1897 / 117 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Wed, 19 May 1897 18:00:01 GMT) scan diff

der Beamten wegen (lebhafte Zurufe links), oder stellt man nicht vielmehr die Beamten zu dem Zweck an, damit sie die Gesetze sachgemäß und sinngemäß anwenden? (Stürmische Zwischenrufe links.) Und wenn Sie auf dem Gebiete der Handhabung der Gesetze in Preußen irgend welche Mißstände bemerkt haben kürmische Zurufe links) meine Herren, was ist dabei zu lachen? ich sage: wenn Sie in Preußen auf diesem Gebiete irgend welche Mißstände bemerkt haben (stürmische Unterbrechung) na, ich habe auch garnicht gesagt, daß ich sie nicht bemerkt habe (andauernde Zurufe, Glocke des Präsidenten), ich habe nur gesagt: wenn Sie uf diesem Gebiete Mißstände bemerkt haben und nun hören Sie den Nachsatz: dann wäre es logisch und konsequent, wenn Ihr Be⸗ streben dahin ginge, diese Mißstände zu beseitigen. Es ist aber nicht logisch und konsequent, der Regierung die Mittel vorzuenthalten, in deren Besitz sie sich zu setzen wünscht, um größere Gefahren von dem Gemeinwesen fernzuhalten. (Lebhaftes Aha! links.) Nun behauptet der Herr Vorredner, die Aufhebung des Koalitions⸗ verbots würde in Preußen nur zurückgehalten, um dafür Kompensationen einzuheimsen. Nein, es war nicht die Absicht. Aber ich frage den Herrn Abg. Rickert: wenn heute die preußische Regierung gekommen äre, hätte ein Gesetz vorgelegt mit dem Wortlaut des hier vor⸗ liegenden Antrags und ein zweites Gesetz, in welchem nun diejenigen Korrekturen sind, welche die preußische Regierung für nothwendig hält, da würde er wieder der Erste gewesen sein, der sagte: warum schmeißt man die beiden Sachen nicht zusammen? Wenn man das Vereinsrecht ndern will, weshalb dann nicht ein Gesetz? wozu zwei Gesetze? Nun hat sich der Herr Abg. Rickert dagegen verwahrt, daß der Antrag, der seinen Namen trägt, einen demonstrativen Charakter habe. Nachher ist mir im Laufe seiner Ausführungen doch der Zweifel ge⸗ kommen, ob er selber daran glaubt. Und daß es sehr schwer ist, dem Antrage einen anderen als demonstrativen Charakter beizulegen (sehr richtig! rechts), das werden Sie daraus ersehen, daß dieser Antrag im vorigen Jahre schon einmal angenommen ist und dem Bundesrath vorliegt. Also wäre es nun auch in diesem Fall, glaube ich, richtiger ewesen, wenn man einfach den Bundesrath gefragt hätte: was denkst du mit unserem Antrag, den wir im vorigen Jahre hier angenommen aben, zu machen? als jetzt denselben Antrag noch einmal einzubringen. Sollen wir denn vielleicht zwei Gesetze machen? Das wird doch nicht öthig sein, wenn sie ganz denselben Inhalt haben. Also ich kann nicht glauben, daß es angezeigt gewesen wäre, hier m Wege eines besonderen Antrages vorzugehen, und ich kann nun inmal von der Auffassung nicht lassen, daß dieser Antrag bloß die Handhabe hat sein sollen, um darüber sich zu beschweren, daß nun die reußische Regierung mit schärferen Waffen gegen den Mißbrauch des Vereins⸗ und Versammlungsrechts vorgehen will. Nun, meine Herren, glaube ich, Sie können das Schicksal der reußischen Vorlage ruhig den preußischen gesetzgeberischen Faktoren überlassen. (Sehr richtig! rechts.) Ich glaube nicht, daß irgend ein Votum des Reichstages auf den Entschluß der preußischen gesetz⸗ geberischen Faktoren einen entscheidenden Einfluß haben wird. (Un⸗ ruhe und Zurufe links.) Nein, meine Herren, vielleicht könnten Sie sich der Hoffnung hingeben, daß hier die vermehrten und vielleicht auch besseren Gründe, die Sie gegen dieses Vorgehen vorbringen, auch ei der Berathung der Vorlage im preußischen Abgeordnetenhause von Einfluß sein werden. Meine Herren, wenn ich die Stimmung des preußischen Herrenhauses richtig taxiere (große Heiterkeit und Zurufe links), ja, meine Herren, das preußische Herrenhaus ist auch ein gesetzgebender Faktor (erneute große Heiterkeit) und hat auch mit⸗ zusprechen, wenn es sich um die Ausgestaltung eines preußischen Ge⸗ setzes handelt, ich sage, was die Stimmung des preußischen Herrenhauses anlangt, so glaube ich nicht fehlzugehen, daß dort eher Zweifel angeregt werden werden, daß die Vorschriften, die die Novelle nthält, noch nicht ausreichen dürften gegenüber dem Mißbrauch des Vereins⸗ und Versammlungsrechts. (Heiterkeit links.) Also ich kann Ihnen nur empfehlen, überlassen Sie das den preußischen ge⸗ setzgebenden Faktoren, was die mit dieser Novelle anfangen werden! Und wenn Sie mich nun fragen, was das Schicksal des Antrages, der Ihnen heute vorliegt, und von dem ich annehmen muß, daß er angenommen wird (sehr richtig!), im Bundesrath sein wird, so kann ich eine bestimmte Antwort ebensowenig geben, wie ich es vor einem Jahre habe thun können (Heiterkeits rechts), als der Antrag angenommen wurde. Heute, nachdem der Reichstag damals den Standpunkt der verbündeten Regierungen, auf dem Ge⸗ biet der Partikulargesetzgebung helfen zu wollen, für einen ganz verständigen gehalten hat und verschiedene Staaten bereils auf diesem Wege vorangegangen sind, zwei Staaten sind bereits damit fertig, Preußen ist im Begriff, es zu thun, und die übrigen neun Staaten, n denen noch das Koalitionsverbot besteht, sind ebenfalls Willens, ihn aufzugeben, und zwar auf demselben Wege, heute, glaube ich kaum, daß der Bundesrath geneigter sein wird wie vor einem Jahre, ohne weiteres seine Zustimmung einem Reichsgesetze zu ertheilen, wie Sie es hier beabsichtigen. Allein, meine Herren, das ist cura posterior, das wird im Bundesrath erwogen werden. Vorläufig kann ich nur mpfehlen, lassen Sie nach dem Satz „suum cuique“ den preußischen gesetzgebenden Faktoren das, was ihnen gebührt, und wir werden Ihnen nach dem Satze „suum cuique“ auch das lassen, was dem Reichstage gebührt! (Lebhaftes Bravo! rechts. Zischen links.) Abg. Dr. Lieber (Zentr.): Preußen kann auf dem Gebiet des Vereinswesens vorgehen, so lange das Reich von seiner Befugniß nicht Gebrauch gemacht hat. Aber darum handelt es sich heute nicht. Da ein Reichs⸗Vereinsgesetz augenblicklich nicht zu erreichen ist, haben wir uns auf das Reichs⸗Vereinsnothgesetz zurückgezogen, welches das Verbindungsverbot beseitigt. Ein dahin gehendes Versprechen wurde in feierlicher Stunde hier im Reichstage gegeben, um das größte nationale Werk, welches jemals den Reichstag beschäftigt hat, nicht zum Scheitern zu bringen. Wir erwarteten die Einlösung des Ver⸗ sprechens, behielten uns aber vor, auf diese Frage zurückzukommen. Das Versprechen war ohne, jede Nebenbedingung gegeben. Wir sind in bisfen guten Recht, die blanke Einlösung dieses Ver⸗ sprechens nunmehr zu fordern, und wir erheben diese Forderungen Zug um Zug in demselben Augenblick, wo die preußische Regierung Ver⸗ besserungen durchsetzen will. Darüber sollte man sich nicht wundern und nicht von Demonstrationen sprechen. Im Umsturzgesetz handelte 5 sich um strafrechtliche Bestimmmungen, über welche Rlchter zu ent⸗ cheiden haben. Im preußischen Vereinsgesetz aber handelt es sich um 1 welche preußische Verwaltungsorgane anwenden zur uflösung von Versammlungen und Vereinen. die preußische Vorlage keine Kriegserklärung gegen den Reichstag sein sollte, will ich annehmen, aber wir müssen für uns die Meinung in Anspruch nehmen, daß es kaum eine mehr herausfordernde Kriegserklärung gegen den Reichstag gäb als eine solche Vorlage in Preußen einzubringen.

