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sind gerecht genug, anzuerkennen, daß nicht die Partei ver⸗ antwortlich gemacht werden kann für die Missethat eines Ein⸗ zelnen; aber man kann doch von der Justiz eine gleiche Behandlung verlangen, während sie in der That gegen den Herrn von Hammer⸗ stein so träge vorging, daß dieser Mann, der ein Verbrecher war, sich ruhig ins Ausland begeben konnte. Da hat die Justiz keine Binde mehr vor den Augen, da schaut sie nach den Personen. Das ist ein großes Unglück für unser Vaterland. Nur durch Gerechtigkeit können gefährliche Komplikationen vermieden werden. Der Reichskanzler hat behauptet, daß weite Kreise das Vorgehen der Behörden billigten. Wie hat er sich bei dem Umsturzgesetz auf die weiten Kreise gestützt, und wo waren diese weiten Kreise bei der Berathung desselben? Nur die oberen Zehntausend sind es, die die Hilfe der Regierung anrufen, wenn eine falsche Politik die Unzufriedenheit erregt hat. Der Reichskanzler hat gesagt, daß die Zersplitterung der Parteien die Regierung von der Initiative abhalte. Die Zersplitterung ist aber eine Folge des falschen Regierungssystems. Wenn kein Programm vorhanden ist, so können sich die Parteien nicht zu⸗ sammenschließen. Wenn man heute ein bischen liberal, morgen agrarisch regiert, dann kann sich kein Anhang bilden. Wenn ein so „erfahrener“ Politiker wie Herr von Kardorff es ausspricht, daß vir kein einheitliches Ministerium haben, daß ein Ministerium gegen das andere hetzt, so ist das bedenklich. Der Reichskanzler be⸗ streitet, daß ein Ministerium gegen das andere hetze; es ist aber schon weit gekommen, wenn ein so erfahrener Politiker wie Herr vor Kardorff das öffentlich im Reichstag aussprechen kann. Im vorigen Jahrhundert haben der Hof, die herrschenden Klassen, der Adel die Verwicklungen hervorgerufen. Man sollte jetzt von oben herab ein besseres Beispiel geben. Was soll man aber sagen, wenn ein Königlicher Baurath eine beschimpfende Inschrift einmeißeln läßt gegen die Behörden der Stadt, wenn dafür schon im Modell vorge⸗ sorgt worden ist? Wenigstens ist dieser Behauptung nicht widersprochen worden. Muß man da nicht sagen: Das Aergerniß kommt von oben? Der bekannte Stöcker⸗Brief hat bei allen Denjenigen, die den Fürsten Bismarck hoch und heilig in ihrem nationalen Herzen halten, eine viel schlimmere Wirkung angerichtet als die Majestätsbeleidigungsprozesse. Allmählich schwindet der Einfluß unserer Klassen und Stände, und das wird sich fortsetzen, wenn das allgemeine Wahlrecht noch stärker eingeschränkt wird. Die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts ist ein fester Plan, zu dem sich im Stillen zahlreiche Politiker bekennen, und die „Kölnische Zeitung“, welche Verbindungen mit der national⸗ liberalen Partei wie mit der Regierung aufrecht erhält, hat in einem großen Leitartikel vom 7. August vorigen Jahres das Rezept dazu gegeben: Presse und Versammlungen müßten zu⸗ sammenwirken, um die öffentliche Meinung unwiderstehlich für eine Wahlreform zu gewinnen. Nach der Verfassung haben die Fürsten einen ewigen Bund geschlossen, das gültige Recht zu schützen, und es würde mit diesen Worten nicht recht in Einklang stehen, wenn man dem Volk das einzige und wahre Recht, welches die Verfassung ent⸗ hält, rauben würde. Wenn man Zustände vermeiden will, wie die von 1789, eine gewaltsame Spannung der Nation, ist es das Aller⸗ gefährlichste, die Ventile zu schließen, durch welche bewirkt wird,
daß die Bevölkerung nicht auf schlimme Abwege geräth. Es fehlt der Regierung an Einheitlichkeit; Graf Caprivi hatte sein
ganzes Ministerium hinter sich und die Vertreter der Bundesstaaten, und er schied aus dem Amte, ohne daß man bisher eigentlich weiß, warum. Solche Zustände sind ein Hauptgrund, weshalb die Bevölkerung kein Vertrauen in die Einheitlichkeit und Stärke der Regierung besitzt; die Besserung muß kommen von einer einheitlichen
und starken Regierung: einheitlich durch ein liberales Programm,
und stark dadurch, daß sie sich stützt auf die Kreise der Bevölkerung, welche die erwerbenden und die bürgerlichen sind. Um ein solches
rogramm würde noch heute die Mehrheit sich schaaren, auf dem tteht: Nicht der Einzelwille, sondern der allgemeine Wille soll ent⸗ scheidend sein. ⸗
Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Staats⸗Minister Freiherr Marschall von Bieberstein:
Meine Herren! Es ist nicht meine Absicht, dem Herrn Vor⸗ redner auf alle die Fragen zu antworten, die er im Laufe seiner Rede an die verbündeten Regierungen gestellt hat; ich habe dazu um so weniger Anlaß, als ich aus seinen Ausführungen entnommen habe, daß er bezüglich aller dieser Fragen bereits sein Urtheil definitiv festgelegt hat und demnach für ihn das audiatur et altera pars ein unumgängliches Bedürfniß nicht bildet. (Sehr gut! und Heiterkeit.)
