1897 / 102 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 01 May 1897 18:00:01 GMT) scan diff

Mahaca —— —— e1.“*““ 8 1 ..“

——

versicherung ja doch das Kapitaldeckungsverfahren, und es kann deshalb nicht auffallen, daß nach einer so kurzen Periode der Geltung unseres Gesetzes noch eine erhebliche Differenz zwischen den Leistungen der An⸗ stalten und der Belastung der Arbeiter besteht. Die Beiträge werden jedoch auch für die Anwartschaft auf künftige Rente entrichtet. Je mehr wir uns nun aber dem Beharrungszustande nähern, um so mehr

wird diese Differen; verschwinden und erheblichen Mehrleistungen über die Beiträge hinaus Platz machen. Und wenn wir in den Beharrungs⸗

zustand eingetreten sein werden, dann wird zwar die jährliche Belastung der Arbeiter durch die Alters⸗ unb Invaliditätsversicherung immer noch, wie jetzt, etwa 50 Millionen Mark betragen, es werden dann aber jährlich an Renten 160 Millionen Mark bezahlt werden, und dazu werden an zurückzuerstattenden Beiträgen noch 16 Millionen Mark hinzutreten. Die Leistungen der Versicherungsanstalten an die Arbeiter werden dann also im Ganzen den Betrag von 176 Millionen

Mark jährlich ausmachen gegenüber nur 50 Millionen Mark jährlicher

Beiträge der Arbeiter.

Wichtiger aber als die Belastung der Gesammtbeit der Arbeiter ist die Frage, wie sich das Verhältniß für den einzelnen Arbeiter stellt. Wenn wir heute fragen: wie stellen sich die Beiträge eines Arbeiters, der eine Rente erhält, zu der Höhe der Rente? so kommen wir zu dem Ergebniß, daß bei fünfjähriger Beitragsleistung von dem einzelnen Arbeiter geleistet sind der Lohnklasse II 5) ¼ 5,20 ℳ, macht zusammen 26 ℳ, und daß er dafür eine jährliche Rente von 124 empfängt, also alljährlich fünfmal so viel, als er insgesammt in 5 Jahren an Beiträgen entrichtet hat.

Ich kann also nur die Bitte wiederholen: wenn Sie nach außen hin über die Gebahrung unserer Invaliditätsversicherungsanstalten Auskunft geben wollen, dann, bitte, geben Sie sie vollständig und vermeiden Sie es, daß aus Ihren Ausführungen geschlossen werden kann, daß das Gesetz doch ein recht mangelhaftes sei, weil es kein vollständiges Aequivalent für das, was der Arbeiter geleistet hat, gewähre. Das wäre, wie gesagt, in vollem Umfange unrichtig.

Damit kann ich die Ausführungen des Herrn Abg. Molkenbuhr, von denen ich übrigens sagen kann, daß sie im übrigen ganz sach⸗ gemäß und ruhig gehalten waren, verlassen und dazu übergehen, die Ausführungen des Herrn Abg. von Levetzow zu besprechen.

Meine Herren, ich habe mich ganz besonders gefreut, aus diesem autoritativen Munde ein so günstiges Urtheil über unsere Vorlage zu hören. Herr von Levetzow, der langjährige Vorsitzende einer Ver⸗ sicherungsanstalt, beständig in Fühlung mit dem praktischen Leben, reich an Erfahrungen auf diesem Gebiete, hat an unserer Vorlage eigentlich weiter nichts auszusetzen gewußt, als die Vorschriften über Ausgestaltung der Aufsicht über die Versicherungsanstalten. Meine Herren, diese Vorschriften, rücksichtlich deren ich übrigens darauf hin⸗ zuweisen mir erlaube, daß die Vorlage, wie sie heute dem Reichstage vorliegt, schon sehr viel weniger zwingende und eingreifende Be⸗ stimmungen enthält, als die Vorlage, die zuerst vom Reichsamt des Innern veröffentlicht war ich sage: diese Vorschriften sind keines wegs aus der Erfahrung der Zentralstelle im Reich hervorgegangen, sondern sie sind hervorgegangen aus Anträgen, die einerseits vom Reichs⸗Ver⸗ sicherungsamt und andererseits ven Bundesregierungen, insbesondere von der Königlich preußischen, gestellt sind. Die Klagen sowohl des Reichs⸗Versicherungsamts, wie der Landesregierungen beziehen sich dar⸗ auf, daß die Vorschriften des geltenden Gesetzes über die Aufsichts⸗ führung nicht ausreichen, um Mißstände, die in der Verwaltung ein⸗ zelner Versicherungsanstalten bemerkbar geworden sind, zu beseitigen; sie haben die Reichsverwaltung ganz nothwendigerweise bestimmen müssen, in dieser Beziehung wirksamere Vorschläge zu machen als das geltende Gesetz enthält. Ich gehe hier auf die Einzelheiten nicht ein; ich will nur das Eine hervorheben, daß Klagen hervorgetreten sind über opulente Errichtung von Dienstwohnungen, über Aus⸗ stattung der Bureaux mit einer Anzahl von Beamten, für die das Bedürfniß nach der Meinung des Reichs⸗Versicherungsamts be⸗ ziehungsweise der Regierung nicht in vollem Umfange nachgewiesen war. Es ist die Besorgniß ausgesprochen worden, daß hier und da in den Bureaux Sinekuren geschaffen würden. Es ist ferner auf einem Gebiet Klage geführt worden, auf dem eine weitere und freiere Thätigkeit der Versicherungsanstalten meiner Empfindung nach gestattet sein sollte, bei der aber doch immer die Rücksicht in Betracht zu ziehen ist, ob diese freiere Thätigkeit mit dem geltenden Gesetz in Einklang steht, das ist auf dem Gebiet der Krankenfürsorge, insbesondere auf dem der Errichtung von Sanatorien. Ich weiß sehr wohl, daß gerade dieser Zweig der Thätigkeit der Versicherungsanstalten in der Bevölkerung außer⸗

ordentlich viele Sympathien hat, und ich bin auch garnicht

dagegen für meine Person, daß die Versicherungsanstalten auf diesem Gebiet thätig werden. Wenn es sich aber, wie es doch bei den Ver⸗ sicherungsanstalten der Fall ist, um die Verwaltung fremden Vermögens handelt, so entsteht die Frage, ob die Grenzen überall nnegehalten sind, die bezüglich dieser Thätigkeit von Seiten der Vor⸗ stände der Versicherungsanstalten hätten eingehalten werden müssen. Also die Sache liegt so. Wir haben uns diese Vorschriften nicht aus den Fingern gesogen; sie sind uns gebracht worden. Es wird im Reichstage oder in der Kommission zu erwägen sein, ob diese Vor⸗ schriften, wie sie heute, wie gesagt, in milderer Gestalt vorliegen, nothwendig sind; und wenn man in dieser Beziehung Aenderungen vornehmen kann, werden die verbündeten Regierungen gewiß bereit sein, darauf einzugehen, sofern sie die Ueberzeugnng gewinnen, daß man mit den dann vorzuschlagenden Vorschriften auskommen kann, um eine ordnungsmäßige und sachentsprechende Verwaltung bei den Versicherungsanstalten sicher zu stellen.

