1895 / 150 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Wed, 26 Jun 1895 18:00:01 GMT) scan diff

habe mich keinen Augenblick besonnen, die Staatsanwaltschaft a zuweisen, diese Revision zurückzunehmen. (Bravo!)

Ich glaube, daß dadurch auch niemandem ein Nachtheil geschieht, da diejenigen, die an der Sache betheiligt sind, besonders die Alexianer⸗ brüder, als Nebenkläger die Revision des Urtheils selbst herbeiführen können, wie ja auch bekanntlich geschehen ist. 11“

Das, meine Herren, betrifft die Staatsanwaltschaft.

Der Herr Abg. Spahn hat nun die Sache umgekehrt und das Gericht zum Gegenstand seiner Angriffe gemacht. In dieser Be⸗ ziehung hat er hervorgehoben, daß der Vorsitzende sich durch die Ver⸗ theidiger die Leitung habe aus der Hand nehmen lassen. Ja, meine Herren, wenn man in den stenographischen Bericht hineinsieht, be⸗ kommt man allerdings den Eindruck, daß die Vertheidiger vielleicht nehr gefragt haben, als der Vorsitzende und als zur Sache unbedingt nöthig gewesen wäre. Aber, meine Herren, über solche Dinge kann man nicht urtheilen, wenn man nicht der ganzen Verhandlung selbst beigewohnt hat, und ich kann aus Erfahrung sagen, daß es zuweilen sehr praktisch ist, dem Vertheidiger möglichst viel Spielraum zu lassen, weil dadurch in der That die Verhandlung ab⸗ gekürzt wird; wenn man ihm viele Schwierigkeiten bei den Fragen in den Weg legt, kommt er immer wieder auf den Punkt zurück, und das führt sehr häufig zu einer erheblichen und keineswegs erfreulichen Verlängerung der ganzen Verhandlung.

Dann, meine Herren, was das Urtheil selbst angeht, so kann ich nur mit dem Herrn Abg. Grafen zu Limburg⸗Stirum sagen: Das entzieht sich unserer Kritik (sehr richtig!), und die neuen Thatsachen, die der Herr Abg. Spahn heute angeführt hat, die Ihnen ebenso unbekannt sind wie mir, diese neuen Thatsachen irgendwie nachzuprüfen sind wir nicht in der Lage. Wir können auch nicht prüfen, ob das Urtheil Ungenauigkeiten, Unrichtigkeiten enthält, die angeblich nachträglich ermittelt sein sollen. Wenn diese Un⸗ richtigkeiten nicht erheblicher wären als die angeblich unrichtige Thatsache, daß die Vorgänge, die den Gegenstand des Ver⸗ fahrens gebildet haben, sich auf zwei verschiedene Anstalten vertheilen, so muß ich annehmen, daß davon in der mündlichen Verhandlung nichts vorgekommen ist. Wenn irgend jemand Werth darauf gelegt hätte auf die Feststellung, daß nicht nur in der einen, sondern auch in der andern Anstalt solche Dinge vorgekommen wären (Geiterkeit), dann würde das sicher geschehen sein, und der Vertreter der Neben⸗ kläger, Rechtsanwalt Oster, würde ganz gewiß, wenn er geglaubt hätte, daß es irgendwie für die Sache von Bedeutung sei, darauf hingewiesen haben; dann wäre die Sache leicht nachzuweisen gewesen. Richtig ist, daß der eine Fall von dem Mann, der zwischen dem heißen Ofen und dem Gitter eingesperrt sein solle, sich vor 10 oder 15 Jahren zugetragen hat. Das ist auch einer der Punkte, wegen deren gar keine Anklage hätte erhoben werden können, selblst wenn der Mann noch am Leben wäre.

Kurz, meine Herren, wenn man sachlich, rein objektiv und ein⸗ gehend prüft, was seitens der Justizbehörden in der Sache geschehen ist, wird man ihr nicht den Vorwurf machen können, daß auf irgend einer Seite eine Pflichtverletzung vorliegt. (Bravo!)

Minister des Innern von Köller:

Der Herr Abg. von Eynern stellte an mich die Frage, ob die Zeitungsnachricht richtig sei, daß der Präsident der Aachener Regie⸗ rung, Herr von Hartmann, bei dem Minister des Innern gewesen sei und ihm Vortrag über die Vorgänge in Maria⸗ berg gehalten habe. Die Nachricht ist nicht richtig; ich habe von dem Herrn Präsidenten von Hartmann in dieser An⸗ gelegenheit keinen Vortrag empfangen, weiß auch nicht, ob der Regierungs⸗Präsident von Hartmann hier gewesen ist. Er soll am 4. April, wie aus einer Meldeliste mir eben telegraphisch mitgetheilt wird, in Berlin gewesen sein. Ich entsinne mich aber nicht, ihn gesehen zu haben. Jedenfalls weiß ich, daß mir über die Vorgänge in Mariaberg kein Vortrag gehalten worden ist. Die Zeitungsnachricht, auf die Herr von Eynern sich bezogen hat, ist also unrichtig.