Jetzt muß der Reichstag ein entscheidendes Wort dahin sprechen, da es 3 Bezug auf die Aufhebung des Verbindungsverbots keinen Enicho

mehr giebt. Man sagt im 85 Abgeordnetenhause: Wie kann man den führenden Staat im Reiche majorisieren wollen! Der preußische Staat versucht aber seinerseits, das Vereinsgesetz so zu ge⸗ stalten, daß ein Reichs⸗Vereinsgesetz erschwert wird.

Abg. von Kardorff (Rp.): Der heute vorliegende Antrag ist keine Neuigkeit: er ist schon einmal angenommen worden, und ich weiß nicht, weshalb wir uns heute noch einmal damit befassen müssen. Wenn der Zweck sein sollte, die preußische Regierung, das preußische Abgeordnetenhaus oder gar das preußische Herrenhaus einzuschüchtern, so schießt man vollständig fehl. Das Reich ist zuständig in Bezug auf das Vereinswesen, aber so lange davon kein Gebrauch gemacht wird, müssen die Einzelstaaten ihre Gesetzgebung fortbilden können. Für ein en sind die Chancen doch sehr aussichtslos. Herr von Stumm hat die Schwierig⸗ keiten einer solchen Aufgabe einmal ausführlich geschildert, weil zwischen der Mehrheit des Reichstags und dem Bundesrath eine Einigung schwer möglich wäre; denn der Bundesrath wird immer

ewisse Kautelen gegen den Mißbrauch der Vereins⸗ und Versammlungs⸗ reibelt verlangen. Aber die Herren, die hinter Herrn Rickert stehen, wollen nur die Freiheit; das allgemeine Wahlrecht kann aber nur bei einer gewissen Beschränkung des Vereins⸗ und Versammlungsrechts aufrecht erhalten werden. Unter Aufhebung des Verbindungsverbotes hätten weder die verbündeten Regierungen, noch die konservativen Parteien das Bürgerliche Gesetzbuch genehmigt. Die Zusage des Reichskanzlers ist nicht ohne Widerspruch abgegeben worden. Herr von Stumm hat Widerspruch erhoben und Einschränkungen der Versammlungsfreiheit verlangt, und dagegen ist niemand auf⸗ getreten. Der Reichskanzler konnte ein bindendes Versprechen nicht abgeben, er war doch an die Zustimmung des preußischen Parlaments sebunden! Ich weiß nicht, weshalb man die Sache zu einer so mächtigen Staatsaktion aufbauschen will. Die Sozialdemokratie pflegt es immer so darzustellen, als ob sie erst durch das Aus⸗ nahmegesetz groß geworden wäre. Zu den Maßregeln, welche die Sozialdemokratie gestärkt haben, gehörten die Ausweisung und die Internierungsbefugniß; die Nationalliberalen haben aber 1890 noch einstimmig die Ausnahmevorschriften über das Vereins⸗ und Versammlungsrecht bestätigt. Nach Erlaß des Ausnahmegesetzes ging die Sozialdemokratie zurück und stieg dann unter der Wirkung der Ausweisungsbefugniß; sie stieg besonders stark, auf 1 786 000 Stimmen, nach Aufhebung des Ausnahmegesetzes, und bei der nächsten Wahl wird die Sozialdemokratie 2 ½ Millionen Stimmen erreichen. (Zuruf: Unter dem Einfluß der preußischen Vereinsgesetzgebung!) Mir gefällt diese Gesetzgebung auch nicht ganz; ich würde sie beschränkt haben auf die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie. Das Steigen der sozialdemo⸗ kratischen Partei beweist, daß der große 8gc der monarchischen Ge⸗ sinnung, der zur Zeit des Todes des Kaisers riedrich noch vorhanden war, bedenklich abgenommen hat. Ich schiebe das nicht auf die Auf⸗ hebung der Ausnahmegesetzgebung, sondern auf die gefährliche Politik, welche die deutsche Landwirthschaft geschädigt hat. Das monarchische Gefühl hat sich, nachdem es in den sechziger Jahren gesunken war, 1870 wieder gehoben, und wir hoffen, daß es sich wieder heben wird und daß die Geschicke uns wieder einmal einen preußischen Staats⸗ mann wie den Fürsten Bismarck bescheren werden. Als ein Zeichen des Wiedererwachens der alten Energie habe ich die Vorlage begrüßt, welche in Preußen vorgelegt worden ist, und ich hoffe, daß sie von Erfolg begleitet sein wird.

