1895 / 112 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 10 May 1895 18:00:01 GMT) scan diff

schließen müsse: er wäre damit einverstanden, er lege aber diesen An⸗ trag dahin aus, daß unter „ehrlosen“ Handlungen nicht etwa Dieb⸗ stahl und Majestätsbeleidigungen zu verstehen seien, sondern Handlungen, welche gegen die Partei gerichtet und ganz schwere Ver⸗ brechen seien. Die Sozialdemokratie ist die Liebe!

Weiter, meine Herren: In einer Versammlung, die neuerdings, als die großen berühmten Protestversammlungen abgehalten wurden, in Frankfurt a. M. einberufen ist, sagte jemand:

DOcem gegenüber muß ich aber erklären, daß diejenigen Ge⸗ ossen, welche ihrer Ueberzeugung wegen mit schweren Strafen belegt sind, wegen strafbarer Handlungen, welche das Strafgesetzbuch allerdings als „gemeine Verbrechen“ bezeichnet, für uns dennoch keine Verbrecher, sondern Ehrenmänner bleiben.

Meine Herren, auch hier in Berlin ist neuerdings manches passiert, was mit der Staatsordnung nicht vereinbar erachtet werden kann. Wenn z. B. hier in Berlin Festversammlungen fortgesetzt mit einem Hoch auf die internationale Sozialdemokratie geschlossen werden, so be⸗ dauere ich nur immer, daß Sie dabei so schnell sind, daß eine Auf⸗ lösung der Versammlung nicht mehr möglich ist. Bringen Sie doch zu Anfang ein solches Hoch aus, dann werden wir Ihnen die Ver⸗ sammlung bald auflösen! Aber darum, daß Sie etwas ge⸗ schickter, etwas schneller sind wie die Polizei, dadurch wird Ihre Handlungsweise nicht gesetzlicher, im Gegentheil: der Ungesetzlichkeit gesellt sich noch eine gewisse kindische Ungezogenheit zu! (Lachen bei den Sozialdemokraten.)

Weiter, meine Herren: Ein Abgeordneter dieses hohen Hauses hat in einer Volksversammlung sogar mit einem „Hoch auf die revolutionäre Sozialdemokratie“ geschlossen. Das war der Herr Abg. Vogtherr!

Ferner, meine Herren: der Herr Abg. Liebknecht sagte in der Festfeier vom 1. Mai:

Der Sieg der Enterbten über die Ausbeuter muß bald der unsere

werden. Wir müssen die Macht in die Hände bekommen. (Zurufe.) Ja, meine Herren, das halten Sie alles für harmlos, die Regierung hält es aber nicht dafür.

Ein anderer Abgeordneter hat damit die Herren auch hören, wie man in Volksversammlungen seitens der Herren Vertreter der Liebe vom Reichstag spricht in einer öffentlichen Rede, in Bezug auf die fehlende Inschrift des Reichstagsgebäudes gesagt: er schlüge vor, als Inschrift zu setzen: Hier zahlt man die höchsten Preise für Lumpen. Meine Herren, das ist der Herr Reichstags⸗ Abgeordnete Stadthagen gewesen, der dies in einer Versammlung gesagt hat! (Zurufe rechts.)

Nun wende ich mich zu den Erzeugnissen der Presse ob sie von Ihnen herstammen oder von den Anarchisten, das bleibt sich gleich. (Zurufe bei den Sozialdemokraten.) Ja, meine Herren, solche Preßerzeugnisse werden gedruckt und verbreitet; wer der Ver⸗ fasser derselben ist, ist für die Behörden, die auf Ruhe und Ordnung zu sehen haben, gleichgültig. Also Ihre Entschuldigungen: Wir sind es nicht gewesen, sondern andere, kommen nicht in Betracht für die Maßnahmen, welche die Regierungen zu treffen genöthigt sind.

Selbst für unsere Studenten, für junge Leute, die zum theil eben erst von der Schulbank gekommen sind und vielleicht besser noch einige Zeit dageblieben wären, ist schon ein eigenes sozialistisches Organ geschaffen worden. Ich muß sagen: alte, ehrbare, verständige

Leute schlagen die Hände über den Kopf zusammen über solch einen Unfug und Blödsinn. Dieses Organ schreibt Folgendes:

Wohl stellt das heutige Proletariat dieselben politischen Forde⸗ rungen wie die Bourgeoisie 1848, aber nicht die Gemeinsamkeit dieser Endziele ist es, die heute das Proletariat der einstigen Vor⸗ kämpfer der Bourgeoisie mit Liebe gedenken läßt, es ist das Ver⸗ langen, umzustürzen, das, was ist, welches vor 50 Jahren die Bourgeoisie beseelte, wie heute das Proletariat.

Umsturz der bestehenden Staats⸗ und Gesell⸗ schaftsordnung war und ist das Ziel beider Klassen, als sie begannen, die Hand nach den Gütern der Erde auszu⸗ strecken, nach Macht und Genuß.

Das steht im Leitartikel des „Sozialistischen Akademiker“ vom 15. März 1895! In einer Beziehung ist dieser Artikel lehrreich für mich gewesen. Sie sagen uns hier immer: Umsturz der bestehenden Staats⸗ und Gesellschaftsordnung was ist das? Davon können wir uns gar kein Bild machen! Meine Herren, nach Ihnen kommt die andere Generation; die weiß es schon.

Meine Herren, weiter: Hier ist ein Blatt, was in Berlin ver⸗ breitet wird: „Die Rache“. Ich will Sie nicht mit diesem nichts⸗ würdigen, niederträchtigen Geschreibsel behelligen; ich will es aber gern auf den Tisch des Hauses legen und bloß ein paar Ueberschriften von den Artikeln verlesen, die es enthält: „Tod den Tyrannen!“, „Hoch die Expropriation!“, „Nieder mit der Autorität!“, „Hoch die Rebellion!“, „Gesetzlicher Barbarismus“ u. s. w. Ich lege die Artikel zur gefälligen Kenntnißnahme auf den Tisch des Hauses nieder.

Sie sagen nun wahrscheinlich: „die Rache“! was ist das für ein Blatt, wie kommt das hierher, warum leidet die Polizei das? u. s. w. Ja, auch Blätter, die Ihre offiziellen Organe sind, treiben es nicht viel besser. Der „Vorwärts“, ein Blatt, das Ihnen ja wohl bekannt sein wird (Heiterkeit), sagt in seiner Nummer vom 20. Fe⸗ bruar d. J. Folgendes:

Dieser kleine Lapsus soll der Verfasserin gern verziehen werden, sintemalen sich die Sozialdemokratie mit immer zunehmendem Erfolg angelegen sein läßt, auch die Proletarierinnen von dem er⸗ bärmlichsten und schädlichsten aller Laster, dem Laster der Zufriedenheit und Bedürfnißlosigkeit, zu befreien.