Nun komme ich zu dem Antrage des Herrn von Ploetz. Ich kann diesem Antrage nicht die Aussicht eröffnen, daß er bei den verbündeten Regierungen auf Zustimmung zu rechnen hat. Dieser Antrag ver⸗ rückt meiner Meinung nach die Grundlagen unser Versicherungsgesetz⸗ gebung in einer so eminenten Weise, er verläßt so sehr die An⸗ schauungen, von denen wir bei Ausgestaltung unserer Arbeiter⸗ versicherung ausgegangen sind, daß der Antrag nach meinem Dafür⸗ halten nur dann auf Annahme rechnen könnte, wenn der Nachweis zu führen wäre, daß es absolut nothwendig ist, so fundamentale Aende⸗ rungen vorzunehmen. Diesen Nachweis vermisse ich bisher; er ist von dem Herrn Abg. von Ploetz nicht erbracht, und ich möchte auch glauben, daß es nicht wohlgethan ist, insbesondere den Grundsatz zu verlassen oder zu erschüttern und er wird durch den Antrag er⸗

die Sicherstellung der Zukunft der Arbeiter zu sorgen, die in seinem Dienste beschäftigt worden sind und die für ihn gearbeitet haben. Was nun den Antrag des Herrn Abg. Roesicke anlangt, so will ich dem Herrn Abgeordneten nicht vorenthalten, daß mir dieser Antrag anfänglich außerordentlich sympathisch war. (Heiterkeit und Zuruf.) Ich hatte den Eindruck: die Ermüdung, der wir uns gegenüber befinden⸗ ist so weit gediehen, daß unsere Vorlage, bestehend aus hundert und einigen fünfzig Paragraphen, doch schwerlich auf Durchberathung zu rechnen hat; und in dem durchaus berechtigten Bestreben, wenigstens insoweit dem vorhandenen Bedürfniß abzuhelfen, als es irgend zu erreichen ist, möchte man, so meinte ich anfänglich, wohl dazu über⸗ gehen können, wenigstens einen Theil der wichtigeren Bestimmungen unserer Vorlage, soweit sie eine Vereinfachung des Verfahrens ent⸗ halten, zur Abstellung von Klagen führen und zu Nutz und Frommen der arbeitenden Bevölkerung dienen, vorweg in separato zu ver⸗ abschieden. Aber bei näherer Betrachtung habe ich denn doch die Ueberzeugung gewonnen, daß diese meine erste Anschauung eine grund⸗ falsche gewesen ist. (Heiterkeit.)

Denn einmal sind die Punkte, welche der Herr Abg. Roesicke die Güte gehabt hat, aus unserer Vorlage in seinen Antrag zu über⸗ nehmen, keineswegs die reformbedürftigsten und dringendsten, und in dieser Beziehung tröstet mich auch nicht der Umstand, daß der Herr Abg. Richter ja schon gütigst in Aussicht gestellt hat, man könne ja auch bei der Berathung des Antrags Roesicke über den Kreis dessen, was darin geboten wird, hinausgehen und könne noch weitere nützliche und sofort zu erledigende Fragen in den Antrag einfügen. (Wider⸗ spruch links.) Allein ich gebe der Auffassung Recht, die mir gestern im Privatgespräch entgegengetreten ist, mit dem Antrag Reesicke nehmen Sie die Korinthen aus dem Platz. (Heiterkeit.) Ja, was ist aber die Folge, wenn Sie diese Korinthen aus dem Platz nehmen? Daß dann das Andere um so weniger schmackhaft ist. (Heiterkeit.) Wenn der Herr Abg. Richter gar nicht zu Unrecht gemeint hat, die Opposition gegen den Antrag Roesicke beruhe auch darauf, daß man das, was der Herr Abg. Roesicke vorwegnehmen will, nun als Vorspann benutzen will für andere Dinge, so ist das einmal ein ganz erlaubtes Procedere; aber, selbst wenn man es ver⸗ werflich finden wollte, wird man mir doch zugeben müssen, daß, wenn man jetzt die Korinthen aus dem Platz nimmt, das Uebrige seiner Er⸗ ledigung in absehbarer Zeit nicht entgegengeführt werden wird. Es ist bei einer solchen Gesetzgebung, von der Bedeutung, wie unsere Invaliditätsgesetzgebung ist, durchaus nothwendis, daß, wenn man einmal an eine Korrektur geht, man sich auch gründlich und umfassend überlegt: was ist an dem Gesetz zu verbessern, wie habe ich es ein⸗ zurichten und daß man nicht stückweise herausgreift und das Andere liegen läßt in der Hoffnung, daß sich später einmal eine Ueberein⸗ stimmung über jetzt noch strittige Fragen ergeben wird. Diese Ueber⸗ einstimmung wird sich, wenn nicht vielleicht die Verhältnisse gerade ganz zwingende werden, von Jahr zu Jahr schwerer gestalten. Also ich glaube, wir müssen nothwendigerweise daran festhalten, daß wir uns nicht mit den wohlwollenden Gedanken des Herrn Roesicke be⸗ gnügen, sondern dahin streben, volle und ganze Arbeit zu machen.

Nun, meine Herren, komme ich, und das ist die Ueberraschung, die mir gestern geworden ist, zu den Ausführungen des Herrn Abg. Dr. Freiherrn von Hertling.

Meine Herren, mich haben die Frühlingslüfte des Jahres 1889 angeweht, als ich, und zwar mit großem Interesse, die Ausführungen des Herrn Abg. Dr. Freiherrn von Hertling gestern hörte. Ich wurde lebhaft zurückgeführt in jene schweren und eifrigen Diskussionen, die über Reichszuschuß, über Ausdehnung der Invaliditätsversicherung über den Kreis der Großindustrie hinaus im damaligen alten Hause an der Leipzigerstraße geführt worden sind, und ich hätte nicht ge⸗ glaubt, daß man heute noch zu der alten Vorliebe für Streichung des Reichszuschusses und Beschränkung auf die Großindustrie zurückkehren würde.

