ebensfähig zu bezeichnen sind. Lebensfähig sind die Gerichte nur, wenn sie eine gewisse Anzahl von Geschäften und genügende Gelegen⸗ heit zur Beschäftigung der Richter, Niederlassung von Rechtsanwalten u. s. w. geben. Die Kommission hat nun allerdings eine Entlastung durch die Erweiterung der Schöffengerichte in Aussicht genommen, und da ist es ganz erwünscht, daß die erste Instanz bei den Landgerichten nur mit drei Richtern besetzt ist. Schon jetzt reicht die Arbeitskraft des Vorsitzenden nicht aus, um ein volles Pensum für die Beisitzer zu schaffen. Wenn also die Zahl der Beisitzer auf zwei vermindert wird, wird ein normales Verhältniß zwischen der Thätigkeit der Vorsitzenden und der Beisitzer hergestellt werden. Aus diesen organisatorischen Gründen und finanziellen Rücksichten muß die Regierung den größten Werth darauf legen, daß es bei den Be⸗ schlüssen Ihrer Kommission bleibt. Die Klage, daß es an geeigneten Kräften für die Schöffen fehlen würde, ist nicht unbegründet. Nach den Zahlen von 1893 haben wir in einem Jahre 150 000 Schöffen⸗ diensttage bei den Amtsgerichten und 66 000 Geschworenendiensttage bei den Schwurgerichten. Danach würden nach dem Antrag Rem⸗ bold hinzutreten in der ersten Instanz 34 000 Schöffentage, in der zweiten Instanz 16 000 und für die Ober⸗Landesgerichte 16 400 Dienst⸗ tage. Der Wortlaut des Antrags Rembold würde auch dazu führen, zu den Revisionsverhandlungen der Ober⸗Landesgerichte Schöffen hinzu⸗ ziehen. Das ergiebt insgesammt ein Mehr von rund 70 000 Dienst⸗ tagen für Schöffen und Geschworene. Das würde dazu führen, daß namentlich bei den Ober⸗Landesgerichten die Schöffen aus der weiteren Umgebung herangezogen würden, welche die lokalen Verhältnisse nicht kennen würden. 1 Abg. Stadthagen (Soz.): Wenn die erste Instanz mit den nöthigen Garantien umgeben ist, kann jede Berufung fallen. Das Volk will nur eine gerechte Rechtsprechung und begnügt sich mit einer vollständig gesicherten ersten Instanz. Der Antrag Rembold ist deshalb bedenklich, weil nicht aus allen Bevölkerungsklassen die Schöffen und Geschworenen genommen werden. Er vß daher ergänzt werden durch die Umgestaltung der Auswahl der Geschworenen und Schöffen, und es müßte für die zu diesem Dienst Herangezogenen eine Entschädigung gewährt werden. Dem gelehrten Richter kann man keinen Vorwurf daraus machen, daß er das werkthätige Leben nicht kennen lernt; seine Vorbildung sorgt nicht dafür. Wei dem Ge⸗ werbegericht z. B. wird der Vorsitzende meist erst durch die Beisitzer über die thatsächlichen Verhältnisse aufgeklärt. Der Grund der zu hohen Kosten steht meinem Verständniß vollständig fern. Der Reichs⸗ tag sollte durch die Drohung, daß die Vorlage unannehmbar werden würde, sich nicht schrecken lassen. Kaiserlicher Geheimer Ober⸗Regierungs⸗Rath von Lenthe: Das deutsche Volk mag unter Umständen glauben, daß bei den Gerichten Miß⸗ griffe vorgekommen seien; aber die Kreise, in welchen das Vertrauen an der Gerechtigkeit unserer Gerichte geschwunden ist, sind, Gott Lob, sehr klein. Ich kann nicht zugeben, daß ich dem Fünf⸗Männer⸗Kollegium den Vorzug vor dem Drei⸗Männer⸗Kollegium gegeben hätte. Die Schöffen und Geschworenen werden jetzt von einem Ausschuß gewählt, der aus einem Verwaltungsbeamten, einem Amtsrichter und sieben Vertrauensmännern des Bezirks besteht; ob aber die nach dem Wunsche des Abg. Stadthagen durch das Loos ge⸗ wählten Laienrichter dasselbe Vertrauen genießen werden wie die jetzigen Schöffen ist zweifelhaft. Abg. Lerno (Zentr.): Vollkommene Uebereinstimmung herrscht darüber, daß die Berufung wieder eingeführt werden soll. Ich könnte es vor meinen Wählern nicht verantworten, wenn jetzt, nachdem die Sache vollständig reif geworden ist, die Vorlage nicht zu stande kommen würde. Eine Verständigung auf dem Boden des Kommissions⸗ beschlusses müßte doch leicht herbeizuführen sein, denn derselbe bringt keine Verschlechterung, sondern eine Verbesserung dahin, daß an die Stelle der fünf Richter ohne Berufung drei Richter mit Berufung treten. Die Sache spitzt sich auf die Geldfrage zu. Zu beachten bleibt aber, daß nicht etwa von fünf Richtern zwei er⸗ spart werden; denn die Ausdehnung der Zuständigkeit der Straf⸗ kammern fordert eine erhebliche Mehrarbeit; nur in einzelnen Fällen wird vielleicht eine Ersparung an Personal gemacht werden können. Für den Antrag Rembold kann ich mich nicht erwärmen, weil dadurch
die Bevölkerung und auch die Richter erheblich belastet werden. Wenn die Schöffen bei den Strafkammern eingeführt werden und bei
den Ober⸗Landesgerichten, dann graben wir damit den Schwurgerichten den Boden ab. An unseren Schwurgerichten wollen wir aber nicht rütteln, deshalb stimme ich gegen den Antrag Rembold. Im Interesse der Durchbringung der Vorlage könnten wir Bayern uns schließlich nur schweren Herzens bereit erklären, dafür zu stimmen; ich bitte in erster Linie für den Antrag Munckel zu stimmen.
Abg. Dr. Pieschel (vol.): In der Kommission bin ich selbst als An⸗ hänger des Laienelements aufgetreten. Wir müssen aus dem Wider⸗ spruch unseres Rechtssystems, daß manche Gerichte mit Laien besetzt sind, manche nicht, herauskommen. Wir könnten über die Berufungs⸗ frage hinwegkommen, wenn das Revisionsgericht die Kompetenz er⸗ hielte auch die Thatfragen zu prüfen. Ich wünsche ferner, daß die unterste Instanz in die Lage komme, die Thatsachen selbst möglichst
vollständig aufzuklären, daß Einrichtungen geschaffen werden, mit Hilfe deren die Sachen selbst besser vorbereitet vor das Gericht kommen als b legt, daß also ein gutes Vorverfahren durchweg eingeführt wird. Das Vorverfahren muß nicht nur von der Polizei, sondern auch von einem Richter geleitet werden; dann würden viele Unschuldige garnicht erst auf die Anklagebank kommen. Darauf möchte ich das Schwergewicht legen. Dann hätten wir viel weniger Strafprozesse und weniger un⸗ schuldig Verurtheilte. Wir geben zu, daß fünf Männer besser sind als drei, wir werden aber, wenn es nicht anders geht, auch für die drei Männer stimmen.