Ich erwidere nur bezüglich eines Punktes, den der Herr Vorredner in den Kreis seiner Betrachtungen gezogen hat, eines Punktes, der einen Beamten meines Ressorts betrifft. Der Herr Vorredner hat über den früher in unseren Kolonien beschäftigten Assessor Wehlan ein ganz schonungsloses Urtheil gefällt, obgleich er weiß, daß das Strafverfahren gegen diesen Mann noch im Gange ist und kein Ge⸗ richt bis jetzt eine Entscheidung getroffen hat. Da muß ich sagen: ich kann es nur lebhaft bedauern, daß ein Mitglied dieses hohen Hauses, und dazu ein Jurist, einen Angeklagten verurtheilt, bevor das Verfahren abgeschlossen ist. (Lebhafte Zustimmung.) Er hat sich da⸗ mit in Widerspruch gesetzt mit einem fundamenkalen Grundsatz von Recht und Gerechtigkeit. (Sehr richtig!) Wer das thut, der, glaube ich, sollte sich hüten, mit der sittlichen Entrüstung, wie er es gethan, Anklagen gegen die Justizpflege und gegen die Handhabung der Gerechtigkeit im deutschen Lande zu erheben. (Lebhafte Zurufe links.) Ich selbst habe die Anklage gegen Assessor Wehlan erhoben bezw. veranlaßt; niemand wird mir also vorwerfen, daß ich eine Vorein⸗ genommenheit zu Gunsten dieses Herrn habe; ich erkläre aber, daß ich rundum jede Auskunft und jede Diskussion über diesen Fall hier ab⸗ lehne, daß ich insbesondere mich hüten werde, diesen Mann als einen Schuldigen hier zu behandeln, so lange nicht ein richterliches Urtheil, das ihn für schuldig erklärt, vorliegt. (Bravo!) Das ist meine Auffassung von Gerechtigkeit; wenn sie der Herr Vorredner nicht theilt, so kann ich das bedauern, aber leider nicht ändern. (Lebhafter Beifall. — Unruhe links.) 1
Justiz⸗Minister Schönstedt:
Der Herr Vorredner hat, wie bereits mehr der Herren in den letzten Tagen, auch das Thema von der angeblich ungleich⸗ mäßigen Handhabung der Justiz variiert. Ich habe bisher keine Ver⸗ anlassung gehabt, diesen Behauptungen entgegenzutreten, und zwar des⸗ halb, weil diese Anschuldigungen nicht in irgend einer Weise auf Thatsachen gestützt waren. (Oho! links.) — Ich habe keine Thatsache gehört, die zur Begründung dieser Anklage hätte dienen können. Heute findet der Herr Abg. Haußmann ein Zugeständniß, daß die Rechtspflege in dem Deutschen Reich eine tendenziöse sei, in der Bemerkung des Herrn Reichskanzlers, daß die bestehenden Gesetze straff gehandhabt werden müßten. Nun, wie eine straffe Handhabung der Gesetze gleichbedeutend sein soll mit einer tendenziösen Rechtspflege, das vermag ich im Augenblick nicht zu ersehen. (Oh! links.)
Es ist dann zur Begründung der Beschuldigungen gegen die
Meine Herren,
die bedauerliche Thatsache der Zunahme dieser Prozesse kann von
niemandem lebhafter empfunden werden, als von den Staatsanwalt⸗
schaften und den Gerichten; niemand würde glücklicher sein, wenn 8 8
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die Zahl dieser Prozesse eine Verminderung erführe. Aber, meine
Herren, wie liegt denn die Sache? woher kommen denn die Majestäts⸗ beleidigungsprozesse? Sie kommen doch nur von der so bedauerlich großen Zahl der Majestätsbeleidigungen, wie sie in den letzten Mo⸗ naten insbesondere in der sozialdemokratischen Presse zu Tage getreten sind. (Sehr richtig! rechts. Zurufe links.) Erinnern Sie sich doch der groben Ausschreitungen der sozialdemokratischen Blätter, des Berliner „Vorwärts“ an der Spitze, die einen Mißklang in die Septemberfeste hineingebracht haben! Wenn Sie sich erinnern wollen, wie damals die ganze deutsche nationalgesinnte Presse in Entrüstung sich aufbäumte gegen diese Schmähungen und Beleidigungen (Sehr richtig! rechts); wenn Sie daran denken, daß ein Blatt wie die „Germania“ in Anknüpfung an einen „Vorwärts“⸗ Artikel sagte: in Frankreich würde ein solcher Artikel nicht geschrieben werden können, ohne daß sich der Verfasser der Gefahr aussetzen würde, der Lynchjustiz zu verfallen (Widerspruch bei den Sozial⸗ demokraten): dann werden Sie begreifen, daß wir, die wir eine Lynchjustiz nicht haben und auch nicht haben wollen, der Ansicht gewesen sind, es sei die Aufgabe der ordentlichen Justiz, gegen diese Dinge einzuschreiten und da, wo Beleidigungen vorgekommen sind, sie auch zur gerichtlichen Verantwortung zu ziehen. Und wenn Sie das Tendenzprozesse nennen wollen, dann ist es, glaube ich, eine Tendenz, die von der weitaus überwiegenden Mehrheit des ganzen deut⸗ schen Volks als richtige anerkannt wird — so werden Sie begreifen, daß die Behörden sich nicht schweigend verhalten wollten gegen solche Ausschreitungen, wie sie hier vorgekommen sind (Zurufe bei den Sozialdemokraten: „Dolus eventualis!“). — Der dolus eventualis wird mir entgegengehalten. Mit dem dolus eventualis wird recht viel Unfug getrieben (Sehr richtig! links), außerordentlich viel Unfug, namentlich in der Presse. Es ist noch nicht lange her, da hätte man ja, wenn man die Zeitungen täglich las, glauben können, der dolus eventualis wäre ein neu erfundener Begriff, ausdrücklich entdeckt, um der Sozialdemokratie damit zu Leibe gehen zu können. Nein, meine Herren, die ältesten Juristen dieses Hauses, wenn sie sich in ihre Jugend zurückversetzen auf die Hörbänke ihrer Strafrechts⸗ lehrer, dann werden Sie wissen, daß der dolus eventualis zu dem alten Inventar der Strafrechtswissenschaft gehört. Und, meine Herren, weil er sich mit logischer Nothwendigkeit ergiebt aus der Natur der Dinge, deswegen giebt es auch kein Gesetz, was jemals den dolus eventualis aus der Welt schaffen könnte; es geht ohne ihn nicht. Was ist denn der dolus eventualis? Ich glaube, daß darüber unendlich viel unklare Meinungen verbreitet sind. Er gehört zur Lehre vom strafbaren Vorsatz und besagt weiter nichts, als daß eine Handlung als vor⸗ sätzlich begangen und zu verantworten auch dann angesehen werden soll, wenn sie nicht direkt vom Thäter gewollt ist, er sie aber als möglich mit in den Kreis der Erwägungen hineingezogen hat und auf diese Möglichkeit hin trotz alledem thätig geworden ist. Das ist de
dolus eventualis. Sie werden damit auch ferner rechnen müssen. Nun mag zugegeben werden, daß unter Umständen im Wege juristischer Auslegung vielleicht dem dolus eventualis eine Tragweite gegeben werden kann, die anfechtbar ist, und ich will nicht damit zurückhalten, daß ich meinerseits das auch für bedauerlich halten würde. Vielfach ist, soweit meine Kenntniß reicht, dieser dolus eventualis zur An⸗ wendung gebracht oder sind Ausführungen auf ihn gestützt worden in Sachen, wo man seiner gar nicht bedurfte, wo die Sache außer⸗ ordentlich einfach und klar war und die ganze Deduktion dadurch nur verwirrt wurde. So liegt die Sache mit dem mir eben vor⸗ gehaltenen dolus eventualis!