Meine Herren, ich habe es damals im Jahre 1889 verstanden, daß man schwere Bedenken hatte, die Alters⸗ und Inpaliditätsversiche⸗ rung über den Kreis der Großindustrie hinaus und insbesondere auf die Landwirthschaft zu erstrecken. Wir thaten damals einen Sprung ins Dunkle; keiner von uns konnte mit positiver Bestimmtheit voraus⸗ sagen, wie sich unsere Gesetzgebung bewähren würde; aber heute eine Einschränkung anzunehmen, die damals die Majorität des Hauses abgelehnt hat, das, muß ich sagen, würde meiner Ueberzeugung nach außerordentlich schwer zu verantworten sein. (Sehr richtig! rechts.) Er wäre schwer zu verantworten gegenüber allen denjenigen Kreisen, denen der Gesetzgeber ausdrücklich die Zasage gemacht hat: ihr sollt für eure alten Tage eine Rente beziehen; es wäre schwer zu verantworten gegenüber den Faktoren, die nun ohne weiteres an Stelle der Versicherungsanstalten die Fürsorge für diese Kreise übernehmen müssen, denen man die Rente ferner nicht gewähren will; und, meine Herren, es wäre am allerschwersten zu verantworten gegenüber denjenigen, die nun in der Versicherung bleiben, und damit komme ich auf den Nachweis, daß, wenn der Vorschlag, den der Herr Abg. Freiherr von Hertling gestern hier ver⸗ treten hat, Gesetz werden sollte, daß dann die Absicht, die damit ver⸗ folgt wird, doch nicht erreicht wird.

Meine Herren, erstens einmal frage ich mich: wozu diese Einschränkung? Hat denn wirklich, wie der Herr Abg. Freiherr von Hertling andeutete, unsere Invaliditäts⸗ und Altersversicherung Fiasko gemacht? Nein, meine Herren, sie hat kein Fiasko gemacht. Der einzige Mangel, den wir auf dem Gebiete der Organisation und Geschäftsführung beklagen, ist der, daß wir zwei Versicherungsanstalten haben, die uns nicht auf die Dauer als leistungsfähig erscheinen. Deshalb nehmen wir vor⸗ wiegend die Klinke der Gesetzgebung in die Hand, um hier die bessernde Hand anzulegen. Aber hat man denn überhaupt gehört, daß sich die Invaliditäts⸗ und Altersversicherung im allgemeinen prin⸗ zipiell nicht bewährt habe? Hat man denn schon davon gehört, daß die Lasten, die die Invaliditäts⸗ und Altersversicherung dem Volk auferlegt, und die ich keineswegs unterschätze, daß diese Lasten un⸗ erschwinglich sind? Und nun will man eine Wohlthat, die der Gesetzgeber feierlich verbrieft hat, einem Theile der Versicherten ent⸗ ziehen, und zwar einem Theile, der ebenso gut, wie der andere, den Sie in der Versicherung belassen wollen, der Wohlthat dieser Ver⸗ sicherung bedarf. Sie bezeichnen dieses Mittel ausdrücklich als ein Kurmittel gegenüber dem Zustande, daß einzelne Versicherungs⸗ anstalten ausweislich ihrer Geschäftsgebahrung auf die Dauer nicht leistungsfähig sind. Aber, meine Herren, wenn ich jetzt bei

schüttert —, daß der Arbeiter selber für die Sicherstellung seiner Zu⸗ kunft sorgen soll und daß der Arbeitgeber die Verpflichtung hat, für

8*

Ostpreußens die Landwirthschaft aus⸗

2 11“

schließe, und die Versicherungsanstalt ihre Thätigkeit bloß auf die

dort in der Provinz gegenüber anderen Provinzen spärlich vorhan⸗ denen Industrien erstreckt, dann wird ja die Versicherungsanstalt noch viel ehber leistungsunfähig. Und weiter; wenn, wie das in Ihrem Antrag steht, der mir zugegangen ist, wenn Sie den ausscheidenden Landleuten die Befugniß belassen wollen, freiwillig die Versicherung fortzusetzen, und wenn die Landleute in der Versicherungsanstalt Ost⸗ preußen oder Niederbayern von dieser Befugniß Gebrauch machen, dann ist ja die Finanzgebahrung der Versicherungsanstalten auch nicht um einen Pfennig gebessert. Und meine Herren, weiter! Sie wollen entlasten; ja, Sie entlasten ja gar nicht! Den Reichszuschuß wollen Sie aufheben. Soll also dieselbe Rente gewährt werden wie bisher dann muß doch für das Aufbringen desjenigen Betrages, der durch den Reichszuschuß gedeckt wurde, nothwendigerweise ein Aequivalent durch⸗ Erhöhung der Beiträge geschaffen werden.

Und nun endlich, meine Herren, Sie sagen: wir wollen ja den land⸗ wirthschaftlichen Arbeiter nicht hilflos lassen, es soll für ihn gesorgt werden. Ja, aber wie? Das ist eine große Frage. Wollen Sie irgend etwas Anderes an die Stelle setzen, wodurch der Mann einen Rechtsanspruch und zwar einen in seiner Höhe von vornherein be⸗ stimmten Rechtsanspruch genießen soll? Gut! Darüber würde sich reden lassen. Wollen Sie aber, wie es den Anschein hat, den Mann demnächst auf die Armenpflege verweisen, dann, meine Herren, würden Sie sich eines Rückschritts zeihen müssen, den Sie schwer verant⸗ worten könnten. (Sehr wahr!)

