpft. Die Natur hat uns keine sturmfreien Festungsgräben gegeben wie England. Wir brauchen Bauernheere zur Vertheidigung. Gebe Gott, daß diese Quadern unserer Wälle nicht zerbröckelt werden! Der Reichskanzler hat selbst der Landwirthschaft nachgerühmt, daß sie Charaktere schaffe. Der Umgang mit der bäuerlichen Bevölkerung schafft auch Charaktere und schafft auch die praktische Kenntniß des landwirthschaftlichen Lebens. Unsere Regierungsbeamten aber haben alles gelesen, aber nichts erlebt. Die Sozialdemokratie hat ihre Negation aufgegeben; sie hat sogar ihre herzliche Abneigung gegen Rußland aufgegeben; sie hat dem Reichskanzler Lob⸗ sprüche gespendet. Wir haben den Eindruck, daß die Sozial⸗ demokraten glauben, mit einem unzufriedenen Bauernstande eher fertig werden zu können. In einer Versammlung in Kottb hat ein Sozialdemokrat es offen ausgesprochen, die sozialdemokratischen Führer hielten den Reichskanzler Grafen Caprivi ganz für den Mann, wie sie ihn brauchen könnten. Die Junker haben Rückgrat gezeigt, das ist gut für die Junker und für die Regierung; denn wenn ihnen an Rückgrat fehlte, würden sie eine sec Stütze für die Regierung sein. Der „Vorwärts“ meint, die Blüthe der Industr infolge des Vertrags würde von kurzer Dauer sein, aber die Arbeite würden nach dem Westen streben; im Osten würde das slavische Element zunehmen und dieses müsse dann ie Agitation der Sozialdemokratie bearbeitet werden. werde dann solgen. Das sind die Hoffnungen der Sozialdemokrati Auch die Partei des Abg. Richter hofft, daß den Junkern das Rück⸗ rat gebrochen werden möge; das ist aber mißlungen. Bei dem Abg. Rickert und seinen Freunden herrschen wohl andere Gründe vor; aus seiner Rede klang nur ein unendliches Wohlwollen hervor. Bei dem Hochdruck, den der Handel ausübte, sind auch die Industrie⸗ kreise für den Vertrag gewonnen. Die Nationalliberalen haben mit der Auflösung gedroht; freilich bei ihrer Spaltung haben sie keine Freude an den Wahlen. Das Zentrum hat sich als durchau hinstellen wollen. Ich freue mich darüber, denn wir vennen die Verhältnisse in den Zentrumswahlkreisen. Aus Rußland habe ich eine Depesche bekommen, wonach die im Gouvernement etrikau lebenden Deutschen, Ingenieure u. s. w. chikaniert werden. ie Leute sollen jetzt nur in Dienst genommen werden, wenn sie gründliche Kenntniß der russischen Sprache haben; den bereits im Dienst befindlichen wurde eine kurze Frist gewährt; wer nach Ablauf der Frist das Examen nicht besteht, wird aus⸗ gewiesen. Den Franzosen sind dagegen fünf Jahre Frist ge⸗ währt! Nach dem Vertrage werden bestehende Verordnungen und Gesetze nicht berührt; man kann also dagegen nichts machen. Wird die Regierung Repressalien ergreifen? Wenn die Kenntniß der deutschen Sprache verlangt würde, dann würde die Einwanderung russischer Juden wohl nicht gefährlich werden. 688 Die sprechen nur deutsch Aber das Deutsch würde die Prüfung wohl kaum be⸗ stehen. Rußland ist die Vormacht Europas geworden; das müssen wir uns 25 Jahre nach dem großen Kriege, welcher Deutschland einigte, sagen lassen! Ueberall im Lande wächst der Partikularismus und die Unzufriedenheit. Das weiß jeder, nur die Regierung nicht. Was will man thun, um der Landwirthschaft die Möglichkeit zu ge-⸗ währen, die Krisis zu überstehen? Die Währungsfrage wäre dazu zu rechnen; in den Motiven zu dem Gesetz über die Landwirthschafts kammern sind grundlegende Reformen angekündigt. Aber wird die Landwirthschaft nicht bis zur Durchführung derselben schon verblutet sein? Alles wird vergeblich sein, wenn wir nicht zurückkehren zu den Grundsätzen des deutschen Rechts. Man wird von diesen Handels verträgen sagen können, daß sie ein inneres Jena bedeuten (lebhafter Widerspruch); hoffentlich kommt aber auch der innere Scharnhorst, der die Organisation schafft, um eine neue Entwickelung herbeizuführen. Abg. Dr. Lieber (Zentr.): Der Vorredner hat das Zentrum zu Unrecht angegriffen. Wir wollen die guten Seiten des russischen Handelsvertrags nicht verschweigen. Der Abg. Dr. Bachem ist nur der Judenhetze entgegengetreten, die hier getrieben wurde. Der von Liebermann hat auf die Verfolgung der Deutschen in Rußland hingewiesen. Der, Kampf der Russen gegen das Deutschthum und die katholische Kirche hat erst seit dem Beginn des Kulturkampfes seinen scharfen Charakter angenommen.

Die Urheber der Polengesetze wollen uns diese Dinge zu Gemüthe

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