Um nun auf die Majestätsbeleidigungen zurückzukommen, so kann man vielleicht zwei Kategorien unterscheiden: die einen sind un⸗ überlegt hingeworfene Aeußerungen vielfach ungebildeter Leute, die sich vielleicht der ganzen Tragweite ihrer Worte nicht voll bewußt ge⸗ wesen sind, denen jedenfalls der eigentliche böse Wille gefehlt hat. Meine Herren, ich würde für dringend wünschenswerth halten, wenn derartig hingeworfene Aeußerungen nicht zur Kenntniß der Behörden in jedem einzelnen Falle gebracht werden, und es passiert in diesen Fällen, glaube ich, mancher Unfug: daß Unberufene oft aus bösem Willen solche Dinge zur Anzeige bringen, und daß der Staatsanwalt dann in die Nothwendigkeit gebracht wird, diese Dinge zu verfolgen, denen er sonst sehr gern aus dem Wege gehen möchte.
Ich kann aber weiter hinzufügen, daß in zahlreichen Fällen, wo solche Dinge zur Kenntniß der Behörde und infolgedessen zur Ab⸗ urtheilung der Gerichte kommen, von dem Allerhöchsten Gnadenrecht in einem Umfang und in einer Weise Gebrauch gemacht wird, von denen Sie keine Ahnung haben.
Dann komme ich zur zweiten Kategorie der Majestäts⸗ beleidigungen, die auf einem anderen Gebiete liegt; das sind die⸗ jenigen, die besonders zu vielen Anklagen gegen die Organe der sozialdemokratischen Partei in den letzten zwei Monaten Anlaß ge⸗ geben haben. Da handelt es sich nicht um unüberlegte, übereilte Aeußerungen; im Gegentheil, mit der größten Vorsicht wird hier jedes Wort abgewogen, nicht in der Absicht, eine Majestäts⸗ beleidigung nicht zu begehen; im Gegentheil, in der bestimmten Absicht, das Ansehen der Monarchie und des Monarchen zu untergraben und die heiligsten Gefühle zu beleidigen, — aber mit dem Bestreben, sich so vorsichtig auszudrücken, daß der Staatsanwalt nicht dahinter kommen kann. (Sehr richtig! rechts.) Nun, meine Herren, wenn man das aber weiß, daß es so geschieht, dann ergiebt sich daraus für die Vertreter der Behörden die besondere Pflicht, diese Aeußerungen mit größter Sorgfalt nachzuprüfen und zu ersehen, ob es den Herren bei der äußersten Vorsicht wirklich gelungen ist, die Strafrechtsgrenze inne zu halten oder ob sie darüber hinausgegangen sind. Darüber sind nun die Meinungen zwischen den Verfassern dieser Zeitungen und den Vertretern der Behörden vielfach ausein⸗ andergehende, und selbstverständlich, wenn ein Urtheil nun nachher gegen den Angeklagten gefällt wird, dann ist das Klassenjustiz, tendenziöse Justiz. Ich, meine Herren, behaupte: es ist keine tendenziöse Justiz; wir haben keine tendenziöse Justiz in Deutsch⸗ land, und ich gebe Ihnen die Versicherung ab, daß sich die Be⸗ hörden durch die Angriffe auf die angebliche Parteilichkeit ihrer Ent⸗ scheidungen nicht werden abhalten lassen, auch fernerhin den Gesetzen gemäß ihre Pflicht zu thun. (Bravo! rechts und bei den National⸗ liberalen.)
Abg. Leuschner (Rp.) ist wegen der großen, nach dieser Rede herrschenden Unruhe schwer verständlich. r veeech. vns die Ausführungen der Abgg. Barth und Haußmann in Bezug auf die Währungsfrage: die Goldwährung, die wir noch garnicht vollständig haben, sei das schlechteste Gesetz, welches wir überhaupt haben. Er erinnere nur an die großen Schäden der Valutadifferenzen.
Abg. Bebel (Soz.): Daß ich zum zweiten Male in der Debatte zum Worte komme, könnte mich veranlassen, mich mit dem
Kriegs⸗Minister auseinanderzusetzen über die verletzenden, ja be⸗
schimpfenden Aeußerungen des Kriegs⸗Ministers gegen meine Partei. Herr Haußmann hat das jedoch bereits gethan und das genügt mir. Auf die anderen Redner will ich nicht eingehen aber auf die Majestäts⸗ beleidigungsprozesse muß ich doch zurückkommen. Der preußische Justiz⸗Mimister hat sich gegen den Vorwurf der tendenziösen Justiz verwahrt. Ich glaube, er hat den Reichskanzler sehr mißverstanden. Der Reichskanzler hat direkt erklärt, daß man nunmehr die Gesetze straffer anwenden werde gegen die Sozial⸗ demokratie. Wenn das keine tendenziöse Justiz ist, dann giebt es eine solche überhaupt nicht. Weil es Sozialdemokraten sind, werden die Angeklagten verurtheilt: darauf legen Richter und Staatsanwalte den Hauptnachdruck. Der Justiz⸗Minister bedauert die Zunahme der Majestätsbeleidigungsprozesse. Man hat uns in der rücksichtslosesten Weise provoziert zur Selbsthilfe. (Zwischenruf rechts: Unverschämt!) Sie, der Sie das Unverschämt dazwischen rufen, sind selbst unverschämt!
Präsident Freiherr von Buol: Herr Abg. Bebel, der Ausdruck „unverschämt“ ist unparlamentarisch! (Zuruf links: Er ist ja drüben gefallen!) Ich rüge den Ausdruck auch bezüglich des Zwischenrufes.
Abg Bebel sfortfahrend): Seien Sie dech nicht so thöricht: meinen Sie, daß jemand zum Spaß sich wegen Maäjestätsbeleidigung einsperren läßt? Nicht bloß bei den Urtheilen, sondern schon bei der Anklage ist die Tendenz vorhanden; das beweist die lange Untersuchungshaft, die man über die Sozialdemokraten verhängt, während man Herrn von Hammerstein ruhig Zeit und Gelegenheit läßt, ins Ausland zu gehen. Solche Stützen der Ordnung, Religion und Sitt⸗ lichkeit, die läßt man ruhig ins Ausland entkommen. Der Herr Justiz⸗ Minister hat den dolus eventualis schon in seiner Jugend gekannt: er ist größer geworden und dasselbe ist mit den Tendenzprozess der Fall. Bei dem Antrag wegen der Majestätsbeleidigungen werd wir uns damit weiter beschäftigen können. Ich habe die Mittheilu erhalten, daß es gewisse Briefe hochkonservativer Männer giebt, fulminante Majestätsbeleidigungen enthalten. Ich habe die Briefe nicht eingesehen; ich habe davon nur Mittheilung erhalten. Die Leipziger „Neuesten Nachrichten“ veröffentlichten die Aeußerungen eines Geistlichen, der der Meinung ist, daß eine ganze Reihe angesehener Männer wegen ihrer Aeußerungen der Majestätsbeleidigung schuldig befunden werden würren. Man sollte vorsichtig sein; denn es wird überall gefündigt. Wir haben nach unserer ganzen Stellung im öffentlichen Leben, nach unserer Auffassung der Entwicklung der Ge⸗ sellschaft und des Staates keine Veranlassung, die höchste Person in die Erörterung zu ziehen. Bei der ganzen Entwicklung des öffent⸗ lichen Lebens hat der Monarch einen sehr geringen Einfluß auf di Verwaltung. Es ist ja auch unmöglich, daß der Monarch mit voller Sachkunde überall eingreifen kann. Es ist ja auch der Grundsatz des konstitutionellen Lebens, daß der Monarch im Hintergrunde bleibt Sorgen Sie dafür, daß Provokationen nicht vorkommen, Sie werden sich nicht mehr zu beklagen haben und thun uns damit einen außerordent⸗ lichen Gefallen. Der Redner kommt dann noch zurück auf den Artikel des Reichsgerichts⸗Raths Stenglein in der „Zukunft“ und führt aus daß er denselben erst gelesen habe, weil nationalliberale Blätt dieselben Schlußfolgerungen gezogen hätten wie er selbst. Redner verliest längere Stellen aus dem Artikel, aus welchen hervorgehen so daß Stenglein die Tendenz in den Vordergrund stellt. Jed Aeußerung eines Oppositionsmannes würde danach strafbar erscheinen während sie bei einem staatserhaltenden Manne als harmlose Aeußerung betrachtet würde. Redner beruft sih auf ein kammergericht⸗ liches Urtheil, wonach die Meinung nicht strafbar sei; heute sei das aber der Fall.