„Abg. Singer (Soz.) giebt zu, daß das monarchische Bewußt⸗ sein sich vermindert habe, aber er führe das darauf zurück, daß die reußische Regierung sich zu sehr der Thätigkeit der preußischen Junker üge. Die stärkste Steigerung der sozialdemokratischen Stimmen, von 775 000 auf 1 427 000, sei erfolgt unter dem Sozialistengesetz und infolge dieses Gesetzes. Der Reichskanzler habe das Vereins⸗ und Versamm⸗ lungsrecht als eine der werthvollsten Errungenschaften, als ein unentbehr⸗ liches Mittel der politischen Erziehung des Volkes bezeichnet; er habe das in einem Augenblick gethan, als er die Berathung einer Vorlage einleitete, die das Vereinsrecht zerstören foll. Die Vorlage sei ein Stück des Geistes, nach welchem man in Deutsch⸗ land zu regieren wünsche. Mit der preußischen Vorlage werde die Sozialdemokratie auch fertig werden. Fürst Bismarck habe gesagt: wir sind den Süddeutschen zu liberal. Für diese Liberalität würden die Süddeutschen sich bedanken, und wie die Vor⸗ lage bereits in Süddeutschland gewirkt habe, zeige die tiefe Entrüstung, welche eine Münchner Versammlung über die Vorlage bekundet habe. Die nächsten Wochen würden der Regierung beweisen, wie weit die Entrüstung des Volkes gehe. Durch den Ausschluß der Minder⸗ jährigen werde das gesetzlich festgelegte Koalitionsrecht der Ar⸗ beiter schwer beeinträchtigt. In der Begründung der preußischen Vorlage sei von einer Gefahr für die Sicherheit des Staats gar⸗ nichts zu finden. Der Bundesrath werde allerdings den Antrag nicht annehmen. Aber er hoffe, daß die Herren vom Zentrum ihre Beschlüsse etwas wirksamer vertheidigen würden als bisher, daß sie nicht bloß die Brücke der Versprechungen betreten würden. Die Macht⸗ mittel des Reichstages seien nicht so beschränkt, daß er nicht das, was die große Majorität wolle, durchdrücken könnte gegen den Willen der preußischen Regierung. Der Reichstag brauche bloß die Erledigung der parlamentarischen Geschäfte so lange zu sistieren, bis der Bundes⸗ rath das Nothgesetz angenommen habe und bis dasselbe im „Reichs⸗ Anzeiger“ publiziert sei. Warum solle der Reichstag nicht einmal er⸗ klären: Wir bewilligen die Nachtrags⸗Etats nicht eher, als bis dieses Gesetz genehmigt ist! Daraus könne ein Konflikt zwischen Reichstag und Regierung entstehen. Es könnte aber nichts Besseres passieren, als wenn jetzt eine Auflösung des Reichstages erfolgte.

Staatssekretär des Innern, Staats⸗Minister Dr. von Boetticher:

Meine Herren! Ich hätte es wirklich nicht für möglich gehalten, daß man an der Hand der Berathung der Frage, die uns hier be⸗ schäftigt, ein solches Schauergemälde zu entwickeln im stande wäre, wie es der Herr Abg. Singer soeben gethan hat. (Unruhe links.) Der Herr Abg. Singer sieht in der preußischen Novelle, von der ich schon vorher nachzuweisen mich bemüht habe, daß sie auf Grund der der preußischen Regierung verfassungsmäßig zustehenden Befug⸗ nisse vorgelegt ist, den Anfang eines Staatsstreichs. (Zurufe links.) Jawohl, das habe ich ja gehört, daß der Herr Abg. Singer darin den Anfang eines Staatsstreichs sieht, aber den Beweis dafür ist er schuldig geblieben. Was wird denn mit der Novelle beabsichtigt? Nichts weiter als daß die Regierung sich die Mittel, die sie gegen⸗ über dem Mißbrauch des Vereins⸗ und Versammlungsrechts (große Unruhe und Zurufe links) gegenüber dem Mißbrauch des Vereins⸗ und Versammlungsrechts nöthig zu haben glaubt, verschafft. Wenn es sich nun um irgend einen Vorschlag handelte, der in der Gesetz⸗ gebung anderer Länder noch nicht zur Geltung gebracht wäre, dann könnte ich es noch verstehen, wenn der Ruf ertönt: hier ist die Freiheit des deutschen Volkes in Frage. Aber da in verschiedenen deutschen Staaten das, was die Königlich preußische Regierung er⸗ strebt, bereits Rechtens ist, und da niemand, auch der Herr Abg. Singer nicht, auf den Gedanken gekommen ist, daß in diesen anderen deutschen Staaten die Freiheit des deutschen Staatsbürgers in einer dringenden Gefahr schwebt, da ist es mir unerfindlich, wenn man jetzt diese Gefahr plötzlich für das ganze Deutsche Reich konstruiert, und wenn man jetzt so weit geht, in dem Bestreben der Königlich preußischen Regierung den Anfang zu einem Staatsstreich zu erblicken. Im übrigen kann ich den Herrn Abg. Singer aber beruhigen, daß unter den gegenwärtigen Mitgliedern der Königlich preußischen Staats⸗ regierung keiner sich befindet, der sich zu einem Staatsstreich oder auch nur zu dem Versuch eines solchen hergeben würde (lebhafte Un⸗

ruhe links, Glocke des Präsidenten), und da insbesondere diejenigen Mitglieder der Königlich preußischen Staatsregierung, die Eb auf die Reichsverfassung geleistet haben, ganz außer stande sind, einem solchen Unterfangen irgend auch nur einen Gedanken zu leihen so bitte ich, die Beleidigung der Königlich preußischen Regierung, die in dem Vorwurf des Abg. Singer liegt, nicht zu wiederholen. (Bravo! rechts.)