Was ist denn das Motiv für unsere sozialpolitische Gesetzgebung gewesen? Wir haben von dem Arbeiter das drückende Gefühl, der Armenunterstützung anheimzufallen, nehmen wollen (sehr richtig!), wir haben ihm die Sicherheit geben wollen, allerdings eine Sicherheit, die er nur auf Grund eigener Leistungen haben sollte, daß für seine alten Tage gesorgt werden wird. Unter diesen Umständen, meine Herren, glaube ich versichern zu können, daß die verbündeten Regierungen zu diesem Zurückgehen auf den Zustand vor 1889, und wenn es auch nur in der Beschränkung auf die Landwirthschaft ist, ihre Zustimmung nicht geben werden. Ich glaube, Herr Freiherr von Stumm hat schon darauf hingewiesen, daß außerdem eine große Schwierigkeit in der Durchführung liegt. Wie wollen Sie, wenn Sie die Alters⸗ und In⸗ validitätsversicherung auf die Industrie und zwar auf die Großindustrie beschränken, die Grenze finden? Heutzutage, bei der großen Entwickelung unserer gewerblichen Thätigkeit, haben wir bekanntlich bei der Gewerbe⸗ ordnungs⸗Kommission die größeste Schwierigkeit, zu untersuchen, was ist Handwerk; wir vermögen nicht ein entscheidendes Kriterium zu finden. Dem gegenüber soll nun, und zwar durch das ganze Reich, ein Unterschied zwischen Großbetrieb und Kleinbetrieb gemacht werden. Meine Herren, das bekommen Sie nicht fertig, wenn Sie nicht eine ganz mechanische und der inneren Berechtigung entbehrende Grenze ziehen.

Nun komme ich noch auf etwas Anderes. Der Herr Abg. Frei⸗ herr von Hertling hat ganz richtig daran erinnert, daß ein großer und bedeutender Gegner der Einbeziehung der Landwirthschaft in die Alters⸗ und Invaliditätsversicherung der verewigte Abg. Windthorst gewesen sei. Ich habe mit vielem Interesse seine Rede nachgelesen, und von dem Standpunkt aus, den man damals gewinnen konnte, vom Standpunkt der Vorsicht aus, sind die Ausführungen derselben durchaus werthvoll und bedeutsam. Aber was hat der Herr Abg. Windthorst damals und zwar gerade, um vor einem so einschneidenden Schritte, wie es die Ausdehnung der Alters⸗ und Invaliditätsversiche⸗ rung war, zu warnen, gesagt? Er hat gesagt:

Wenn Herr von Franckenstein gesagt hat, daß die Arbeiter warten auf die Wohlthaten des Gesetzes, so wird ihm das kein Mensch leugnen können. Ich habe aber die Ansicht, daß, wenn sie das allerdings erwarten, wir doch da die Verantwortlichkeit tragen und Ursache haben, nach allen Seiten hin zu sehen und mit aller Vor⸗ sicht vorzugehen. Denn darüber kann kein Zweifel sein: ein ernfterer, bedeutungsvollerer Schritt als dieser ist auf diesem Gebiet niemals gemacht worden. (Sehr richtig!) Und das ist um so ernster zu nehmen, als der Schritt nicht zurückgethan werden kann. (Sehr richtig!)

Dann führte der Herr Abgeordnete aus: wenn wir in dieser Sache fehl gehen, so kommt alles das, was wir damit verschuldet haben, auf unser Haupt. Meine Herren, ich ersuche die Epigonen des Herrn Abg. Windthorst (Heiterkeit), sich dieser Auffassung an⸗ zuschließen. Sie ist eine durchaus zutreffende. Der Schritt ist ge⸗ schehen. Man kann nicht sagen, daß er sich nicht bewährt hat; zurück⸗ zumachen ist er nicht.

Nun, meine Herren, lassen Sie mich noch ein paar Worte über den Ausgleich sagen, und das ist eigentlich der Punkt, wegen dessen wir einen großen Werth darauf legen, daß auch über den Kreis der Anträge des Herrn Abg. Roesicke hinaus eine Korrektur unserer In⸗ validitätsversicherungs⸗Gesetzgebung eintreten möge. Der Herr Abg. Freiherr von Hertling hat es als bedenklich bezeichnet, diesen Weg zu gehen, und ebenso hat auch der Herr Abg. Richter sich heute positiv dagegen ausgesprochen. Meine Herren, ich muß sagen, wenn man sich in die Anschauungen versetzt, von denen aus das ganze Gebäude unserer sozialpolitischen Gesetzgebung aufgebaut ist, so verstehe ich Ihre Bedenken nicht. Das gebe ich zu, der Herr Abg. Freiherr von Stumm hat ganz recht: der Vorschlag der verbündeten Regierungen geht nicht weit genug; das kann man sagen. Aber daß man Bedenken trägt, zu Gunsten eines nicht hinreichend leistungsfähigen Theils der ganzen Versicherungs⸗ institution die Hilfe der übrigen in Anspruch zu nehmen, das, meine Herren, verstehe ich nicht. Hätten wir die Idee gehabt, von vorn herein eine Versicherungseinrichtung zu treffen, wonach jede einzelne Versicherungsanstalt finanziell so in sich abgeschlossen sein sollte, daß sie nur ausschließlich mit der Erfüllung ihrer Pflichten befaßt wird, und daß sie sich um das, was außerhalb ihres eigenen Kreises, ihres eigenen Territoriums auf dem Gebiete der Versicherung sich begiebt, nicht zu kümmern hätte, dann würden die Herren Recht haben. Aber was ist denn unsere ganze sozialpolitische Gesetzgebung? Es ist eine gemeinsame Wohlfahrtseinrichtung, die allen denjenigen Elementen des Volkes, welche davon nach dem Willen des Gesetzgebers getroffen

werden sollen, gleichmäßig zu gute kommen soll. Und wenn wir

damals nicht zur Reichsanstalt, welche in der Konsequenz dieser Auf⸗ fassung das Richtigste gewesen wäre, übergegangen sind, so lag das ganz einfach daran, daß für die Reichsanstalt damals und ich glaube, auch jetzt eine Majorität bei den verbändeten Regierungen nicht zu haben war.