Also die Sozialdemokratie, die Partei der Liebe, die verbreitet, daß die Zufriedenheit in der Welt das scheußlichste und erbärmlichste Laster sei, was es giebt. Das ist ein so unerhörter Blödsinn, das ist so aufreizend, so aufhetzend, daß es sehr bedenklich erscheint, wenn so etwas geduldet werden muß.

Nun, meine Herren, weiter: Die „Volkswacht“, ein Blatt, welches in Ihrem offiziellen Zeitungskatalog als offiziell ausdrücklich be⸗ zeichnet worden ist, leistet sich auch einen hübschen Artikel, den ich den Herren Sie müssen schon verzeihen, wenn es einen Augenblick dauert in seinen Schlußworten mittheilen muß, hauptsächlich aus dem Grunde, weil ich hoffe, daß diese Auffassung jener Partei der Liebe im Lande etwas mehr Verbreitung findet, als es bisher der Fall ist, und zwar in denjenigen Kreisen, denen es seitens der Partei der Liebe an den Kragen gehen soll. Da heißt es:

Aber, Ihr Herren Großbourgeois, reibt Euch einmal Eure

Champagnerräusche ein wenig aus den Augen! Blickt nach Frank⸗

9 .

reich! Habt Ihr wirklich nicht gemerkt, daß wenige Monate, nach⸗

dem Casimir Perier, der Großbourgeois par excellence, zur Herr⸗

schaft kam, nachdem Ihr in Eurer Phantasie die französische Sozial⸗ demokratie schon für immer gefesselt am Boden liegen saht, am 18. Dezember 1894 mit Hilfe der französischen Sozialisten der Radikale Brisson zum Präsidenten der Deputirtenkammer gewählt, das heißt zum einflußreichsten Amt neben dem Präsidenten der Republik und dem Minister⸗Präsidenten bestimmt worden ist? Und solltet Ihr wirklich nicht wissen, daß in Frankreich fast alle Welt den Sieg des Radikalismus und Sozialismus für die nächsten drei, vier Jahre bereits kommen sieht und sich darauf einrichtet? Und sobald nun Frankreich wieder wie vor 100 Jahren in der siegenden Revolution glorreich voranschreitet? Sobald wie unser Nachbar das belgische Volk, falls es dem französischen Volke nicht etwa gar voranschreiten sollte ihm so, wie es mit voller Sicherheit zu erwarten ist, auf dem Fuße hinterdrein folgt? Sobald der Hauch der triumphierenden sozialen Revolution glühend heiß über die Länder dahinstürmt und in England die gewaltige Macht der jetzt bereits mit der internationalen Sozialdemokratie in allem Wesentlicheren in Einklang gesetzten trades-unions die wider⸗ standsunfähige Bourgeoisgesellschaft des die halbe Welt behberrschen⸗ den Inselreichs nach Willkür zurechtknetet wie Wachs? Sobald es in Italien losbricht und in Spanien; wenn überall in der Welt: in Dänemark und Schweden, in Rußland und Polen, in Rumänien und Serbien, ja selbst in Australien Ungewitter des nicht länger zu bändigenden Volkszornes Blitze auf Blitze sprühen —! Nun, Ihr Herren Bourgeois, wird Euer Heer oder wer sonst die Umgestaltung Eurer verfaulten, in allen Fugen krachenden, sich täglich aufs neue durch den Eiter, der ihr aus allen Poren quillt, besudeln⸗ den bürgerlichen Gesellschaft in die sozialdemo⸗ kratische Weltgesellschaft verhindern können, die heute schon das heiß ersehnte Strebeziel aller nach politischer und wirth⸗ schaftlicher Befreiung ringenden Geister ist?

Das ist die Partei der Liebe! Nun, meine Herren, weiter noch. Ich bedauere, daß ich das mittheilen muß, aber es ist zu charakte⸗ ristisch. Die Sozialdemokraten vertheilen im ganzen Lande ein Büchlein in dieser Größe und bezeichnen es als die „Bibel in der Westentasche“. (Widerspruch links.) Verlag der Bücherei von Harnisch, Berlin. (Zuruf links.) Das fängt so an ich will nur ein paar Zeilen mittheilen —: 8 „Ich geb' Dir nicht die ganze Bibel.

In kurzem nur will ich berichten Dir die hauptsächlichsten Geschichten. Sie werden theils bekannt Dir sein, Die Schule bläute sie Dir ein, Doch mußte sie dabei stets lügen, Die Wahrheit hat sie Dir verschwiegen. Mit ihrer Argumente Kraft B Hat die moderne Wissenschaft Den alten Schwindel aufgedeckt.“ So geht es 2 Seiten lang. Dann heißt es: 2caß auch die Schrift die Kinder lesen,

Daß sie vom alten Wahn genesen, 8

Weil es den Denkenden empört,

Was man sie in der Schule lehrt.“ Dann, nachdem dies Blatt auf etwa 16, 18 Seiten lauter gemeine Parodien der christlichen Lehre und der christlichen biblischen Ge⸗ schichte gebracht hat, heißt es am Schlusse, über Jesus Christus wie folgt:

„Jesus, der Gott der Christen, vertritt ganz ihren Standpunkt, nach der uns überlieferten Lehre nur etwas innerlicher. Diese ist jedoch ebenso spätere Legende wie sein Leben und Sterben, von dem wir garnichts wissen. Einzig können wir vermuthen, daß er ein Zimmermann war, der, wie so viele seiner Zeit, eine Revolte gegen die Römer⸗ und Priesterherrschaft anstiftete und, gleichfalls wie viele, die Todesstrafe erlitt.“

Meine Herren, Sie sagen dem gegenüber, es sei kein Bedürfniß zu einer solchen Gesetzesvorlage vorhanden; Sie bestreiten, daß der⸗ artige Verherrlichungen von Verbrechen und Vergehen irgendwie der Remedur, eines Eintretens seitens des Staats bedürfen. Ich glaube, man wird draußen im Volke, nachdem der erste Rausch der Protestversammlungen verflogen ist (Oh! links. Sehr richtig! rechts), doch einsehen, daß es so eben nicht weiter gehen kann. Entweder es wird immer weiter unterwühlt und untergraben so, wie es jene Partei will, die sich die Partei der Liebe nennt, oder wir schreiten bei Zeiten ein. Die verbündeten Regierungen sind sich einig geworden, daß derartigen Zuständen ein Einhalt geboten werden muß. Die ver⸗ bündeten Regierungen sind sehr kurzer Hand schnell einig geworden, Ihnen den jetzigen Gesetzentwurf zur Vorlage zu bringen. Sie, die Vertreter des deutschen Volks, haben den verbündeten Regierungen die Antwort zu geben. Wir werden in Ruhe abwarten, welche Ant⸗ wort Sie ertheilen. Geben Sie die Antwort namens der Nation ab und einigen Sie sich darüber, wie Sie dieselbe ertheilen wollen. (Bravo! rechts.)

