tragen, mich im preußischen Abgeordnetenhause wegen meiner Aeuße⸗ rungen im Reichstage anzugreifen, während ich durch die pflicht⸗ mäßige Anwesenheit im Reichstage vorhindert gewesen bin, im Abgeordnetenhause Rede und Antwort zu stehen? Wer im Glashause fitzt, soll sich hüten mit Steinen zu werfen! Im übrigen bin ich nicht in der Lage, von dem Grafen Mirbach Belehrungen über den vor⸗ nehmen Ton entgegenzunehmen. Abg. Graf von Mirbach: Es ist für mich von vornherein aus⸗ Pichlofsen gewesen, in eine Polemik einzutreten. Ich habe nur eine Erklärung abgegeben und nur sagen wollen, daß mein Auftreten dem Abg. Lieber nicht Anlaß geben konnte zu einer so scharfen per⸗ sönlichen Bemerkung wie die vorhin angedeutete Aeußerung über den
vornehmen Ton. Schluß 5 ¾ Uhr. Nächste Sitzung: Freitag 1 Uhr (Militär⸗Etat). 8
30. Sitzung vom 11. Februar 1897. Die zweite Berathung des Entwurfs des Staatshaus⸗ halts⸗Etats für 1897/98 wird bei den Ausgaben des Etats des Ministeriums des Innern fortgesetzt. Ueber den Beginn der Debatte ist Miinister des Innern Freiherr von der Recke: Mieiine Herren! Ich bitte um die Erlaubniß, auf die Ausfüh⸗
8 rungen des Herrn Abg. Rickert Einiges erwidern zu dürfen. Der Herr Abg. Rickert ist zunächst auf das Thema eingegangen, welches wir nicht nur gestern, sondern bereits an mehreren Tagen früherer Wochen sehr ausgiebig behandelt haben, nämlich auf die Frage der Ueber⸗ wachung der Vereine. Ich habe mich über diese Frage schon damals sehr eingehend ausgesprochen; ich möchte deshalb jetzt nur noch einen Punkt betonen. Ich hatte nämlich ausdrücklich hervorgehoben, daß in Gebietstheilen mit gemischter Sprache, d. h. in Gebietstheilen, in welchen ein größerer Theil der Bevölkerung das Deutsche als Mutter⸗ sprache nicht spricht, der Regel nach für Beamte gesorgt werden müsse, welche beider Sprachen mächtig sind. In diesem Sinne sind schon früher, wie auch neuerdings Verfügungen an die Behörden erlassen worden. Wenn diesen Anordnungen zuwider etwa ohne Grund Versammlungen aufgelöst werden sollten, so könnte ich das meinerseits nur bedauern, und ich würde, wenn mir die Sachen im Beschwerdewege zugehen,
Remedur eintreten lassen. Die einzelnen Fälle, die Herr Abg. Rickert vorhin vorgetragen hat, sind mir nicht bekannt.
Abg. Rickert ist sodann auf die Frage der Anwendung des § 53. der Strafprozeßordnung gekommen und hat an mich die Frage ge⸗
gestern berichtet
2* richtet, ob dem Kriminalkommissarius von Tausch schließlich erft auf
meine Intervention die Erlaubniß zur Aussage gegeben worden sei. Die Antwort auf diese Frage muß ich ablehnen. Dies betrifft lediglich ein Internum der Staatsregierung. (Bravo! rechts. Unruhe links und im Zentrum.) Es wird aber dem Herrn Abg. Rickert vielleicht genügen, wenn ich ihm sage, daß eine Verweigerung des Zeugnisses bezw. Nichtertheilung der Erlaubniß für die Beamten, Agenten zu nennen, einer bisher konstant innegehaltenen Praxis entspricht. Ich kann meinerseits auch nicht anerkennen, daß dieses Verfahren den Be⸗ stimmungen des §53 zuwiderläuft. Es versteht sich eigentlich von selbst, daß, wenn man in solchen Fällen regelmäßig den Agenten nennt, man Gefahr läuft, überhaupt keinen Agenten mehr zu bekommen. (Sehr richtig! rechts.) Dies würde aber, da dann die politische Polizei überhaupt ihre Auf⸗ gabe nicht mehr erfüllen könnte, dem Wohle des Landes nicht dienen, wie ich nicht näher auszuführen brauche. . Der Herr Abg. Rickert hat mich sodann, in Anknüpfung an die Ausführungen, die ich am 19. Januar gemacht habe, gefragt, was hinsichtlich der Reorganisation der polischen Polizei geschehen sei. Ich hätte ja die Schäden damals direkt anerkannt. Da muß ich zunächft dem Herrn Abg. Rickert sagen, daß ich keineswegs in diesem Sinne mich so deutlich und unverhohlen ausgesprochen habe, wie er es mir vorhin in den Mund gelegt hat. Ich habe gesagt — und er hat elbst den Pafsus vorgelesen —, ich würde diejenigen Reformen der politischen Polizei in die Wege leiten, die sich mir als nothwendig aufdrängen würden. Meine Herren, ich habe schon vor dem Prozeß, während desselben und gleich nach seiner Beendigung einige An⸗ ordnungen getroffen, die mir nothwendig schienen, und es wird Sie, meine Herren, wie ich annehme, interessieren, wenn ich Ihnen davon Mitttheilung mache. Ich habe also zunächst sofort die sogenannten selbständigen Kom⸗ mandos bis auf Weiteres eingestellt. Das Charakteristische dieser Kommandos bestand darin, daß die kommunalen Beamten von ihrer vorgesetzten Behörde losgelöst und denjenigen Behörden unterstellt wurden, die sie requiriert hatten. Es wird sich nicht vermeiden lassen, daß derartige selbständige Kommandos in einzelnen Fällen auch späterhin noch nothwendig werden. Ich werde dieselben aber mit den erforderlichen Kautelen umgeben, sodaß daraus Unzuträglichkeiten nicht mehr entstehen werden. Ich habe ferner Veranlassung genommen, allen betheiligten Beamten die schärffte Kontrole der Exekutivbeamten Ausführung ihrer Aufträge zur Pflicht zu machen, desgleichen äußerste Vorsicht in der Auswahl, Benutzung und Kontrole der Aus⸗ kunftspersonen. Dabei habe ich ihnen ausdrücklich eingeschärft, einen ebendigen organischen Zusammenhang nach oben und nach unten zu erhalten. Ich habe ferner Anlaß genommen, die Organisation und den Geschäftsbetrieb der sogenannten politischen Abtheilung und die Art der Erledigung der Geschäfte, insbesondere was die Kontrole und die Selbständigkeit der einzelnen Organe und den Verkehr mit den
1 sogenannten Organen betrifft, einer sehr eingehenden Erörterung und
Prüfung dahin zu unterziehen, ob etwa hierin Mängel zu finden sind, aus denen jene bedauerlichen Vorgänge wenigstens theilweise sich er⸗ Nären lassen.