Justiz⸗Minister Schönstedt: 8
Meine Herren! Die soeben von dem Herrn Bebel verlesenen Worte aus einem alten kammergerichtlichen Urtheile unterschreibe ich vollständig. Sie gelten auch heute noch, und ich wäre nur gespannt gewesen, wie der Herr Abg. Bebel seine Behauptungen hätte be gründen wollen, daß ich etwas Entgegengesetztes gesagt habe. Do das der Fall sei, das muß ich mit aller Entschiedenheit in Abrede stellen.
Meine Herren, auch die von dem Herrn Abg. Bebel unternommer Interpretation der vorgestrigen Worte des Herrn Reichskanzlers glaube ich einfach Ihrem Urtheil überlassen zu können, und bin überzeugt daß er mit dieser Interpretation bei Ihnen kein Glück machen wird.
Der Herr Abg. Bebel hat schon gestern den Versuch gemacht und den Versuch heute wiederholt, die Ausschreitungen der sozia demokratischen Presse seit dem September, seit dem Tage unserer Erinnerungsfeste damit gewissermaßen zu entschuldigen, daß die sozialdemokratische Presse sich dabei lediglich in der Abweh befunden habe gegenüber den ihr ins Gesicht geworfenen be⸗ leidigenden Aeußerungen von hoher Stelle. Meine Herren, diese Versuch ist ja vielleicht nicht ganz ungeschickt; es ist nur schade, daß er den Thatsachen vollständig widerspricht. Denn wenn Sie sich er innern wollen, an welchem Tage die hier wiederholt erwähnten Aeuße⸗ rungen gefallen sind und wenn Sie sich des Inhalts dieser Worte erinnern wollen, wird Ihnen zum vollen Bewußtsein kommen, daß diese Worte sich richteten gegen vorhergehende Ausschreitunge der sozialdemokratischen Presse und nicht gegen das, was später ge⸗ kommen ist. (Sehr richtig! rechts.) Und die späteren Aeußerungen in Ihren Blättern könnten höchstens als eine Replik bezeichnet werden aber für diese Replik und die Natur dieser Replik, glaube ich, das wenigstens als ein werthvolles Zugeständniß nicht ansprechen zu können, daß der Herr Abg. Bebel nach Entschuldigungen für diese replika⸗ rischen Aeußerungen gesucht hat. Darin kann, glaube ich, das An⸗ erkenntniß gefunden werden, daß diese Aeußerungen weit das Maß des gesetzlich Erlaubten und gesetzlich in Preußen zu Duldenden hinausgegangen sind. Ich glaube mich auch nicht zu täuschen, wenn ich annehme, daß in der sozialdemokratischen Partei selbst die Auffassung eine weite Verbreitung gefunden hat, daß weit über das Maß des Zulässigen und auch des für die Partei Förder lichen hinausgegangen war in diesen Preßausschreitungen. Wenn ich nicht irre, war einem der hervorragenden Mitglieder der Partei einem Herrn, der sich gewöhnlich etwas gemäßigterer Ausdrücke mit größerem Geschicke wie Andere zu bedienen versteht, die Aufgabe zugefallen, gewissermaßen abzuwiegeln in öffentlichen Volksversamm⸗ lungen; ich glaube, daß diese Thatsache nicht bestritten werden kann. (Heiterkeit.) Nun, meine Herren, diese Empfindung der Noth⸗ wendigkeit eines solchen Einlenkens war ja vielleicht auch durch die Erkenntniß veranlaßt, daß die Führer der Partei und die Preßorgane nicht die ganze Partei in diesen Angriffen hinter sich hatten.
Ich will nun noch mit ein paar Worten auf die Behauptung hinweisen, daß in der Beurtheilung der Gerichte den Sozialdemokraten gegenüber ein anderer Standpunkt eingenommen werde, als gegen andere Personen, und darin liege gerade die Tendenz. Meine Herren, nun ist es ein alter Grundsatz in der Rechtsprechung und in der Rechts⸗ wissenschaft: si duo faciunt idem, non est idem, wenn Zwei dasselbe thun, so ist es nicht dasselbe. Es kann deshalb etwas in dem Munde des Einen eine ganz andere Bedeutung haben als in dem Munde eines Anderen, und es ist gewiß nicht ausgeschlossen, daß man bei der Interpretation der Worte eines Mannes fragst: was ist denn die Tendenz dieses Mannes, wohin strebt er, w.
will er hinaus? (Unruhe links; Sehr richtig! rechts.) Und da müssen die Herren von der sozialdemokratischen Partei es sich ge⸗ fallen lassen, daß auch dann, wenn sie vor dem Richter stehen, für die Auslegung der Tragweite ihrer Worte zurückgegangen wird auf andere Gelegenheiten, auf das, was sie in Versammlungen oder in der Presse vorgetragen haben, auf dasjenige, was als das Ziel ihrer Bestrebungen klar hingestellt ist und wodurch sie sich von allen anderen Parteien im Staate klar unterscheiden.