Nach einer kurzen Erklärung des Geheimen Ober⸗Justiz⸗ Raths Vierhaus tritt der Abg. Rembold (Zentr.) nochmals für seinen Antrag ein.
. Abg. Stadthagen (Soz.) stellt zunächst aus dem stenograp ischen Bericht fest, daß der Justiz⸗Minister am 12. Dezember 1895 Folgen⸗ des gesagt habe: „Nun ist es ein alter Grundsatz in der Rechtsprechung und in der Rechtswissenschaft: si duo faciunt idem, non est idem, wenn Zwei dasselbe thun, so ist es nicht dasselbe.“ Redner fährt dann fort: Ich hielt es für meine Pflicht, der Behauptung, ich agitierte nicht aufklärend, sondern dadurch, daß ich falsche Be⸗ hauptungen aufstellte, durch die wörtliche Verlesung der betreffenden Stelle entgegenzutreten. Der Justiz⸗Minister hat Unrecht, wenn er glaubt, daß der „Vorwärts“ jenen Grundsatz auf Terenz zurückführt. ie Sache hat in unserem Organe, der „Neuen Zeit“ gestanden; dort ist festgestellt, daß jener Grundsatz im Terenz enthalten ist. Justiz⸗Minister Schönstedt: Nur ganz wenige Worte. Der Herr Rechtsanwalt Stadthagen (Heiterkeit) hat wiederum sein Lieblingsthema angeschlagen. Er hat es zu meinem Bedauern versäumt, aus dem stenographischen Bericht der Verhandlung vom Dezember des vorigen Jahres auch die Sätze vorzulesen, die auf meine von ihm wiederholte Aeußerung folgten; wenn er das gethan hätte, würde der Sinn meiner Aeußerung klar sworden sein. Ich lege aber darauf keinen weiteren Werth. Was die wissenschaftliche Quellenkunde des Vorwurfs angeht, so will ich mich hierin nicht weiter vertiefen. Die neueste Auflage von Büch⸗ mann’s „Geflügelten Worten“ scheint dem Herrn Abg. Stadthagen icht zugänglich gewesen zu sein; wahrscheinlich hat sie aber auf der Redaktion des „Vorwärts“ oder der „Neuen Zeit“ gelegen. Da findet sich auch der Ausspruch aus dem Terenz. Wörtlich ist er ihm cht entnommen, aber er ist einer Stelle aus dem Terenz nach⸗ gebildet. Mun, meine Herren, gestatten Sie mir noch einige Worte zur Sache selbst. Ich habe zu meinem Bedauern der heutigen Verhandlung wegen einer dringenden Sitzung des Staats⸗Ministeriums nicht bei⸗ wohnen können, bin deshalb auch nicht in der Lage, mir ein Urtheil
darüber zu bilden, wie die heutige Debatte verlaufen ist, welche Gründe gegen die vorliegenden Anträge seitens der Herren Kom⸗ missarien und welche Gründe für die Anträge aus der Mitte des Hauses vorgebracht worden sind. So lange ich hier war, hatte ich den Eindruck, daß sich die Diskussion in eine Generaldebatte zu ver⸗ laufen schien, und ich finde das an sich nicht ungerechtfertigt, weil gerade der § 77 und die dazu gestellten Anträge von der größten Bedeutung für den Inhalt und das ganze Schicksal des Gesetzes sind. Es handelt sich um zweierlei Anträge, die wohl hauptsächlich den Gegenstand der Diskussion gebildet haben werden: einmal um die Besetzung der Strafkammern in erster Instanz, ob mit drei oder mehr Mitgliedern, und zweitens um die Einführung der Schöffengerichte. Nur der erste Antrag ist Gegenstand der Be⸗ rathung in der Kommission gewesen, und da ist von seiten des Herrn Staatssekretärs die bestimmte Erklärung abgegeben worden, daß die Besetzung der Strafkammern erster Instanz mit fünf Mitgliedern die Vorlage für die verbündeten Regierungen unannehmbar machen würde. Ich glaube Werth darauf legen zu müssen, ausdrücklich zu erklären, daß inzwischen nichts eingetreten ist, was nach meiner Meinung die verbündeten Regierungen zu einer anderen Stellungnahme gegenüber dieser Frage veranlassen könnte Ich glaube allerdings, daß an dieser Frage die ganze Vorlage scheitern kann, und ich möchte deshalb diejenigen Herren, die wie die verbündeten Regierungen ernst⸗ lich gewillt sind, die Vorlage mit den erheblichen Verbesserungen, die sie nach unserer Auffassung und nach der Auffassung Vieler in diesem Hause bringt, wirklich durchzubringen, bitten, es bei den Beschlüssen der Kommission bewenden zu lassen und nicht den Versuch zu machen, darüber hinauszugehen. Es ist, wie wahrscheinlich in den Ver⸗ handlungen hervorgetreten ist, eine Frage theils finanzieller, theiks organisatorischer Natur. Wenn ich die finanzielle Seite kurz berühre, so mag es ja im allgemeinen richtig sein, und der Satz spricht sich leicht aus, daß der Staat immer Geld haben müsse für die Bedürfnisse der Rechtspflege, daß es ihm niemals daran fehlen dürfe. Es giebt aber doch eine gewisse Grenze. Der Herr Finanz⸗ Minister hat seinerseits eine Berechnung angestellt, daß die Durch⸗ führung der Vorlage, wie sie von der Regierung geplant war, einen jährlichen Mehraufwand von 5 Millionen in Preußen allein zur Folge haben werde. Nun sind schon eine Reihe von Veränderungen in der Regierungsvorlage beschlossen, die theilweise die Unterlagen dieser Berechnung verschieben, und zwar zu Ungunsten der staatlichen Finanzen. Meinerseits vertrete ich nicht die Richtigkeit dieser Ver⸗ anschlagung. Ich bin vielmehr der Ansicht, daß der Mehraufwand nicht so bedeutend sein wird, aber immerhin wird es sich um sehr erhebliche Summen handeln. Deshalb meine ich, daß alles vermieden werden muß, was diesen Kostenaufwand weiter zu erhöhen geeignet ist. Diese Gesichtspunkte können nicht außer Acht gelassen werden, und wenn auch der Reichstag nicht die Mittel dafür zu bewilligen hat, sondern die einzelnen Landtage, so kann sich der Reichstag nicht über das, was von den einzelnen Staaten in dieser Beziehung zu leisten sein wird, vollständig hinwegsetzen. Schließlich ist es die Bevölkerung, welche die Mehrkosten zu tragen hat. Für die Finanzverwaltung ist nach der Stellung, die sie der Vorlage gegenüber eingenommen hat und von der sie, wie ich glaube, nicht abgehen wird, ganz entschiedene Voraussetzung, daß an der Besetzung der Kammern erster Instanz mit nur 3 Richtern festgehalten werden muß.