Meine Herren, es ist doch aber klar, daß solche Prüfung nicht
im Handumdrehen zu erledigen ist (sehr richtig! rechts); diese Sache will doch sehr sorgfältig erwogen sein, und Sie werden mir als er⸗ fahrenem und praktischem Beamten doch nicht zumuthen wollen, daß ich 8 auf die Angriffe hin, welche insbesondere in der Presse erhoben sind, ohne weiteres Organisationen umstürze, die sich mit einigen Ausnahmen als wohlbegründet und zweckmäßig erwiesen haben. (Sehr richtig! rechts.) Dies würde ich doch nur können, wenn ich die Ueberzeugung hätte, sofort etwas Besseres an die Stelle setzen zu können. (Sehr
3 Bei der schließlichen Erwägung, meine Herren, was nun zu thun ist, sollen auch die andere Länder in
dieser Beziehung gemacht haben. Ich
Erfahrungen zu Nutze gemacht werden, welche eine Pflanzstätte für künftige tüchtige Landräthe.
habe bereits anläßlich eines Auftrages, welchen ich dem hiesigen Herrn Polizei⸗Präsidenten ertheilt hatte, nämlich sich wegen der Orga⸗ nisation der Kriminalpolizei in anderen Ländern umzusehen, ihn ersucht, auch hinsichtlich der politischen Polizei sich des näheren zu informieren. Wenn dies geschehen ist, wird mir der Herr Polizei⸗Präsident seine Vorschläge unterbreiten; dann werde ich in die Lage kommen, mich darüber schlüssig zu machen, was etwa zu bessern ist. Wo es erforderlich ist, werde ich meinerseits es an der bessernden Hand sicherlich nicht fehlen lassen. (Bravo! rechts.) Selbst bei der besten Organisation, bei der gewissenhaftesten und um⸗ sichtigsten Leitung und bei der genauesten Kontrole indessen werden sich freilich Verfehlungen, Uebergriffe, Ungeschicklichkeiten einzelner Beamten nie völlig vermeiden lassen. Es werden leider — glücklicher⸗ weise sind sie selten — immer noch Fälle übrig bleiben, wo man zu den Zuchtmitteln des Disziplinar⸗ und des Strafgesetzes schreiten muß, um ungesunde Elemente in dem Organismus auszustoßen.
Aber, meine Herren, es ist nicht rathsam, nicht richtig, und muß energisch abgewehrt werden, für solche einzelnen Vorgänge ohne weiteres die Organisationen und die Institutionen verantwortlich zu machen, wenigstens so lange diese Organisationen und Institutionen die Kraft in sich haben, diese unsanberen Elemente abzustoßen und selbst gesund zu bleiben. Daß dies bei uns zutrifft, dafür, meine Herren, glaube ich die volle Verantwortung übernehmen zu können. (Lebhaftes Bravo rechts.)
Abg. von Ploetz (kons.): Der Artikel der „Tageszeitung“ hat nur den Sinn haben können, daß die jetzige Wirthschaftspolitik eine antimonarchische Wirkung haben müsse. Der Verein gegen agrarische Uebergriffe und die Judenschutztruppe üben noch ganz andere Wirkungen aus. Ich wollte aber nur den Minister des Innern darauf auf⸗ merksam machen, daß die Strafanstalt in Lichtenburg die Landwirth⸗ schaft und das Kleingewerbe schädigt dadurch, daß sie das Getreide nicht mehr von den kleinen Bauern kauft und es nicht in den um⸗ liegenden fünf Mühlen mahlen läßt, sondern das Mehl von Brom⸗ berg bezieht.
Geheimer Regierungs⸗Rath Dr. Krohne weist darauf hin, daß die Bromberger Mühle nur einheimisches Getreide vermahlt. Durch den Bezug des Bromberger Mehls sei die Versorgung der Straf⸗ anstalten mit Mehl sehr erleichtert worden. Nur die östlichen Pro⸗ vinzen könnten ihren eigenen Bedarf decken, die übrigen müßten zukaufen. Richteten wir nun in den anderen Provinzen Depots ein, so bestände die Gefahr, daß dort auch von auswärtigem Getreide hergestelltes Mehl eingeführt werden könnte. Daß fünf Müller bei Lichtenburg geschädigt würden, sei zuzugeben, aber deshalb könne man diese nüpliche Maßregel doch nicht aufgeben. Eine Animosität gegen die Kleingewerbe oder gar gegen die landwirthschaftlichen liege hier durchaus nicht vor. .
Abg. Rickert (fr. Vgg.): Herr von Ploetz hat sich getroffen gefühlt und meine Wahrheitsliebe bezweifelt. Der angezogene Artikel liegt vor mir. Es heißt darin: Die jetzige Regierungspolitik prole⸗ tarisiere das Volk und raube dem Reiche seine kriegerischen Kräfte. Die Politik der Regierung sei eine Politik des Kapitalismus und eine antimonarchische und vaterlandsfeindliche Politik. Der Wortlaut des Artikels ist schärfer, als die bereits von mir gemachten Angaben. Wollen Sie noch mehr Material, Herr von Ploetz? Herr von Ploe nannte die „Judenschutztruppe“, eine sehr geschmackkose Wendung. J rechne es mir zur Ehre an, an der Spitze dieses Vereins zu stehen. Würde er die ehrenwerthen Männer kennen, welche diesem Vereine angehören, so würde er sich etwas kleiner fühlen. Daß der Bund der Landwirthe sich auf antisemitischen Boden gestellt hat, ist mir lieb. Das giebt Klarheit: Der Bund der Landwirthe deckt sich mit dem Antisemitismus. Dem Minister danke ich für seine Offenheit; ich bedaure aber seine Erklärung über den § 53. Dieser Paragraph wäre nie und nimmermehr angenommen worden, wenn diese Interpretation des Ministers vorgelegen hätte. Soll es einfach Grundsaßz sein: Die Namen der Agenten werden überhaupt nicht genannt? Der Minister ist verantwortlich auch für die Weigerung des Polizei⸗ Präsidenten. Es ist ein Vertrauensbruch gegen den Reichstag, wenn der Satz aufgestellt wird, daß man einen solchen Kerl nicht zu nennen braucht. Sie fürchten, daß Sie dann keine Agenten bekommen, wenn die Namen genannt werden. Ach, solche Subjekte bekommen Sie alle Tage, die riskieren auch das. Der Minister will nicht zugegeben haben, daß schwere Schädigungen durch den Prozeß an den Tag ge⸗ kommen seien; er hat es indirekt zugegeben. Der Reichskanzler hat hier direkt gesagt, daß der Minister des Innern die Schritte gethan hat, welche solche Vorkommnisse für die Zukunft vermeiden lassen.
Minister des Innern Freiherr von der Recke:
Meine Herren! Ich glaube, daß der Versuch des Herrn Abg. Rickert, mich mit den Aeußerungen des Herrn Reichskanzlers in Widerspruch zu bringen, ein sehr verunglückter ist. (Heiterkeit.) Ich habe nicht die in diesem Prozeß hervorgetretenen Schäden bestritten, sondern ich habe nur in Abrede gestellt, daß ich damals ohne weiteres ausdrücklich eine Reformbedürftigkeit der politischen Polizei hinsichtlich ihrer Organisation anerkannt hätte. Das ist doch etwas sehr Ver⸗ schiedenes.