Abg. Dauzenberg (Zentr.): Ich erkläre von vornherein, daß ich und alle meine politischen Freunde das, was zeugeneidlich über Maria⸗ berg festgestellt ist, strena verurtheilen, und zwar gerade deshalb um so mehr, weil diese Dinge bei Ordensbrüdern vorgekommen sind, von denen man erwarten sollte, daß sie mehr leisten als andere. Wir können diese Vorgänge nicht scharf genug verurtheilen, und auch wir wollen nichts vertuschen. Nachdem ich dies vorausgeschickt habe, halte ich mich auch für berechtigt und verpflichtet, die gehässige Ausbeutung des Pro⸗ zesses, die rersucht worden ist, zurückzuweisen. Man vergißt dabei den Zusammenhang der Dinge; man vergißt, daß den Alexianerbrüdern von berufenster Seite früher wegen ihrer Thätigkeit das glänzendste Zeugniß ausgestellt worden ist. Die meisten, welche über die Vor⸗ gänge in Mariaberg schimpfen, haben keine Ahnung von dem schweren Beruf eines Irrenwärters. Ich war neun Jahre lang Anstaltsgeist⸗ licher in der wegen ihrer mustergültigen Einrichtung mit Recht berühmt gewordenen öffentlichen Irrenanstalt in Siegburg und habe die Schwie⸗ rigkeiten würdigen gelernt welche mit der Irrenpflege verbunden sind. Es ist garnicht zu sagen, welche Fülle der Arbeit, welche Gefahren dieselbe für die Wärter mit sich bringt. Man kann wohl sagen, daß ein Irrenwärter in steter Todesgefahr schwebt. Es gehört zu diesem Beruf eine Selbstüberwindung, eine Selbstaufopferung, wie sie kaum größer zu denken ist, und eine schier übermenschliche Geduld. Das sollte dazu beitragen, das Urtheil über die Vorkommnisse in Maria⸗ berg wenigstens zu mildern. Für gänzlich unzulässig erachte ich es aber, diese Vorkommnisse zu verallgemeinern und den katholischen Orden, der kathelischen Kirche als solche zum Vorwurf zu machen. Wir sind auch heute noch stolz auf die Leistungen der kirchlichen Orden in der Krankenpflege. Solche Dinge, wie sie leider in Mariaberg vorgekommen sind, finden sich auch in öffentlichen Irr nanstalten. In Bremen mußten s. Z. mehrere Diakonissinnen entlassen werden, weil sie Geisteskranke mißhandelt harten. Ich selbst habe in Siegburg keine einzige Visite in den Krankenstationen ge⸗ macht, obne daß ich Kranke im Zwangsstuhl oder an Händen und Füßen gefesselt gesehen habe. Und doch waren die Aerzte in der Siegburger Anstalt äußerst human. Ich habe auch oft genug Ver⸗ anlassung gehabt, die Wärter wegen der Behandlung der Kranken zu ermahnen, ja auch zur Anzeige zu bringen. Ohne Zwangsmittel geht es in den Irrenanstalten eben nicht. Defelben sind zuweilen schon nöthig, um die Kranken vor Selbstbeschädigungen zu bewabhren. Nur müssen die Zwangsmrttel vernünftig angewandt werden. Wenn das in Maria⸗ berg nicht immer der Fall gewesen ist, so lag die Schuld an dem Umstand, daß die Alexianerbrüder mit den Fortschritten der Psychiatrie nicht gleichen Schritt gehalten baben. Man verfuhr in Mariaberg nach einem veralteten System. Auch in anderen Anstalten scheint noch ein solches veraltetes System vorzuherrschen. In der Anstalt des Pfarrers Bodelschwingh in Bielefeld werden die Geisteskranken als vom Teufel Besessene behandelt. Die staatliche Behörde ist nicht von dem Vorwurf freizusprechen, daß sie es an der nöthigen Aussicht hat fehlen lassen. Ich will keine Vor⸗ würfe erheben; meiner Ansicht nach ist die Hauptsache, daß wir die heilsamen Lehren des Aachener Prozesses berücksichtigen.

Nach dem, was der Herr Kultus⸗Minister zugesagt hat, wird es daran wohl nicht fehlen. In Aachen lag der Grundfehler in der Organi⸗ sation der Anstalt, in der Selbständigkeit der Wärter. Die Aerzte behandelten die Kranken nicht über, sondern unter den Brüdern, ge⸗ wissermaßen im Nebenamt. An der Spitze der Anstalt stand ein Mann, der ein Ehrenmann ist, aber den Aufgaben seines Amts nicht gewachsen war. Man darf übrigens nicht übersehen, daß Mariaberg nicht eine Heil⸗, sondern eine Pflegeanstalt war, wo nur sogenannte abgelaufene Fälle behandelt wurden. Wenn man das festhält, so wird man auch die Vorwürfe gegen die Anstaltsärzte mildern; denn unter diesen Verhältnissen war es doch wohl möglich, daß die beiden Aerzte den Kranken die nothwendige Pflege anSh ließen. Ich will aber trotzdem die ärztlichen Verhältnisse in ariaberg nicht billigen. Es ist unbedingt nothwendig. daß die Aerzte die Leitung der Irrenanstalten in Händen haben. Auch gegen die Provinzialbehörden sind Vorwürfe erhoben worden. Demgegenüber möchte ich darauf hinweisen, daß alle Revisionen, welche in Mariaberg vorgenommen wurden, günstig aus⸗ gefallen sind. Wenn das, was der Herr Minister versprochen hat, ausgeführt wird, so werden solche Vorkommnisse, wie in Mariaberg, in Zukunft hoffentlich vermieden werden. Ich möchte nur noch die Bitte aussprechen, daß diese Maßregeln durchaus unparteiisch ausge⸗ führt werden. 1“ G

Abg. Virchow (fr. Volksp.): Ich will hier keinen Vortrag halten über die Behandlung der Geisteskranken, obwohl in der De⸗ batte Dinge berührt wurden, über die ich mir vielleicht ein Urtheil zu⸗ trauen kann. Ich will mich auf einige allgemeine Gesichtspunkte be⸗ schränken. Sonderbar finde ich es, daß alle Personen, die bei den Vorgängen in Mariaberg in Frage kommen, der Reihe nach exkulpiert werden. Schließlich wird sich noch herausstellen, daß der ganze Aachener Prozeß ein großer Irrthum war. Faßt man die Dinge in ihrer Allgemeinheit ins Auge, so wird man zugeben müssen, daß durch den Prozeß Mellage dargethan wurde, daß in unserem Irrenwesen manches zu bessern ist. Herr Spahn hat den Vertheidigern den Vorwurf gemacht, sie hätten ihre Fragen nicht nur von dem Streben nach Wahrbeit geleitet gestellt. Man darf dabei aber nicht vergessen, daß die Vertheidigung im Laufe der Verhandlungen in eine andere Stellung hineingedrängt worden ist. Was uns aber alle inter⸗ essiert, ist die Frage, ob nicht in der Organisation aller dieser Anstalten etwas Feblerhaftes vorliegt. Der Herr Minister hat ja, wie ich mit Genugtbuung feststellen kann, viel Tröstliches gesagt. Eine strenge und oftmalige Revision aller Irrenanstalten muß auf jeden Fall gefordert werden. In einem Aufruf unseres Herrn Kollegen Stöcker handelte es sich schon um die Forderung von Re⸗ formen im Irrenwesen. Dabei wurde ausgeführt, daß bei den geist⸗ lichen Anstalten die Aufsicht thatsächlich nicht ausgeführt werde. Dieser Vorwurf des Mangels an Aufsicht bezog sich auch auf alle nichtkonfessionellen Anstalten. Auf einen geordneten Gesetzesweg konnte dabei nicht zurückgegangen werden. Es bat ja etwas Ver⸗ führerisches, wenn man den Staat in Anspruch nimmt hinsichtlich der allgemeinen Gesundheitspflege. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist nunmehr auf diese Sache hingelenkt worden. Auch ich glaube, daß bei allen Anstalten eine bessere Kontrole ausgeübt werden kann. Dazu aber gehört, daß das gesammte Medizinalwesen in Preußen besser geordnet wird. Wir sehen jetzt, daß die medizinischen Instanzen vor den geistlichen Gewalten sich beugen. Es traut sich niemand an diese geistlichen Anstalten heran. Das wäre nicht möglich, wenn wir eine mit wirklicher Macht ausgestattete sanitäre Gewalt hätten.