In organisatorischer Beziehung wird dadurch die Möglichkeit erreicht, unsere Landgerichte mit einer kleineren Zahl von Richtern zu besetzen und dadurch einen entsprechenden Theil der Ausgaben für die Besetzung dieser Gerichte zu ersparen.
Nun ist ja vielfach die Meinung verbreitet, und man hört cs außerordentlich oft, daß unsere Gerichte allgemein überbürdet seien, daß viel zu wenig Richter angestellt seien, daß eine erhebliche Ver⸗ mehrung der Zahl der Richter durchaus geboten sei. Diese Behauptung ist nur in beschränktem Maße richtig. Es giebt allerdings Gerichte, namentlich in den großen Städten, die unter einer sehr bedeutenden Geschäfts⸗ last zu leiden haben, ihnen gegenüber steht aber eine große Zahl kleiner Gerichte, namentlich in den Provinzen, die durchaus ungenügend be⸗ schäftigt sind. Nach der bestehenden Organisation muß in Preußen jedes Landgericht mindestens mit acht Mitgliedern: einem Präsidenten, einem Direktor und sechs Richtern, besetzt sein. Wir haben aber eine ganz bedeutende Zahl von Gerichten, deren Arbeitspensum nicht an⸗ nähernd an dasjenige heranreicht, was nach den in der Ver⸗ waltung bestehenden Grundsätzen als für ein Gericht mit solcher Besetzung angenommen wird. Der sogenannten Pensenberechnung, wenn ich davon reden darf, liegt das Ergebniß Jahrzehnte langer sorgfältiger Beobachtungen und vergleichender Wahrnehmungen zu Grunde, und sie sind im all⸗ gemeinen als zutreffend anzusehen. Nun ergiebt sich daraus, daß, wie ich eben sagte, bei einer großen Zahl von Gerichten das Arbeitsmaß weit hinter demjenigen zurückbleibt, das ihrer Besetzung entsprechen würde. Ich finde hier z. B. für das Landgericht Brieg nur ein Arbeitspensum von 6,03, für Marburg: 5,24, für Aurich: 4,68, für Stade: 6,93, für Kleve: 4,96, für Hechingen, das ja eine Sonderstellung einnimmt, 1,90, für Braunsberg 3,89, für Memel 5,36. Ich will Sie mit den Zahlen nicht länger aufhalten, ich könnte die Reihe noch erheblich vermehren.
Nun ist es ein alter preußischer, und, wie ich glaube, guter Grundsatz, daß wir nicht wünschen, Behörden ins Leben zu rufen und zu erhalten, die nicht genügend beschäftigt sind. Ich halte es für ein Unglück, wenn eine Behörde nicht ausreichend beschäftigt ist; nach meiner Erfahrung leistet sie durchgängig keineswegs Besseres als eine vollauf beschäftigte Behörde, bei der die Arbeitskraft der Mit⸗ glieder immer in gehöriger Anspannung bleibt. Also auch von diesem Gesichtspunkt muß ich es für dringend wünschenswerth erklären, daß den Regierungen die Möglichkeit gegeben werde, die Besetzung der kleinen, wenig beschäftigten Landgerichte herabzusetzen. Die Zahlen, welche ich Ihnen soeben gegeben habe, werden sich noch nicht unwesentlich verschieben, und zwar nach unten hin, wenn die in der Vorlage in Aussicht genommene Erweiterung der Kompetenz der Schöffengerichte und die damit in Beziehung stehende Verringerung der Kompetenz der Land⸗ gerichte zur Ausführung kommt. Es wird auf dem Gebiet des Straf⸗ rechts eine ganz erhebliche Eatlastung der Landgerichte eintreten, die keinen Ausgleich findet durch die seitens der Regierung verlangte, aber noch nicht bewilligte Beschränkung der Schwurgerichtszuständig⸗ keit. Also, meine Herren, auch diese Gesichtspunkte bitte ich nicht außer Acht zu lassen,
Was nun die Ausdehnung der Schöffengerichte angeht, so
1.“
normales Arbeitspensum
glaube ich schon erwähnt zu haben, daß diese Frage in der Kom⸗ mission garnicht zur Sprache gekommen ist, und da ist cs doch auf⸗ fallend, daß nach Schluß der außerordentlich eingehenden und lange dauernden Berathung und nach Abschluß des Berichts ein solcher An⸗ trag noch gestellt wird, der die mittleren und größeren Schöffengerichte im Deutschen Reich einführen will. Meine Herren, ich begreife voll⸗ kommen, daß für diese Institution in weitesten Kreisen ein lebhaftez Interesse besteht, ich verkenne auch nicht das Gewicht der Gründe die gestern von dem Herrn Antragsteller Rembold für die Einführung der Schöffengerichte in diesem Umfange vorgebracht worden sind. Ich begreife es, daß an der Spitze dieses Antrags zwei Herren aus Württemberg stehen, weil gerade in Württemberg eine ähnliche Ein⸗ richtung schon vor 1879 bestanden und sich, glaube ich, im allgemeinen wohl bewährt hat. Meine Herren, man kann für dieses Institut sich auf das lebhafteste interessieren und erwärmen, man braucht aber deshalb noch nicht zuzugeben, daß das Institut überall durch⸗ führbar sei.