„Abg. Bebel (Sez.): Der württembergische Minister⸗Präsident üaen von Mittnacht hat in der Kammer sich dahin geäußert,

olche Vorlagen, wie die Umsturzvorlage, müßten nicht nur nach den

Verhältnissen der Gegenwart, sondern auch derselben beurtheilt werden.

. nach den Stimmungen . Damit ist der Schlüssel zu dem ganzen neen der Regierung gegeben. Die Vorlage ist thatsächlich nichts als der Ausfluß einer Stimmung gewisser maßgebender Kreise, ähnlich wie es die sogenannte lex Heintze war. Von Bedeutung ist, daß im Unterschied zu der lex Heintze der Anlaß zu dieser Vorlage nicht in einem Ereigniß des Inlands, sondern in einem solchen des Auslands zu suchen ist; man könnte die Vorlage eine lex Caserio nennen. Zur Motivierung der Vorlage hat man, da das Verhalten der Sozialdemokratie selbst dafür keine Ausbeute bot, auf gewisse Er⸗ eignisse im Ausland zurückgreifen müssen. Im Ausland selbst aber hat man die nach unseren Begriffen ungeheuerlichen Ereignisse nicht im mindesten zum Anlaß . die allgemeine Freiheit zu be⸗ schränken. Der Reichskanzler hat gestern gesagt, das Gesetz sei dazu bestimmt, den revolutionären Tendenzen entgegen zu treten. Also Tendenzen, Gesinnungen will man verfolgen, nicht Thaten. Das g- unbedingt zu einer tendenzissen Rechtsprechung und zur Vernichtung des Grundsatzes führen: justitia fundamentum regnorum. Auf die Dehnbarkeit des § 111 ist schon wiederholt hingewiesen worden. Die Konserva⸗ tiven und das Zentrum haben sich bemüht, dem Gesetz eine möglichst ausgedehnte Anwendung zu sichern. Der Reichskanzler hat gestern versucht, eine Grenze zu ziehen, indem er meinte, das Volk der

Denker werde nicht annehmen, daß das Gesetz dazu bestimmt sei, dem

1.

partei.)