Abg. von Kardorff (fr. kons.): Herr Virchow schien mir darauf hinauszukommen, daß nichts weiter übrig bleibe, als die Medizinal⸗Abtbeilung dem geistlichen Ministerium abzunehmen. Das scheint mir doch eine etwas weit aussehende Politik, und darauf können wir doch nicht warten, ehe wir dem Irrenwesen das zuführen, was ihm fehlt. Ich möchte zunächst darauf aufmerksam machen, daß die Polizei über das gesammte Medizinalwesen in Deutsch⸗ land nach Artikel 4 der Reichsverfassung doch dem Reiche überwiesen ist. (Abg. Virchow: Platonisch!) Nun, das kann doch praktisch gemacht werden. Weshalb kann das Reich nicht Kontrolbeamte anstellen, vpsychiatrisch gebildete Aerzte, welche die Irrenanstalten beaufsichtigen? Das wäre eher zu wünschen, als daß wir in Preußen allein vorgehen. Denken Sie sich den Fall, daß wir in Preußen wirklich Anstalten einrichten, die allen Ansprüchen genügen, daß die Kontrole ausgezeichnet gehandhabt wird, und daneben, in einem kleinen Raubstaat, Weimar oder Reuß, bestehen Irren⸗ anstalten, die ganz anders eingerichtet sind, bei denen Gefahr vorliegt, daß ohne die nöthige Kontrole Kranke als Irre aufgenommen werden! Daß es wünschenswerth erscheint, daß das Reich die Kontrole in die Hand nimmt, muß jeder zugeben, der ernstlich über die Dinge nachgedacht hat. Auch für das Entmündigungsverfahren können nur von Reichs⸗ wegen die nothwendigen Bürgschaften geschaffen werden. Schlimmsten Falls kann ja ein Entmündigter einen Rekurs gegen die Entmündi⸗ gung ergreifen. Aber auch das kann wieder nur durch ein Reichsgesetz bewirkt werden. Für wünschenswerth halte ich die Einrichtung eines Rekurskollegiums, um zu verhindern, daß jemand auf das Attest eines einzigen Arztes bin in einer Irrenanstalt festgehalten werden kann. Wir sind in dieser Beziehung sehr hinter den Engländern zurück⸗ geblieben. Nach den trüben Erfahrungen, die man gerade in England in dieser Beziehung gemacht hat, hat man durch ein neues Gesetz jedem Engländer das Recht gegeben, sich von zwei Aerzten auf seinen Gesundheitszustand untersuchen zu lassen, bevor eine Entscheidung über seine Verbringung in ein Irrenhaus getroffen wird, sowie, daß diese Untersuchung angestellt werden muß, wenn jemand dies für einen in einer Irrenanstalt Untergebrachten verlangt. Wenn eine solche Untersuchung, die zweimal von acht zu acht Tagen eschehen muß, zu Gunsten des Inhaftierten ausfällt, so ist der Mann frei. Das ist die Rekursinstanz, die uns fehlt. Die Mitglieder der Petitionskommission wissen, wie die Parlamente immer mit Petitionen überschüttet werden von Leuten, die behaupten: Wir sind mit Unrecht eingesperrt gewesen. Häufig sind das wirklich arme Geistes⸗ kranke; aber daß auch Fälle anderer Art doch vorkommen können, haben die Erfahrungen bewiesen, und es müßte Sicherheit geschaffen werden, daß willkürliche Einsperrungen von seiten irgendwelcher Interessenten nicht erfolgen können, die heute sehr leicht möglich sind, ohne daß der Inhaftierte Gelegenheit hat, wirksame Mittel dagegen zu ergreifen. Auch Folgendes gehört in die Reichsgesetzgebung. Heute muß nach § 30 der Gewerbeordnung jedem die Konzession zur Errichtung einer Irrenanstalt gewährt werden, wenn nicht ganz besondere Umstände gegen ihn vorliegen. Diese Konzessionen müßten auf psychiatrisch gebildete Aerzte beschränkt werden. Will man, ehe die Reichsgesetzgebung in Bewegung gesetzt werden kann, etwas thun, so würde ich nicht in jeder Provinz eine Kom⸗ mission, sondern in Berlin zwei bis drei psvpchiatrisch gebildete Herren zusammenberufen, die alle Anstalten, öffentliche wie private, die von geistlichen Korporationen geleiteten wie die anderen, einer genauen Revision unterwerfen müßten, um einen Ueberblick zu ge⸗ winnen, wie es bei uns mit dem Irrenwesen aussieht. Das wäre billiger und zweckmäßiger. Für Irrenanstalten ist es sehr schwierig, gutes Wartepersonal zu bekommen. Man hört oft klagen, daß man ꝛahlen könne, was man wolle, es sei unglaublich schwer, ein Personal zu finden, welches die Gewissen⸗ haftigkeit, Zuverlässigkeit, Geduld und Gutmüthigkeit besitzt. um mit Geisteskranken umgehen zu können. Deshalb ist es falsch, zu sagen, die geistlichen Korporationen dürfen die Irren⸗ pflege nicht ausüben. Nur muß der Arzt die richtigen Pfleger aus⸗ suchen können aus dem Personale, das die geistlichen Koꝛporatienen stellen. An sich sind diese Leute, die unter einer gewissen Disciplin stehen und ideale Zwecke verfolgen sollen, durchaus geeignet zur Pflege und Wartung der Irren, vorausgesetzt natürlich, daß der leitende Arzt die Gewalt hat, die ungeeigneten Elemente zu entfernen. Auffallend ist auch die Aufnahme von Ausländern in die Anstalt, ohne daß die be⸗ treffenden Gesandtschaften, wie es scheint, eine Notiz davon bekommen haben. Ich glaube nicht, daß die englische Gesandtschaft von der Inhaftierung des Herrn Forbes Kenntniß erhalten hat. Mir scheint eine Be⸗ stimmung nothwendig zu sein, daß allen Irrenanstalten untersagt wird, Ausländer aufzunehmen ohne die Genehmigung der fremden Regierung durch den ausländischen Gesandten. Gestatten Sie mir noch ein

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Wort über die Frage der Verantwortung! Ich bin sehr erfreut

über die Erklärung des Herrn Kultus⸗Ministers, daß, wo ein Verschulden sich als vorhanden erweist, auch eine Sühne eintreten soll. Auch dem Regierungs⸗Präsidenten gegenüber müßte, so wenig er schuldig sein mag, d G zugegriffen werden. Ich weiß, daß der betreffende Herr erst zwei Jahre in dieser Stellung ist, und daß er die Zustände so weitergeführt hat, wie er sie von früher her überkommen hat. Aber ich weise darauf hin, daß die Kreisordnung und alle später entworfenen Verwaltungsgesetze den Regierungs⸗Präsidenten außerordentlich unabhängig gestellt haben; er braucht sich nicht mehr dem Kollegium zu fügen, sondern hat dis⸗ kretionäre Gewalt in seinen Entscheidungen. Ich kann nur wünschen, daß man die Konsequenzen zieht und ihn nun auch für die diskretio⸗ näre Gewalt, die er bezüglich des Klosters Mariaberg ausgeübt hat, verantwortlich macht.