Ich glaube das Beste und Eingehendste, was für die Einführung der mittleren und großen Schöffengerichte gesagt worden ist, findet sich in der Denkschrift, die seiner Zeit der preußische Justiz⸗Minister Leonhardt zu Anfang der 70 er Jahre, als es sich um die ersten Vor⸗ arbeiten für eine deutsche Gerichtsverfassung handelte, hat anfertigen lassen. Dieser Entwurf war in so weit konsequenter wie der jetzt gestellte Antrag, als er die viel gerügte Prinzipienlosigkeit der jetzt bestehenden, damals ja erst geplanten Organisation beseitigen wollte, die darin liegt, daß auf der untersten mischte Gerichte, in der Mittelstufe nur gelehrte und für die schwersten Verbrechen Schwurgerichte bestehen, — und zwar beseitigen dadurch, daß in allen Stufen Schöffengerichte eingeführt werden sollten, also auch an Stelle des Schwurgerichts. Diese Konsequenz haben die Herren Antragsteller hier nicht gezogen und ich muß doch einen Mangel an Folgerichtigkeit darin finden, daß sie nicht so weit gegangen sind. Es interessierte sich nun für die Idee der Einführung der großen Schöffengerichte der Justiz⸗Minister Leonhardt auf das allerlebhafteste; trotz⸗ dem hat er im Laufe der weiteren Erwägungen davon abgesehen, seine Gedanken in die Gestalt eines Gesetzentwurfs einzu⸗ kleiden, und dazu ist er gekommen auf Grund der über die Durch⸗ führbarkeit in Preußen angestellten thatsächlichen Ermittelungen. Es sind damals die sämmtlichen Appellationsgerichte zum Bericht auf⸗ gefordert worden. Diese Berichte wurden damals noch kollegialisch erstattet, nicht wie heute vom Präsidenten in Verwaltungssachen allein, und fast ausnahmsweise haben sich diese Berichte gegen die Möglichkeit und Durchführbarkeit dieser Organisation aus⸗ gesprochen, und zwar deshalb, weil das nothwendige Material in einem großen Theil der Bezirke nicht zu haben sein werde. Nun, meine Herren, weiß ich nicht, wie sich die Sache in anderen deutschen Staaten stellen würde. Als Mitglied des preußischen Staats⸗ Ministeriums und Vertreter Preußens im Bundesrath, muß ich aber Bedacht darauf nehmen, daß uns keine Institutionen geschaffen werden, deren Durchführung in Preußen mit den allergrößten Schwierigkeiten zu kämpfen haben würde.
Meine Herren, seit jene Erhebungen angestellt wurden, haben sich die Anforderungen an das Laienpublikum auf Grund der weiteren Entwickelung unserer Selbstverwaltungsgesetze in außerordentlicher Weise vermehrt (sehr richtig! rechts), und alle Tage hören Sie klagen darüber, daß die Bevölkerung den Anforderungen, die unter diesen Gesichtspunkten an sie gestellt werden, nicht mehr ohne die allergrößten Belästigungen gewachsen sei. Im preußischen Landtag, sowohl im Abgeordnetenhause wie im Herren⸗ hause, sind diese Klagen wiederholt laut geworden. Es handelt sich dabei nicht nur um den Gerichtsdienst, es handelt sich um den Dienst in den Kreis⸗ und Bezirksausschüssen, um den Dienst auf dem Gebiete der Gewerbe⸗, der Steuer⸗ und der Wohlfahrts⸗ gesetzgebung; überall hat hier die neuere Gesetzgebung in erheblich erweitertemn Maße eine Betheiligung des Laienpublikums an den Geschäften der Staatsverwaltung zur Folge gehabt. Kurz, meine Herren, schon die bestehenden Anforderungen sind so große, daß sie zu lebhaften Beschwerden vielfach Anlaß gegeben haben. Sollen diese Anforderungen noch erhöht werden, so habe ich die Befürchtung, daß namentlich in den östlichen weniger bevölkerten Provinzen die Grenze der Leistungsfähigkeit über⸗ schritten werden wird. Es ist nach meiner Erinnerung sogar aus dem westfälischen Industriebezirk dahin berichtet worden, daß nicht ein⸗ mal dort das nöthige Material für den erweiterten Schöffendienst zu finden sein werde. Wie viel mehr würde dies im Osten der Fall sein! Es haben nun auch Berechnungen in den Zeitungen gestanden, nament⸗ lich in der „National⸗Zeitung“ vor einigen Tagen ein Artikel, ich glaube von einem Bremischen Richter Cordes, worin zahlenmäßig die An⸗ forderungen bei Einführung der mittleren Schöffengerichte an das Laienpublikum als nicht übermäßige dargestellt werden. Diese Be⸗ rechnungen beruhen, wie ich bei flüchtiger Prüfung zu er⸗ sehen glaube, doch nicht überall auf zuverlässigen Grundlagen. Ich weiß nicht, ob vielleicht einer der Herren — (Zuruf) — So, wenn das also schon gesagt ist, dann brauche ich es nicht zu wiederholen. .
Also, meine Herren, bei der vorgerückten Zeit will ich Sie nicht länger aufhalten; ich wiederhole nur, der Antrag auf Besetzung der Strafkammern erster Instanz mit mehr als drei Richtern begegnet noch jetzt demselben Widerstand seitens der ver⸗ bündeten Regierungen, den der Herr Staatssekretär des Reichs⸗ Justizamts in der Kommission zum Ausdruck gebracht hat, und die Annahme des Antrages, die Schöffengerichte einzuführen, dieses gewissermaßen improvisierten Antrags, der ohne alle Vorberei⸗ tung in die durch gründliche Kommissionsberathung zum Abschluß ge⸗ brachte Vorlage hineingekommen ist, würde nach meiner festen Ueber⸗ zeugung nur die Folge haben, daß diese ganze Vorlage von der Tagesordnung verschwinden und voraussichtlich in absehbarer Zeit eine gleiche Vorlage nicht wieder von der Reichsregierung eingebracht
werden würde.
Damit schließt die Diskussion. Der Antrag der Abgg. Munckel und Rickert wird gegen die Stimmen der Konservativen und National⸗ liberalen mit großer Mehrheit angenommen; es bleibt also bei der gegenwärtigen Zusammensetzung der Strafkammern. Die weitere Berathung wird hierauf vertagt. Präsident Freiherr von Buol: Ich habe dem Hause mit⸗ zutheilen, daß eine Interpellation des Abg. Grafen Hompesch (Zentr.) und Genossen eingegangen ist, welche lautet:
„Ist der Reichskanzler in der Lage, Auskunft darüber zu geben,
1) ob bis zum Jahre 1890 ein geheimer Vertrag zwischen Deutschland und Rußland bestanden hat?
2) im Fall ein solcher Vertrag bestand, welche Vorgänge dazu geführt haben, ihn nicht zu erneuern7
3) welchen Einfluß die jüngsten Veröffentlichungen über diese Angelegenheit auf die Beziehungen Deutschlands zum Dreibunde und auf sein Verhältniß zu den übrigen europäischen Mächten geübt aben?“ 1 Dem Wunsch der Interpellanten entsprechend, werde ich die Inter⸗ pellation am Montag auf die Tagesordnung setzen.