Meine Herren, der Herr Vorredner hat davon gesprochen, es gehöre ein hoher Muth dazu, eine solche Vorlage zu machen gegenüber den Versprechungen, die im vergangenen Jahre von dieser Stelle aug abgegeben worden sind. Nein, meine Herren, dazu gehört gar kein hoher Muth. Die Vorlage ist einfach die Konsequenz der Er⸗ wägungen, die im Schoße der preußischen Regierung schon lange Zeit, bevor es sich um die Aufnahme der Bestimmungen über die Aufhebung des Koalitionsverbots in das Bürgerliche Gesetzbuch handelte, innerhalb des Kreises der preußischen Staatsregierung insbesondere des Ressorts des Ministeriums des Innern, geplant wurden. (Hört! hört! links.) Man hat schon seit langer Zeit in Preußen, und zwar unter den verschiedensten Ministern des Innern das Bedürfniß empfunden, auf dem Gebiete des Vereins⸗ und Ver⸗ sammlungsrechts Korrekturen vorzunehmen, und wenn jetzt in diesem Moment diesem Bedürfniß Rechnung getragen werden soll, so bot eben die im vorigen Jahre im Reichstage gegebene Anregung und der Accept dieser Anregung auf seiten der verbündeten Regierungen einen durchaus passenden Anlaß, jetzt diesem Plane näher zu treten. Also, meine Herren, was dazu für ein hoher Muth gehört (Zuruf links) ich höre eben den Ausdruck „Reaktion“. Ja, meine Herren, sehe ich so aus, wie ein Reaktionär? (Große Heiterkeit.) Sieht denn der Herr Reichskanzler so aus? Da bitte ich Sie, sich doch mal bei den Reaktionären im Lande zu erkundigen, für was die unz taxieren! Und, meine Herren, ebenso wie ich diesen Vorwurf zurück⸗ zuweisen habe, so habe ich den Vorwurf zurückzuweisen, daß es inner⸗ halb der preußischen Regierung Strohminister gebe. Ein solcher Ausdruck sollte im Parlament nicht fallen, denn er enthält eine Be⸗ leidigung gegen pflichtbewußte Staatsbeamte, die die Verantwortung für das, was sie beschlossen haben, in vollem Umfange zu trazen haben. (Lebhaftes Bravo! rechts. Ach! links.)

Meine Herren, man hat davon gesprochen, man will die Macht⸗ mittel der Regierung gegenüber dem Parlament vermehren. Ja, meine Herren, was hat man denn weiter gethan, als daß man eine Vorlage, die man für gut und nützlich hält, dem Parlament zur Beschlußfassung vorlegt? Weiß denn der Herr Abg. Singer, was aus der Vorlage im preußischen Parlament werden wird? Ich weiß es nicht; ich halte es für möglich, daß die Sache auch ganz anders geht, als Herr Singer denkt. Wenn nun die preußischen gesetzgebenden Faktoren sich vereinigen auf eine solche Vorlage, wie sie jetzt gemacht ist, dann kann freilich der Abg. Singer darüber dolieren und sagen, die Sache hätte auf dem Wege der Reichsgesetzgebung in Angriff genommen werden müssen, dann hätten wir ein ganz anderes Vereins⸗ recht; er kann aber den preußischen gesetzgebenden Faktoren nicht das Recht bestreiten, das Vereinsrecht in Preußen so auszugestalten, wie es ihnen beliebt. (Lebhaftes Bravo! rechts.)

Nun behauptet der Herr Abg. Singer, es wäre die Folge, die dem Versprechen des Herrn Reichskanzlers vom vergangenen Jahre gegeben wäre, ein reiner Hohn für den Reichstag; der Bundesrath oder vielmehr der Herr Reichskanzler, denn der hat ja das Ver⸗ sprechen gegeben, allerdings auf Grund einer Verständigung im Bundesrath höhnte und lachte den Reichstag aus. Auch vor einem solchen Wort hätte sich der Herr Abg. Singer, auch von seinem sozialdemokratischen Standpunkt aus, hüten sollen. Wo ist denn hier von Auslachen und Höhnen die Rede? Wann haben die verbündeten Regierungen dem gleichberechtigten anderen Faktor der Gesetzgebung gegenüber einen Hohn gezeigt? Ich weise auch diesen Vorwurf auf das entschiedenste zurück. (Lebhaftes Bravo! rechts. Ach! links.) Der Herr Reichskanzler hat das im vergangenen Jahre hier abgegebene Versprechen getreulich erfüllt; und wenn dieses Versprechen, wie ich gegenüber den Ausführungen der Herren Vorredner allerdings noch bemerken muß, im Hause und vielleicht in der Mehrheit des Hauses so aufgefaßt worden ist, als ob die gesetzgeberische Aktion, die damit in Aussicht genommen war, sich beschränken solle auf die Aufhebung des Koalitionsverbots, so hat es im Hause doch auch nicht an Stimmen gefehlt, die darüber hinausgegangen sind. Der Abg. Freiherr von Stumm (große Heiterkeit links) ja, wenn man ganz ruhig That⸗ sachen referiert, dann kommen Sie mit einer ungeheuren Heiterkeit, die Ihres Lebens Freude zu sein scheint. (Heiterkeit rechts.) Aber ich weiß doch nicht, ob es angebracht ist, ernste Darlegungen in dieser Weise zu unterbrechen. (Sehr gut! rechts.) Denn Sie lenken damit den Verdacht auf sich, daß es keine anderen Mittel giebt, mich iu widerlegen, als das Gelächter. (Sehr gut! rechts. Ach! links. Davor hüten Sie sich! Sie kommen dadurch in eine schwache Position.

Also der Herr Abg. Freiherr von Stumm hat damals ausdrücklich erklärt: ich würde es beklagen, und ich fasse auch das Versprechen des Herrn Reichskanzlers nicht so auf, als ob innerhalb Preußens nut ausschließlich die gesetzliche Aktion auf die Aufhebung des Koalitions⸗ verbots gerichtet werden solle, und der Herr Abg. Rickert ich glaube, es war am 30. Juni hat allerdings dem Gedanken Ausdruck gegeben, daß er es nicht empfehlen würde, es nicht für zulässig ansehen würde, ein preußisches Gesetz noch mit anderen Vorschlägen zu beschweren, außer der Aufhebung des Koalitionsverbots. Er selber hat aber in dieser seiner Rede betont: ich erwarte keine Erklärung von dem Herrn Reichskanzler. Und der Herr Reichskanzler, wie er gestern im Ab⸗ geordnetenhause erklärt hat, hat damals auch eine Erklärung über diese Bemerkung des Herrn Abg. Rickert nicht geben können; denn damals hatte sich die Königlich preußische Regierung noch garnicht darüber schlüssig gemacht, in welcher Weise sie die Novelle aus⸗ gestalten würde.

Allso ich komme darauf zurück: die preußische Regierung bat von dem ihr verfassungsmäßig zustehenden Recht Gebrauch gemacht. Schicksal dieser Novelle liegt in der Hand der gesetzgebenden Faktoren. Warten Sie ruhig ab! (Lebhafte Zwischenrufe links.) Ja, Sie müssen ja warten! Was hilft das alles? (Große Heiterkeit. Sebhr gut! rechts.) Wir müssen ja auch warten. (Erneute Heiterkeit.) Also warten Sie das ruhig ab! Wenn dann der Gang in Prrußen der ist, daß das Koalitionsverbot nicht aufgehoben wird, daß ein Gesetz, welches die Aufhebung des Koalitionsverbots in Aussicht nimmt, nicht zu stande kommt, dann können Sie meinethalben wieder sich an den Reichstag wenden, und dann werde ich Ihn

vielleicht auch sagen können, wie die verbündeten Regierungen darüber meine Herren, möchte ich nur noch eine Bemerkung dem Abg. Dr. Lieber gegenüber machen. Ich möchte ihn bitten, einem preußischen aktiven Minister, und noch dazu, wenn er Justiz⸗ Minister ist, nicht unterzuschieben, daß er seine Ueberzeugungen durch Huristische Spitzfindigkeiten decke. Ich glaube, mein verehrter preußischer Kollege, der Herr Minister Schönstedt, ist im Lande vor dem Verdacht gesichert, daß er zur Begründung seiner Ueberzeugungen jzuristische Spitzfindigkeiten zu Hilfe nehmen muß. (Sehr wahr!)