Ahg. von Pappenheim k(kons.): Sowohl in öffentlichen wie in Privat⸗Irrenanstalten ist es eine alte Erfahrung, daß viele Wärter den schweren Aufgaben ihres Amtes nicht gewachsen sind. Ihrem Wohlwollen wird oft die größte Hartnäckigkeit der Kranken entgegen⸗ gesetzt, sie finden keinen Dank, und da sind gerade wegen der hohen idealen Anforderungen, die an das Wärterpersonal gerichtet werden müssen, die geistlichen Gesellschaften außerordentlich zu empfehlen. Excesse kommen überall vor; das Schlimme liegt hier darin, daß sie mit der Zu⸗ stimmung des Anstaltsvorstehers begangen wurden. Daß die Mißhand⸗ lungen den Aerzten verborgen geblieben sein sollen, kann ich kaum glauben. Das wäre ein schlimmes Zeugniß ihrer Pflichtvergessenheit. Sehr bedauerlich ist es, daß die Excesse den inspizierenden Behörden entgangen sind. Wenn man sich direkt in den Verkehr mit den Kranken setzt, ist es leicht, Mißhandlungen auf die Spur zu kommen. Daß aus dem Bremer Krankenhause eine Diakonissin entlassen worden sei, weil sie die Irren schlecht behandelt habe, ist eine infame Unwahrheit. Die Diakonissin ist absolut freiwillig gegangen mit dem lebhaften Be⸗ dauern der Verwaltung. Auch das ist durchaus unrichtig, daß der Pfarrer von Bodelschwingh die Kranken so behandele, als seien sie von Teufeln besessen. Er hat dem öfter widersprochen. Auch ich wünsche eine Reform des Irrenwesens.

Abg. Rickert (freis. Vgg.): Auch die beste Verwaltung würde nicht im stande sein, Excesse völlig zu verhindern. Die Konfessionen haben mit der Irrenpflege nichts zu thun, das ärztliche Element muß hier die absolute Macht haben. Die Anregung des Herrn von Kardorff, gegen die zu weit gehende diskretionäre Gewalt der Re⸗ gierungs⸗Präsidenten einzuschreiten, finde ich sehr interessant. Der Fes.b legt übrigens in einer an die Regierung und das

bgeordnetenhaus gesandten Depesche Verwahrung ein gegen die in⸗ folge des Prozesses gegen ihn gerichteten Angriffe. Die Auf⸗ nahmebedingungen zu verschärfen, würde mehr Unheil als Segen stiften. In Oesterreich ist die Aufnahme in eine Irrenanstalt leichter als bei uns, nach der Aufnahme aber ist die Garantie durch Be⸗ obachtung des Kranken gegeben, daß sein Verweilen in einer Anstalt auch nothwendig ist. Wenn wir eine wirkliche Revision anstreben, so werden wir zweifellos zu der Einführung der Irrenkolonien kommen, die allein gute Erfolge erzielt haben. Wenn Sie Ihr Geld für diesen Zweck verwenden wollen, wird es gut angelegt sein. Der Herr Justiz⸗Minister hat von einem Triumph der öffentlichen Gerichts⸗ pflege gesprochen. Berechtigter wäre es, von einem Triumph der öffentlichen Meinung zu sprechen. Ich möchte nur wünschen, daß die Presse bei der Regierung eine bessere Berücksichtigung fände. Der erste Artikel des Herrn Mellage erschien am 1. Juni 1894. Es hat

also fast ein Jahr gedauert, bis es zu einem Einschreiten der Be⸗-

hörde kam. Die öffentliche Meinung ist eine Macht, welche Berück⸗ sichtigung fordert und verdient.

Minister der geistlichen, Unterrichts⸗ Angelegenheiten Dr. Bosse:

Ich bitte nur um das Wort für zwei ganz kurze Bemerkungen. Zunächst möchte ich den Abg. Rickert darüber beruhigen, daß die neuen

und Medizinal⸗

Bestimmungen nicht bezwecken, die Aufnahme in die Irrenanstalt überhaupt zu erschweren. Bei der vorläufigen Aufnahme wird es so bleiben, wie es jetzt ist, aber unmittelbar nach der Aufnahme wird eine Kontrole eingeführt werden durch eine unbetheiligte Instanz, die dafür die Garantie bietet, daß nicht etwa ein Nichtkranker in die An⸗ stalt kommt. (Bravo!) Dann ist es meine Pflicht, hier ausdrücklich zu erklären, daß ich mich vorhin in der Antwort von Herrn von Eynern insoweit geirrt habe, als Herr von Eynern nicht gesagt hat, unser Irrenanstaltswesen sei unter aller Kritik. Ich nehme daher alles das, was ich gegen diese Worte gesagt habe, zurück.

Justiz⸗Minister Schönstedt:

Dem Herrn Abg. Rickert gegenüber möchte ich bemerken, daß die Justizverwaltung vor der Presse die größte Hochachtung hat und jede Gelegenheit wahrnimmt, Uebelständen, auf die sie durch die Presse aufmerksam gemacht wird, in sorgfältiger Weise nachzugehen. Das im einzelnen zu belegen, würde ich sehr wohl im stande sein.

Was den vorliegenden Fall betrifft, so kann ich aus einem Bericht des Ober⸗Staatsanwalts in Köln vom 21. Juni 1894 feststellen, daß schon nach dem ersten Zeitungsbericht von Amtswegen Ermittelungen angestellt worden sind, inwieweit die darin vorgebrachten Beschul⸗ digungen gegen die Alexianer⸗Anstalt zutreffend sind. Daß diese Er⸗ mittelungen nicht zu einem positiven Resultat geführt haben, habe ich vorhin auseinandergesetzt.

Abg. Porsch (Zentr.): Zur Rechtfertigung der Interpellation ist ee Erregung der öffentlichen Meinung durch den Prozeß Mellage hingewiesen worden. Ich meine, frühere ähnliche Fälle so die Fäalle Feldmann und de Jonge, hätten ebenso gut Veranlassung zu einer parlamentarischen Verhandlung geben können. Auch jetzt würde man kaum einen so großen Apparat in Bewegung gesetzt haben, wenn es sich nicht um katholische Ordensbrüder gehandelt hätte. Die Erregung der öffentlichen Meinung rührt aber zum theil auch von den tendenziös zuͤgestutzten Berichten der Presse über die Prozeßverhandluͤngen her. Leider stand gegen das Urtheil den Betheiligten nur das Rechtsmittel der Revision zur Verfügung. Ich bedauere auf das Lebhafteste, daß der Herr Justiz⸗Minister die Staatsanwaltschaft in Aachen angewiesen hat, die eingelegte Revision zurückzuziehen, da kein öffentliches Interesse vor⸗ liege. Ich wundere mich um so mehr darüber, als das Urt eil des Aachener Gerichts eine Bemerkung in der Broschüre des Herrn Mellage, welche einen Beamten indirekt der Bestechlichkeit be⸗ schuldigte, als nicht beleidigend betrachtet hat, obwohl fest⸗ gestellt wurde, daß die Behauptung, der betreffende Beamte babe dem Kloster die bevorstehenden Revisionen angezeigt, unrichtig war. Auch das öffentliche Interesse kam bei der Frage der Revision in Betracht. Hat doch das Aachener Gericht dem Angeklagten Mellage den Schutz des § 193 des Srrafgesetzbuchs zu⸗ gebilligt, weil er im Interesse der Menschlichkeit gehandelt habe. Es ist angenommen worden, durch richterliches Erkenntniß sei festgestellt, zwei Priester seien widerrechtlich in Mariaberg zurückgehalten worden; von Forbes wird sogar behauptet, er sei mit Zustimmung seines schottischen Bischofs zurückgehalten worden. Forbes ist aber auf seine Bitten als freiwilliger Pensionär anfgenommen worden. Der Brief des schottischen Bischofs an die Alexianer besagt: Forbes sei nicht ganz richtig im Kopf; wenn er Geld besitze, sei er dem Trunk ergeben.