Schluß 6 ½ Uhr, nächste Sitzung: Donnerstag 1 Uhr.
Stufe ge⸗ Gerichte
Parlamentarische Nachrichten.
Dem Reichstage ist der nachstehende Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung der Gesetze, betreffend Postdampfschiffsverbindungen mit überseeischen Ländern, zugegangen:
§ 1
Der Reichskanzler wird ermächtigt, dem Unternehmer der auf Grund der Gesetze vom 6. April 1885, 27. Juni 1887 und 20. März 1893 (Reichs⸗Gesetzbl. 1885 S. 85, 1887 S. 273, 1893 S. 95) ein⸗ gerichteten Postdampfschiffsverbindungen mit Ost⸗Asien und Australien für eine Erweiterung des ostasiatischen Postdampferdienstes durch Ein⸗ richtung einer vierzehntägigen Verbindung mit China eine Erhöhung der bisher vertragsmäßig aus Reichsmitteln zu zahlenden Beihilfe um jährlich 1½ Millionen Mark zu bewilligen und gleichzeitig die Unter⸗ haltung des erweiterten Gesammtunternehmens unter Gewährung der so erhöhten Beihilfe auf eine bis zu 15 Jahren zu übertragen.
§ 2. 1
Die Fahrgeschwindigkeit auf der chinesisch⸗japanischen Linie muß im Durchschnitt mindestens betragen:
a. zwischen demjenigen europäischen Anlaufhafen, in welchem die Aufnahme oder Ablieferung der Post erfolgt, einerseits und dem chinesischen Hafen Shanghai andererseits 13 Knoten, für neuzuerbauende Schiffe 13,5 Knoten; 8
b. auf den übrigen Strecken 12,6 Knoten.
Die Erläuterungen zu dem Entwurf lauten: Die auf Grund des Gesetzes vom 6. April 1885 (Reichs⸗Gesetzbl.
S. 85) eingerichteten Postdampfschiffsverbindungen mit Ost⸗Asien und
Australien haben sich innerhalb ihres zehnjährigen Bestehens zum Besten des deutschen Handels und der deutschen Industrie aus schwie⸗ rigen Anfängen in erfreulichem Maße entwickelt. Während aus⸗ weislich der in der Anlage 1 enthaltenen statistischen Aufzeichnungen über den Waarenverkehr der durch diese Reichspostdampferlinien ver⸗ mittelte Gesammtverkehr, die Ausreise und Heimreise zusammen⸗ genommen (ohne Edelmetalle und Kontanten), sich im zweiten Be⸗ triebsjahre 1888 auf 58 477 t im Werth von 74 515 000 ℳ belief, ist derselbe bis zum Jahre 1895 auf 152 415;lt im Werth von 139 507 000 ℳ gestiegen. 1 1 Der Waarenverkehr hat sich also dem Gewicht nach um mehr als das 2 ½ fache vermehrt und dem Werthe nach annähernd verdoppelt. Von dem Gesammtverkehr entfielen auf die Ausreise: 1888 27 369 t im Werthe von 33 199 000 ℳ 1895 7810 . 2 „ 52 933 000 „ Heimreise: 1888 31 108;lt im Werthe von 41 316 000 ℳ 1111“ 1 Auf die einzelnen Linien
74 205 t „ 4 „ 86 574 000 „ vertheilte sich der Verkehr in nach⸗ stehender Weise: “ I. Ostasiatische Linie. 8 Gesammtverkehr: 1
34 290 t im Werthe von 48 188 000 2% 77028 t „ „ 86 706 000 Ausreise: 18 828 t im Werthe von 19 408 000 ℳ 41 647 t „ 8 29 9888 000 Heimreise: 15 462 t im Werthe von 28 780 000 ℳ 86 81 b 8 „ 56 833 000 „ II. Australische Linie.
Gesammtverkehr: 24 187 t im Werthe von 26 327 000 ℳ vö1ö.“ Ausreise: 1
8 541 t im Werthe von 13 791 000 ℳ
36 563 t „ 2 „ 23 060 000 „ Heimreise: 1888 15 646 t im Werthe von 12 536 000 ℳ 00‧08““
Ueber die hauptsächlichsten, mit den Reichspostdampfern beförderten Waarenartikel und über den Vertehr in den einzelnen Häfen enthält die Anlage I gleichfalls Mittheilungen.
Mit welchem Erfolge die Reichspostdampferlinien dem Zweck gedient haben, den allgemeinen Handelsverkehr zwischen Deutschland einerseits und Ost⸗Asien und Australien andererseits zu beleben, ist aus den in der Anlage II beigefügten Uebersichten über die Handels⸗ beziehungen deutlich zu erkennen.
Nach der Ueversicht unter A betrug im Spezialhandel unter Aus⸗
luß des Kontantenverkehrs 11““ die Ausfuhr aus dem Zollgebiet: . a. nach China: 181 178 Doppelzentner im Werthe von 8 198 491 8 8 2 3 302 473 3 8 „
313 556 8 86 b. nach Japan: 140 157 D tne “ c. nach Australien: 238 462 Doppelzentner im Werthe von 7 907 000 ℳ 348 326 3 8 5 990 591 364 8 8 2 „ 23 298 000 „ 1 138 272 8 „ „ „ 23 362 000 „ die Einfuhr nach dem Zollgebiet: a. aus China:
8 562 Doppelzentner im Werthe von 949 000 ℳ 1228283 180 83 169 h“ E81 „ 18 493 000 „
b. aus Japan:
2 259 Doppelzentner im Werthe von 214 000 ℳ
6 809 1 1“
44 727 5 5 8 „ 4680 000 „
114 885 . 8 6 „ 7 799 000 c. aus Australien:
97 369 Doppelzentner im Werthe von 9188 000 ℳ
149 737 4 8 5 „ 14 667 000 „
350 109 „ 8 „ 65909900
. . 1 066 091 8 8 8 „ 118 498 000 „ . An dem in so ungewöhnlichem Maße gesteigerten Handelsverkehr sind die Reichspostdampfer im Jahre 1895 in “ Weise be⸗ theiligt gewesen. Güter deutscher Herkunft beziehungsweise deutscher
1888 1895
1888 1895
1888 1895
1888 1895
1888 1895
16 699 000 ℳ 14 311 000 „ 29 863 000 „ 35 412 000 „
4 570 000 ℳ 6 393 000 „ „ 18 481 000 „ „ 26 077 000 „
9 „
Bestimmung wurden befördert anf der
chen Linie:
ostasiati u“ 27 785 t zu 18 860 000 ℳ 651 t „ 12 987 000
“ australischen Linie: Ausreise. “ 22 961 t zu 13 418 000 ℳ PFiitatato 11 090,) Danach haben die Reichspostdampferlinien zwar zur Belebung unserer Handelsbeziehungen mit Ost⸗Asien und Australien wesentlich beigetragen, den übrigen Verbindungen aber, insbesondere den ohne Reich beihilfe unterhaltenen deutschen Schiffslinien im Handelsverkehr mit jenen Ländern noch ein weites Feld der Thätigkeit offen gelassen. So beschäftigen gegenwärtig im Frachtverkehr mit Ost⸗Asien: die deutsche Dampfschiffsrhederei (Kingsin⸗Linie) 13 Schiffe mit einem Bruttogehalt von 41 044 Registertons; die Rickmers⸗Linie 7 Schiffe von 30 519 Registertons; mit Australien:
die Deutsch⸗australische Dampfschiffahrts⸗Gesellschaft 8 Schiffe von 28 454 Registertons.