Fortschritt des Geistes Einhalt zu thun. Damit ist den Staats⸗ anwalten von der höchsten Stelle im Reich gesagt, daß sie ihre Verfolgung nicht auf die höheren Klassen ausdehnen sollen; damit ist eine Klassen justiz schlimmster Art inauguriert. Man scheut sich, sofort zu einem neuen Ausnahmegesetz zu greifen; daher greift man zu einer Verschärfung des gemeinen Rechts. Aber ich zweifle garnicht daran, daß Sie noch mit einem Ausnahmegesetz kommen werden, wenn diese Vorlage abgelehnt ist. Alle Füe Unterdrückungsversuche werden jedoch nur dazu dienen, daß mit Ihrer Gesellschaftsordnung noch schneller aufgeräumt wird. Der bg. Lenzmann hat auf die Dürftigkeit des Materials hin⸗ gewiesen, welches die Regierung zur Motivierung der Vorlage beigebracht hat. Der preußische Minister des Innern von Köller hat gemeint: Was? Kein Material? 26 Aktenstücke sind schon der Vorlage beigefügt. Ein solches Gesetz wäre der stärkste Schlag gegen die deutsche Kultur. Da könnte man doch ver⸗ langen, daß das Material, das eine solche Gesetzgebung nöthig machen soll, nicht bloß einem kleinen Kreise von Kommissions⸗ mitgliedern, sondern dem ganzen Reichstag bekannt gegeben werde. Vor allem dürfte man nicht einzelne Sätze aus dem Zusammen⸗ hange reißen. Das Material zu § 111 ist in dem Bericht überhaupt nicht enthalten. Die Verurtheilungen aus den §§ 110 und 111 sind der Zahl nach so minimal, daß daraus unmöglich die Nothwendigkeit einer Verschärfung hergeleitet werden könnte. Im Jabhre 1893 betrug ihre Zahl 72. Dagegen wurden wegen Majestätsbeleidigung 591 Per⸗ sonen verurtheilt. Eine Strafe von fünf 3. ren Gefängniß ist aber doch sehr hoch, und das beweist, daß die Schwere der Strafen nicht von Verbrechen abschreckt. Den Geschichtsschreibern wird es von nun an unmöglich werden, geschichtliche Ereignisse und Verbrechen aus den sozialen Zuständen der jeweiligen Zeit zu entwickeln und zu erklären. Wie man heute gegen uns vorgeht, ist man früher gegen die bürgerliche Gesellschaft vorgegangen. So wenig aber die feudale Gesellschaft im stande war, die bürgerliche Gesellschaft aufzuhalten, so wenig wird die bürgerliche Gesellschaft die Sozialdemokraten aufhalten. Das wird niemand bestreiten können. Die blühendste Beredsamkeit wird mich von dieser meiner Ueberzeugung nicht abbringen können. Wir vertreten und sprechen nur das, was die bürgerlichen Professoren und Philo⸗ sophen vor uns gesprochen haben. Die deutsche Philosophie hat von Anfang an mit großer Schärfe einen Geisteskampf gegen die Religion geführt und den Standpunkt vertreten, daß, wenn Staatseinrichtungen mit dem allgemeinen Willen der Bevölkerung in Widerspruch stehen, es gegebenen Falls erlaubt und nothwendig sei, diese Einrichtungen mit Gewalt zu entfernen. Ohne die revolutionären Ereignisse von der französischen Revolution an bis 1848 wäre es garnicht denkbar, daß der Deutsche Reichstag jetzt existierte. Sybel vertheidigt den Kampf gegen die Monarchie, den Adel, die Geistlichkeit. Der Mord des Marat durch Charlotte Corday wird von allen Geschichtsschreibern als Heldenthat gepriesen. Ich bin dem Zentrum wahrhaftig nicht dankbar für die Fassung, die es der Vorlage gegeben hat, aber ich muß anerkennen, daß es dem Zweck, Ordnung, Religion und Sitte zu schützen, weit eher gerecht wird als die ö Aber ich möchte Sie doch daran erinnern, daß ein katholischer Kaplan in der Münsterkirche zu Neuß die Märzgefallenen weit glänzender verherrlichte, als es von uns ge⸗ schehen könnte. Die ganze bürgerliche Literatur wimmelt ja von Anpreisungen der Revolution. (Redner verliest ein schwungvolles Gedicht in diesem Sinne.) Und von wem ist dieses Gedicht? Vom Geheimen Hofrath Rudolf von Gottschall! Der Aesthetiker Pro⸗ fessor Robert Zimmermann hat ein ähnliches Gedicht verfaßt und ebenso Wilhelm Jordan, der im Reichs⸗Ministerium Marine⸗Sekretär war ein Nationalliberaler. Wenn diese Herren der nationalliberalen Partei, besonders der Abg. Dr. Hammacher in ihre Jugenderinnerungen zurückgreifen wollten, es würde da manche Anschauung zu Tage treten, die mit dem § 111 in Konflikt käme. Wie revolutionär war das Bürgerthum anfangs unter dem Fürsten Bismarck! Wie wurde in der deutschen Presse in Preußen konnte man es nicht wagen das Attentat des Cohen⸗Blind auf Bismarck verherrlicht! Als 1866 die Frage ent⸗ stand, ob Sachsen von Preußen annektiert werden sollte und sich eine Strömung auch in Sachsen dafür geltend machte, hat ein Professor der Berliner Universität sich in revolutionärster Weise geäußert. Dieser Professor war Gneist, ein Nationalliberaler. Der Staats⸗ Minister von Köller hat heute beliebt, das Material zu ergänzen, weil er wohl gefühlt hat, wie ungenügend das vorhandene Material ist. Da hat er zunächst eine „Bibel in der Westentasche“’ gefunden. Ich kann ihm aus philosephischen und anderen Werken eine ganze Reihe anführen, in denen die Religion noch viel mehr geschmäht wird. Sodann beruft sich der Staats⸗ Minister von Köller auf einen sozialdemokratischen Volkskalender, den er als unerhörten Blödsinn bezeichnet. Wenn das wirklich solch ein unerhörter Blödsinn ist, dann begreife ich wirklich nicht, wie er damit die Vorlage begründen will! as ferner den vom Staats⸗Minister von Köller erwähnten Ausspruch des Abg. Stadthagen bezüglich der Inschrift für das Reichstagsgebäude betrifft, so möchte ich die Frage aufwerfen, ob das überhaupt von Bedeutung ist. Hat der Reichstag dadurch etwas verloren, ist er in seinem Ansehen verletzt worden? Oder haben die Berichte über die bekannte Beschlußfassung des Reichstags bezüglich der Bismarckfeier das Ansehen des Hauses herabgesetzt? Wenn der Staats⸗Minister von Köller ferner meint, die Polizei könne bei dem Hoch auf die Internationale am Schluß jeder sozialdemokratischen Versammlung nicht schnell genug eingreifen, um es zu verhindern, so trifft das nicht zu. Die Polizei weiß genau, wann das Hoch kommt, und könnte den betreffenden Redner fofort daran verhindern; das bringt die Berliner Polizei schon fertig. sie ist schnell genug dazu. Wir haben gestern die Erklärung des Abg. von Kardors gehört⸗ aus seinen Worten blickte der Geist des Abg. Freiherrn von Stumm durch, er hat die Erklärung verfaßt. (Abg. von Kardorff:⸗ Nein!) Sie stammt von ihm. (Wiederholter Widerspruch aus der Reichs⸗ Wir ersehen daraus Ihren Wunsch, daß alle Bestrebungen der Sozialdemokratie unmöglich gemacht werden. Das sind An⸗ schauungen von Fanatikern. Sie verhöhnen die Sozialdemokratie. Daß sie großen menschlichen Idealen nachstrebt, daß sie die Parole, die zur Zeit der Seanzeshschen Revolution e aber nie ver⸗ wirklicht worden ist: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, zur That machen will, das alles wissen Sie nicht. Trotz Ihres Christen⸗ thums haben Sie längst aufgehört, Ideale zu besitzen. Der Materialismus allein ist, was Ihnen geblieben ist. Zur Zurück⸗ weisung der Sozialdemokratie, wenn sie ihre Ideale zu er⸗ füllen sucht, hat das Strafgesetzbuch genug Bestimmungen. bestreite, daß ein Bedürfniß nach der Vorlage vorhanden ist Es ist Jedem bekannt, wie schwer es hält, die Staatsanwaltschaft zum Einschreiten zu bewegen, wenn es sich um Verbrechen oder Ver⸗ seben von Personen in höheren Gesellschaftskreisen handelt. Was chon im Jahre 1864 der Professor Lange dozierte, nämlich daß die Staatsbehörden berechtigt seien, von der Verfolgung höher stehender Personen abzusehben, wenn es dadurch möglich werde, Aufregung zu verhüten, das gilt auch heute noch. Die Verhandlungen hinter den Kulissen, welche bei dem Fall Kotze stattgefunden haben, be⸗ weisen das. Bewiesen wird es auch dadurch, daß sich kein Staats⸗ anwalt gefunden hat, der ein Mittgglied dieses 8— das sich durch die Herausforderung zum Duell in offenen Wider⸗ spruch zu den bestehenden Gesetzen gestellt hatte, zur Rechenschaft zog, während die geringste unvorsichtige Aeußerung eines Sozial⸗ demokraten unnachsichtig verfolgt wird. Wenn etwas zum Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung beiträgt, dann sind es die Ver⸗ hältnisse, welche zur Zeit in den höchsten Echichten bestehen und zwar unter Allerhöchster Billigung. (Präsident Freiherr von Buol ersucht den Redner, die Person des onarchen dem Brauche des Hauses F nicht in die Debatte zu ziehen.) Wenn irgend jemand ein nteresse daran hat, daß die Fundamente der Rechtsprechung nicht erschüttert werden, so sind es die Volksvertreter. Schon jetzt liegt die Gefahr vor, daß die Rechtsprechung in einen schroffen Gegensatz zu der Rechtsanschauung weiter Kreise der Bevölkerung tritt, was der preußische Justiz⸗Minister im Abgeordnetenhause selbst zugegeben hat. Es

ist ein offentliches Geheimniß, daß in Berlin ein Angeklagter, wenn er von

geschehen ist:

einer bestimmten Strafkammer abgeurtheilt wird, nicht nur eine Verurthei⸗ lung, sondern auch ein Ürtheil zu erwarten hat, während er, wenn er von einer anderen Kammer abgeurtheilt wird, Freisprechung zu erwarten hat. In Breslau ist es schon so weit gekommen, daß man überzeugt ist: kommt eine Sache am Montag zur Verhandlung, so erfolgt ein ganz bestimmtes Urtheil; kommt sie am Freitag zur Verhandlung, so erfolgt das entgegengesetzte Urtheil. Und da wollen Sie ein Gesetz billigen, welches dem fubjektiven Ermessen des Richters einen noch größeren Spielraum gestattet? Davon, was findige Staats⸗ anwalte schon jetzt für verfolgbar erachten, haben wir in der Kom⸗ mission drastische Belege erhalten. Wem es ebrlich darum zu thun ist, das Rechtsbewußtsein des Volks intakt zu erbalten, wird nicht nur den § 111, sondern die ganze Vorlage ablehnen.