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A

No) 150.

eite Beilage

nzeiger und Königlich Preußischen Staats⸗Anzeiger.

Berlin, Mittwoch, den 26. Juni

1895.

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

„In einem zweiten Brief erklärt sich der Bischof bereit. die Pension für Forbes zu zahlen. Weiter hat der schottische Bischof mit der senhen Angelegenheit nichts zu thun. Wenn das bezweifelt werden ollte, möchte ich beantragen, daß seitens der Regierung die beiden Briefe des Bischofs, die in dem Erkenntniß nur kurz erwähnt sind, ihrem Wortlaut nach veröffentlicht werden. Da Forbes in die An⸗ stalt aufgenommen worden war, mußte er natürlich auch der Disciplin der Anstalt fügen. Von einer Freiheitsberaubung kann weder bei Forbes noch bei Reindorff die Rede sein. Zugeben muß ich allerdings, daß in Feeen Fan Ausschreitungen vorgekommen sind, was ich um so mehr hedaure, als es sich um eine klösterliche Genossenschaft handelt. Uebrigens habe ich eine Menge ö erhalten, nach denen in verschiedenen privaten und öffentlichen Anstalten ähnliche Ausschreitungen vorgekommen sind. Dann ist hier die mangelhafte Aufsicht der geistlichen Anstalten gerügt worden. Auch Herr Virchow meinte, vor den Klostermauern mache die staatliche Aufsicht Halt. habe gegen eine scharfe staatliche Aufsicht nichts einzuwenden, vorausgesetzt, daß andere Anstalten ebenso behandelt werden wie die geistlichen. Im allgemeinen kann ich meiner Freude darüber Ausdruck geben, daß die Diskussion nicht dazu geführt hat, die geistlichen Ge⸗ nossenschaften als nicht geeignet zur Irrenpflege zu erklären.

Justiz⸗Minister Schönstedt:

Meine Herren! Der Herr Abg. Dr. Porsch macht es mir zum lebhaften Vorwurf, daß ich die Staatsanwaltschaft in Aachen an⸗ gewiesen habe, die Revision gegen das vorliegende Urtheil zurückzu⸗ nehmen. Ich trage die volle Verantwortlichkeit für diese Anweisung. Wenn es sich um ein Rechtsmittel gehandelt hätte, welches eine thatsächliche Nachprüfung der Sache ermöglicht hätte oder eine nochmalige Würdigung der erhobenen Beweise, so würde ich gewiß der Sache ihren freien Lauf gelassen haben. Das war aber nicht der Fall. Es handelt sich nur um das Rechtsmittel der Revision, von dem der Herr Abg. Dr. Porsch selbst gesagt hat, daß damit nicht viel zu machen ist, weil es nur auf Verletzungen des Gesetzes gestützt werden kann. Ein öffent⸗

liches Interesse bestand nur noch an der Feststellung der Thatsachen.

Nun wird der Abg. Dr. Porsch mir vielleicht erwidern, falls die Revision mit Erfolg eingelegt wäre, würden wir damit eine neue Verhandlung in erster Instanz herbeigeführt haben und dadurch eine nochmalige Prüfung der Thatsachen. Meine Herren, auch nach dieser Richtung hin glaube ich, daß irgend ein Interesse, eine solche Ver⸗ handlung wiederholt zu sehen, für keinen der Betheiligten vorliegt. Ich glaube hier darauf hinweisen zu können, daß noch erhebliche Be⸗ weismittel zur Verfügung des Gerichts und der Betheiligten standen; es sind, wenn ich nicht irre, gegen 50 Zeugen unter der Zustimmung aller Betheiligten unvernommen ent⸗ lassen worden, weil alle der Ansicht waren, die Sache sei vollkommen aufgeklärt, und es sei nach keiner Richtung hin zu wünschen, daß man noch weiter in diese Dinge eintrete.

Das alles hat mich bestimmt, die Staatsanwaltschaft in der Weise anzuweisen, wie es geschehen ist, und ich glaube, daß ich in dieser Beziehung recht gethan habe. (Bravol links.)

Abg. Sattler (nl.): Herr Porsch hat wie Herr Spahn nichts weiter als eine Kritik des richterlichen Urtheils geliefert. Herr Spahn hat geleugnet, daß eine Freiheitsentziehung festgestellt worden sei, es steht dies aber im Urtheil. Herr Porsch hat gesagt, von einer Mitschuld des schottischen Bischofs sei keine Rede. Nach dem stenographischen Bericht hat aber der Bischof an die Alexianer noch einen Brief gerichtet mit der Anweisung, den Forbes zurückzuhalten. Herrn Porsch möchte ich noch fragen, ob er seine Behauptungen, in verschiedenen öffentlichen wie privaten Irren⸗ häusern kämen Mißbräuche vor wie in Mariaberg, ohne den Schutz des Abgeordneten öffentlich wiederholen will. Das würde ihm sicher Anklagen seitens der betreffenden Anstalten zuziehen.

Hierauf wurde gegen 4 ¾ Uhr die Diskussion geschlossen, die Interpellation war damit erledigt. Die Berathung des zweiten Gegenstandes wurde vertagt. 1

Nächste Sitzung: Mittwoch 11 Uhr (dritte Lesung des Stempelsteuergesetzes).