Und nun, meine Herren, möchte ich Ihnen erklären: berathen Sie sine ira et studio weiter (Heiterkeit); aber dehnen Sie die Parallel⸗ aktion am Königsplatz gegenüber der Aktion am Dönhoffsplatz nicht zu lange aus. Sollte bei diesem oder jenem, was mir auch schon entgegengebracht ist, die Absicht bestanden haben, durch diese Aktion einen gewissen Widerspruch zwischen der Königlich preußischen Regierung und der Auffassung der Reichsverwaltung nachzuweisen, so kann ich Ihnen darauf bemerken, daß in diesem Punkte zwischen Reichsverwaltung, verbündeten Regierungen und Königlich preußischer Regierung eine Differenz nicht besteht. (Lebhaftes Bravo! rechts. Zurufe links.)

Vize⸗Präsident Schmidt: Ich habe auf die Ausführungen des

errn Staatssekretärs zu erwidern, daß der Abg. Singer, soweit er ber verständlich war, weder von einer Absicht des Verfassungsbruchs der preußischen Minister gesprochen noch den Ausdruck Strohminister direkt auf die Minister bezogen noch gesagt hat, daß der Bundesrath den Reichstag höhne. Wenn etwas davon vorgekommen wäre, würde ich ihn sofort unterbrochen und das gerügt haben. Ich kann nur an⸗ nehmen, daß dem Herrn Staatssekretär, da er selbst nicht anwesend war, berichtet ist über die Rede, und daß das Berichtete mit den Thatsachen nicht übereinstimmt. Der stenographische Bericht wird das ausweisen.

Staatssekretär des Innern, Staats⸗Minister Dr. von Boetticher:

Es ist richtig, daß ich wegen einer Bundesrathösitzung verhindert war, die Reden der Herren Vorredner durchweg mitanzuhören, und es ist richtig, daß ich diesen Vorwurf, diesen angeblichen Vorwurf, nach 'der Erklärung des Herrn Präsidenten, nur zurückgewiesen habe auf Grund eines Referats, was mir von dritter Seite entgegengebracht war. Wenn ich da unrichtig berichtet worden bin, so thut mir das leid. Ich nehme also die Bemerkung, die ich gegenüber diesen beiden ersten, von dem Herrn Präsidenten erwähnten Ausführungen des Herrn Abg. Singer gemacht habe, gern zurück.

Was aber den Hohn und das Gelächter von seiten des Bundes⸗ raths anlangt, da thut es mir leid, kann ich mir nichts abhandeln lassen; denn das habe ich selbst angehört. (Sehr gut! rechts und Heiterkeit.)

Vize⸗Präsident Schmidt: Dann spricht der Herr Staatssekretär wohl von einem der vielleicht früher, ehe ich amtierte, zum Ausdruck gelangt ist? Hier ist nur verstanden worden, daß der Abg. Singer gesagt hat: Wir sollen uns nicht nur den Gesetzentwurf ge⸗ fallen, sondern uns auch noch verhöhnen lassen; daß damit der Bundes⸗ rath gemeint war, ist hier nicht verstanden worden.

Abg. Dr. von Levetzow (d. kons.): Ich wünsche nicht, daß ähnlich wie hier über das preußische Abgeordnetenhaus geurtheilt worden ist, im Abgeordnetenhause über den Reichtag geurtheilt werden möge. Der Reichstag ist nicht die vorgesetzte Behörde des Abgeordnetenhauses. Der Antrag ist sich nicht selbst Zweck, sondern hat doch den Zweck, eine preußische Vorlage zu kritisieren. Damit werde ich mich nicht befassen, denn das ist Sache des preußischen Land⸗ tages. Der Antrag gefällt mir deswegen nicht, weil er keinen Erfolg haben wird, weil der Bundesrath schon hätte darauf eingehen können, venn er darauf hätte eingehen wollen. Der Antrag ist unzeitgemäß, da das Verbindungsverbot in einzelnen Bundesstaaten bereits aufgehoben ist oder man damit vorgeht, es aufzuheben. Die Partikulargesetzgebung kann das Vereinsrecht ausgestalten, dem steht der Art. 4 der Reichs⸗ verfassung nicht entgegen. In Bezus auf Versicherungswesen, Eisen⸗ bahnen, Medizinalwesen sind die einzelstaatlichen Gesetzgebungen viel⸗ fach vorgegangen. Hamburg hat sein Vereinsgese geändert, und was Hamburg kann, kann Preußen erst recht. Daß das Verbindungs⸗ verbot nicht allein aufgehoben würde, hatte ich von vornherein an⸗ genommen. Meine Freunde waren der Meinung, daß das Vereins⸗ gesetz revidiert werden würde, und Herr von Stumm hat das offen ausgesprochen. Diejenigen, die die preußische Vorlage mißbilligen, können ihren Gefühlen im Abgeordnetenhause Ausdruck geben, aber sie sollten hier die Zeit damit nicht verschwenden. 8

Abg. Richter (fr. Volksp.): Ohne die Zusage des Reichs⸗ kanzlers wäre die Aufhebung des Verbindungsverbots in das Bürger⸗ liche Gesetzbuch hineingeschrieben worden, und das Gesetzbuch wäre auch ohne die Konservativen zu stande gekommen. Die Regierung handelt schnurstracks in entgegengesetzter Richtung, als es der Reichstag ver⸗ langt hat. Der Reichstag hat ein Vereinsgesetz in zweiter Lesung mit großer Mehrheit angenommen, in welchem keine Verschärfung, sondern nur Erleichterungen verlangt wurden. Wenn man dem gegen⸗ über Verschärfungen vorschlägt, so kann man nicht schärfer dem Willen des Reichstages zuwiderhandeln, und dann das Ausspielen des auf dem Dreiklassen⸗Wahlsystem beruhenden Landtages! Fürst Bis⸗ marck hat es niemals unternommen, die Partikulargesetz⸗ gebung gegen die Reichsgesetzgebung ins Feld zu führen. Hat der Reichstag nicht Gelder genug bewilligt für das Land⸗ beer, die Marine, die Kolonien und sogar für die Beamtenbesoldung? Allerdings hat der Reichstag zwei Kreuzer nicht bewilligt, aber 6, 7 Kreuzer sind im Bau. Aber richtet sich die Politik bloß gegen die⸗ jenigen, welche die Kreuzer nicht bewilligt haben? Nein, sie richtet sich auch gegen die Nationalliberalen, die man sogar vertraulich vorher befragt hat; sie haben die Vorlage abgelehnt, und trotzdem die Nationalliberalen ausschlaggebend sind im Abgeordnetenhause, macht man die Vorlage. Wie soll denn die Sache weiter gehen? Herr von Bennigsen führte bezüglich der Marineforderungen aus, daß ein absolutes Regiment in Deutschland nicht mög⸗