Aber nicht allein auf die Belebung unseres Handelsverkehrs mit Ost⸗Asien und Australien und auf die dadurch dem deutschen Handel und der deutschen Industrie direkt erwachsenen Vortheile beschränkt sich die Wirksamkeit des Reichspostdampfer⸗Unternehmens, sondern auch indirekt hat dasselbe für den deutschen Gewerbefleiß sich sehr nutzbringend erwiesen. Es soll hier nur daran erinnert werden, daß seit der Schaffung der Reichspostdampfer⸗Verbindungen der große Aufschwung unseres deutschen Schiffsbaues datiert. Der Norddeutsche Lloyd war die erste deutsche Schiffahrtsgesellschaft, welche gemäß der ihr im Vertrage auferlegten Verpflichtung die Erbauung der großen für die neuen Postlinien nothwendigen Dampfer einer deut⸗ schen Schiffbauanstalt, dem Stettiner Nulkan, übertrug, während früher Schiffe dieser Größe und Klasse ausschließlich in England gebaut wurden. Seitdem baben die deurschen Schiffswerften im Bau der größten Schiffe sich derart vervollkommnet und so Vor⸗ zügliches geleistet, daß deutsche Rhedereien diese Schiffe nicht nur für die reichsseitig unterstützten, sondern auch für viele andere Linien, namentlich auch für die Schnelldampferlinien nach den Vereinigten Staaten von Amerika, auf den deutschen Werften herstellen lassen.
Die Summen, welche hierdurch dem deutschen Nationalvermögen erhalten werden, erreichen eine bedeutende Höhe. Nach den Berech⸗ nungen des Norddeutschen Lloyd sind durch die von ihm unterhaltenen Reichspostdampferlinien bis zum Schlusse des Jahres 1895 den deutschen Werften zu gute gekommen: 38
für Neubauten “ 4X&X“ „ außerordentliche Reparaturen 8 1 zusammen 28 471 826 ℳ
Wird dieser Summe der Betrag von 30 497 450 ℳ hinzu⸗ gerechnet, welcher innerhalb des gleichen Zeitraums für die Reichs⸗ Postlinien an Betriebsmaterialien, wie deutsche Kohlen, Proviant ꝛc., deutschen Unternehmern gezahlt worden ist, so sind dem deutschen Handel und der deutschen Industrie aus dem Betriebe des Reichs⸗ postdampfer⸗Unternehmens des Norddeutschen Lloyd ianerhalb 9 ½ Jahre etwa 59 Millionen Mark zu gute gekommen, während in der gleichen Zeit der Lloyd aus der Reichskasse eine Vergütung von nur 40 ¼ Millionen Mark bezogen hat.
Ist nach dem Vorstehenden die bisherige Entwickelung des Verkehrs auf den Reichspostdampferlinien und ihre Rückwirkung auf die allge⸗ meinen Handelsbeziehungen Deutschlands mit den bet eiligten über⸗ seeischen Ländern als eine befriedigende zu bezeichnen, so zeigt sich doch, daß bei der gegenwärtigen Gestaltung der Linien der zur nach⸗ haltigen Förderung der Handelsbeziehungen und durch den inter⸗ nationalen Wettbewerb gebotene Fortschritt auf die Dauer nicht gewähr⸗ leistet ist und daß es organisatorischer Maßnahmen bedarf, um die deutschen Linien in diesem Wettbewerb auf der ihnen gebührenden Höhe zu erhalten. Diese Nothwendigkeit macht sich namentlich auf der ostasiatischen Linie geltend, welche gegenüber den französischen und englischen Konkurrenzlinien dadurch im Nachtheil ist, daß die deutschen Schiffe nur in Zwischenräumen von 4 Wochen verkehren, während die fremden Dampfer 14 tägige Fahrten, und diese schneller als die deutschen Dampfer, verrichten. Die hiermit verknüpften Nach⸗ theile äußern sich nach drei Richtungen:
1) Für den Frachtverkehr fehlt es häufig an dem erforder⸗ lichen Laderaum, dergestalt, daß die Güter nicht mit dem Dampfer, für den sie angemeldet sind, befördert werden können und infolge dessen entweder unzuträglichen Verspätungen in der Lieferung unterliegen, oder aber auf eine ausländische Konkurrenzlinie übergehen. Klagen in dieser Beziehung traten bereits im Jahre 1889 aus China und Japan auf das lebhafteste hervor. Schon damals verlangten die deutschen Handelsinteressenten die baldige Herstellung einer vierzehntägigen Ver⸗ bindung mit Ost⸗Asien. Es wurden deshalb zwischen der Reichs⸗ verwaltung und der Leitung der Reichspostdampferlinien wegen Verdoppelung der Fahrten auf der ostosiatischen Linie Ver⸗ handlungen eingeleitet; indessen war über die Bedingungen für diese Erweiterung ein Einverständniß nicht zu er⸗ zielen. Die Leitung des Norddeutschen Lloyd suchte nunmehr dem Mangel an Laderaum zunächst durch Einstellung neuer größerer Schiffe abzuhelfen und hat zu diesem Zweck mit außergewöhnlichem Kapitalaufwand den vorhandenen Schiffspark erneuert und verbessert. Die zuerst auf der ostasiatischen Linie verwendeten älteren Dampfer sind völlig aus derselben herausgezogen, die bei Errichtung der Linie für dieselbe neu hergestellten ampfer „Preußen“, „Bayern“, „Sachsen“ sind umgebaut und haben durch Verlängerung des Schiffs⸗ körpers einen erheblich vergrößerten Laderaum, außerdem durch Verstärkung ihrer Maschinen eine erhöhte Geschwindigkeit erhalten. Im weiteren sind im Jahre 1894 zwei neue große Doppelschrauben⸗Dampfer „Prinz⸗Regent Luitpold“ und „Prinz Heinrich“ von 6288 beziehungsweise 6263 Registertons Bruttogehalt neu eingestellt worden, welche im stande sind, eine durch⸗ schnittliche Fahrgeschwindigkeit von 13,5 Seemeilen in der Stunkde einzuhalten. Infolge dieser Maßnahmen hat sich der Gesammtbrutto⸗ gehalt der Reichspostdampfer auf der ostasiatischen Linie von 44 920 Registertons im Jahre 1886/87 auf 66 879 Registertons im Jahre 1895 erhöht. Auf die Dauer läßt sich jedoch, wie die immer wieder von neuem hervorgetretenen Klagen über Raummangel beweisen, durch die Vergrößerung der Schiffe allein dem Mangel nicht abhelfen, zumal gewisse werthvolle Waarensendungen, welche den Reichspostdampfern in letzter Zeit in besonderem Umfange sich zuwenden, wie namentlich Thee und Seide, eine längere Zurückstellung nicht vertragen können und deshalb diejenige Postlinie benutzen, welche ihnen die baldigste Beförderung gewährleistet. 1