Bevollmächtigter zum Bundesrath, preußischer Justiz⸗ Minister Schönstedt:

Meine Herren! Ich will mich gegenüber den leidenschaftlichen Ergüssen des Herrn Abg. Bebel nur auf einige thatsächliche Be⸗ merkungen beschränken.

Der Herr Abg. Bebel hat in der bei ihm bekannten maßlosen Wöise auch Angriffe gegen die Unparteilichkeit der Justiz gerichtet. Ich kann den Grund derartiger Angriffe im einzelnen ja nur ver⸗ folgen, sobald sie auf Thatsachen gestützt sind; und daß ich nicht bezüglich der einzelnen Fälle, die er hier vorgebracht hat, überall momentan orientiert sein kann, werden Sie erklärlich finden. Ich erkläre nur das eine, daß ich mit aller Entrüstung die Behauptung zurückweise, daß die Justiz in Preußen ihm irgend welchen Grund gegeben habe, an ihrer Unparteilichkeit zu zweifeln (Zurufe), und ich erkläre, daß es unrichtig war, wenn der Herr Abg. Bebel mir Aeuße⸗ rungen in den Mund gelegt hat, die ich im Abgeordnetenhause gethan hätte, die irgendwie den Schluß gestatteten, daß ich selbst an deren Unparteilichkeit gezweifelt hätte. (Zurufe.) Der Herr Abg. Bebel hat sich gegen mich gewandt, und nicht gegen meinen Vorgänger.

Ueber einzelne Fälle bin ich nun glücklicherweise in der Lage, Auskunft geben zu können. Der Herr Abg. Bebel hat den Vorwurf erhoben, daß die Staatsanwaltschaft ihre Pflicht versäumt habe, indem sie gegen hohe Personen aus der Gesellschaft, die sich des Zwei⸗ kampfs schuldig gemacht hätten, nicht eingeschritten sei. Meine Herren, diese Behauptung ist unwahr; denn die Herren, die dabei in Frage kommen, die Herren von Kotze und von Schrader, sind wegen Zwei⸗ kampfs angeklagt, sie haben in diesen Tagen entweder Termin gehabt oder derselbe steht in kurzem bevor.

Was Herrn Freiherrn von Stumm betrifft, auch darüber werde ich ihm Rede stehen. Ich bin einigermaßen erstaunt, daß auch der Herr Abg. Lenzmann den Vorwurf erhoben hat, dem Herrn Abg. Freiherrn von Stumm gegenüber habe die Staatsanwaltschaft nicht ihre Pflicht gethan, und daß er sogar nicht unterlassen hat, dabei eine Andeutung zu machen, als wenn das auf Anweisung von oben geschehen sei.

Meine Herren, eine solche Behauptung entbehrt auch jedes Scheins

von Begründung, sie ist vollständig aus der Luft gegriffen. Wenn der Herr Abg. Freiherr von Stumm bisher nicht angeklagt ist, so sollten doch so erfahrene Parlamentarier wissen, weshalb dies nicht weil er nämlich unter den Privilegien des Reichstags steht und gegen ihn eine Verfolgung nicht eintreten kann, so lange der Reichstag versammelt ist. Die Staatsanwaltschaft hatte keine Veranlassung, Ihre kostbare Zeit in Anspruch zu nehmen und den erfolglosen Versuch zu machen, während der varlamentarischen Verhandlungen Ihre Zustimmung zu einer Verfolgung zu erlangen; es wäre das nur weggeworfene Zeit gewesen. Herr von Stumm und der Herr, der noch dabei betheiligt ist derselbe steht gleichfalls unter dem Schutz der parla⸗ mentarischen Privilegien —, haben wohl selbst am wenigsten daran gedacht, daß die Staatsanwaltschaft ihnen gegenüber von ibrer Pflicht abgehen würde. Warten Sie doch die Zeit ab, ehe Sie derartig unbegründete Beschimpfungen in die Welt werfen (Beifall), die dahin führen, daß ein Mythus sich bildet, der die Justiz schädigt, während die Justiz durchaus intakt dasteht!

Nun hat der Herr Abg. Bebel noch einen Fall erwähnt aus Breslau und hat gesagt, es wären dort zwei Kammern, die eine ent⸗ scheide am Montag so, die andere am Freitag so, und wenn ein Angeklagter am Montag vor die Kammer gestellt werde, so werde er freigesprochen, während er am Freitag verurtheilt würde. Dieser Mittheilung liegt etwas Thatsächliches zu Grunde; aber die Sache hat doch eine wesentlich andere Bewandtniß.

Es handelt sich um zwei Zivilkammern. Es ist vorgekommen zu meinem Bedauern muß ich es sagen —, daß im Laufe dieses Jahres mehrere gleichartige Prozesse auf Grund der Geschäfts⸗ vertheilung vor dem Landgericht zu Breslau theils vor die Kammer III will ich mal sagen und theils vor die Kammer IV gekommen sind. Es handelt sich genau um denselben Sachverhalt, soviel ich mich erinnere: darum, ob Genossen einer aufgelösten, in Konkurs gerathenen Genossen⸗ schaft oder Versicherungsgesellschaft für die Schulden dieser Gesellschaft haften oder nicht. Es war eine sehr zweifelhafte juristische Frage, die für die Entscheidung des Prozesses in Betracht kam und über die beide Kammern verschiedener Ansicht waren; das kann vorkommen. Das Bedauerliche war nur, daß diese einander widersprechenden Ent⸗ scheidungen kurz hintereinander folgten, und daß es nicht hatte ver⸗ mieden werden können, daß diese Sachen vor verschiedene Kammern kamen. Das hängt damit zusammen, daß, als die Termine in diesen Sachen angesetzt wurden, niemand eine Ahnung hatte von der verschiedenartigen Beurtheilung der entscheidenden Rechts⸗ frage. Sobald ich davon erfahren habe, bin ich der Sache näher getreten. Ich habe veranlaßt, daß die noch rückständigen Ter⸗ mine in diesen Sachen aufgehoben würden und demnächst erst wieder angesetzt würden, nachdem auf Grund eines Wechsels in der Besetzung des Landgerichts es möglich geworden ⸗ist, eine unbefangene neue Kammer zu bilden, und diese wird also über die noch nicht entschie⸗ denen Sachen zu entscheiden haben. Im übrigen ist ein maß⸗ gebendes Urtheil über die streitige Rechtsfrage, das in Zukunft zweifellos respektiert werden wird, inzwischen vom Reichsgericht er⸗ gangen. Also diese Sache hat keineswegs die Bedeutung, die der Herr Abg. Bebel ihr beizulegen versucht hat. (Sehr richtig! rechts.) 1 Dann hat der Herr Abg. Bebel eine allgemeine Anklage gegen eine Berliner Strafkammer gerichtet: Jeder, der davor gebracht werde, sei sicher, daß er verurtheilt und mit den härtesten Strafen belegt werde. (Zuruf.) Strafkammern? Mehrheit? (Erneuter Zuruf.) Nun, meine Herren, das ist eine in die Luft hinein gesprochene, allgemeine, vage Beschuldigung und die weise ich mit voller Entrüstung zurück. (Bravo! rechts.)