Es soll dann die Justiz mit zweierlei Maß messen und ins⸗ besondere die Staatsanwaltschaft ihre Pflicht verletzen, wenn es sich handelt um Uebelthäter aus bochgestellten Kreisen. Herr Bebel hat den Namen Hammerstein öffentlich genannt, und ich habe keine Ver⸗ anlassung, den Namen nicht zu wiederholen. Es ist ganz offen der Staatsanwaltschaft der Vorwurf gemacht worden, daß sie ihre Pflicht versäumt und dem Herrn hierdurch Gelegenheit gegeben habe, den deutschen Boden zu verlassen, sich in Sicherheit zu bringen vor der ihm drohenden Strafe. (Sehr richtig! links.) — Sie rufen: Sehr richtil,! Ich nehme Ihnen das so wenig übel wie Herrn Bebel, wenn er seine Behauptung aufstellte. Er würde es nicht thun, wenn er selbst die Thatsachen kennte, denn die Behauptung ist unwahr. Die Staatsanwaltschaft ist eingeschritten gegen den Herrn von Hammerstein, sobald ihr in irgend glaubhafter Weise das Verbrechen zur Kenntniß kam. Ich könnte das aktenmäßig nachweisen, wenn es darauf ankäme; vorläufig nehme ich für mich in Anspruch, daß Sie meinen Worten Glauben schen⸗ ken. (Sehr richtig! rechts). Meine Herren, die Sache liegt doch so, wenn wir mit ein paar Worten die Thatsachen streifen wollen die wesentliche Anschuldigung ging dahin, daß Herr von Hammer⸗ stein seinen Auftraggeber, das Comité der „Kreuz⸗Zeitung“, in seinem Vermögen geschädigt habe durch betrügerische Handlungen, Untreue, Unterschlagung, Wechselfälschung u. s. w. Diese Behauptung war aufgestellt in einem Frankfurter Blatt, in der „Kleinen Presse“. Ihr wurde von dem Herrn von Hammerstein mit der größten Entschiedenheit widersprochen, und er kündete eine Verleumdungsklage an. Aber nicht nur das. Auch die angeblich Geschädigten traten gegen diese Beschuldigung auf in öffentlichen Erklärungen. Das Comité der „Kreuz⸗Zeitung“ erklärte ausdrücklich, daß es nicht geschädigt sei. Nun möchte ich den Staatsanwalt sehen, der unter solchen Umständen es unternommen hätte, gegen Herrn von Hammer⸗ stein einzuschreiten. Wann ist die Sache in eine andere Lage gekommen? An dem Tage, glaube ich, an dem es öffentlich bekannt wurde, daß Herr von Hammerstein, wie er sich ausdrückte, beurlaubt, — wie es in der Erklärung des Comités hieß, von seinem Amte suspendiert sei: an diesem selhen Tage ist die Staatsanwaltschaft eingeschritten, ohne einen Antrag abzuwarten, also auf Grund dessen, was Herr Bebel eine Privatkenntniß nennen würde, die angeblich nur den Sozialdemokraten gegenüber zum Ein⸗ schreiten genügen soll. Das ist der Sachverhalt, und ich stehe dafür ein, daß die Staatsanwaltschaft in dieser Sache ihre volle Schuldigkeit gethan hat, mit aller Energie eingeschritten ist. Daß es ihr nicht gelungen ist, den Beschuldigten zu fassen, das liegt nicht an einem Mangel von Aufmerksamkeit ihrerseits.
Meine Herren, der Fall Stenglein geht mich ja weiter nichts an, und ich glaube, der Herr Abg. Enneccerus wird wohl in der Lage sein, dasjenige noch zu beleuchten, was der Herr Abg. Bebel darüber gesagt hat. Ich will nur aus diesen Ausführungen das Eine entnehmen, daß es mir zur Befriedigung gereicht hat, daß der Herr Abg. Bebel für die von ihm gestern ausgesprochene Beschuldigung gegen die Rechtsprechung des Reichsgerichts keinen anderen Belag beizubringen gewußt hat, als eine literarische Leistung eines Reichs⸗ gerichts⸗Raths. (Bravo! rechts.)
Abg. Dr. Enneccerus (nl.): Herr Bebel hätte besser gethan, anzuerkennen, daß er sich zu einem falschen Schritt habe hinreißen lassen, und daß er das bedauere. Daß er bei seiner Behauptung stehen bleibt, hätte ich nicht erwartet. Was er heute vorgelesen hat, bezog sich nicht auf die Rechtsprechung, sondern auf die Gesetzgebung, auf die Gestaltung der strafgesetzlichen Vorschriften. Der Redner verliest den Artikel theilweise und äußert, daß er das ÜUrtheil über Herrn Bebel der öffentlichen Meinung überlasse. Schließlich spricht der Redner auch noch über den dolus eventualis, der von den Richtern meist in sehr ungeschickter Weise angewendet werde.
Abg. Freiherr von Stumm (Rp.): Wenn Herr Bebel be⸗ streitet, daß die Tendenz einer Handlung als erschwerend in das Ge⸗ wicht falle, so muß er überhaupt die mildernden oder erschwerenden Umstände aus der Rechtsprechung entfernen. Die Sozialdemokratie als solche ist ja eine geborene Majestätsbeleidigung. Herr Bebel hat die Sozialdemokratie als ein Lämmlein weiß wie Schnee darge⸗ stellt. Hat Herr Bebel vergessen, daß er der internationalen Sozial⸗ demokratie angehört, daß offen erklärt worden ist: der Sozialdemokrat kennt kein Vaterland? Herr Engels war der Führer und hat die Pariser Kommune verherrlicht, die doch kein Lämmlein weiß wie Schnee war; er hat also die blutige, rothe Revolution verherrlicht. Es sind massenhaft F vorgebracht über die Aeußerungen der Sozialdemokratie in Bezug auf den gewaltsamen Umsturz; und nun soll das alles verleugnet werden. Jetzt ruft man die Verfassung und die Ges 8 zum Schutze an, während Sie sich auf das Unverfrorenste über Re t und Gesetz hinwegsetzen. Ich behaupte, daß Sie garnicht berechtigt sind, in diesem Saale zu sitzen. Nicht weil Ihnen das passive Wahlrecht nach meinem Vorschlage entzogen werden sollte, sondern weil nach § 32 der Verfassung die Reichstags⸗Abgeordneten keine Diäten be⸗ ziehen sollen. Sie beziehen aber Diäten, das ist allgemein bekannt. Ich weiß nicht, wie an anderen Stellen diese Bestimmung auf⸗ gefaßt wird, sonst würde ich einen Antrag stellen. Jedenfalls zeigen sich der Reichstag und die Regierung sehr konnivent Ihnen gegen⸗ über in Bezug auf die Anwendung der Gesetze. Der Reichskanzler hat vollkommen Recht, wenn er meinte, daß gegenüber der Zusammen⸗ setzung des Hauses keine Initiative möglich sei. Die Regierung muß darauf verzichten, eine Umsturzvorlage oder ein Ausnahmegesetz ein⸗ zubringen; deshalb muß sie um so schärfer vorgehen auf dem Ver⸗ waltungswege und auf dem Wege der Justiz. Herr von Köller hat diese schärfere Tonart zuerst einzuführen versucht, und alle Gut⸗ e. sind ihm dafür lebhaft dankbar. Ich wünsche, daß sein
kachfolger ebenso scharf sein wird. Wenn scharf vorgegangen wird und wenn auch die Affiltierten nicht geschont werden, so wird das einen guten Eindruck im Lande machen.