fein würde. Die konstitutionellen Rechte müßten ge⸗ achtet werden. Vor dreißig Jahren bestand eine Konfliktsregierung; soll jetzt der Beweis geliefert werden, daß das Reich nicht dauernd darauf basiert werden kann? (Präsident Freiherr von Buol: Es wird mir mitgetheilt, daß auf der Tribüne rechts der reservierten Tribüne geklatscht worden ist; ich werde, wenn sich das wiederholt, die Tribünen unweigerlich räumen lassen!) Es ist gesagt worden, daß das monarchische Bewußtsein geschwunden sei seit dem Tode Kaiser Friedrich's. Der monarchische Gedanke wird sich in Deutsch⸗ land noch lange halten, weil das Entstehen des Staats enge ver⸗ wachsen ist mit der Monarchie, weil die Thaten der Vorfahren noch wirken auf die Nachkommen. Aber es wird an dem monarchischen gezehrt in einer Weise, wie es noch vor zehn Jahren nicht

glich war.

Abg. Bassermann (nl.): Die Nationalliberalen haben den Antrag nicht unterstützt, weil sie der Meinung waren, daß man erst die Verhandlungen des preußischen Landtages abwarten müßte. Kam im Landtage eine Vorlage nicht zu stande, so kamen wir in die Lage,

e Frage von neuem aufzunehmen allerdings wohl erst im Herbst; aber dann wäre die Position des Reichstages eine stärkere gewesen als jetzt. Dem Antrage werden wir wie früher zustimmen, weil kein Grund vorliegt, eine andere Stellung als früher einzunehmen. Die Stellungnahme der nationalliberalen Fraktion des preußischen Landtages ist von Herrn Krause gestern dargelegt worden. Wir stehen im wesentlichen selben St ö1

Reichstag wollte das Berbtzduneperba durch das Bürgerliche

Gesetzbuch aufheben. Die Mehrheit des Reichstages ist aber zu einem anderen Entschlusse gekommen auf Grund der Zusage, welche von seiten der verbündeten Regierungen gemacht wurde. Wenn entgegen der Erklärung des Reichskanzlers und der „Inter⸗ pretation seitens des Herrn Rickert die Regierung nicht erklärt hat, daß die Vorlage mit allen möglichen Dingen bepackt werden solle, so mußte man annehmen, daß das Verbindungsverbot bedingungs⸗ los aufgehoben werden solle. Durch die Vorlage ist schon großer Schaden angerichtet worden, weil Zweifel an der Zuver⸗ lässigkeit der Regierungen entstanden sind. Ich würde eine reichs⸗ gesetzliche Regelung des Vereinswesens für sehr zweckmäßig halten. Eine Kommission des Reichstages hat sich damit beschäftigt, die Ver⸗ treter der verbündeten Regierungen haben sich leider nicht daran be⸗ theiligt. Maßgebende Parteien, namentlich auch das Zentrum, haben sich damals bereit gezeigt, gegen Mißbräuche der Vereins⸗ und Ver⸗ sammlungsfreiheit Schranken aufzurichten. Die preußische Vorlage will ich nicht näher kritisieren. Man hat auf die badische Gesetzgebung verwiesen; aber eine Bestimmung, wonach bei Gefährdung des öffent⸗ lichen Friedens Versammlungen verboten werden können, befindet sich nicht in dem badischen Vereinsgesetz. Wir können uns nicht damit einverstanden erklären, daß die freie Meinungsäußerung in die Hand der unteren Polizeiorgane gelegt wird. Angesichts einer Reihe von Vorgängen in der letzten Zeit müssen wir um so bedenklicher sein, zumal bei der Haltung, welche hochstehende Beamte, die auch als Politiker thätig sind, eingenommen haben. Bezüglich des Ausschlusses der Minderjährigen sind wir nicht abgeneigt, Reformen eintreten zu lassen; dafür fand sich auch schon in der Reichstagskemmission eine gewisse Stimmung. Es müßten aber Kautelen geschaffen werden, daß die Anwesenheit jugendlicher Personen nicht den Anlaß zu Auflösungen bietet. Wir haben ein volles Gefühl für die Gesahr der sozialdemokratischen Bewegung und sind die letzten, diese Gefahr zu verkennen. Wir sind bereit, die Regierungen in ihren Bestrebungen zu unterstützen, um mißbräuchliche Ausschreitungen auf dem Gebiete des Vereins⸗ und Versammlungswesens zu verhüten, aber nicht auf Grund solcher Vor⸗ lagen wie die preuß’sche, welche die Willkür der Polizeiorgane zum ausschlaggebenden Moment macht. Die Erfahrungen, die wir in Sachsen zu verzeichnen haben, weisen darauf hin, daß mit Polizei⸗ maßregeln gegen die Sozialdemokratie nichts auszurichten ist, daß man dadurch ihr nur noch mehr Anhänger zutreibt. Ich bedaure es, daß die liberalen Parteien durch solche Dinge von den anderen Parteien abgedrängt werden. bin der Meinung, daß die Wähler die Quittung über solche Vorlagen ertheilen werden, welche bestätigen, daß wir keine einheitliche konsequente Regierung haben. Es muß da⸗ für gesorgt werden, daß die immer weiter um sich greifende Verstim mung beseitigt wird. b .

Abg. Fürst Radziwill (Pole) verwahrt sich namens seiner Partei dagegen, daß sie durch die Unterzeichnung des Antrags eine leere De⸗ monstration gemacht hätte. Die Polen, führt Redner aus, konnten ihre Unterschrift um so weniger versagen, als sie an ihrem eigenen Leibe in letzter Zeit die Mißlichkeit empfunden haben, daß die Gesetze von untergeordneten Organen der Polizei ausgeführt werden. Die Art und Weise, wie der Minister des Innern das Verhalten seiner Beamten bei Auflösung von Versammlungen gedeckt hat, hat die Be⸗ völkerung aufs tiefste verletzt, und den letzten Wahlerfolg haben die Polen wohl lediglich diesem Umstand zu verdanken. Vor 20 Jahren wurden kautschukähnliche Bestimmungen des Strafgesetzes beantragt, und hoffentlich wird ein ähnliches Unterfangen jetzt mit größtem Nachdruck zurückgewiesen. Der Reichstag muß durch sein heutiges Votum sich für die Aufrechterhaltung der Vereinsfreiheit aussprechen.