Abg. Freiherr von Zedlitz und Neukirch (fr. kons.): Die Erklärung des Herrn Ministers über die politische Polizei hat mich durchaus befriedigt. Es ist nicht die Aufgabe eines praktischen und vorsichtigen Staatsmannes, ohne Prüfung mit neuen Organi⸗ sationen vorzugehen. Der Hauptfehler liegt darin, daß nicht eine wirklich verantwortliche Person mit der Leitung der politischen Polizei betraut ist. Wer einen so ausgedehnten Geschäftsbezirk hat, wie der Polizei⸗Präsident von Berlin, kann nicht die volle Verantwortung für alles tragen. Dafür muß eine andere Stelle geschaffen werden und mit einem fähigen und Ehrenmann besetzt werden. Wer in der Praxis steht, muß zugeben, daß, wenn die Namen der Agenten angegeben werden, eine politische Polizei überhaupt nicht möglich ist. Die Medizinal⸗Polizei sollte endlich dem Minister des Innern unterstellt werden. Ich bitte den Minister, dafür sorgen zu wollen, daß sein Ressort nach dieser Richtung hin erweitert wird. Ferner bitte ich ihn, dahin zu wirken, daß das Schreibwerk bei den Verwaltungsehrenämtern, namentlich der Amtsvorsteher, vermindert wird. Die Fefstsetzung eines Pauschquantums für das Porto hat die Schreibereien der Amtsvorsteher noch vermehrt. Die Amtsvorsteher werden auch seitens der Staatsanwalte und Gerichte viel zu sehr in Anspruch genommen. Die Verwaltung müßte über⸗ haupt individueller gestaltet werden. Die Bezirksinstanz liegt von den Gemeinden viel zu weit entfernt. Die Schulverwaltung muß in die Kreisinstanz gelegt werden. Der Gedanke der Kreisordnung muß voll zur Durchführung gebracht werden, die Begugnisse der Landräthe müssen erweitert, das heißt, die Regierung muß dezentralisiert werden. Wird die gesammte Obrigkeit des Staats in einer Person, in dem Landrath vereinigt, dann weiß der Staatsbürger, woran er sich zu halten hat. Der Landrath kennt die persönlichen und sachlichen Verhältnisse seines Kreises am besten, er kann also nicht nur kräftig, sondern auch sachlich und mit liebevollem Verständniß die Ver⸗ waltung seines Kreises zur Zufriedenheit der Kreiseingesessenen führen. Im Landrathsamt berührt sich kommunale und polizeiliche Thätigkeit. Der Landrath kennt die Bedürfnisse und Gefühle seiner Umgebung besser, als die Regierung. Auch das Schreibwerk würde sich ver⸗ mindern, wenn die Befugnisse des Landraths erweitert würden; viele Berichte an die Regierung fielen dann weg. Um aber seine Aufgaben zu erleichtern, müßte ihm ein Regierungs⸗ Assessor beigegeben werden, der etwa die Stellung wie der Ober⸗Präsidial⸗Rath beim Ober⸗Präsidium hätte. Natürlich könnten nur erstklassige Männer dazu genommen werden; Die ganze Maßregel
welches Geschrei wäre
ist ja nicht leicht durchzuführen. Aber sie ist nicht unm ich larn den Minister, sie wohlwollend zu prüfen. Sälhc, un Abg. Freiherr von Evnatten (Zentr.) beschwert sich darä daß der Wurmbach bei Aachen durch die Produkte der Industrie verjaucht und das ganze Wurmrevier dadurch verpestet sei. Die Aachener Regierung möge ja dagegen Schritte unternommen vielleicht auch die Stadtverwaltung durch eine Kanalisation. sei aber nichts gebessert worden. Ohne ein gutes Wasserrecht sei namentlich den Landbewohnern nicht zu helfen. Gebeimer Ober⸗Regierungs⸗Rath Dr. Kruse bemerkt, daß demnächst eine Kanalisation erhalten werde. Ein Gesetz zur Regelung des Wasserrechts sei ausgearbeitet und den Interessenten zur Begutachtung übergeben worden. Abg. Stöcker: Auf den Prozeß Leckert⸗Lützow will ich nicht näher eingehen. Herr Gamp hat mich aufgefordert, meine Aus⸗ führungen gegen Herrn von Stumm zurückzunehmen. Ich habe aber Herrn von Stumm mit diesen Leuten garnicht in Verbindung ebracht, sondern nur gesagt, daß diese Leute für Herrn von Stumm Material gesammelt haben. Ich kann also auch nichts zurücknehmen. Herr von Stumm hat im vorigen Jahre eine der übelsten Reden, einschließlich der sozialdemokratischen, gehalten. Er hat keine Berech⸗ tigung, mir Vorwürfe zu machen. Herr Rickert hat zu recht⸗ fertigen gesucht, daß er an der Spitze der Judenschutztruppe stehe. In Deutschland giebt es sehr viele „ausgezeichnete Männer', welche den politischen Verhältnissen blind gegenüberstehen, so auch in der Judenfrage. Meine Ueberzeugung ist, daß im Geheimen jeder Deutsche, welcher noch Gefühl für vaterländische Dinge hat, auf antisemitischer Seite steht. Wir kämpfen nicht gegen die materiellen, sondern gegen die bedenklichen geistigen Uebergriffe der Juden. Nichts lastet so verhängnißvoll auf dem Stuate, als der Mangel an religiösem Gefühl. Daran hat die semitische Presse die Hauptschuld. Ein armenischer Professor sollte hier in öffentlicher Versammlung reden, um für die Armenier Liebesgaben zu sammeln, bezw. dafür zu interessieren. Denken Sie einmal, wenn in der Türkei 10 Juden ermordet wären, von sämmtlichen Juden Europas erhoben worden! Dieser Professor Thumajan ist in der Presse arg verleumdet worden. Er hat unangefochten in der Schweiz, Frankreich u. s. w. reden dürfen, nur bei uns nicht. Fürchtet man die Türkei? Wir haben es in Armenien mit der umfassendsten, blutigsten, grausamsten Christenverfolgung zu thun, die es je gegeben hat. Selbst die Christen⸗ verfolgungen unter den römischen Kaisern stehen dahinter zurück. Sogar höhere türkische Offiziere haben an diesen Greueln theil⸗ genommen. Vielleicht klärt der Minister auf, weshalb dieser Pro⸗ fessor Thumajan in Deutschland nicht hat reden dürfen. Die evange⸗ lische Bevölkerung ist durch dieses Verbot sehr beunruhigt worden.
Minister des Innern Freiherr von der Recke:
Meine Herren! Es ist richtig, daß dem armenischen Professor und Pastor Thumajan, einem türkischen Unterthanen, nahe gelegt worden ist, entweder mit seinen aufreizenden Reden, die er in den versche⸗ densten Versammlungen hier gehalten hat, innezuhalten oder sih darauf gefaßt zu machen, des Landes verwiesen zu werden.