Reichskanzler Fürst zu Hohenlohe⸗Schillingsfürst:
Der Herr Abg. Bebel hat bestritten, daß die Worte, welche ich neulich zitiert und welche ich Herrn Abg. Liebknecht zugeschrieben habe, von diesem herstammen. Er sagt, daß sie von Bakunin herrühren. Es liegt mir hier eine Schrift vor, die heißt: „Zum Schutz und Trutz“. Es ist eine Festrede, gehalten bei dem Stiftungsfest des Kölnischen Volksvereins am 22. Oktober 1871, und zwar von dem Herrn Abg. Liebknecht. Da finde ich auf Seite 6 folgende Worte:
Das Wort Vaterland, das ihr im Munde führt, hat keinen
Zauber für uns. Vaterland in eurem Sinne ist uns ein über⸗
wundener Standpunkt, ein reaktionärer, kulturfeindlicher Begriff. u“
(Hört! hört! rechts.)
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Es heißt dann: 3 Die Menschheit läßt sich nicht in nationale Grenzen ein⸗ sperren u. s. w. Den Namen Bakunin habe ich in dieser Festrede nicht gefunden.
. Der Herr Abg. Bebel hat bemerkt, daß ich zu meinen Aeußerungen über die Sohzialdemokratie erst veranlaßt worden sei durch die Rede des Herrn Abg. von Kardorff, und zwar, daß ich daraufhin erst von der Nothwendigkeit von Maßregeln gegen die Sozialdemokratie gesprochen habe. Das ist ein Irrthum; in meiner ganzen Rede habe ich dargelegt, welche Ursachen zu der schärferen Verfolgung der sozialdemokratischen Partei und der Ausschreitungen derselben geführt hätten. Diese Ausschreitungen sind auch in keiner Weise durch sogenannte provokatorische Aeußerungen irgend einer Art hervorgerufen worden; wir haben allen Grund, gegen die Sozial⸗ demokratie vorzugehen, und wenn Aeußerungen der Entrüstung an einer bestimmten Stelle gefallen sind über das Gebahren der sozial⸗ demokratischen Partei in diesem Sommer, so sind dies berechtigte Aeußerungen (Sehr richtig! rechts), und ich werde mich hüten, dem Rathe des Herrn Abg. Bebel zu folgen und die betreffende Stelle abzuhalten, in kräftiger Weise auch künftig, wo es nöthig ist, ihrer Entrüstung Ausdruck zu geben. (Bravo)
Abg. Freiherr von Manteuffel (dk.): Mit der Bemerkung, daß
die Konservativen für den sozialdemokratischen Antrag auf Aufhebung aller Strafgeseparagraphen über die Majestätsbeleidigung stimmen müßten, hat sich Herr Bebel wohl nur einen Scherz erlauben wollen. Wir werden unsere bisherige Stellung zu den Majestätsbeleidigungen auch ferner aufrecht erhalten. Die Aeußerung in der Presse, daß wir bei der Abstimmung über den Antrag auf Einstellung des Straf⸗ verfahrens gegen den Abg. Liebknecht nicht sitzen geblieben, sondern, wie andere Parteien, aufgestanden wären, ist irrthümlich. Es war daran die unliebsame Bemerkung geknüpft, daß wir aus Furcht vor den bekannten Briefen milder gegen die Sozialdemokraten aufträten. Die Verwerthung von Privatbriefen, die auf irgend eine dunkle Art in die Hände politischer Gegner gelangt sind, halte ich unter allen Umständen für unanständig. Will man es thun, so thue man es doch. Bloße Drohungen sind lächerlich oder ordinär. Also heraus mit Ihren Briefen!
Abg. Liebknecht (Soz.): In meiner Broschüre heißt es: „Das Vaterland in ihrem Sinne ist ein reaktionärer Begriff“, und die Broschüre wendet sich an die Feinde des Volks und der Freiheit. Ich rede nicht von dem Vaterland, wie wir es verstehen, sondern von dem Vaterland der Hammersteine. Um ein Wort des französischen Schrift⸗ stellers Courier zu gebrauchen, triefen Sie stets von Patriotismus, wenn Sie irgend ein Attentat gegen die Freiheit des Vaterlands im Sinne haben. Diesen Patriotismus bekämpfen wir und alle solche Patrioten bekämpfen wir. Uebrigens ist diese Kampfesweise, beliebt von dem obersten Beamten des Deutschen Reichs, doch charakteristisch für die Art und Weise, wie man die Sozial⸗ demokratte bekämpft. Hätte ich in dieser Broschüre schlecht⸗ weg gesagt: das Vaterland ist ein reaktionärer Begriff, dann wäre dieses Zitat berechtigt, aber da ich mich gerade gegen die Gegner wende, war es nicht berechtigt. Bekämpft man uns so von oben, wie mag es erst unten geschehen! Herr von Manteuffel spricht von Briefen, die auf unanständige Weise in unseren Besitz ge⸗ kommen seien. Er verwechselt wohl die Redaktion des „Vorwärts“ mit der Redaktion der „Neuen Preußischen Zeitung“, die früher vielfach Briefe unanständiger Weise an die Oeffentlichkeit gebracht hat, sogar solche an Fürstliche Personen. Die Moral der Redaktion der „Neuen Preußischen Zeitung“ ist nicht die der Redaktion des „Vorwärts“. Was wir haben, ist auf anständigste Weise in unseren Besitz gekommen und wird gkgen die Gegner, wenn es nöthig ist, rücksichtslos gebraucht werden.