Abg. Haußmann (d. Volksp.): Seit dem 27. Juni v. J. ist diese einfache Frage des öffentlichen Rechts angewachsen zu einer politischen Frage durch die befremdliche Haltung der Regierung. Darüber kann man nicht im Zweifel sein, daß der Mehrheit des Reichstages eine Zusage gegeben ist, welche sie dahin aufgefaßt hat, daß das Verbindungsverbot ohne weiteres aufgehoben werden soll. Ich habe mich mißtrauisch gegen die Erklärung des Reichskanzlers ausgesprochen, Herr von Boetticher hat mich jedoch beruhigt mit der Erklärung, daß die Ausführung des Reichskanzlers rechtlich un⸗ anfechtbar sei, daß die verbündeten Regierungen sich sämmtlich an⸗ heischig gemacht hätten, das Verbot außer Wirksamkeit zu setzen. Danach konnte es sich nicht um ein ganzes Vereinsgesetz handeln. Ich habe auch damals schon daran gezweifelt, ob man die gegebene Zusage auch halten werde. Denjenigen Herren, welche in der Beschränkung des Versammlungsrechts ein Mittel gegen die Sozialdemokratie sehen, möchte ich bemerken, daß Württemberg, welches das freieste Versammlungsrecht besitzt, keinen sozialdemokratischen

Abgeordneten hat. In Bayern ist auf übereinstimmenden Antrag der Nationalliberalen und des Zentrums eine Kommission eingesetzt, welche das bayerische Vereinsgesetz freiheitlich umgestalten soll. Für die Sozialdemokratie kann man garnicht wirkungsvoller die Werbetrommel rühren, als wenn man alle Beschränkungen nur aus Furcht vor der Sozjaldemokratie ausführt. Wichtiger als alles das ist die Lage, in welche die Regierung ge⸗ kommen ist. Als Graf Eulenburg den Kanzler Grafen Caprivi zu einem Umsturzgesetz veranlassen wollte, haben sich die verbündeten Re⸗ gierungen auf die Seite des Grafen Caprivi gestellt. Jetzt wird ein solches Gesetz gemacht, ohne den Bundesrath überhaupt zu fragen. Wir können also in dem Bundesrath nicht mehr eine Stütze gegen die preußische Vorherrschaft erblicken; das Ansehen des Bundesraths wird auf das bedenklichste dadurch untergraben.

Damit schließt die erste Berathung. Nach einer persön⸗ lichen Bemerkung des Abg. Dr. Lieber wird sofort die zweite Berathung eröffnet.

Abg. Zimmermann (Reformp.): Es giebt allerdings Bundes⸗ staaten, in denen eine reaktionäre Vereinsgesetzgebung besteht. Das sächsische Vereinsgesetz hat es dahin gebracht, daß auf einer Ver⸗ sammlung von deutschen und österreichischen Abgeordneten kein Oester⸗ reicher das Wort nehmen durfte. Man suchte eben nach einem Grunde, um die Versammlung unter allen Umständen aufzulösen. Sie wurde aufgelöst, weil eine Kritik an Polizeimaßregeln geübt worden sein soll: das war sächsisches Vereinsrecht. Davor wollen wir uns doch schützen. Durch die preußische Vorlage wird der Umsturz nicht geknebelt; das Gegentheil wird erzielt. Das allgemeine Wahlrecht verliert unter Beschränkung des Versammlungs⸗ rechts seinen Werth, denn dann kann man den kleinen Mann nicht aufklären über seine Rechte und Interessen. Man untergräbt die Wurzeln des Wahlrechts durch 17. . n des Vereinsrechts; das zeigt sich namentlich bei der Thätigkeit der sächsischen Regierung oder vielmehr der konservativen Hofrat spartei. Wenn man Sozial⸗ demokraten züchten will, so ist man jetzt auf dem besten Wege dazu. Ohne die Reformpartei wären in Sachsen noch mehr Sozialdemo⸗ kraten gewählt worden. Warum hat der Reichs kanzler nicht im Jahre 1896 von den Kompensationen gesprochen? Sowie von Diäten die Rede ist, spricht man auch immer gleich von Kompensationen. Wenn die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen sich auf zwei Millionen bei den nächsten Wahlen steigert, so ist es Schuld der Regierung. Es ist betrübend, daß der Schatz an nationaler und monarchischer Gesinnung aufgezehrt wird; daß die Sozialdemokraten das gern konstatieren, i begreiflich, denn man ist ja unermüdlich an der Arbeit⸗ Beunruhigung und Mißstimmung ins Volk hineinzu⸗ tragen. Ein Bedürfniß zur Abänderung des Gesetzes lag nicht vor, sondern höchstens zu einer einheitlichen Regelung der ganzen Materie, wobei Hessen, Württemberg und andere Staaten ohne Vereinsgesetz aller⸗ dings benachtheiligt werden. Alle wichtigen Fragen werden jetzt im Reiche entschieden, deshalb mu alles einheitlich geregelt werden. Wir machen von unserem guten Re⸗ t Gebrauch, wenn wir hier protestieren egen eine Vorlage, welche den bürgerlichen Radikalismus, den Frei⸗

un wieder lebendig macht. 8

Sachsischer Gesandter Dr. Graf von Hoh enthal und Bergen: Ich will mich nicht einlassen auf eine Darlegung der Vorzüge des säch⸗ sischen Vereinsgesetzes. Es bandelt sich bei der Beschwerde, die der Vor⸗ redner mit dem ganzen Aufgebot seiner Lungenkraft vorgetragen hat, um

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eine Protestversammlung gegen die Badeni’'schen Sprachenverordnungen. Ja, was geht uns das an? Es sollten Oesterreicher nicht zum

werden. (Zuruf: Wo steht das im 125 . Das Gesetz ge⸗ jattet die Untersagung des Aufenthalts für Ausländer. Es war das Recht der Behörden, einem Ausländer das Wort zu untersagen im Interesse der Beziehungen zu einer befreundeten Regierung. ( uruf: Dreibund.) Die Regierung kann jeden Fremden, der sich lästig macht, ausweisen. Als ein Oesterreicher zum Worte kommen sollte, wurde die Versammlung aufgelöst. (Zuruf des Abg. Zimmermann: Unwahr!)