Die Gründe hierzu lagen auf dem Gebiete der auswärtigen Politik. Der Professor Thumajan hat sich nämlich nicht, wie der Herr Abg. Stöcker eben ausführte, darauf beschränkt, Theilnahme für die Armenier zu erwecken, sondern er hat das in einer Art gethan, die in der gröblichsten Weise die Rücksichten verletzte, welche er seinem Heimathsstaate und vor allen Dingen seinem eigenen Souverän schuldete. Es konnte nicht als den guten Beziehungen, die wir mit der Hohen Pforte und insbesondere mit dem hohen Souverän derselben pflegen, entsprechend erachtet werden, diesem Treiben des Professors Thumajan noch länger zuzusehen. Allen übrigen Aeuße⸗ rungen des Wohlwollens und der Sympathie gegenüber den Armeniern ist in keiner Weise entgegengetreten worden V
Abg. Dr. von Heydebrand und der Lasa (kons.): Der Bund der Landwirthe bekämpft nur die Handelsverträge, die nach seiner Meinung dazu führen können, das nationale Gefühl zu untergraben. Das ist etwas ganz Anderes, als was Herr Rickert im Auge hatte. Der Prozeß Leckert. Lützow hat in der politischen Polizei große Mißstände aufgedeckt. Bei der Auswahl der Agenten und Beamten wird die größte Vorsicht anzuwenden und den Herren sehr auf die Finger zu sehen sein. Ganz wird man aber solchen Mißgriffen nicht vorbeugen können. Die Ursache des anwachsenden Schreibwerks der Selbst⸗ verwaltung liegt in der Zentralisation und den Anforderungen der Statistik. Die Zoll⸗ und Steuersachen provinziell zu regeln und sie von der Bezirksregierung abzuzweigen, wäre bedenklich.
Unter⸗Staatssekretäar Braunbehrens: Gegen die Ueber⸗ tragung der Sanitätspolizei auf das Ministerium des Innern hätte der Minister des Innern nichts einzuwenden. Zunächst würde aber der Herr Kultus⸗Minister ein Wort darüber zu sagen haben. Das Anwachsen des Schreibwerks beklagen auch wir aufs tiefste. Es wird fortwährend darauf hingewirkt, daß dieser Uebelstand thunlichst be⸗ seitigt wird. Den Präsidenten und Ober⸗Präsidenten ist in dieser Beziehung eine Verfügung zugegangen. Auch in den anderen Ressortt werden dieselben Bestrebungen verfolgt. Es soll kürzer, verständlicher und nur das Nothwendige geschrieben werden. Hierzu muß jeder an seinem Theil beitragen; Reglements helfen nicht viel. Die Reform der Verwaltungsorganisation ist allerdings eine sehr schwierige Frage. Die Sache erfordert Zeit. Manches von dem, was Herr von Zedlitz vorgetragen hat, ist anzuerkennen. Der Umfang und die Interessen der Kreise sind aber sehr verschieden. Der Herr Minister wird alle diese Vorschläge im Auge behalten. Eine plötzliche Erschütterung der jetzigen, verhältnißmäßig kurze Zeit bestehenden Organisation wäre doch gefährlich. Es wäre immer noch besser, kleine Mängel in Kauf zu nehmen, um das viele Gute zu erhalten.
Abg. Dr. Friedberg (nl.): Der Abg. Szmula macht hier oft so scharfe Aeußerungen, daß es ein Wunder ist, daß das Haus und die Regierung sie ruhig hinnimmt. Allerdings geht bei der Unruhe des Hauses manches verloren. Er hat heute gesagt, die preußische Regierung habe die Hungerepidemie zum theil verschuldet. Hat er dafür Beweise erbracht? Eine solche Agitation übertrifft eigentlich noch die sozialdemokratische. Er sagte weiter: er hoffe, die Regierung werde auf das Ober⸗Verwaltungsgericht nicht denselben Einfluß üben, wie auf manche Entscheidung des Reichsgerichts. Das ist unzulässig und unparlamentarisch, hier so etwas ohne Beweis zu sagen. Weiter sagte er: seit Jahrhunderten arbeite der oberschlesische Arbeiter nur dafür, große Reichthümer für die Besitzenden aufzuhäufen. Danach wären also die dortigen Arbeiter die Sklaven der Unter⸗ nehmer. Ist Graf Ballestrem nach seinen Erfahrungen mit dieser Aeußerung einverstanden? Herr Szmula stellt uns Rußland als Musterland hin. Kennt er nicht die Verhältnisse in den Ostsee⸗ provinzen? Herr Jaeckel hat zugegeben, daß er mit uns übereinstimmt darin, daß die Schul⸗ und Amtssprache die deutsche sein soll und daß das Deutscht um nicht zurückzedrängt werden dürfe. (Zurufe: Ge⸗ setzlich!) Natürlich mit gesetzlichen Mitteln. Ich weiß also garnicht, was Herr Jaeckel mit seiner Rede eigentlich wollte. Er mußte 494 doch sagen, daß seine Rede hier jeden Deutschen auf das peinlichste berühren müßte. Die Ausführungen des Herrn von Heereman waren durchaus nicht zutreffend. Niemandem ist es FFne jemandem im Hause vorzuwerfen, daß er kein Nationalgefühl habe. Das Zentrum und der Freisinn vertreten nur den Gesichtspunkt der rein formalen Gerechtigkeit. Auf der andern Seite steht der Gesichts⸗ punkt, daß die eigene Nationalität im Vordergrunde stehen m Dem Minister sind wir dankbar, daß er Reformen in der politischen Polizei energisch durchführen will. Diese Reformen bewegen si allerdings in einem engen Rahmen, aber wir wollen den guten Willen für die That nehmen. Wir glauben, daß die Beamten zu selbständig sind und nicht genügend kontroliert werden. Der politische Polizei werden auch manchmal ganz unnöthige Aufgaben gestellt. Sie soll subversiven Bestrebungen und Parteien gegenübertreten. Die Kommissare haben sich aber auch nach den Verfassern von
in der Presse erkundigt, die irgend einem Minister nicht lieb waren. erner werden diese Beamten viel zu niedrig besoldet. 3⸗ bis — „ob ceichen nicht aus, und darum liegt die Gefahr nahe, daß diese Beamten sich Nebeneinnahmen verschaffen. Was die Medizinalpolizei betrifft, so ist der größte Theil meiner politischen Freunde dafür, dem Ministerium des Innern übertragen werde. Der Hoch⸗ deß afferban kommt beim Eisenbahn⸗Ministerium zu kurz. Er könnte dem Handels⸗Ministerium übertragen werden. Die Straf⸗ anstalten müßten nach gleichmäßigen Grundsätzen geleitet werden und der Strafvollzug überhaupt der Justizverwaltung unterstellt werden. Die Bezirksregierungen sind allerdings in letzten Zeit sehr überlastet worden. Ob aber die Anregung des von Zedlitz das Richtige trifft, ist mir nicht klar. Ich fürchte, daß sich die erste Instanz zu einer kleinen Regierung ausbildet und die Bureaukratie noch verschärft würde. Herrn von Stumm hier zu vertheidigen, ist nicht meine Aufgabe; aber als Zeuge der neulichen Stumm'schen Rede muß ich anerkennen, daß er die Gache vollständig klargestellt hat. Herr von Stumm hat nur einen Redakteur beauftragt, eine Reihe von Artikeln zu sammeln, um den Prozeß gegen Herrn Stöcker zu führen. Herr Stöcker will nur gesagt haben, Leckert und Lützow haben das Material sammeln lassen gegen ihn; ob im Auftrage von Stumm, wisse er nicht, er wolle es nicht annehmen. Das macht aber doch indirekt den Eindruck, daß Herr von Stumm doch diesen Zweck verfolgt hat. Herr Stöcker hätte besser gethan, wenn er das, was aus seinen Worten heraus⸗ elesen werden kann und herausgelesen ist, zurückgenommen hätte. bir einen Geistlichen wäre diese Forderung nicht zu viel gewesen.