und Staatswissenschaft. Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für

vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirthschafts⸗

lehre zu Berlin, unter Mitwirkung der Herren Professoren Dr. Asser in Leyden, Geheimer Hofrath Professor Dr. Bekker in Heidelberg, Professor Dr. Cogliolo in Genua, Professor Dr. Pasquale iore in Neapel, Wirklicher Staatsrath Professor Dr. Foinitzky in t. Petersburg, Professor Dr. Gianturco in Neapel, Dr. Max Hirsch, Anwalt der deutschen Gewerkvereine in Berlin, Professor Dr. Lassen in Kopenhagen, Perfeg or Dr. von Liszt in Halle, Professor Dr. Lyon⸗Caen in Paris, Professor Dr. Meili in Zürich, Advokat Dr. Momferratos in Athen, Advokat Dr. Pappafava in Zara, Professor Dr. Polacco in Padna, Seeamts⸗Präsident a. D. Dr. Prien in Charlottenburg, Professor Dr. Rivier in Brüssel, Professor Dr. Schuppe in Greifs⸗ wald, Ober⸗Gerichts⸗Raͤth Dr. Shek in Serajewo, Professor Dr. Stoerk in Greifswald, Professor Dr. Strohal in Leipzig, Dr. Upp⸗ ström, Häradshöfding in Stockholm, Professor Dr. Warschauer in Berlin, Professor Dr. Wesnitsch, früher Minister des Kultus und Unterrichts in Belgrad, und anderer Mitglieder im Auftrage der Ver⸗ einigung herausgegeben von Professor Dr. Bernhöft in Rostock und Amtsrichter Dr. Meyer in Berlin. I. Jahrgang, 1. Abtheilung. Hermann Bahr’'s Buchhandlung (K. Hoffmann) in Berlin. Wir stehen inmitten einer sozialen Bewegung, die sich von allen srhmn ähnlicher Art durch die Universalität ihres Charakters unter⸗ cheidet: Nicht bloß die Ursachen sind der ganzen europäischen Völker⸗ gruppe gemeinsam; der geschichtliche hrans selbst ist nicht, wie sonst, nach Ländern und Landestheilen derart gespalten, daß er sich hier in einem früheren, dort in einem späteren Jahrbundert vollzieht, hier mit einer Niederlage, dort mit einem Siege der andrängenden Elemente endgültig 8⸗ werden kann; vielmehr ist er ein ein⸗ heitlicher, und sein Verlauf wird für den ganzen Welttheil maßgebend 8 Da nun naturgemäß bei der weiteren Regelung der ozialen Verhältnisse der upttheil der zu leistenden Arbeit auf die Juristen und Nationalökonomen fallen wird, gebietet die Nothwendigkeit den Fachgenossen der perschiedenen Nationen, aus ihrer nationalen Isolierung herauszutreten und zu internationalen Vereinigungen zusammenzuschließen. Diesem Be⸗ dürfniß kommt die vor einem Jahre gegründete, aus hervorragenden Vertretern der verschiedensten Nationen bestehende Internationale ereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirth⸗

schaftslehre zu Berlin entgegen, die als ihre wichtigste Aufgabe die Pflege jenes Zweiges der Rechtsvergleichung betrachtet, der „den in unserer europaisch⸗amerikanischen Weltkultur waltenten Rechtsgedanken an das Licht zu fördern bestrebt ist“. Indessen wird auch die für das Verständni der Rechtsentwickelung so nothwendige kompa⸗ rative Methode auf historischer und ethnologis Basis in den Kreis der Studien gezogen und damit ein ungeheures Arbeitsfeld mit fruchtbringenden Erfolgen kultiviert. Ein umfassendes Bild von der ersprießlichen Arbeit des Vereins liefert die soeben mit einem stattlichen, 340 Seiten starken Bande zum ersten Mal an die Oeffentlichkeit getretene eigene Zeitschrift, das „Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirthschaftslehre zu Berlin“. An der Spitze dieses ersten Jahrgangs findet sich unter der Ueberschrift „Unser Zweck“ ein längeres Vorwort von Professor Dr. Bernhöft, in welchem klar und eingehend das Programm des Vereins und die große Bedeutung der zugleich die konkreten, volkswirthschaftlichen Verhältnisse berücksich⸗ tigenden Rechtsvergleickung im modernen Sinne als Voraussetzung der A. als Mittel der Rechtsausgleichung dargelegt werden. Dann folgt eine Reihe Fne. Aufsätze, von denen an Ge⸗ halt keiner dem anderen nachsteht. iel Interessantes bietet zunächst Professor Dr. Mil. R. Wesnitsch⸗Belgrad in einer Abhandlung über „die strafrechtliche Kollektivverantwortlichkeit des Dorfes im alten und neuen serbischen Recht“. Während nach den im westlichen Europa geltenden Rechtsgrundsätzen für jeden vorsätzlich verursachten Schaden der Thäter selbst und allein haftet und niemand für Straf⸗ thaten Anderer verantwortlich zu machen ist, haben in Serbien die Verhältnisse im Landleben zur gesetzlichen Wiederherstellung der straf⸗ rechtlichen Kollektivverantwortlichkeit der Dörfer geführt, durch die allein das serbische Volk gegen die Unsicherheit auf dem Lande erfolgreich ankämpfen zu können glaubt. Nach Art. 1, 2 und 21 dieses von der Landbevölkerung selbst vor⸗ geschlagenen und am 20. März 1892 sanktionierten Gesetzes ist jeder durch böswillige Brandlegung oder durch sonstige vorsätzliche, widerrechtliche Vernichtung von unversicherten Gegenständen innerhalb der Gemarkung einer Landgemeinde, auf Landgütern oder in dem Ravyon einer städtischen Gemeinde verursachte Schaden von derjenigen Gemeinde, in deren Gemarkung die That begangen worden, zu ersetzen, wenn der Thäter binnen 30 Tagen nicht ergriffen worden ist, oder wenn der Thäter zwar binnen dieser Frist ergriffen und abgeurtheilt worden, das Urtheil aber wegen Vermögenslosigkeit desselben nicht vollstreckt werden kann, oder endlich wenn der Thäter vom