Nun kann aber der Umstand, daß die ganze Versicherungsein⸗

richtung in dieser Weise nicht durchgeführt worden ist, unmöglich den Erfolg haben, daß jetzt der Versicherungsanstalt Ostpreußen überlassen bleibt, wie sie ihre Verpflichtungen in Zukunft erfüllt, und daß die anderen Anstalten nicht gehalten werden sollen, an einem finanziellen Ausgleich für diese Anstalt theil zu nehmen. Aber selbst wenn diese Auffassung die zutreffende und richtige wäre, dann frage ich, was soll dann werden. Lassen wir den Zustand so, wie er jetzt ist, so ist das Eine sicher: es tritt in absehbarer Zeit der Moment ein, wo die und das Zweite ist sicher, daß verschiedene andere Versicherungs⸗ anstalten fortgesetzt Kapitalien in immer größerem Betrage ansammeln, die jetzt schon eine Höhe angenommen haben, daß von den Zinsen ieser Kapitalien die Renten bestritten werden könnten, ohne daß weiterhin Beiträge zu erheben wären. Da frage ich mich: weshalb soll der Ueberfluß des Einen nicht nutzbar gemacht werden zur Linderung der Nothlage des Andern auf einem Gebiete, welches ein durchaus gemeinsames ist? . Also, meine Herren, der Gedanke, der den Ausgleichsvorschlägen der Regierung zu Grunde liegt, ist, wie ich glaube, nicht zu verwerfen. Das gebe ich zu, ein Radikalmittel ist es nicht. Denn wenn auch uf der einen Seite die Lage der nothleidenden Versicherungsanstalten verbefert wird, so wird doch auf der anderen Seite die Ansammlung es Vermögens anderer Versicherungsanstalten, wenn auch langsamer, weitere Fortfchritte machen. Man wird sich dann im Laufe der päteren Entwickelung zu überlegen haben, wie etwa dieser steigenden Kapitalansammlung abgeholfen werden kann. Ein Ausgleich in der finanziellen Lage der Anstalten ist aber dringendes Bedürfniß, und es uldet die Erledigung dieser Aufgabe, wenn man anders sorgsam und rationell verfahren will, keinen Aufschub. Darin muß ich meinem

Freunde, dem Herrn Abg. Freiherrn von Stumm entgegentreten: die

Erlledigung der Sache hat nicht Zeit bis zum Jahre 1900. Je länger

der jetzige Zustand andauert, um so größer werden die Unterschiede

im Vermögen der Anstalten, und es ist nützlich und gut, diese Diffe⸗ renzen sobald wie möglich zu beseitigen.

Der Herr Akg. Hoffmann (Dillenburg) hat gestern einen Vor⸗

chlag gemacht, der auch schon früher erörtert und auch in der

Begründung zum Gesetzentwurf gestreift ist. Man möge doch, um

die jetzt nothleidenden Versicherungsanstalten leistungsfähiger zu machen, dafür Sorge tragen, daß die Abführung des Marken⸗

betrages, den der Arbeiter zu leisten hat, an diejenige Versicherungs⸗

anstalt, in deren Bezirk er zuerst versichert war, erfolge. Der unge Arbeiter solle, wenn er in Königsberg zuerst in eine ver⸗ sicherungspflichtige Beschäftigung getreten ist, auch späterhin die 1 Marken der Versicherungsanstalt Ostpreußen einkleben, und dann soll auch nachher die Versicherungsanstalt Ostpreußen die Rente zahlen. Ja, meine Herren, das giebt aber eine ganz eigenartige Komplikation; bei der großen Ausdehnung der Freizügigkeit würde die Folge einer solchen Maßregel die sein, daß auf sämmtlichen Postanstalten, Marken aller Appoints von sämmtlichen Versicherungsanstalten vor⸗ räthig gehalten werden müßten. Es müßte deshalb beispielsweise in Trier für einen Versicherten, der aus Pommern stammt, eine Marke

der Anstalt Pommern vorräthig sein. Will man das nicht haben⸗

der Abg. Hoffmann schüttelt mit dem Kopf, dann wird die Sache noch schwieriger, dann muß der betreffende Arbeitgeber oder Arbeit⸗ nehmer an dem Lohnzahlungstage oder an dem Tage, wo nach der Novelle und da haben wir ja ein weiteres Spatium gelassen geklebt werden muß, seinen Beitrag nach Königsberg abführen; ein Drittes ist mir zur Zeit nicht klar, ich werde aber gern einer Be⸗ lehrung zugänglich sein.

Also ich muß mit Rücksicht auf diese Gründe dringend wünschen, daß man, und zwar schon jetzt, eine Remedur schaffe. Meine Herren, es ist davon die Rede gewesen, daß es unmöglich sei, in dieser Session das Gesetz zu verabschieden. Ich will nicht sagen, daß ich in dieser Beziehung von Zweifeln frei bin. (Heiterkeit.) Allein, meine Herren, ich bin auch auf der anderen Seite durchaus nicht davon überzeugt,

daß es unmöglich wäre, dieses Gesetz noch fertig zu stellen. Wir

haben die leuchtendsten Vorbilder (Heiterkeit) in den Leistungen der juristischen Kommissionen, die sich mit dem Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuchs und noch neuerdings mit dem Handelsgesetzbuch befaßt

haben. Meine Herren, was die Juristen können, das können wir Volkswirthe auch (Heiterkeit); wir wollen also mit Ernst Hand ans Werk legen, dann wird es doch vielleicht gelingen, daß wir fertig werden.

Meine Herren, es ist doch immerhin eine große und, wie ich meine, eine dankbare Aufgabe, die Schäden abzustellen, die man abstellen

kann, und da soll man nicht säumen. Zu dem Ruhm, den die deutsche

Gesetzgebung auf diesem Gebiete bereits geerntet hat, und das be⸗ merke ich gegenüber dem Herrn Abg. Molkenbuhr zu dem Ruhm, den der deutsche Arbeitgeber für sich lezüglich seiner Leistungsbereitschaft für die Arbeiter in Anspruch nehmen darf, der deutsche Arbeitgeber,

der mehr geleistet hat, als irgend eine Kulturnation auf dem ganzen weiten Erdenrund ich sage, zu diesem Ruhme lassen Sie uns auch

noch den Ruhm erwerben, daß wir die bessernde Hand unverzüglich

an die Schäden anlegen, die wir in unserer Invaliditätsversicherung

erkannt haben. Sollte es wider mein Verhoffen nicht möglich sein,

nun, dann trösten wir uns mit dem Satz: in magnis et voluisse

sat est! (Bravo!)

Abg. Dr. Hitze (Zentr.): Wenn es sich nur um zwei noth⸗ leidende Anstalten handelt, dann sollte man sich auf diese beiden mit der Verbesserung und nicht die anderen in Mitleidenschaft ziehen. Herr von Boetticher meint, daß die Lasten der Versicherung nicht unerschwinglich sind. Die Ausführungen von der Rechten,

vom Grafen Kanitz, lauteten aber doch dahin, es gehe nicht so weiter. Wenn der Antrag von Ploetz sogar die Versicherung aufgeben und alles auf Steuern aufbauen will, dann kann man es uns doch nicht