Minister des Innern von der Recke:
Meine Herren! Ich bitte, mir nur wenige Worte zu gestatten. Ich möchte dem Herrn Abg. Professor Friedberg meinen Dank aus⸗ sprechen für die Rathschläge, die er uns hinsichtlich der Organisation der politischen Polizei gegeben hat; ich werde nicht verfehlen, dieselben bei den Erörterungen, in denen wir uns augenblicklich befinden, mit in Erwägung zu ziehen. Ich nehme übrigens schon jetzt Akt von der Erklärung seiner Bereitwilligkeit, uns höhere Gehälter zu bewilligen für gewisse höhere Beamte der Polizei, falls wir es als nothwendig
erachten. (Heiterkeit.) Was dann die von Herrn Abg. Dr. Friedberg gemachten Be⸗
merkungen zu der Rede des Herrn Abg. Szmula betrifft, so kann ich nur vollauf bestätigen, daß es mir absolut unmöglich gewesen ist, auch nur etwas von der Rede des Herrn Abg. Szmula im Zusammen⸗ hange zu verstehen. Wäre das möglich gewesen, so wären selbstver⸗ ständlich die Behauptungen des Herrn Abg. Szmula nicht unerwidert und nicht unwidersprochen geblieben. Nachdem ich nun durch den Herrn Abg. Dr. Friedberg von den Aeußerungen des Herrn Abg. Simula Kenntniß bekommen habe, muß ich dieselben ebenfalls als zanz unerhört bezeichnen, die durch nichts begründet sind. (Bravo!)
Abg. Dasbach (Zentr.): Der Minister hat den Grundsatz mfgestellt, daß man ganze Institutionen nicht nach den Verfeh⸗ lungeni Enzelner beurtheilen dürfe. Den Polen gegenüber wendet er ihn aber nicht an. In vielen Fällen haben die Angeklagten und Beschuldigten gar keine Gelegenheit, sich zu vertheidigen. Nach einem Erlaß des Ministeriums sollen amtliche Anzeigen in oppositionellen Blättern nicht veröffentlicht werden. Fast der gesammten Zentrums⸗ presse sind solche Anzeigen entzogen worden. Herr von Marschall nimmt hier eine andere Stellung ein. Er hat Informationen Blät⸗ tern gegeben, die gegen ihn sich feindselig verhalten haben. Redner führt einige Fälle an, in denen Zentrumsblättern die amtlichen Anzeigen vorenthalten seien. Das katholische Volk habe ein Recht und ein Interesse daran, die Verfügungen der Behörden zu lesen. Für diese Imparität sei kein stichhaltiger Grund angeführt worden. Der „Märkischen Volkszeitung“ seien vom Grafen Pückler die Kriminal⸗ nachrichten entzogen worden, weil sie angeblich gehässige Artikel gegen die politische Polizei gebracht habe. Der wahre Grund aller dieser Entziehungen sei nur, daß die Blätter nicht gegen ihre Ueberzeugung alle Regierungsmaßregeln vertheidigen. Als wenn nicht auch offiziöse Blätter wie die „Kölnische Zeitung“ die Regierung angriffen und ihre Maßregeln kritisierten.
Minister des Innern Freiherr von der Recke:
Meine Herren! Nichts berechtigt den Herrn Abg. Dasbach zu der Annahme, daß die Grundsätze, welche in dem von ihm vorhin zitierten Bescheide des Staats⸗Ministeriums aufgestellt sind, nicht in loyaler Weise gehandhabt würden, und ich muß gegen eine derartige Unter⸗ stellung ernstlichst Verwahrung einlegen. Die von ihm hier vor⸗ gebrachten Spezialfälle sind mir nicht bekannt; ich bin daher nicht in der Lage, sie zu kontrolieren.
Ich muß also dem Herrn Abg. Dasbach anheimstellen, wenn er sch durch diese Verfügungen von Unterbehörden verletzt fühlt, im Instanzenwege seine Beschwerden zur Geltung zu bringen. (Bravo!
rechts.)
Abg. Schmidt⸗Nakel (fr. kons.): Ich muß als Bewohner der Provinz Posen den Ausführungen des Abg. Jaeckel entgegentreten. Herr Jaeckel kennt die Verhältnisse der Provinz nicht, und wenn er sagte, daß mit Ausnahme der Junker und Pfaffen alle Deutschen hinter ihm stehen, so ist das eine durchaus gewagte und freche Be⸗ hauptung. (Präsident von Köller: Dieser Ausdruck ist unparla⸗ mentarisch; ich rufe Sie deshalb zur Ordnung.) Ich habe gewußt, daß ich einen solchen Ordnungsruf erhalten würde, aber ich lasse mir ihn ruhig gefallen, da ich es mit einem Mann wie Herrn Jaeckel ju thun habe. Ich gehöre nicht zu den Junkern und Pfaffen, son⸗ dern zu den Bauern. Kein deutscher Bauer, auch kein Beamter und kein Handwerker wird sich vom Freisinn leiten lassen. Wir deutschen Bauern wissen ganz genau, wohin uns die freisinnige Gesetz⸗ gebung gebracht hat. Greift uns die Staatsregierung nicht bald unter die Arme, so geräth der deutsche Bauernstand an den Bettelstab. Einverstanden bin ich mit Herrn Jaeckel darin, daß auch wir in Posen eine Kreisordnung erhalten müssen. Die Distriktskommissare haben eine zu große Gewalt. Die Farbenänderung in Posen ist mit Jubel begrüßt worden, und es wurde die preußische Hymne angestimmt: „Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben? Die Fahne schwebt mir schwarz und weiß voran!⸗ Die schmutzigen Artikel der Polen bringen falsche Nachrichten, auch die, daß der Bromberger Kreis überwiegend polnisch sei. Das ist eine schwere Aufwiegelei, ebenso die polnische Nachricht, daß im Bromberger Kreise die Hundesteuer eingeführt werden soll. ls ich neulich nach Hause kam, sagte mir einer meiner Freunde: „Du was sind das für Zustände im Abgeordnetenhause! Ihr zankt Euch wohl mit den Polen?“ Ich sagte: „Beruhigt euch nur, wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts in der Welt..