Gericht freigesprochen worden ist. Im Falle eines Kompetenzkonflikts zwischen zwei oder mehreren Gemeinden bezüglich des Thatortes sind sämmtliche Gemeinden dem Geschädigten zu gleichen Theilen haftbar, vorbehaltlich des Regresses gegen die dem⸗ nächst für definitiv haftbar erklärte Gemeinde. Es werden hier also anz unschuldige Personen für den durch Andere verursachten Schaden aftbar gemacht ein Rechtszustand, der bereits früher viele Jahr⸗ hunderte lang ganz allgemein in Serbien gesetzmäßig war und in jenen türkischen Provinzen, in welchen gleichfalls Serben leben, sowie im Fürstenthum Montenegro noch bis auf den heutigen Tag fast vollständig und unverändert sich erhalten hat. In diesem letztgenannten Staate besteht noch heutzutage der Rechts⸗ daß das Dorf den Werth einer gestohlenen Sache zu ersetzen hat, wenn der Dieb nicht zu ermitteln ist, und daß dasjenige Dorf, in welchem eine Mordthat stattgefunden, der Familie des Ermordeten hundert Dukaten zu zahlen hat, wenn es nicht in der Lage ist, den Mörder anzugeben. Und in den türkischen Provinzen Alt⸗Serbien, Albanien und Makedonien verlangen die Türken die Mordgeldstrafe nicht nur von dem Dorf (oder der Stadt), in welchem das Ver⸗ brechen begangen worden ist, sondern auch von den umliegenden Dörfern; den Verbrecher selbst pflegen sie garnicht zu suchen, das bleibt vielmehr den Verwandten des Ermordeten überlassen. Die Folge dieser strafrechtlichen Kollektivverantwortlichkeit ist hier, daß die Dörfer den in ihrer Gemarkung aufgefundenen Ermordeten immer auf das Gebiet des anderen Dorfes zu schaffen suchen. Mit eigenartigen orientalischen Rechtsverhältnissen befaßt sich noch eine zweite, 96 Seiten umfassende Abhandlung über „die Exterritorialität der Ausländer in der Türkei mit Rücksicht auf die Gerichtsbarkeit in Zivil⸗ und Straf⸗ prozessen“ von dem Königlich griechischen Geschäftsträger in Berlin, Dr. Stamatios Antonopoulos, und Amtsrichter Dr. F. Mexyer⸗ Berlin. Während in den christlichen Staaten die Ausländer mehr oder weniger den Einheimischen in Bezug auf die ihnen gewährten rechtlichen Befugnisse nachstehen, sind im Orient die Fremden mannigfach bevorzugt, weil die Un⸗ vollkommenheit der Gesetzgebung, die nichteuropäische Bildung der öffentlichen Beamten, die religiösen Vorurtheile der nichtchrist⸗ lichen Völker von jeher die Regierungen der westeuropäischen Staaten zwangen, sich besondere Privilegien zu Gunsten ihrer in jenen Gebieten wohnhaften Staatsangehörigen zu sichern. Im osmanischen Kaiser⸗ reich wurden diese Sonderrechte der Fremden durch Verträge sogenannte Kapitulationen festgestellt, welche die christlichen Mächte mit der Pforte seit dem 16. Jahrhundert abschlossen. Einige von diesen Privilegien haben unter dem Wechsel der Verhältnisse heute ganz ihre praktische Bedeutung eingebüößt, wie z. B. die den Fremden bewilligte Befugniß, für ihren eigenen Gebrauch den Wein bei sich herzustellen oder denselben aus anderen Gebieten einzuführen. Indessen andere Aus⸗ nahmebestimmungen besitzen noch heute eine große praktische Bedeu⸗ tung: so vor allem diejenigen über die Exterritorialität im weiteren Sinne, d. h. das Recht, nach welchem alle Fremden in der Türkei den Vortheil genießen, den dortigen Gesetzen und Gerichten nicht unterworfen zu sein, sondern nur dem Recht und den Richtern ihres eigenen Volks, oder zwar den türkischen Landesgerichten, jedoch unter Mitwirkung ihrer eigenen Behörde, des Konsuls. Nur für die Streitigkeiten über das Immobiliarrecht und die Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen sind gegenwärtig allein die osmanischen Gerichte zuständig; selbst dann, wenn alle Rechtsuchenden Fremde und Angehörige desselben Volkes sind, nehmen sie Recht vor den osmani⸗ schen Gerichten, wie wenn sie türkische Unterthanen wären, d. h. ohne daß die Konsularbehörde hinzugezogen wird. In der vorliegenden Ab⸗ handlung werden vornehmlich die zahlreichen Fälle sowohl Zivil⸗ wie Strafsachen ins Auge gefaßt, in denen die Konsuln mit türki⸗ schen Richtern, die g- ihren Gesetzen Recht sprechen, zusammen⸗ zuwirken haben, und dabei besonders auch die Kontroversen eingehend erörtert, welche infolge der Abweichung des französischen Textes von dem türkischen Wortlaut der in den letzten Jahrzehnten mit Zustimmung der christlichen Mächte ergangenen, die ausländische Gerichtsbarkeit ein⸗ schränkenden osmanischen Gesete vielfach entstanden sind. Am Schluß ihrer verdienstvollen Arbeit fassen Dr. Stamatios Antonopoulos und Dr. Meyer ihr Urtheil dahin zusammen, daß die Gerichtsbarkeit über die Fremden in der Türkei zum großen Theil auf sehr schwankenden und unsicheren Grundlagen ruht und im höchsten Maße verbesserungs⸗ bedürftig erscheint, daß aber auch Handel und Verkehr in einem Lande, wo gemäß dem Prinzip der Exterritorialität die Menge der herrschenden Rechtsgebiete der Zahl der dort selbständig vertretenen Kulturstaaten entspricht, unter der daraus entstehenden Rechtsunsicher⸗ heit NS zu leiden haben. Sie schlagen daher vor, alle Zivilprozesse 88g. en Angehörigen desselben fremden Staats oder verschiedener Rationen, beziehungsweise zwischen fremden und osmanischen Unter⸗ thanen, sowie alle Strafsachen, bei denen der Angeschuldigte ein