Abg. Freiherr von Hodenberg (b. k. F.): Ich kann namens meiner politischen Freunde erklären, daß wir der Vorlage ablehnend

gegenüber stehen. Allerdings nicht in dem Sinne, wie der Vorredner; für ein Gesetz, welches die Staatsordnung stärken soll, würden wir eintreten, nicht aber für diese Vorlage, von der wir uns keinen ö versprechen. Wenn wir die Revolution von unten bekämpfen, müssen wir auch die von oben bekämpfen. 28

Abg. Schall (dkons.): Der Abg. Bebel hat mit einem gewissen Brustton gesprochen, ich nehme an, demjenigen der Ueberzeugung, jedenfalls aber dem der falschen Ueberzeugung. Er hat —58 das Gesetz werde der sozialdemokratischen Partei nützen; ich begreife nicht, weshalb er sich dann so energisch dagegen wendet. Das scheint beinahe darauf hinzuweisen, daß es doch nicht so schlecht ist. Der Abg. Bebel hat sich auf einen religionsphilosophischen Standpunkt gestellt. Ich habe in seiner Rede wenig von Geschichte und Philosophie gehört. Er versteht nur geschichtliche Thatsachen sich so zusammen zu drechseln, wie er sie braucht. Als Geistlicher glaube ich verpflichtet zu sein, das Wort zu nehmen gegen die Angriffe, die von sozial⸗ demokratischer Seite gegen die christliche Religion gerichtet worden sind. Wenn man bedenkt, was Alles gegen die Heilige Schrift, gegen den Heiland selbst vom Abg. Auer gesagt worden ist, wenn man weiß, daß dieselben Reden in Volksversammlungen geführt werden, dann wird man doch wohl der Ueberzeugung sein, daß dagegen etwas 72 schehen soll. Daß die Religion nicht des Schutzes bedarf, weiß ich wohl, wohl aber brauchen wir gesetzliche Bestimmungen zum Schutee derjenigen, die der Religion anhängen, vielleicht aber nicht im stande sind, Gründe und eee zu unterscheiden. Daß der Abg. Auer die Erzählung von Abraham und Isaak nicht versteht, bedauere ich, aber ich kann es begreifen. Der Abg. Auer ist nach dem Almanach in die Volksschule gegangen, sein Lehrer würde schmerzlich berührt sein, zu sehen, daß sein Schüler den Sinn der Erzählung nicht besser ver⸗ standen hat. Hier ist auch die „Bibel in der Westentasche“ erwähnt worden. Sie wäre auch auf dem Lande verbreitet, daher habe ichsie. Darin wird unter anderem Jacob bezeichnet als ein „Jüd', wie er im Buche steht“. Was sagt der Abg. Singer, was der Abg. Wurm dazu? Der Abg. Singer bezeichnet sich selbst im Almanach als Juͤde, ich meine, das Alte Testament muß auch ihm heilig sein. Das Neue Testament baut sich auf dem Alten Testament auf. Ich spreche hier nicht nur als Vertreter der gläubigen Christenheit, sondern auch der gläubigen Juden. Die gläubigen Juden stehen uns viel näher, als die Juden, denen man zwar äußerlich den Juden ansieht, die aber alles ab⸗ leugnen, was sie ihren Vorfahren verdanken. Dann hat der Abg. Bebel gesagt, die Christen hätten sich geweigert, bei den Römern Kriegsdienste zu thun. Ich weiß von einer römischen legio ful- minatrix, weiß auch, daß dies eine christliche Legion war. Die Sache unseres Glaubens steht uns zu hoch, als daß wir sie hier in die Politik hineinziehen wollen, wie ich auch meine, der Geistliche habe die Politik nicht auf die Kanzel zu tragen. Die freie Wissen⸗ schaft, die berechtigte Kritik, den Fortschritt der Kultur, den wir uns allerdings anders denken als der Abg. Bebel, wollen wir nicht ein⸗ schränken. Wir wünschen, daß die sozialdemokratische Bewegung niedergehalten wird nicht durch ein Ausnahmegesetz, sondern durch gesetzliche Bestimmungen, die Hoch wie Niedrig in gleicher Weise treffen. Der Abg. Bebel versteht es, die Worte eines Redners in das Gegentheil umzu⸗ kehren. Ich habe mich entschieden gegen das Duell ausgesprochen, und habe es nur begreiflich gefunden, nicht vom üͤe Stand⸗ punkt aus entschuldbar, wenn jemand zum Duell greift. Ich wünsche die Abschaffung des Duells, ich verurtheile es. Das geht aus einer Rede hetvor, die ich am Grabe eines im Duell gefs in Spandau gehalten habe, der völlig unschuldig war und sich nach dem Beschluß des Ehrengerichts duellieren mußte. Ich kann nicht umhin, mein Bedauern über die letzten Fälle von Duellen in den höheren Gesellschaftsklassen auszusprechen. Jedem Mann von Ehre muß durch gesetzliche Bestimmungen Gelegenheit gegeben werden, seine Ehre afet zu erhalten; (zu den Sozial⸗ demokraten) denn wir halten noch etwas auf unsere Ehre, wir haben noch Ehrgefühl! (Zuruf von den Sozialdemokraten: Wir auch!) Sie sagen es, ich weiß es aber nicht. (Präsident Freiherr von Buol ruft den Redner wegen dieser Aeußerung zur Ordnung.) Wir haben ein festes Fundament unter unseren Füßen, unsere christliche Weltanschauung, Sie (zu den Sozialdemokraten) aber haben keine be⸗ stimmte sittliche Grundlage.

Bevollmächtigter zum Bundesrath, preußischer Kriegs⸗ Minister Bronsart von Schellendorff:

Meine Herren! Ich muß einen Irrthum des Herrn Vorredners berichtigen. Er sagte, in dem vorgetragenen Falle wäre der betreffende Offizier zum Zweikampf gezwungen worden durch einen Spruch des Ehrengerichts. So lange Ehrengerichte in Preußen bestehen ich glaube, seit dem Jahre 1847 —, ist ein solcher Spruch noch nicht ge⸗ fällt worden und kann auch nicht gefällt werden. (Hört, hört! und Heiterkeit.)