Abg. von Ploetz kons.): Der zitierte Artikel stammt aus dem Jahre 1895 oder 1896 und spricht nur hypothetisch. Man kann mich doch auch nicht für jeden Artikel dieser Zeitung verantwortlich machen. Oder würde Herr Rickert etwa die Verantwortung für jeden Artikel der „Danziger Zeitung“ übernehmen? Da bätte er viel iu thun. Wenn Herr Rickert sagte, der Bund der Landwirthe und der Antisemitismus seien identisch, so ist ihm dieser Ausdruck wohl nur so entfallen. Wir treiben im Bunde keine Parteipolitik, sondern wirthschaftliche Politik und nehmen alle Leute auf, die zu uns kommen. (Ruf links: Auch die Juden?) Auch früher freisinnige
auern. Von den Antisemiten übernehmen wir nur die berechtigten wirthschaftlichen Forderungen. Sonst haben wir mit ihnen nichts zu thun, und wenn man uns mit den Antisemiten identifiziert, so ist as nur ein agitatorisches Schlagwort. Die Stellung der Regierung iu der Mühlenfrage befriedigt mich nicht. Sie enthält eine Befür⸗ wortung der Konzentration des Kapitals.
Aba. Hanssen⸗Apenrade (Däne) beschwert sich 8 ie angeblich
willkürliche Handbabung der Polizeigewalt in Nordschleswi Es würden dort alte Polizeiverordnungen ausgegraben und die Fevölke⸗ rung mit neuen Verfügungen belästigt. In landwirthschaftlichen Vereinen dürfe nicht dänisch gesprochen werden, sehr zum Schaden der Landwirthschaft selbst. Versammlungen seien verboten worden ohne einen zureichenden Grund. 1
Geheimer Ober⸗Regierungs⸗Rath von Philipsborn giebt dem Redner anheim, die angeführten Fälle auf dem Beschwerdewege zur Entscheidung zu bringen. Gegen den Vorwurf einer willkürlichen vee e der Polizeigewalt müsse er entschieden Verwahrung einlegen.
Abg. Bachmann (nl.) tritt den Ausführungen des Abg. Hanssen entgegen. Der größte Theil Nordschleswigs sei gut deutsch, und wenn es der kleinere Theil noch nicht sei, so liege dies nur an der dänischen Agitation. So schlimm stehe es mit der nord⸗ schleswigschen Landwirthschaft denn doch nicht, daß man sich landwirth⸗ schaftliche Lehrer aus Dänemark verschreiben müsse. Es herrschten dort ähnliche Verhältnisse, wie in Posen. Aber es bestehe doch ein Unterschied: die Polen protestierten gegen eine Loslösung von — fg, Hanssen und seine Freunde würden einen solchen Protest nicht erheben.
Abg. Szmula (Zentr.); Wäre die Rechte nicht so unruhig ewesen, so hätte der Minister meine Rede verstanden. Daß ich foztaltftische Tendenzen verfolge, muß ich entschieden zurückweisen. Ich bin Landwirth und bekämpfe den Sozialismus. Was die Hungersnoth in Oberschlesien betrifft, so bat 1847 die Regierung erst spät sich um die Sache bekümmert, indem sie einen Arzt aus Berlin hinschickte. Ich bleibe also dabei, daß die Regierung an der Epidemie Schuld gewesen. Herr Virchow würde mir das bestätigen, wenn er hier wäre. Eine Beeinflussung der obersten Gerichte habe ich allerdings nicht für unmöglich gehalten. Ich habe sie aber nicht behauptet. Schon die Art und Weise, wie der Minister die Sache besprochen hat, ist eine Beeinflussung. 8 3 .
Abg. Gothein (fr. Vgg.): Der polnische Charakter und das olnische Wesen sind mir nicht sympathisch, und ich bedaure die
gitation zur Ausbreitung der polnischen Sprache. Als Deutscher wünsche ich, daß alle Glieder Preußens — dazu gehören auch die ean-s — sich der deutschen Sprache bedienen, in ihrem eigenen Interesse, onst können sie ihre Arbeitskraft an anderer Stelle nicht ver⸗ werthen. Herr Friedberg hat Herrn Jaeckel vorgeworfen, daß er als Deutscher in dieser Versammlung so gesprochen habe. Warum soll man etwas, was man für richtig hält, nicht sagen? Ich unterschreibe nicht jedes seiner Worte; aber es ist unendlich viel richtiger, eine Wunde klar zu legen und sie zu heilen, als ein Pflaster darauf zu legen und sie zu verbergen. Sehr viel von dem, was für die Germanisierungsbestrebungen in Posen geschieht, halte ich für ver⸗ fehlt. Ich verweise auf die Ausweisungen aus Oberschlesien. Damals herrschte in allen deutschen Kreisen, auch in konservativen Beamten⸗ kreisen, die Ueberzeugung, daß diese Maßregel eine harte, ein Unglück sei, ein bitteres Unrecht, eine schwere Vergewaltigung. Erst seitdem haben wir das Aufflackern einer intensiven polnischen Agitation auch in Oberschlesien. Kleine Nadelspitzen, wie das Verbot des Spielens von polnischen Liedern und die Aenderung der Farben, erregen nur Verstimmung. Wir bitten die Regierung dringend, hier nur auf gesetzlichem Wege vorzugehen und alle Beschwerden zu be⸗ seitigen. Wir würden auch gegen den H. K. T.⸗Verein nichts haben, wenn nicht viele seiner Maßregeln den Frieden störten und die Germanisation verzögerten. Soll wirklich der englische Grundsatz bei uns herrschen: right or wrong, my country, Recht oder Un⸗ recht, wenn es nur dem Vaterlande nützt? Dieser Grundsatz käme darauf hinaus: Der Zweck heiligt die Mittel, Gewalt geht vor Recht. Damit können Sie den Antisemitismus und die Vorgänge in Trans⸗ vaal vertheidigen. Es hat England nichts genutzt; das Wort von dem perfiden Albion hat sich nur zu oft bewahrheitet. Ich aber sage: justitia fundamentum regnorum.
vertagt sich das Haus. Schluß 4 ¼ Uhr. Nächste Sitzung: Freitag, 113Uhr. (Fortsetzung dieser Berathung.)
Parlamentarische Nachrichten.
Dem Reichstage ist der folgende Entwurf eines Gesetzes wegen Verwendungüberschüssiger Reichs⸗Einnahmen aus dem Etatsjahre 1897/98 zur Schuldentilgung
ugegangen: zugegang 81
Uebersteigen im Etatsjahre 1897/98 die den Bundesstaaten zu⸗ stehenden Ueberweisungen aus den Erträgen an Zöllen, Tabacksteuer, Branntweinverbrauchsabgabe und Zuschlag zu derselben, sowie an Reichsstempelabgaben die aufzubringenden Matrikularbeiträge, so ist die Hälfte des Ueberschusses an den den Bundesstaaten aus dem Er⸗ trage der Zölle und der Tabacksteuer zu überweisenden Beträgen zu kürzen und zur Verminderung der Reichsschuld zurückzuhalten.