verdenken, daß wir auf unsere alten Anträge zurückkommen; denn meine Freunde sind nicht bereit, auf die Vorlage der verbündeten Regierungen einzugehen. Was schadet es denn, wenn die Beiträge bei den verschiedenen Versicherungsanstalten verschieden sind? Die Verschiedenheit ist bei der Krankenversicherung und Unfallversicherung noch viel größer, als sie bei der Invpalidenversicherung jemals werden kann. Daß die territorial abgegrenzten Versicherungsanstalten vollständig selbständig gemacht wurden, ist einer der Kom⸗ promißpunkte, der es einem Theile meiner politischen Freunde ermöglichte, für das Gesetz zu stimmen. senn eine Ver⸗ sicherungsanstalt leistungsunfähig wird, so soll nach dem Gesetz der betreffende Kommunalverband eintreten und nicht die anderen An⸗ stalten. Die Nothloge einiger Anstalten ist entstanden aus der schlechten Beitragszahlung. Die Regierung sollte für die Abstellung solcher Mißwirthschaft sorgen, ehe sie zu anderen Mafiregeln greift. Man nahm an, daß die Altersrente den ländlichen Arbeitern, die Invalidenrente den Industriearbeitern zufallen würde. Man hat jedoch üͤbersehen, daß die induftriellen Arbeiter die Invalidenrente frü⸗ zeitig

uch bald ausscheid ährend die ländlichen Invaliden

Versicherungsanstalt Ostpreußen überhaupt kein Vermögen mehr besitzt,

Grund vor, die Industriearbeiter zu Gunsten der ländlichen Arbeiter zu belasten. Wenn die Anstalten in den landwirthschaftlichen Bezirken die Last nicht mehr tragen können, dann sollten sie doch mit Freuden den Antrag des Jentrums annehmen und die landwirthschaftlichen Arbeiter von der 2 2 ausschließen. Wenn die Vorlage nicht fertig gestellt werden kann, dann sollte man den Antrag Rösicke an⸗ nehmen. Bezüglich des Staatskommissars sind wir durchaus der Ansicht des Herrn von Levpetzow. .

herr von Manteuffel (d. kons.): Wenn die Abhilfe nicht ge en wird durch eine anderweitige Vertheilung der Renten⸗ last, so würde die preußische Regierung berechtigt sein, eine e Versicherungsanstalt einzurichten. Der Antrag, die Industriearbeiter allein versi igspflichtig zu machen, ist arbeiterfeindlich und land⸗ wirthschaftsfeindlich; denn damit würden sämmtliche landwirthschaft⸗ liche Arbeiter in die Städte und damit in die Arme der Sozial⸗ demokratie getrieben werden. Der Rheinische Landwirthschaftliche Verein will die Invalidenversicherung auf die landwirths ichen Berufsgenossenschaften übertragen. 1889 wurde auf Grund des Wider⸗ spruchs einiger Einzelstaaten die Uebertragung der Invalidenversicherung auf die Berufsgenossenschaft aufgegeben, und jetzt will man da zurückkehren. ir von Boetticher hat die optimistische Auf⸗ fassung bekundet, daß die Vorlage jetzt noch erledigt werden könne; er hat auf das leuchtende Vorbild des Bürger⸗ lichen Gesetzbuches verwiesen. Das gelang auf Grund eines Kom⸗ promisses mit Herrn Rintelen wegen der Strafprozeßordnung. Das Bürgerliche Gesetzbuch wurde erledigt, und nachber fiel die Straf⸗ durch. Das nicht, 8 einmal so zu ver⸗ ahren. Herr von Salisch hat die Vorzüge der Vorlage gestern her⸗ vorgehoben, aber ihre Mängel nicht betont. Die einzige wesentliche Vereinfachung, die ich entdeckt habe, ist die Ueberschrift, und schließlich ist das auch n eine Täuschung, denn die Altersversicherun ist drin geblieben, obwohl sie in der Ueberschrift fehlt, und obwoh man auf der Novemberkonferenz 1895 vollständig einverstanden darüber war, daß sie wegfallen sollte. Herr von Boetticher meinte, die Selbst⸗ verwaltung habe schlecht gewirthschaftet. Dieser Vorwurf ist unbe⸗ und kann niemals bewiesen werden. Der Staatskommissar hat sehr viel mehr gekostet, als er irgendwie Nutzen geschaffen hat. Die Verstärkung der Aufsichtsbefugnisse ist durchaus unthunlich. Durch die Bestätigung der Beamten des Vorstandes, durch die Aufstellung des Etats seitens der staatlichen Behörden wird ein unerträglicher Zustand geschaffen, den der Reichstag 1889 einstimmig verworfen hat. In eine Kommissionsberathung mit der Hoffnung, das Gesetz noch in dieser Session fertig zu stellen, kann man sich nicht einlassen. Die anderweitige Rentenvertheilung lähmt jede freie Bewegung so voll⸗ kommen, daß man eine solche Beschränkung den Versicherungsanstalten nicht zumuthen kann. Am liebsten würde ich eine Reichs⸗Versicherungs⸗ anstalt sehen; kann man sie nicht durchsetzen, dann sollte wenigstens für Preußen eine staatliche Anstalt geschaffen werden. Den Antrag von Ploetz habe ich nicht unterschrieben, weil ich ihn für undurch⸗ führbar halte; er führt uns auf die Reichs⸗Einkommensteuer, die ich unter keinen Umständen will. Der Antrag Rösicke bringt nur einige Erleichterungen für die Arbeitgeber und läßt alle sonstigen Unbequem⸗ lichkeiten bestehen, während wir eine gründliche Reform wünschen.

Abg. Kühn (Soz.) wendet fich gegen die Ausführungen des Abg. v. Salisch, der die Fürsorge der Landwirthe für ihre Arbeiter gerühmt habe. Redner wendet sich ferner dagegen, daß durch § 111 eine Klebepflicht der Arbeiter eingeführt werde, die besonders für die Hausindustriellen bedenklich sei. as Zentrum habe sich 1889 gegen das fes erklärt, weil dadurch die Arbeiter noch begehrlicher werden würden.

Abg. Steininger (Zentr.) erhebt dagegen Einspruch; das Zentrum habe sich nur gegen die Hineinziehung der landwirth⸗ schaftlichen Arbeiter gesträubt. Uebrigens hätten die Sozialdemokraten auch damals gegen das ganze Gesetz gestimmt. Redner bestreitet, daß der in Aussicht gestellte Antrag des Zentrums die ländlichen Arbeiter in die Städte bringen würde. In Süddeutschland erspare das Gesinde in jungen Jahren Geld, werde in reiferem Alter selbständig und scheide aus der Versicherungspflicht aus. 8

Abg. Roesicke (b. k. F.) erklärt sich gegen die Ueberweisung der Vorlage an die Unfallversicherungskommission und bittet, seinen An⸗ trag sofort im Plenum weiter zu berathen. .