Abg. Bebel (Soz.): Herr Enneccerus und ich können uns nicht ver⸗ ständigen. Wenn er an das Urtheil der öffentlichen Meinung appelliert, so appelliere ich an das Urtheil aller derjenigen, die sich die Mühe geben wollen, den Artikel der „Zukunft“ genau zu lesen. Stenglein hat nicht den bestehenden Rechtszustand vertheidigt, sondern neue Wege der Gesetzgebung und Rechtsprechung haben wollen. Die Tendenz des Artikels ist entscheidend. Die in unseren Besitz gekommenen Briefe verwerthen wir, wie es uns paßt. Wenn die Herren (rechts) be⸗ haupten, daß sie Briefe von uns, wenn solche in ihre Hände fallen würden, nicht veröffentlichen würden, so erscheint mir das unwahr⸗ scheinlich. Was die „Kreuz⸗Zeitung“ in den fünfziger Jahren ver⸗ öffentlicht hat, das hat nie ein Blatt in ähnlicher Weise gethan. Dem Reichskanzler danke ich für seine Erklärung; es ist immer gut, wenn man klar sieht. Wenn es so weiter geht — uns schadet es nicht. Sie können Einzelne materiell zu Grunde richten, dafür treten Hunderte und Tausende neu ein. Es ist jammerschade, daß Herr von Stumm nicht Reichskanzler ist; dann wären wir schon weiter. Es würde aber auch sehr schnell der Tag kommen, an welchem er wieder gestürzt wird. Er sagte, er habe alle Ursache, Herrn von Köller für sein schneidiges Auftreten dankbar zu sein. Wir haben gegen diesen garnicht die Feindschaft, die Herr von Stumm voraussetzt. Wenn Herr von der Recke dieselben Wege einschlägt, dann soll er uns willkommen sein. Herr von Stumm hat deduzirt aus Art. 32 der Reichsverfassung, daß wir hier im Hause eigentlich garnicht berechtigt seien, weil wir Diäten beziehen. Daß wir Diäten beziehen, ist eine sehr alte Sache. Bismarck hat uns verklagen lassen und die Diäten zu Gunsten der Staatskasse einziehen lassen. 3 — 4000 ℳ hat er auf diese Weise der Parteikasse entzogen. Das können wir verschmerzen. Wenn irgend eine Partei bedürftig sein sollte, vielleicht die des Herrn von Stumm — wir sind bereit, auszu⸗ helfen. Ich habe mit der größten Zuversicht von dem Siege unserer Sache gesprochen; ich bin nicht harmlos, ich würde mich vor mir selber schämen, wenn mich jemand als einen harmlosen Menschen be⸗ trachten würde. Das Jahr des großen Kladderadatsch habe ich auch nicht prophezeit. Auch habe ich nicht gesagt, daß wir ihn herbeiführen würden, sondern nur, daß die kapitalistische Entwicklung der bürger⸗ lichen Gesellschaft, zumal wenn noch ein allgemeiner europäischer Krieg hinzutreten würde, nothwendig dazu führen müsse. Fürst Bismarck hat selbst einmal anerkannt, daß in der Kommune ein ganz gerechter Kern stecke. Der Abg. von Stumm meinte, wir gebärdeten uns wie Lämmlein, weiß wie Schnee und vergäßen, daß wir immer von einer „internationalen“ Sozialdemokratie sprächen. Wenn gesagt ist, wir kennten kein Vaterland, so kennen wir in der gegenseitigen Unterstützungsbereitschaft allerdings kein Vaterland, ebensowenig wie das Christenthum ein Vaterland kennt; alle Menschen sollen Brüder sein. Damit ist aber nicht gesagt, daß der Begriff Vaterland in einem allgemeinen Tohuwabohu untergeht. Ich habe weder erklärt, daß wir keine revolutionäre, noch daß wir eine Reformpartei seien. So lange wir hier im Reichstag sitzen, beweisen wir, daß wir eine Reformpartei sind. Ein gut Theil dessen, was hier durchgeführt ist, haben wir veranlaßt. Fürst Bismarck hat 1884 im Reichstag selbst onerkannt, daß die Furcht vor der Sozialdemokratie ein wichtiges Moment für die Arbeiterschutzgesetzgebung gewesen sei.
Abg. Freiherr von Stumm (Rp.): Die letzten Ausführungen des Abg. Bebel sind unrichtig. Ich habe 1873 die Arbeiterversiche⸗ rung auf Grundlage des Knappschaftswesens vorgeschlagen. Damals ist kein Mensch darauf eingegangen; ich wurde ausgelacht. Aber aus Furcht vor der Sozialdemokratie habe ich den Vorschlag nicht gemacht. Selbst wenn die, Regierung aus Furcht die Vorlage gemacht hätte, so ist das noch kein Verdienst für die Sozialdemokratie; da hat wieder einmal die Kraft, die das Böse will, das Gute ge⸗ schaffen. Engels hat erklärt, daß er die Diktatur des Proletariats wolle, und auf die Kommune verwiesen. Es ist mir mitgetheilt worden, daß aus allen anderen Parteien der Berliner Armenpflege Unterstützungen zufließen, nur nicht aus sozialdemokratischen Kreisen, welche die Parteikasse gebrauchen für die Unterhaltung der Partei⸗ verwaltung. —
Abg. Singer (Soz.): Ich möchte Herrn v. Stumm bitten, mitzutheilen, wer ihm das Märchen aufgebunden hat, daß die sozial⸗ demokratische Parteikasse eine Aufforderung der Berliner Armenpflege 8 abgelehnt habe. Es ist ganz unmöglich, daß die Berliner Armen⸗ pflege an eine politische Partei herantritt. weiß wirklich nicht, ob derjenige, der es erzählt hat, oder derjenige, der es geglaubt hat, mehr Naivetät besitzt. Ich kann Ihnen sagen, daß es keine Partei giebt, die mehr zur Unterstützung Bedürftiger thut, als unsere Partei. Es kommen oft Leute zu mir, welche trotz ihrer konservativen Ge⸗ sinnung von Konservativen nicht unterstützt worden sind. Vielleicht erzählt Herr von Podbielski Herrn von Stumm einen Fall nach dieser Richtung hin. Ich könnte auch verweisen auf die musterhafte Hal⸗ tung der Sozialdemokraten bei der Cholera⸗Epidemie in Hamburg. Die Parteigenossen oder die der sozialen Stellung des Herrn von Stumm angehörigen Personen haben Hamburg verlassen und sind erst nach dem Erlöschen der Cholera zurückgekehrt. Sie wissen, daß einem Weber wegen seiner sozialdemokratischen Gesinnung eine Unter⸗ stützung zur Verbesserung seines Webstuhles verweigert wurde, dem nun aus der Parteikasse Unterstützung gewährt wurde.
Abg. Freiherr von Stumm (Rp): Ich will nicht bestreiten, daß die Sozialdemokratie viel thut, wenn es sich um Unterstützungen zu politischen Zwecken handelt. Ich habe nicht von Parteien gesprochen und von der städtischen Armenpflege, sondern von der freiwilligen Armenpflege und von den Parteikreisen.
Abg. Vielhaben (Refp.) bestreitet, daß in Hamburg in erster Linie die Sozialdemokraten bei der Cholera mitgearbeitet hätten. Im Gegentheil, erklärt Redner, es mußte dafür gesorgt werden, daß die Unterstützung nicht in verkehrte Arbeiterhände kam. Die Arbeiter gingen auf den Bauten umher und forderten die Arbeiter auf, doch nicht zu arbeiten, sie könnten ja ohne Arbeit 3 ℳ Unterstützung be⸗ kommen. Deshalb wurde ein Arbeitsnachweis eingerichtet und nur wer die Bescheinigung dieses Nachweises brachte, daß er keine Arbeit erhalten könne, erhielt “
Abg. Frohme (Soz.): Als die Seuche in Hamburg ihren Höhe⸗ punkt erreicht hatte, wandte sich die Polizeibehörde direkt an die sozialdemokratische Organisation mit dem Ersuchen um Unterstützung, und diese Unterstützung ist in ausgiebigster Weise gewährt worden. Das im Reich gesammelte Geld ist zweckentsprechend verwendet worden ohne Ansehen der Partei, und es ist ein Märchen, daß wir den Leuten gesagt haben: Arbeitet doch nicht, ihr werdet ja unterstützt. Die offiziellen Unterstützungen waren in der Regel so knapp, daß kaum der äußersten Noth gesteuert werden konnte. Wir rühmen uns unserer That nicht, wir haben unsere Schuldigkeit gethan und bewiesen, wie unbegründet die Anzapfungen sind, daß die Sozial⸗ demokraten für ihre Mitmenschen kein Herz haben.