Die Verminderung der Reichsschuld erfolgt durch entsprechende Absetzung vom Anleihesoll. Soweit geeignete Anleihekredite nicht mehr offen 8 wird über die Art der Schuldentilgung durch den Reichs⸗ haushalts⸗Etat Bestimmung getroffen.
§ 2.
Uebersteigen im Etatsjahre 1899/1900 die Matrikularbeiträge das Etatssoll der Ueberweisungen für die gleiche Periode zuzüglich des Ueberschusses der rechnungsmäßigen Ueberweisungen über die Matrikular⸗ beiträge im Rechnungsjahre 1897/98, so bleibt der Mehrbetrag inso⸗ weit unerhoben, als auf Grund des § 1 Mittel zur Schuldentilgung verfügbar geworden sind. Die hiernach zur Herstellung des Gleich⸗ gewichts im ordentlichen Etat erforderliche Deckung erfolgt zu Lasten des außerordentlichen Etats.
§ 3.
Bei Ermittelung des Unterschiedes zwischen den Ueberweisungen und den Matrikularbeiträgen werden von den letzteren die von einzelnen Bundesstaaten zur Reichskasse zu zahlenden Ausgleichungsbeträge ab⸗ gesetzt.
Die allgemeine Begründung lautet:
Der vorliegende Gesetzentwurf bezweckt, in ähnlicher Weise, wie solches durch das Gesetz wegen überschüssiger Reichs⸗ einnahmen zur Schuldentilgung vom 16. April 1896 (Reichs⸗Gesetzbl. S. 103) für das laufende Rechnungsjahr eschehen ist, auch für das Etatsjahr 1897/98 Vorsorge zu treffen, daß ein Theil der aus den so⸗ genannten Ueberweisungssteuern zu erhoffenden Mehreinnahmen im Reichshaushalt zur erminderung der Reichsschuld Verwendung findet. Einer Rechtfertigung wird dieses Vorgehen kaum bedürfen. Die Gefahren eines weiteren Anwachsens der Reichsschuld und die Nothwendigkeit einer wirksamen Abbürdung derselben haben seit Jahren im Bundesrath und im Reichstage bei den Etatsverhandlungen sowohl wie bei den Erörterungen über die Gesetzentwürfe, betreffend die anderweite Ordnung des Finanz⸗ wesens des Reichs, in steigendem Maße Anerkennung gefunden und in der gegenwärtigen Session des Reichstages auf Antrag des letzteren zur Vereinbarung des Eingangs bezeichneten Gesetzes geführt. Ohne
weifel würde durch eine dauernde Regelung des nanziellen Ver⸗ ältnisses zwischen Reich und Einzelstaaten auch dem Bedürfnisse einer Verminderung der Reichsschuld in zweckmäßigerer Weise vr. werden, und die verbündeten Regierungen glauben deshalb um so mehr eine solche Reform als das Endziel ihrer Bestrebungen festhalten zu sollen. So lange indessen dieses Ziel nicht erreicht ist, wird dem berechtigten Weriasger nach der Verwendung überschüssiger Reichseinnahmen zur Schuldentilgung durch jährlich zu erneuernde Spezialgesetze Rechnung zu tragen 102 Der Wirths fftsplan des Reichs für 1897/98 sieht wiederum Anleihebewilligungen im Betrage von 56 763 747 ℳ vor. Die vorläufige Anspannung des Kredits bis zu dieser Höhe war unvermeidlich, um thunlichst Sicherheit dafür zu gewinnen, daß die allen Bundesstaaten gemeinsamen Matrikularbeiträge 8 8 8 “ v“ “ v
ohne materielle Belastung der Landeshaushalte aufgebracht werden. Die bisherigen Erträgnisse der Ueberweisungssteuern im laufenden Wirthschaftssahre — indessen zu der Hoffnung, daß auch für 1897/98 ein erheblicher Betrag zur Verminderung der Reichsschuld verfünbar bleiben werde. Erweist sich diese Voraussetzung als zu⸗ treffend, weichen also die wirklichen Wirthschaftsergebnisse von der planmäßigen Erwartung zum Vortheil der Einzelstaaten ab, so wird eine nachträgliche Ermäßigung der Anleihe geboten erscheinen.
Statistik und Volkswirthschaft.
Die Geschäfte des Reichsgerichts im Jahre 1896.
Im Jahre 1896 sind beim Reichsgericht 2496 Zivilsachen anhängig geworden. Hiervon waren 2395 ordentliche Prozesse, 12 Wechselprozesse, 3 andere Urkundenprozesse, 86 Ehe⸗ und Ent⸗ mündigungssachen. Von den ergangenen Urtheilen lauteten 338 auf Aufhebung des angefochtenen Urtheils, und zwar wurden von diesen 333 an die frühere Instanz zurückverwiesen, während 105 das Reichsgericht selbst erledigte. Bei 1711 wurde auf Zurückweisung oder Verwerfung der Revision erkannt. Die Zahl der mündlichen Ver⸗ handlungen betrug 2167, von denen 856 in früheren Jahren, 1311 im laufenden Jahre anhängig geworden sind. Unter den Verhandlungen befinden sich 1770 kontradiktorische. Bei den 2496 Prozessen betrug der Zeitraum zwischen der Einreichung der Revisionsschrift zur Terminsbestimmung und dem ersten Verhandlungs⸗ termine weniger als einen Monat bei 6, 1 bis 2 Monate bei 75, 2 bis 3 Monate bei 212, 3 bis 4 Monate bei 288, 4 bis 6 Monate bei 1108 und 6 Monate und mehr bei 807 Sachen. Von allen durch kontradiktorisches, die Sache erledigendes Endurtheil für die Instanz beendeten Prozessen hatten seit der Einreichung der Revisions⸗ schrift zur Terminsbestimmung bis zur Verkündigung jenes Urtheils gedauert weniger als 3 Monate 219, 3 bis 6 Monate 1076, 6 Monate bis 1 Jahr 447, 1 Jahr bis 2 Jahre 20, mehr als 2 Jahre 1. An Patentsachen waren anhängig 50, wovon 33 erledigt wurden, 17 un⸗ erledigt blieben.