Abg. Liebermann von Sonnenberg (d. Reformp.) bestreitet, daß der Antrag von Ploetz den Mittelstand belasten würde; seine Freunde seien für den Antrag nur, wenn eine progressive Einkommen⸗ steuer eingeführt werde.

Damit schließt die Debatte. Die Ueberweisung an die Kommission wird sowohl bezüglich der Regierungsvorlage wie bezüglich der Anträge von Ploetz und Rösicke abgelehnt. Die zweite Lesung sindet somit im Plenum statt. Schluß 6 ¼ Uhr. Nächste Sitzung Montag 1 Uhr. (Interpellation, betreffend den amerikanischen Zolltarif.) v

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 72. Sitzung vom 30. April 1897.

Auf der Tagesordnung steht die Fortsetzung der zweiten Berathung des Etats des Ministeriums der geist⸗ lichen, Unterrichts⸗ und Medizinal⸗Angelegen⸗ heiten bei dem Titel „Gehalt des Ministers“. b

Ueber den ersten Theil der Debatte ist gestern berichtet worden.

Abg. Brandenburg (Zentr.): Auf die Anzapfungen und Anek⸗ doten des Abg. von Eynern gehe ich nicht ein. Prozessionen, ins⸗ besondere die Frohnleichnamsprozession, gehören zu den verfassungs⸗ mäßig gewährleisteten Religionsübungen der katholischen Kirche. Trotzdem sind zweimal solche Veranstaltungen wegen Sachbeschädigung und Polizeikontraventionen vor den Strafrichter gezogen worden. Man hat im Kreise Osnabrück das Böllerschießen als Ruhestörung, das Terminieren als Bettelei charakterisiert. Diese Auslegung hat eine große Erregung hervorgerufen. Das Volk kann es nicht ver⸗ stehen, wie ein seit Menschengedenken geübter Brauch auf einmal verboten werden soll. Man sollte diese Frage einheitlich regeln nach einem Uebereinkommen mit den Bischöfen, die gewiß gern kommen würden; die Berechtigung der Prozessionen muß aber anerkannt werden. Die katholische Kirche will die Gottesverehrung nicht auf die Kirchenmauern beschränken, sondern auch ins Freie tragen.

Abg. Rickert (fr. Vgg.): Der Abg. Roeren hat sich über die Verhandlungen des Lehrertages in Hamburg beklagt. Ich habe diese Verhandlungen auch gelesen, aber die angezogene Aeußerung eines Redners über die Abstammung des Menschen nicht gefunden. Gemeint ist wohl der Vortrag des Professors Lehmann in einer Nebenversamm⸗ lung. Einen Einfluß auf die Lehrer dürfte Professor Lehmann nicht haben. Sie können derartige Ausführungen anhören, ohne dem „krassesten Unglauben“ zu verfallen. Wir sollten froh sein, daß unsere Lehrer noch so positiv in kirchlichen Dingen stehen, und es muß sie erbittern, wenn man sie im Parlament so scharf Fcgeis Der jetzige Stand der Frage des Dissidenten⸗Religionsunterrichts ist unerträ lich und unhaltbar und geht sogar über Mühler'sche Anschauungen hinaus. Herr Brühl hat einen Paragraphen vorgeschlagen, daß Dissidentenkinder nur mit Zustimmung der Eltern und Vormünder an dem konfessionellen Unterricht theilnehmen müssen. Wir würden auch heute dafür stimmen, wenn ein solcher Antrag wieder eingebracht würde. Ich bin begierig zu hören, was die Regierung jetzt sagt. In Falkenberg wurde eine 1“ des Organs des Bundes der Landwirthe bei der Zentenar⸗ eier an die Schulkinder vertheilt. Das ist gesetzlich unzulässig. Wahrscheinlich hat der Minister von einem blegen Vorgange keine Ahnung. Es ist gut, jeden einzelnen Fall zur Kenntniß des Ministers zu bringen. Mit der nöthigen Ausdauer werden wir den Herren Raison

beibringen, damit sie lernen, daß sie die Gesetze nicht mit Füßen treten

1

ihre Rente später erlangen, aber länger beziehen. Deshalb liegt kein

dürfen. Wer sich als Monarchist hinstellt, muß am ersten die Gesetze be⸗ achten. Die Frage der Lesebücher ist eine der wichti 1 Als ich 1892 von einer Verstaatlichung der Volksschul⸗Lesebücher sprach, bezeichnete der damalige Kultus⸗Minister Graf Zedlitz dirsen Gedanken als Unsinn. Der freien Thätigkeit wolle die Unterrichteverwaltung nicht in den Arm fallen. Kurze gen darauf trat ein schroffer Meinungs⸗ wechsel in der Anschauung der 2 ltung ein, was auch das Vor⸗ gehen der Regierung in Arnsberg beweist. Eine sonderbare Fürso für die Armen, wenn die Regierung alle bisherigen Leseb 2 schafft und die Eltern zwingt, ein neues zu bezahlen. Die Fluktuation der ölkeruna, von der der Kommissar gesprochen hat, voll⸗ zieht sich von Osten nach Westen. Damit kann die Einheitlichkeit der Lesebücher nicht motiviert werden. Zwei groß⸗ Firmen haben das Monopol der Lesebücher. Ich kann mir nscht denken, daß Ministerial⸗Direktor Kuegler die Aeußerung gethan hat, es gehöre nicht viel Geist dazu, ein Lesebuch zusammenzustellen. Daß Regierungs⸗Rath Riemenschneider keinen Pfennig durch die Ab⸗ fassung seines Lesebuchs verdient, glaube ich. Aber wo bleibt die ‚freie Thätigkeit“, wenn Schulräthe sich mit solchen Dingen befassen? Und wo bleibt das Recht der freien Kritik der Lehrer? Die Bedeu⸗ tung eines guten Volkslesebuchs hat schon Friedrich II. hervor⸗ gehoben; darüber müßte die freie Konkurrenz von Sachverständigen enischeiden. Wir wollen kein Monopol auf diesem Gebiet, keine Schablonen, sondern freie Entwickelung.