Das Haus beschließt darauf die Vertagung der Dis⸗ kussion. In persönlicher Bemerkung erklärt der 1

Abg. Stadthagen (Soz.): Der Staats⸗Minister von Köller hat vorhin gesagt, ich hätte in einer öffentlichen Volksversammlung als Inschrift für das Reichstagsgebäude den Satz in E bracht: „Hier zahlt man die theuersten Preise für Lumpen. iese Behauptung widerspricht der Wahrheit. Meine Aeußerung mag dem Minister falsch hinterbracht worden sein. So weit mir erinnerlich, hatte ich nur gesagt, daß, wenn das Gesetz durchgehe, der Reichstag das Lockspitzelthum so begünstige, 29 er dann ebenso wie das Polizei⸗ gebäude am Mühlendamm die erwähnte Inschrift verdiene.

Bevollmächtigter zum Bundesrath, preußischer Minister des Innern von Köller:

Ich habe auf die Ausführungen des Herrn Abg. Stadthagen zu erwidern, daß ich ja natürlich der Versammlung beizuwohnen nicht die Ehre gehabt habe, sondern daß ich das, was ich ausführte, auf Grund eines Berichts mitgetheilt habe, der aber nicht, wie der Herr Abg. Stadthagen annimmt, mir etwa von Denunzianten hinterbracht ist, sondern der Bericht ist der amtliche Bericht desjenigen Polizei⸗ Kommissars, der die Versammlung überwacht hat; und ich behaupte und stelle das der Behauptung des Herrn Stadthagen entgegen, daß mir der Bericht des Polizei⸗Kommissars, der ja nur in wenigem abweicht von dem, was der Herr Stadthagen sagte, doch in den Punkten, wo er abweicht, viel glaubhafter ist als die Bemerkungen, die Herr Stadthagen eben gemacht hat und welche er mit den Worten inscenierte, „soweit er sich erinnere, wolle er wörtlich zitieren“.

Abg. Lenzmann (fr. Volksp.): Ich bemerke gegenüber dem preußi⸗ schen Justiz⸗Minister, daß ich die Namen der Abgg. Freiherr von Stumm und Wagener gar nicht genannt habe. Ich habe nur aus⸗ geführt, daß ein Staatsanwalt, der nicht ein Duell einschreitet und das Vergehen beschönigt, nach dem hier vorgeschlagenen § 111. bestraft werden müßte.

Bevollmächtigter zum Bundesrath, preußischer Justiz⸗ Minister Schönstedt.

Die Schlußbemerkung des Herrn Abg. Lenzmann ist mir eigent⸗ lich unverständlich gewesen; sie kommt aber beinahe darauf hinaus, als wenn er mir jetzt den Vorwurf machen wollte, daß ich in der That in dem von ihm angedeuteten Sinne auf die Staatsanwalt⸗ schaft eingewirkt habe, und dann kann ich nur sagen, daß für eine derartige Behauptung jeder Schatten einer thatsächlichen Unter⸗ lage fehlt. b

Im übrigen glaube ich, daß die Mehrheit des Reichstags den Herrn Abg. Lenzmann in seiner früheren Rede ebenso verstanden hat wie ich. Die Beziehung schien mir ziemlich durchsichtig zu sein.

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Wenn ich der Name ist später, ich glaube von Herrn Abg. Bebel ausdrücklich genannt worden angenommen habe, daß die Bemerkung des Herrn Abg. Lenzmann sich auf dies Duell bezog, so kann daraus ein Vorwurf, daß ich den Herrn Abg. Lenzmann einer Denunziation habe bezichtigen wollen, gegen mich um so weniger hergeleitet werden, als die in Betracht kommenden Thatsachen allgemein bekannt sind.

Abg. v. Kardorff: Der Abg. Bebel hat in seiner Rede die Ansicht ausgesprochen, der gestern von mir verlesene Schriftsatz scheine von dem Abg. Freiherrn von Stumm herzurühren, oder inspiriert zu sein, oder der Geist des Abg. Freiherrn von Stumm sei so sehr auf mich übergegangen, daß ich mich nur noch in seinem Sinne zu äußern vermöge. Nun weiß Jeder, daß der Abg. Freiherr von Stumm seit längerer Zeit schwerkrank in Karlsbald weilt. Soviel ich weiß, hat er sich seit seiner Abreise von hier um die ganze Umsturzvorlage gar nicht gekümmert; ich wenigstens habe mit ihm nicht darüber korrespondiert. Wenn der mt Bebel meint, daß ich meine Ansicht von dem Abg. Freiherrn von Stumm entlehne, so irrt er. Ich bin ein ebenso alter Parlamentarier wie der Abg. Freiherr von Stumm. Derselbe ist lange Zeit dem Reichstag fern gewesen, und während dieser Zeit habe ich wiederholt die gleichen Ansichten ausgesprochen, die in der gestern von mir verlesenen Erklärung enthalten sind.

Schluß der Sitzung 51 ½ Uhr.

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Cholera.

Vokohama, 9. Mai. Wie „Reuter’'s Bureau“ meldet, be⸗ ziffern die offiziellen Berichte über die Cholera bei den Japanern auf den Pescadores⸗Inseln die Gesammtsterblichkeit vom 26. März bis 24. April auf 1300 Fälle. Die Seuche ist jetzt beinahe erloschen; es kommen nur noch I e Fälle täglich vor.

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Gesundheitswesen, Thierkrankheiten und Absperrungs⸗ Maßreg

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Sterblichkeits⸗ und Gesundheitsverhältnisse während des Monats März 1895.

Gemäß den Veröffentlichungen des Kaiserlichen Gesundheitsamts sind im Monat März von je 1000 Einwohnern, auf das Jahr berechnet, als gestorben gemeldet: in Berlin 21,6, in Breslau 30,2, in Altona 26,0, in Frankfurt a. M. 26,7, in Hannover 28,1, in Cassel 25,4, in Köln 29,3, in Königsberg 25,2, in Magdeburg 23,0, in Stettin 26,6, in Wiesbaden 23,6, in München 27,6, in Nürnberg 25,0, in Augsburg 27,3, in Dresden 25,6, in Leipzig 19,4, in Stuttgart 23,9, in Karlsruhe 21,1, in Braunschweig 28,1, in Hamburg 21,7, in Straß⸗ burg 31,8, in Metz 22,4, in Amsterdam 22,0, in Brüssel 27,8, in Budapest 27,9, in Christiania 26,4, in Dublin 46,1, in Edinburg 38,6, in Glasgow 33,3, in Kopenhagen 24,8, in Krakau 40,3, in Liverpool 33,8, in London 30,4, in Lyon 25,5, in Moskau 37,7, in Odessa 23,4, in Paris 24,6, in St. Petersburg 40,0, in Prag 33,2, in Rom (Februar) 26,2, in Stockholm 17,3, in Triest 44,4, in Turin (Februar) 26,8, in Venedig?, in Warschau 28,5, in Wien 30,4, in New⸗York 22,8. (Für die nichtdeutschen Städte ist der Zeitraum 3. bis eihschließlich 30. März, zusammengefaßt worden.