Fremder ist, schon in erster Instanz einem gemischten

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die Rechte der

erichtshof nach 1

Art der egyptischen Tribunale zu unterbreiten und ein einheitliches formelles sowie materielles Recht zur Grundlage der Jurisdiktion zu nehmen, also eine gewisse Kodifikation des internationalen Rechts. Die großen Aufgaben der vergleichenden Rechtswissenschaft

würden wesentlich gefördert werden, wenn die europäischen Staaten

eine universelle Rechtsstation ins Leben riefen, die auf erlangen Privaten wie Gerichten authentische Auskunft über die

Existenz und Auslegung der auswärtigen Rechtsnermen gäbe. Dahem

tritt in einem weiteren Aufsatz über „eine offizielle Heimstätte für das Peregrinenrecht der modernen Welt“ Professor Dr. F. Metili⸗ Zürich für die Errichtung eines internationalen Bureaus ein, welches zunächst alle Staatsverträge in der Ursprache, sowie in der französi⸗ schen, deutschen und, wenn die englisch⸗amerikanischen Staaten dieser Unien beitreten, auch in der englischen Sprache zu publizieren habe. Sei ein solches internationales Bureau einmal geschaffen, dann könne nach und nach daraus eine Zentralstelle für das gesammte Peregrinen⸗ recht, vor allem für das Zivil⸗, Straf⸗ und Prozeßrecht entstehen. Einer neuen e der sozialen und internationalen Organisation redet Professor Pasquale Fiore⸗Neapel in einer „Der Staat und Menschen“ betitelten Abhandlung das Wort. Aus⸗ gehend von dem Begriff der „Menschenrechte“, wie er aus der von Christus proklamierten und von den Aposteln dargestellten Lehre folgt: „Non est Judaeus neque Graecus, non est servus neque liber, non est masculus neque femina; omnes enim vos unum estis in Christo Jesu“, weist er die traurigen Irrthümer und übertriebenen Ansprüche weiter Kreise des Volks auf Befriedigung einer Masse von individuellen Interessen unter dem Namen „Menschenrechte“ ent⸗ schieden zurück. Die soziale Organisation solle auf dem „gerechten Gleichgewicht zwischen den Interessen des Individuums und denen der Gesellschaft, des Staats, der Monarchie“, und die internationale auf dem „gerechten Gleichgewicht zwischen den nationalen und internatio⸗ nalen Interessen“ begründet sein. In dieser neuen Form der Organi⸗ sation werde das wirthschaftliche Gleichgewicht der Individuen durch Auswanderung, das internationale Gleichgewicht, sowohl das moralische wie das rechtliche, durch das Bündniß der Kulturstaaten erreicht werden. Von großem Interesse ist auch die kritische Studie über Louis Blanc und den Sozialismus in Frankreich, die Professor Dr. Otto Warschauer⸗Berlin in diesem Jahrbuch zu veröffentlichen beginnt. Es wird hier zunächst an der Hand von Louis Blanc's Schrift Organisation du travail“ die von ihm konstruierte Theorie des Sozialismus ausführlich dargelegt, sodann die Möglichkeit einer Durchführung der empfohlenen Organisation der Arbeit, die Be⸗ deutung Blanc's als Kulturhistoriker und Sozialpolitiker, das Verhältniß, in dem er zu den relativ hervorragendsten, wissenschaft⸗ lichen Sozialisten seiner Zeit gestanden sowie der entscheidende Ein⸗ fluß, den er auf die internationale Entwickelung des Sozialismus ausgeübt hat, zum Gegenstand einer eingehenden Untersuchung ge⸗ macht. In der letzten größeren Abhandlung sucht Prof. Dr. Schuppe⸗ Greifswald das Verhältniß der Rechtsphilosophie zur Rechtswissen⸗ schaft festzustellen, wobei er zu dem Resultat gelangt: Es giebt keine Rechtsphilosophie neben der sogenannten Rechtswissenschaft, sondern was jene lehren will und soll, ist ein wesentlicher Theil der Rechts⸗ wissenschaft selbst; die Lehnsätze aus philosophischen Disziplinen, deren Unentbehrlichkeit der Verfasser ausdrücklich betont, gehören mittelbar zur Rechtswissenschaft, wie etwa die mathematischen Er⸗ kenntnisse, welcher der Physiker nicht entrathen kann, zur Physik. Den Reichthum und die Vielseinigkeit des übrigen Inhalts mag aus den Ueberschriften ersehen werden: Das Notariat in Griechenland. Von Dr. Vlad. Pappafava⸗Zara. Betrachtungen über die zivilrechtliche Stellung der Ausländer in Canada. Von demselben. Ueber die rechtliche Stellung der Ausländer in den Vereinigten Staaten von Venezuela. Von demselben. Gesetzgeberische Arbeiten des kroatisch⸗slavonischen Parlaments während des Fahres 1894. Von Milan Paul Jovanovic⸗Vukovar a. d. Donau. Ein Rechtsfall über Statutenkollision hinsichtlich Verfügungen von Todeswegen, mit⸗ etheilt von Senats⸗Präsident Dr. Bingner⸗Leipzig. Das gesammte echt des Grundeigenthums und das Erbrecht für alles Eigen⸗ thum in der Türkei, eine Studie von Dr. D. Arslanian, In⸗ spektor der Landwirthschaft der Provinz Angora. Besprochen von Adalbert Sheck, Ober⸗Gerichts⸗Rath am bosnisch⸗herzegowinischen Ober⸗Gericht in Serajewo. Uebersicht der russischen volkswirth⸗ schaftlichen Literatur im Jahre 1894, Von W. von Spjatlowsky⸗ Moskau. Den Schluß des ersten Bandes bilden ein Rückblick auf die gesammte Thätigkeit der Internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswissenscheft und Volkswirthschaftslehre während des verflossenen Jahres vom Amtsrichter Dr. F. Meyer⸗ Berlin, die Satzungen des Vereins und ein Verzeichniß sämmtlicher Mitglieder. Nach dem Eindruck dieses ersten Bandes zu urtheilen, wird dieses neue Jahrbuch, das sich so glänzend einführt, nicht nur dem Fachmann als Fundstätte wichtigen Materials werthvoll sein, sondern seine Eigenart wird weit über den Kreis der Juristen und National⸗ ökonomen hinaus Verständniß und Würdigung finden; denn unter den sämmtlichen angeführten Aufsätzen befindet sich kaum einer, der nicht die Aufmerksamkeit vornehmlich auf die praktischen Aufgaben der Gegenwart lenkte. Und die Namen der zahlreichen hervorragenden Mitarbeiter und Mitglieder, welche den beiden Herausgebern zur Seite stehen, bieten ausreichende Gewähr dafür, daß auch die künftig erscheinenden Abtheilungen dieses Jahrbuchs auf gleicher Höhe stehen werden wie die vorliegende erste. 8 Kunstgeschichte.

Geschichte der christlichen Malerei von Dr. E. Frantz, Professor an der Universität zu Breslau. Drei Bände (zwei Bände Text und ein Band Bilder). Verlag von Herder, Freiburg i. Br. Pr. ungeb. 30 „Alle Kunstübung ist hervorgegangen aus dem Heiligthum des Glaubens und erblüht im Schutze des Gotteshauses; mit dem Verfall des religiösen Lebens sinkt auch die Kunst zur Schwelgerei des Genießens herab, verliert ihre Würde und vergißt des ethischen Ziels der Befreiung der menschlichen Natur.“ Dieser an der Spitze der Vorrede stehende Satz ist das Leitmotiv, welches der Verfasser seiner Geschichte der Malerei zu Grunde gelegt hat. Das Steigen und der Verfall des religiösen Lebens in ihrer Wechselwirkung auf das Blühen und das Sinken der Kunst ist der Gesichtspunkt, nach welchem Frantz die Kunsterscheinungen der einzelnen christlichen Länder pragmatisch zusammenzustellen gesucht hat. Mit der Beschreibung der verfallenden griechisch⸗römischen Kunst und der Anfänge der christlichen Kunst beginnend, schließt der Verfasser seine Geschichte mit der Darstellung der Hochrenaissance. Wir versagen es uns, hier des näheren auf diese grundsätzliche Stellung des Werks kritisch einzu⸗ eehen. Auch in manchen Einzelheiten, in denen der Verfasser sich nicht rei von einer etwas einseitigen Auffassung zeigt, können wir demselben nicht zustimmen. Gleichwohl ist anzuerkennen, daß hier eine tüchtige Arbeit eeliegt. Der Verfasser zeigt eingehende Kenntniß der ein⸗ schlägigen kunsthistorischen Literatur. Seine vielfach feinsinnige Wür⸗ digung der einzelnen Künstler und ihrer Werke beweist einen vertrauten Umgang mit den Monumenten der Kunst. Die Darstellung ist durch⸗ weg gelungen und 8 für weitere Kreise leicht verständlich. Die⸗ Verlagshandlung hat eine angemessene Ausstattung des Werks angelegen sein lassen. Den Text elemnenn zahlreiche, gut auzgeführte Abbildungen. Auf eine weitere Vermehrung derselben wird bei Neuauflage des Buchs Bedacht genommen werden können. . „er Verständniß des Textes wird erst durch einen reichhal⸗ A apparat ermöglicht, dessen Beschaffung durch die neuer⸗ 8 ReE der⸗ verfahren so ungemern erleichtert mworden sst. “Reproduktions⸗