2) Für den Verkehr der Reisenden ist die auf Zeitabschnitte von 4 Wochen beschränkte Beförderungsgelegenheit wegen der daraus sich ergebenden Beengung der Reisediespositionen sehr störend. Die Reisenden bevorzugen naturgemäß diejenigen Linien, welche ihnen bezüglich des Antritts der Aus⸗ und Rückreise die möglichste Freiheit lassen, ihnen vor allem häufig Reisegelegenheit bieten. Bei dem innigen Zusammenhang, welcher vielfach zwischen den in Geschäfts⸗ angelegenheiten reisenden Kaufleuten und der Versendung von Waaren auf den ihnen persönlich bekannten Linien besteht, muß aber besonderer Werth darauf gelegt werden, daß die deutschen Postdampfer von Reisenden recht stark benutzt werden, zumal die Einrichtungen zur Aufnahme zahlreicher Personen bei Postschiffen vorhanden sein müssen und die nicht Fesgenß⸗ Ausnutzung derselben ungünstig auf die finanziellen Ergebnisse wirkt. 8 8
3) Noch ungünstiger wirken aber die langen Zwischenräume
wischen den Beförderungsgelegenheiten auf die Benutzung der deutschen binien im Postverkehr. 1
An der Beförderung des sehr lebhaften Korrespondenzverkehrs, welchen Deutschland nach den Ländergebieten Süd⸗ und Ost⸗Asiens unterhält und dessen Gewicht nach der letzten allgemeinen Statistik im Weltpostverein sich im Jahre 1893 auf 67 474 kg beziffert hat, - die deutschen Postdampfer nur mit 6079 kg oder einem Elftel
etheiligt gewesen, während ihr Antheil bei einigermaßen gleich⸗ aller zwischen Europa und Asien verkehrenden ein Fünftel hätte belaufen sollen. Auch von den
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fremden Postverwaltungen werden den deutschen Schiffen Briefpost⸗
send gen nur in sehr mäßigem Umfange zugewiesen; nach der bereits
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erwähnten Statistik hat sich deren Gew
10 782 kg beschränkt. 1
Nach diesen Ergebnissen und den sonst gemachten Erfahrungen ist nicht daran zu zweifeln, daß die deutsche Reichspostdamperlinie nach Ost⸗Asien für den Briefversendungsverkehr keine erhebliche Be⸗ deutung erlangt, daß sich vielmehr die Gewohnheit herausgebildet hat, die französischen und englischen Postschiffe vorzugsw ise als Brief⸗ beförderungsgelegenheit zu benutzen. Maßgebend hierfür war, daß die französischen und englischen Linien bei 14 tägigen Fahrten in der Lage gewesen sind, die Abfahrts⸗ und Ankunftszeiten derart festzusetzen, dg an einem bestimmten Tag jeder Woche Postbeförderungs⸗ gelegenheit vorhanden ist und daß die dadurch geschaffene Regel⸗ mäßigkeit für den geschäftlichen ꝛc. Verkehr große Annehmlichkeit bietet, sowie daß jene fremden Postschiffe die Ueberfahrt zwischen Asien und Europa auch schneller bewirken als die deutschen. Während diese gemäß dem Nachtrag vom 10./15. Mai 1893 zum Postdampfer⸗ vertrag auf der ost⸗asiatischen Hauptlinie, abgesehen von Neubauten, nur eine Geschwindigkeit von mindestens 12,6 Knoten auf der Strecke zwischen Neapel und Colombo und von mindestens 12 Knoten auf den übrigen Strecken einzuhalten brauchen, haben die französischen Dampfer nach dem neuen, den Dienst der Compagnie des Message- ries maritimes reorganisierenden Vertrag von 1894 ihre Fahrten auf der indo⸗chinesischen Linie mit einer Geschwindigkeit von 13 beziehungsweise 13,5 Seemeilen in der Stunde auszuführen. Und die Engländer, deren Vertrag mit der Peninsular and Oriental Steam Navigation Company im Jahre 1898 abläuft, haben für die spätere Vertragszeit ebenfalls bereits eine Geschwindigkeit von mindestens 13 Seemeilen stündlich auf der ostasiatischen Linie gefordert.
Wenn die deutschen Postschiffe an der Bewältigung des Brief⸗ verfehrs nur verhältnißmäßig gering betheiligt sind, so haben sie sich doch für den Postpacketverkehr von ganz erheblichem Nutzen erwiesen. Seit ihrer Einrichtung datiert der Aufschwung, welchen der Austausch von Postpacketen zwischen Deutschland und den asiatischen Gebieten genommen hat. Während die Zahl dieser Packete sich im Jahre 1887 nur auf 842 Stück belief, wuden im Jahre 1890 bereits 4775 Stück ausgewechselt und im Jahre 1895 war deren Zahl bereits auf 8593 angewachsen, sodaß sich der Packetverkehr innechalb acht Jahre um mehr als das Zehnfache vermehrt hat. Auf den chinesischen Verkehr entfallen im Jahre 1895 hiervon 2965 Stück gegen 294 im Jahre 1887.
Eine gleichfalls bedeutende Steigerung weist der Postanweisungs⸗ verkehr zwischen Deutschland und Süd⸗ sowie Ost⸗Asien auf. Im Jahre 1895 sind 7478 Postanweisungen über einen Geldbetrag von 564 957 ℳ zur Versendung gelangt, davon sind 520 Stück über einen Betrag von 49 543 ℳ mit Japan, sowie 617 Stück über 44 338 ℳ mit China ausgewechselt worden.