Der Gesundheitszustand im Monat März war in der überwiegenden Mehrzahl der deutschen sowohl wie der nichtdeutschen Orte kein günstiger und die Sterblichkeit fast allgemein eine recht bedeutend gesteigerte. So sank die Zahl der deutschen Orte mit sehr geringer Sterblichkeit (Sterblichkeitsziffer unter 15,0 pro Mille und Jahr) von 30 im Februar auf 5 und zwar erfreuten sich nur Neumünster, Neunkirchen, Stargard i. Pomm., Wandsbeck und Bautzen einer solch niedrigen Sterblichkeit. Dagegen stieg die Zahl der deutschen Orte mit hoher Sterblichkeit (Sterblichkeitsziffer über 35,0 pro Mille) von 3 im Vormonat auf 17, und zwar war dies in den Orten Bocholt, Bochum, Borbeck, Bottrop, Görlitz, Hanau, Herne, Hirschberg, Langenbielau, Schweidnitz, Erlangen, Kempten, Ludwigshafen, Würzburg, Löbtau, Worms, Oldenburg und von nicht⸗ deutschen Städten in Dublin, Edinburg, Krakau, Moskau, St. Peters⸗ burg und Triest der Fall. Das Sterblichkeitsmaximum unter den deutschen Orten, das im Vormonat 39,5 pro Mille betrug, erreichte im März Bocholt mit 44,0 pro Mille. Die Zahl der deutschen Orte mit günstiger Sterblichkeit (Sterblichkeitsziffer 15,0 bis 20,0 pro Mille), die im Februar 96 betrug, ging im Berichtsmonat auf 30 herab, aus welcher Zahl wir hier nur Bielefeld, Brandenburg, Eisleben, Gnesen, Kattowitz, Lüneburg, Minden, Posen, St. Johann, Siegen, Thorn, Weißenfels, Wilhelmshaven, Kaiserslautern, Pirmasens, Leipzig, Wismar, Weimar, Apolda, Hagenau und von nichtdeutschen Städten Stockholm erwähnen wollen. Die Zahl der deutschen Orte mit mäßig hoher Sterblichkeit (Sterblichkeitsziffer 20,0 bis 23,0 pro Mille), die im Fehlar 57 betrug, sank im März auf 50, und nennen wir aus der

ahl derselben hier nur Berlin, Weißensee, Beuthen O.⸗S., Brom⸗ berg, Erfurt, Göttingen, Guben, Kiel, Köpenick, Köslin, Kottbus, Landsberg a. W., Neisse, Osnabrück, Schneidemühl, Spandau, Stolp i. P., Stendal, Annaberg i. S., Döbeln, Meißen. Reichen⸗ bach i. S., Zwickau, Heilbronn, Karlsruhe, Konstanz, Offenbach, Eisenach, Bernburg, Greiz, Hamburg, Metz, Mülhausen i. E. und von nichtdeutschen Städten Amsterdam und New⸗York.

Die Theilnahme des Säuglingsalters an der Ge⸗ sammtsterblichkeit war wohl etwas größer als im Vormonat, jedoch noch immer eine mäßig hohe, und zwar starben von je 10 000 Lebenden, aufs Jahr berechnet, in Berlin 52, in Stuttgart 60, in Dresden 62, in Hamburg 69, in München 134 Säuglinge. Diese Steigerung der Säulingssterblichkeit beruhte zum theil auf dem häufigeren Vorkommen von akuten Darmkrankheiten, die in vielen Orten, wie in Altona, Berlin, Breslau, Königsberg, München, Dresden, Leipzig, Stuttgart, Gera, Hamburg, Amsterdam, Budavpest, Sheabsgn. London, Moskau, Warschau, Turin, New⸗York u. a. O. häufiger zum Tode führten als im Februar. Dagegen war die Sterblichkeit in den höheren Alters⸗ klassen, besonders vom 40. Jahr aufwärts allgemein eine erheblich gesteigerte und zwar hauptsächlich durch das bedeut nd häufigere Vorkommen von akuten Erkrankungen der Athmungsorgane, die fast in allen Großstädten ungemein viel Todesfälle veranlaßten, namentlich in Aachen, Altona, Barmen, Berlin, Rixdorf, Bochum, Breslau, Dortmund, Düsseldorf, Elberfeld, Erfurt, Essen, Flens⸗ burg, Frankfurt a. M., M.⸗Gladbach, Görlitz, Halle, Hannover, Cassel. Kiel, Köln, Königsberg, Krefeld, Magdeburg, Münster, München, Würzburg, Dresden, Leipzig, Stuttgart, Ulm, Frei⸗ burg i. B., Mannheim, Braunschweig, Bremen, Metz, Straßburg, Amsterdam, Budapest, Christiania, Kopenhagen, London, Moskau, St. Petersburg, Prag, Triest, Wien u. a., nur in wenigen Orten, Danzig, Hamburg, Brüssel, Paris, Stockholm, Warschau, New⸗York, blieb sie die gleich hohe oder eine kleinere als im Februar. Ungemein esteigert waren auch Erkrankungen an Influenza, die schon Ende fehrumr über ganz Mittel⸗Europa epidemisch verbreitet erschien. Die

idemie kam im März noch mehr zum Vorschein und veranlaßte, sich nach dem Osten ausbreitend, noch mehr Opfer als im Februar. Aus den vielen Orten, in denen die Seuche herrschte, nennen wir hier nur diejenigen, in denen die Zahl der Opfer nur 10 und mehr betrug. So wurden aus Halberstadt, Linden, Wiesbaden und Prag je 10, aus Freiburg i. B. und Würz⸗ burg je 11, aus Hanau, Forst und Oldenburg je 12, aus Darmstadt und Wien je 14, aus Ulm 15, aus Kassel, Dortmund je 17, aus Altona, Magdeburg, Münster, Nürnberg, Braunschweig, Moskau über 20, aus Elberfeld, Leipzig, Amsterdam über 30, aus Barmen, Breslau, Kopenhagen über 40, aus Bremen, München über 50, aus Dresden, Snn über 60, aus New⸗York über 70, aus Frankfurt a. M.,

öln, Paris über 90, aus Berlin über 200 (273), aus London 1163 Todesfälle an Grippe mitgetheilt. Aus Budapest und Warschau

kamen nur wenige Todesfälle zur Anzeige, in Paris, Stockholm,