—5 der geistlichen, Unterrichts⸗ und Medizinal⸗ Angelegenheiten D. Dr. Bosse:

Meine Herren! Ich bin dem Herrn Abg. Rickert dankbar, daß er die Lesebuchfrage in einem Sinne hier zur Sprache gebracht hat, dem ich mich in vielen Punkten anschließen kann. Er hat ganz recht, die Lesebuchfrage ist eine der wichtigsten Fragen unseres ganzen Volks⸗ schulwesens. Denn, meine Herren, außer der Bibel, dem Katechismus und dem Gesangbuch, wenigstens in den evangelischen Kreisen, und in den katholischen außer dem Gebetbuch ist das Volksschullesebuch im wesentlichen der Inbegriff der Bildung, die die Volksschule ihren Zöglingen mit hinaus ins Leben giebt, und das Volksschullesebuch reicht weit hinein in die späteren Lebensjahre der Kinder, die aus der Volksschule entlassen werden. Also wir sind wie der Abg. Rickert ganz durch⸗ drungen von der großen Wichtigkeit dieser Volksschullesebücher. Die Frage ist auch nicht neu, sie ist alt, sie hat die Schulverwaltung seit vielen Jahren beschäftigt. Eine Ermittelung aus dem Jahre 1894 hat ergeben, daß mindestens 165 verschiedene Volksschullese⸗ bücher in Gebrauch waren. In einzelnen Regierungsbezirken wurden bis 30 Volksschullesebücher gebraucht, und dabei sind die Fibeln noch garnicht mitgerechnet. Nun hat der Herr Abg. Rickert gemeint, diese verschiedenartigen Lesebücher hätten nichts auf sich. Meine Herren, zu einer Schablone, einem einheitlichen Lesebuch, was etwa in der Zentralinstanz gemacht und über das ganze Land, für Stadtschulen und Landschulen einheitlich, eingeführt würde, werde ich die Hand nicht bieten. Das würde ich für eine ganz un⸗ gesunde Entwickelung halten, schon deshalb ungesund, weil im Volks⸗ schullesebuch die örtlichen Verhältnisse des Bezirks, in dem die Kinder leben, ihre heimathlichen Verhältnisse durchaus berücksichtigt werden müssen. Aber, meine Herren, ganz so harmlos ist die Lesebuchfrage in Bezug auf die Belastung der Eltern, namentlich der weniger be⸗ güterten, doch nicht, wie der Herr Abg. Rickert angegeben hat. Denken Sie an unsere Arbeiter in den Industriebezirken oder in den Vororten großer Städte, z. B. Hannover, Berlin oder Köln, wo der Arbeiter die Fabrik oder die Wohnnng häufiger, vielleicht alle paar Monate, wechselt. Soll der Arbeiter da mit jedem Schulwechsel für seine Kinder neue Lesebücher anschaffen? Das hat schon zu den bittersten Klagen geführt. Wir werden es nicht hindern können, daß ein Arbeiter beim Umzug aus der Provinz Posen nach Berlin für seine Kinder das Berliner Lesebuch anschaffen muß. Das aber kann ich hindern, daß in demselben Bezirk eine Unzahl verschiedener Lesebücher, und zwar unnöthig ver⸗ schiedener Lesebücher gebraucht, und die Eltern gezwungen werden, hierfür unnöthige Ausgaben zu machen. Darauf ist mein Bestreben gerichtet.

Ich gebe dem Abg. Rickert zu, die Sache ist außerordentlich schwer. Sie ist doppelt schwer, weil aus jeder Genehmigung eines Lesebuchs ein großer Gewinn entspringt für den Herausgeber und für den Verleger. Jede Genehmigung eines Lesebuchs enthält in gewissem Sinne eine Art Konzession, ich will nicht sagen ein Monopol, aber es wirkt ähnlich wie die Verleihung einer Apothekenkonzession, ja auch eines der lästigsten Rechte, die die Staatsverwaltung bei uns ausübt. (Abg. Graf zu Limburg⸗ Stirum: Ich würde es in eigenen Verlag nehmen!)

Nun sagt zwar der Herr Abgeordnete: Wozu genehmigt Ihr überhaupt die Lesebücher? Laßt doch der freien Kritik und der freien Geistesarbeit vollen Raum! Meine Herren, so geht das auch nicht. Wir haben Lesebücher gehabt, die so schlecht waren, daß die Unterrichts⸗ verwaltung sie absolut nicht dulden konnte. Daneben hatten sich früher namentlich auch eine Menge Lehrervereine dieser Lesebuchfrage bemächtigt und hatten ziemlich theure Bücher zum Besten ihrer Wittwenkasse oder der Relikten oder irgend einer anderen gemein⸗ samen Lehrerkasse herausgegeben. Dies hatte dann wohl zur Folge, daß ein gewisser Druck zur Einführung des Buchs zu Gunsten der Kassen geübt wurde.

Als die Unterrichtsverwaltung der Sache näher trat es war etwa 1874 fand sich, daß ganz salopp mit der Papierschere zu⸗ sammengeschnittene Bücher in Gebrauch waren. Das sind die Bücher, von denen der Herr Ministerial⸗Direktor Kuegler gesprochen hat. Er hat nicht gesagt: Jedes Lesebuch oder jedes gute Lesebuch ist leicht zu machen, aber er hat gesagt: es giebt Lesebücher, die wirklich bloß mit der Papier⸗ schere zusammengeschnitten sind, und wer wirklich etwas Kenntniß von diesen Dingen hat, weiß, daß das richtig ist. (Sehr richtig!) Solche Bücher waren wohl auf Stereotypplatten gedruckt, und so hatten sie von den Ereignissen der Jahre 1866 und 1870 nur in kleinen An⸗ hängen Notiz genommen, um die Kosten des Neudrucks zu vermeiden. So kam es, daß im Anhange der Kaiser und seine Helden hoch ge⸗ priesen wurden, während im Text des Buches Oesterreich noch als deutscher Bundesstaat und Elsaß als eine französische Provinz bezeichnet wurden. (Heiterkeit) Daß das kein wünschenswertber Zustand für ein in der preußischen Volksschule gebrauchtes Lesebuch ist, das werden Sie mir gewiß alle zugeben. Es ging noch weiter es ist nicht zu meiner Zeit gewesen daß ein solches Buch dem damaligen Unterrichts⸗Minister aus dem Kabinet Seiner Majestät zugeschickt wurde. Das war sehr dankbar anzuerkennen und gewiß sehr schön, daß Seine Majestät sich auch mit dieser Frage beschäftigte. Es war aber für den Kultus⸗Minister sehr unbequem (Heiterkeit), jeden⸗ falls ein scharfer Antrieb, nun mal der Besserung der Verhältnisse näher zu treten.

Noch schlimmer wie mit dem geschichtlichen und zum theil heimath⸗

lichen Inhalt es muß ein gutes Volkslesebuch in gewissen Um⸗