Weisen die vorerwähnten in den Reichspostdampferlinien selbst liegenden ungünstigen Verhältnisse darauf hin, den nachtheiligen Unterschied gegenüber den französischen und englischen Konturrenz⸗ linien baldigst zu beseitigen und durch Gleichstellung hinsichtlich der Zahl und der Geschwindigkeit der Fahrten unseren deutschen Linien einen erfolgreichen Wettbewerb mit den fremden Linien zu erleichtern: so drängt die gegenwärtige handelspolitische Lage dazu, die erforderlichen Schritte nicht bis zum Ablauf des gegenwärtigen Vertrages zu verschieben, sondern sofort mit den nöthigen Verbesserungen, insbesondere mit der Erweiterung des Fahrdienstes nach Ost⸗Asien, vorzugehen. Nach Beendigung des Krieges zwischen den beiden ost⸗ asiatischen Reichen hat sich eine neue Aussicht für die Entwickelung der dortigen Verhältnisse und der wirthschaftlichen Beziehungen dieser Gebiete zu den europäischen Kultur⸗ und Industrieländern eröffnet. In Erwartung dieses Aufschwungs und zur Sicherung eines Antheils an dem vermehrten Absatz sind bereits französische und russische Handelsexpeditiogen nach dem Osten abgesandt worden. Darauf, daß der deutschen Industrie der nach ihrer Leistunsfähigkeit ihr gebührende Antheil an dieser Absatzerweiterung zufalle, wird mit aller Energie hinzuwirken sein. Die zu diesem Zweck wünschenswerthe weitere Annäherung zwischen Deutschland und China kann in erster Linie durch eine Vermehrung und Verbesserung der bestehenden Verkehrsbedingungen gefördert werden. Mit Japan hat der Handels⸗ verkehr neuerdings bereits eine erhöhte Sicherstellung durch Abschluß des Handetsvertrags vom 4. April 1896 erfahren. Die kommerzielle Entwickelung dieses Landes ruft das Bedürfniß nach weiteren Verkehrs⸗ verbindungen in immer steigendem Maße wach. Javpan selbst sucht dieses Bedürfniß bereits daourch zu befriedigen, daß es eine sub⸗ ventionierte Postdampferverbindung (durch die Gesellschaft Nippon Busen Kaischa) mit Europa hergestellt hat, welche regelmäßige monat⸗ liche Fahrten zwischen Vokohama und London beziehungsweise Ant⸗ werpen unterhalten soll.
Nach dem Maße des Antheils, welchen nach der als Anlage III beigefügten Uebersicht Deutschland an dem Gesammthandel Chinas und Japans nimmt, ist bei Anwendung der richtigen Mittel noch eine ganz erhebliche Erweiterung desselben zu erzielen. Denn es belief sich im Jahre 1895 der Antheil Deutschlands an der auf 179 946 960 Taels bezifferten Gesammteinfuhr Chinas erst auf 18 768 522 Taels, während Großbritannien an dieser Einfuhr mit 115 702 439 Taels (Frankreich mit 3 320 368 Taels) betheiligt war. In gleicher Weise nahm an der Gesammfeinfuhr Japans im Jahre 1894*), die sich auf 121 677 263 Silber⸗Yen belief, Deutschland mit 7 909 542 Yen gegenüber Großbritannien mit 42 189 874 Yen (Frank⸗ reich mit 4 348 048 Yen) theil.
Aber nicht nur die handelspolitischen Gesichtspunkte, sondern auch die rein nationalen Interessen verlangen Erweiterung der ost⸗ asiatischen Postdampferverbindung. Die durch Stationierung eines Kreuzergeschwaders in den ostasiatischen Gewässern als nothwendig anerkannte Entfaltung einer größeren militärischen Macht zum Schutze der gewichtigen deutschen Handele interessen hat in dem Nationalgefübl der in Ost⸗Asien ansässigen Deutschen den lebhaften Wunsch erweckt, auch diejenige Vertretung deutscher Interessen, welche durch die unter der Reichspostflagge fahrenden großen Dampferlinien zur Erscheinung kommt, dem Auftreten des Auslandes ebenbürtig gestaltet zu sehen. In dieser Beziehung darf darauf hingewiesen werden, daß das Erscheinen der Postflagge und die Art und Größe der Dampfer, von welchen sie geführt wird, als ein Maßstab für die Bedeutung gilt, welche der eigene Staat der Niederlassung seiner Angehörigen im überseeischen Auslande beimißt, und daß das deutsche Ansehen in Ost⸗Asien durch eine Vermehrung der Postdampferverbindungen und durch die Vervoll⸗ kommnung der auf denselben verwendeten Schiffe unmittelbar eine wesentliche Förderung erfährt.
Ein besonderes Interesse an der weiteren Ausgestaltung der Reichspostdampferlinien nimmt schließlich die deutsche Kriegs⸗ Marine. Die von allen größeren Seestaaten vorbereitete Heran⸗ ziehung der großen Handelsdampfer zu Kriegszwecken nötbigt die deutsche Kriegs Marine dazu, neue transozeanische Dampfer für diesen Verwendungszweck schon beim Bau entsprechend einzurichten und bei sämmtlichen unter den Subventionsvertrag fallenden Dampfern durch eine entsprechende Bemannung die Verwendung im Kriege zu er⸗ leichtern. Die bisherigen Verträge sichern dies nicht in der erforder⸗ lichen Weise. Es liegt daher auch im Interesse der maritimen Landesvertheidigung, das bestehende Vertragsverhältniß sobald wie möglich einer Revision zu unterziehen.
Alle diese Erwägungen haben dazu geführt, in Verhandlungen mit dem Norddeutschen Lloyd einzutreten, zunächst zu dem Zweck, die alsbaldige Vermehrung der Fahrten auf der ostasiatischen Linie durch Umwandlung der vierwöchigen Verbindung in eine vierzehn⸗ tägige herbeizuführen und die Fahrgeschwindigkeit auf dieser Linie in einem solchen Maße zu erhöhen, daß die deutschen Post⸗ dampfer den französischen und englischen hierin nicht mehr nachstehen. Im Verlauf irZ hat sich der Norddeutsche Lloyd bereit erklärt, im Verkehr mit China eine vierzehntägige Verbindung herzustellen, die indirekte Linie nach Japan durch eine direkte zu ersetzen, die Fahrgeschwindigkeit für die
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*) Die Zihlen für 895 liegen noch nicht vor.