In Strafsachen waren 5704 Revisionen anhängig, darunter 642 überjährige; davon sind erledigt 5265, und zwar 103 durch Verzicht oder sonst ohne Gerichtsbeschluß, 431 durch Beschluß, in welchem die Revision für unzulässis erachtet ist, 6 durch Beschluß, welcher die Unzuständigkeit des Reichsgerichts ausspricht, und 4725 durch Urtheil. Unerledigt blieben demnach 439 Sachen. Die Zahl der Hauptverhandlungen vor den Strafsenaten betrug 4725. Auf Revisionen gegen Urtheile der Schwurgerichte sind 208, auf Urtheile der Strafkammern sind 4517 Entscheidungen ergangen. 26 Fälle kamen vor, in denen § 397 der Strafprozeßordnung angewendet ist, 1 Fall, in dem eine Entscheidung der vereinigten Strafsenate statt⸗ gefunden hat. Strafsachen, in denen das Reichsgericht in erster und letzter Instanz zuständig ist, waren 6 anhängig, darunter 2 überjährige Sachen. Unerledigt sind hiervon 2 geblieben.
Beschwerden in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, Strafsachen und Konkursverfahren waren 1184 eingegangen, von denen 61 ohne Entscheidung sich erledigten, 220 für begründet und 858 für unbe⸗ gründet erklärt wurden.
In Sachen der Konsulargerichtsbarkeit waren 3 Be⸗ rufungen in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten anhängig. Die Zahl der mündlichen Verhandlungen betrug 5. Berufungen in Strafsachen lagen 4 vor, die sämmtlich erledigt wurden. Die Zahl der Haupt⸗ verhandlungen betrug ebenfalls 4. Außerdem wurden 8 Beschwerden
Die Geschäfte der Reichsanwaltschaft umfaßten 8 Hoch⸗ und Landesverrathssachen, 5068 Strafsachen, 13 ehrengerichtliche Sachen in der Berufungsinstanz, 7 Disziplinarsachen in der Be⸗ rufungsinstanz, 1 Disziplinarverfahren gegen richterliche Beamte in Elsaß⸗Lothringen, 75 Ebesachen, 3 Entmündigungssachen, 7 Beschwer⸗ den über Beschlüsse des Untersuchungsrichters in Hoch⸗ und Landes⸗ verrathssachen, 122 Anträge auf Entscheidung des Revisionsgerichts, 60 Gesuche um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. 38 Anträge auf Bestimmung des zuständigen Gerichts, 3 Anträge gemäß § 144 des Gerichtsverfassungsgesetzes, 20 Erinnerungen gegen den Kosten⸗ ansatz bezw. Beschwerden, welche den Kostenansatz betrafen, 1 Be⸗ schwerde gegen Entscheidungen der Konsulargerichte. Verhandlungs⸗ termine haben 4824 stattgefunden, darunter in Strafsachen 4780.
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Fsortbildungsschulwesen.
In den Orten Dieblich, Mülheim, Moselweiß und Metternich des Kreises Koblenz⸗Land sind in neuerer Zeit länd⸗ liche Fortbildungsschulen eingerichtet worden, in Kesselheim, desselben Kreises, ist die Errichtung einer solchen beschlossen worden. In der Gemeinde Engers, Kreis Neuwied, wird ein Hand⸗ arbeitskursus für Schulknaben eingerichtet. In dem Orte Oberzissen des Kreises Ahrweiler ist unter der Leitung zweier Lehr⸗ schwestern des dortigen Klosters eine Haushaltungsschule ins Leben getreten. Die Zahl der Theilnehmerinnen — nicht mehr schul⸗ pflichtige Mädchen — beträgt 68. Wegen des starken Schulbesuchs sd mei Cöten gebildet worden. Es handelt sich vorläufig um einen Versuch. 8
Zur Statistik des gewerblichen Lehrlingswesens
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Das kürzlich erschienene Statiftische Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1894 (Mittheilungen des statistischen Departements des Wiener Magistrats) hat wieder eine erhebliche Vermehrung — um volle 5 Druckbogen — seines ohnedies sehr reichen Inhalts erfahren, und zwar namentlich in seinem „die Gewerbe und gewerblichen An⸗ gelegenheiten“ betreffenden siebzehnten Abschnitt. ir theilen aus diesem Abschnitt nachstehend Einiges zur Statistik des gewerb⸗ lichen Lehrlingswesens mit, indem wir dabei auch das in Ab⸗ n. XVI behandelte gewerbliche Bildungswesen, soweit es die ehrlinge berührt, kurz berücksichtigen.
Was zunächst das Lehrlingswesen bei den gewerblichen Genossenschaften anbelangt, so wurden im Jahre 1894 bei 95 Genossenschaften im Ganzen zaufgedungen“ 16 728 (13 622 männl. und 3106 weibl.) und „freigesprochen“ im Ganzen 11 785 (9511 männl. und 2274 weibl.) Lehrlinge. Dabei wurden in 1461 Fällen die Lehr⸗ stellen durch die Genossenschaften vermittelt, in 1159 das Lehrverhält⸗ niß vor der bedungenen Zeit durch den Lehrherrn und in 846 Fällen durch den Lehrling gelöst. Die Zahl der Aufdingungen männlicher Lehrlinge bewegte sich in den Jahren 1890 bis 1894, wie folgt: 12 513 — 13 327 — 12 526 — 12 815 — 13 622.
Die Gesammtzahl der bei 125 Genossenschaften Ende 1894 vorhanden gewesenen Lehrlinge belief sich auf 33 171 männliche und 6278 weibliche, bei einem Stande von im Ganzen 72 296 Genossenschaftsmitgliedern (54 943 männlichen, 17 223 weib⸗ lichen und 130 juristischen Personen) mit 137 731 männlichen und 49 360 weiblichen Gehilfen. 1
Die weiblichen Lehrlinge finden sich bei folgenden Genossen⸗ schaften. der Banderzeuger 16 (neben 4 männlichen); Bettwaaren⸗ erzeuger 1 (52); Blas⸗ und Streichinstrumentenmacher ꝛc. 1 (55); Ferensschmtges 303 (0); Friseure, Raseure, Perrückenmacher 5 (493);
uweliere, Gold⸗ und Silberschmiede 2 (732); Kamm⸗, Fächermacher und Beinschneider 24 (92); Wiener Kaufmannschaft 21 (2674); Kleider⸗ macher 3759 (4891); Kunstblumenerzeuger ꝛc. 463 (0); Modistinnen und Modisten 532 (0); Naturblumenbinder und ⸗Händler 67 (1);
faidler (darunter Wäscheerzeuger, Kragen⸗ und Manschettenmacher,
eißnäher, Kravattenmacher, Frauenröckemacher, Frauenschürzen⸗ macher, Weißsticker, Kunststicker, Mustervordrucker, Tambourierer, Rüschenmacher, Häubchen⸗ und Chemisettenmacher) 430 (97); Posa⸗ mentierer 321 (117); Schuhmacher 10 (2935); Sonnen. und Regen⸗ schirmerzeuger 96 (43); Strohhuterzeuger ꝛc. 42 (12); Wäscher und Wäscheputzer 180 (2); Wirkwaarenerzeuger 5 (6). Um dieses für die Frage der Antheilnahme des weiblichen Geschlechts an der berufs⸗ mäßigen, sog. „gelernten“ Arbeit im Gewerbe und am Genossenschafts⸗ leben baebesaake Bild zu vervollständigen, sei noch bemerkt, daß nach⸗
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