Damit schließt die erste Berathung des Etats.
Auf Antrag der Abgg. von Massow und Genossen wird hierauf eine ganze Reihe von Etatspositionen der Budgetkommission zur Vorberathung überwiesen. 1
Schluß 5 Uhr. Nächste Sitzung: Freitag 1 Uhr.
Statistik und Volkswirthschaft.
Die Reformbestrebungen im Sp nach den statistischen Feststellungen im Königreich Sachsen.
Als zu Beginn der achtziger Jahre in Deutschla ie Einführung der in England, Belgien, Italien, Holland, Frankre nd Oesterreich anscheinend mit gutem Erfolge thätigen Einrichtung der Postspar⸗ kassen ernsthaft erörtert wurde, fand der Plan eine lebhafte Gegner⸗ schaft namentlich auch se vieler Vertreter und Förderer unseres bisherigen, nach vielen Richtungen trefflich bewährten Sparkassen⸗ wesens. Man fürchtete, daß diesem in den Postsparkassen eine schädigende Konkurrenz erwachsen würde. Von den Befürwortern der Postsparkassen wurde neben der besonders in die Augen springend Vermehrung der Annahmestellen für Spareinlagen vor allem auf das leicht damit zu verbindende und anderwärts mit Erfolg damit verbundene Sparmarkenwesen, durch welches auch die Anlegung der kleinsten Ersparnisse ermöglicht wird, und auf die durch die Postspar⸗ kassen, in vollkommenstem Maße erreichbare Uebertragbarkeit der Spareinlagen hingewiesen. Diese Vorzüge der Postsparkassen wurden im allgemeinen auch von den Gegnern anerkannt; nur meinten diese, daß das bereits so hoch entwickelte System der deutschen Sparkassen nach Durchführung geeigneter Reformen sehr wohl auch in dieser Richtung allen Bedürfnissen genügen könne. Die Postsparkassen seien deshalb in Deutschland zum mindesten nicht mehr nöthi
Dementsprechend haben sich nun seit Mitte der achtzi in Deutschland, auch als das Projekt der Postspa mehr auf der Tagesordnung stand, sehr dankenswerthe Reform⸗ bestrebungen auf dem Gebiete des Sparkassenwesens in der bezeichneten Richtung geltend gemacht, und nicht am wenigsten hat man im Königreich Sachsen sich die Vervollkommnung der Sparkassen in diesem Sinne angelegen sein lassen. Es ist deshalb von Interesse, daß in dem jetzt erschienenen Heft 1 und 2 des 41. Jahrgangs 1895 der „Zeitschrift des Königlich Sächsischen Statistischen Bureaus“ ein Aufsatz „Die Sparkassen im Königreich Sachsen 1886 bis 1893“ von Dr. Georg Wächter den Erfolgen, welche die betreffenden Reform⸗ bestrebungen nach Ausweis der sächsischen Statistik gehabt haben, eine eingehbende Berücksichtigung zu theil werden läßt.
Was zunächst die Vermehrung der Spargelegenheit durch Neuerrichtung von Annahmestellen anbelangt, so ist die Zahl der Sparkassen im Königreich Sachsen von 200 im Jahre 1886 auf 232 im Jahre 1893 gewachsen. Um der sparenden Bevölkerung den Ver⸗ kehr mit den Sparkassen möglichst zu erleichtern, unterhalten einzelne Sparkassen außer der Hauptgeschäftsstelle noch Agenturen oder Filialen. Derartige Einrichtungen bestanden 1886 bereits bei 10 Sparkassen, und zwar 24 Filialen und 8 Annahmestellen; im Jahre 1893 dagegen hatten 14 Sparkassen zusammen 18 Filialen und 28 Annahmestellen. Der Verfasser des oben erwähnten Aufsatzes be⸗ merkt mit Recht hierzu; „Die Zahl der Filialen und Annahmestellen ist danach verhältnißmäßig gering und könnte zur Förderung des Sparens zunächst vielleicht in größeren Städten . . . noch vermehrt werden; denn es unterliegt keinem Zweifel, daß Filialen und Annahme⸗ stellen das Sparen außerordentlich erleichtern und fördern, ihre Unter⸗ haltung aber, besonders wenn sie sich in demselben Orte mit der Hauptkasse befinden, weder große Aufwendungen erfordert, noch Schwierigkeiten verursacht.“
Das System der Sparmarken, durch welches in Sachsen schon Beträge von 5 und 10 Pfennigen angelegt werden können, hatte dort bereits 1881 Bürgermeister Bauer in Burgstädt angeregt und damit vielen Anklang gefunden. Binnen wenigen Jabren hatte, wie unser Gewährsmann mittheilt, die Mehrzahl der sächsischen Spar⸗ kassen das Sparmarkensystem eingeführt und namentlich im Anfa auch guten Erfolg damit erzielt. Der Sparmarkenverkauf belief si im Jahre 1886 auf 1 215 525 Stück mit einem Werth von 114 469 ℳ Gegen Einreichung der Sparkarten wurden 1886 nicht weniger als 6567 neue Bücher ausgestellt. „Die Erfolge des Sparmarkensystems“ — so fährt der Verfasser fort — „nach dem Jahre 1886 berechtigen zu der Annahme, daß in der ersten Hälfte der achtziger Jahre der Reiz der Neuheit den M auf wesentlich gefördert hat; denn seit dem Jahre 1886 hat sich sowohl die Zahl der Verkaufsstellen, als auch Zahl und Werth der verkauften Marken ungemein verringert.“ Während 1886 im Königreich 1748 Markenverkaufsstellen gezählt wurden, waren Ende 1893 nur noch 756 vorhanden; 32 Sparkassen hatten bis 1892 das vorher eingeführte Markensystem wieder auf⸗ gehoben, der Sparmarkenverkauf Lng von 1 215 525 Stück im Werthe von 114 469 ℳ im Jahre 1886 auf 366 192 im Werthe von 31 929,6 ℳ im Jahre 1893 zurück. Nach des Verfassers Ansicht rechtfertigen jedoch die Resultate, welche einzelne“ Sparkassen mit dem Sparmarkensystem erzielt haben, die Annahme, daß „unter ge⸗ wissen Voraussetzungen“ dasselbe sich dauernd einbürgern könnte. „Ganz ähnliche Erfahrungen“ — sagt der Verfasser —, „wie