Präsident Freiherr von Buol ruft den Abg. Zimmermann wegen des Wortes „unwahr“ zur 1

Damit wird die Diskussion geschlossen.

Persönlich erklärt Abg. Zimmermann, daß die Versammlung nicht aufgelöst worden sei, als ein Oesterreicher das Wort erhalten * sondern als er, Redner, eine Kritik der Polizei habe ausüben wollen.

In namentlicher Abstimmung wird darauf der einzige Artikel des Gesetzentwurfes mit 207 gegen 53 Stimmen an⸗ genommen. u1“

Schluß gegen 6 Uhr. Nächste Sitzung Mittwoch 12 Uhr. (Servistarif, Auswanderungsgesetz, Margarinegesetz, Hand⸗ werkervorlage, Interpellation Hahn, betreffend Wegerecht der Fischdampfer.)

8

Preußischer Landtag. 8 Haus der Abgeordneten. 87. Sitzung vom 18. Mai 1897.

Das Haus setzt die erste Berathung des Gesetzentwurfs zur Ergänzung und Abänderung von Bestimmungen über Versammlungen und Vereine fort.

Nach den im Auszug bereits mitgetheilten Reden der Abgg. Stöcker (b. k. P.) und Dr. Klasing (kons.) erhält das Wort

Abg. Motty (Pole): Er acceptiere für seine Partei die Ge⸗ währung des Koalitionsrechts der Vereine. Dieses Zugeständniß sei aber nur der Köder für die Erweiterung der Polizeiwillkür, die das Volk nicht verdiene. Wo beständen die „Auswüchse“, von denen die Minister gesprochen haben? Was helfe die Koalitionsfreiheit, wenn die Existenz der Vereine in Frage gestellt werde? Fortan würden Preußen sich zu Vereinen und Versammlungen nur zusammen thun können, sofern es die Polizei erlaube. Das würde der Sinn der Art. 29 und 30 sein. „Oeffentliche Sicherheit“ und Sicherheit des Staates“ seien viel zu dehnbare Begriffe, namentlich wenn sie von untergeordneten Polizeiorganen ausgelegt würden. Den Polen sei das Vereinsgesetz nicht unerwartet gekommen. Einen Vorgeschmack davon hätten sie erhalten in der Auflösung ihrer Versammlungen. Er wolle aber dem Abg. von Tiedemann nicht den Gefallen thun, auf eine Polendebatte einzugehen. Diese Novelle sei viel gefährlicher als das verflossene Sozialistengesetz, sie würde alle Parteien bedrohen Ausnahmezustand für weite Schichten des Volkes möglich machen.

Abg. von Ploetz (kons.): Wir wollen mit diesem Gesetz den Umsturz und den Kampf gegen Monarchie und Religion treffen, nichts weiter. Alles Andere, was darüber hinaus geht, kann in der Kom⸗ mission aus dem Gesetz eliminiert werden. Was die „Deutsche Tageszeitung“ in ihrem politischen Theil vertritt, geht den Bund und die konservative Partei nichts an; wir sind also für ihre Haltung in dieser politischen Frage nicht verantwortlich. Was geht den Abg. Rickert es an, was diese Zeitung uns kostet? Ihn kostet es nichts; er ist nicht Aktionär, und wir würden uns be⸗ danken, ihn in den Bund aufzunehmen. Den Stolper Landrath zu vertheidigen, habe ich keinen Beruf. Er hat nur seine Pflicht und Schuldigkeit gethan, wenn er sich um den Verein „Nordost“ gekümmert, der Unfriede stiftet in seinem Kreise, Groß⸗ und Klein⸗ grundbesitz gegen einander hetzt, im W zu dem Bunde der Landwirthe. Selbst die Frese nige Zeitung“ hat anerkannt, daß die

reisinnige Vereinigung den Verein „Nordost“ nur ins Leben gerufen Labe, um Wahlagitation in Scene zu setzen. Die Auftösung der zweiten Versammlung hinter der ersten war durchaus berechtigt. Wäre unser Bund im vorigen Jahre aufgelöst worden, so würde man es mit einem zweiten als der Fortsetzung des ersten ebenso gemacht haben. Auf das Gesetz kommt es weniger an als auf seine loyale Befolgung und Handhabung. Uns hat man deshalb nichts anhaben können, trotzdem Herr von Hammerstein unsere Vereinigung als gemeingefährlich bezeichnet hat. Ich will den Verein „Nordost⸗ nicht denunzieren. Aber woher kommen seine großen Einnahmen? doch nur von der Judenschutztruppe oder von dem Verein gegen agrärische Uebergriffe oder gar direkt von der Börse selbst; den Bauernstand zu schützen, sollte heute die Aufgabe der Zeit sein. Das verkennen die Nationalliberalen, und die Regierung läßt es manchmal an ernstem Willen fehlen; ich erinnere nur an die Viehsperre, das Heimstättengesetz u. a. Die Freisinnigen wollen keinen festen Bauern⸗ stand, und die Regierung vertröstet uns mit Versprechungen (Rufe links: zur Sache! Vereinsgesetz!). Ohne einen festen Mittelstand werden wir dem Umsturz nicht begegnen können.

Abg. Dr. Oswalt (nl.): Herr Stöcker befindet sich in einer üblen Lage. Konservativ und liberal sind allerdings unvereinbare Gegensätze; aber zu sagen, daß beide Richtungen verschiedene sittliche Begriffe wären, ist zum mindesten eine arge Uebertreibung. Es giebt auch allgemeine Wahrheiten, und es heißt dem Kampf gegen den Umsturz keinen Dienst thun, solche künstlichen Gegensätze zu kon⸗ struieren, wie es Herr Stöcker thut. Die Fälle, in denen die Betheili⸗ gung von Minderjährigen an politischen Versammlungen erwünscht ist, können doch nur die sein, und man kann deshalb bei einer gesetzlichen Regelung dieser Frage diesen kleinen Nachtheil wohl

in den Kauf nehmen. Wir moöchten aber die Theilnahme von

Minderjährigen an Versammlungen nicht als Auflösungsgrund estgestellt wissen. Diese ganze Frage ist an sich nicht wesentlich, e kann aber unter Umständen das Schicksal der Vorlage entscheiden, das wolle das Zentrum nicht aus den Augen lassen. Auch wir bekämpfen den Umsturz, aber nicht um den Preis der de h Aufhebung des Vereins⸗ und Versammlungsrechts.

Man will die Entscheidung in vielen Fällen Subalternbeamten ein⸗ räumen, und das ist doch bedenklich. Wir müssen wissen, welche Absichten die Königliche Staatsregierung 9 die Zukunft hat. Nicht die objektive Friedensstöruug soll ein An lösungsgrund sein, sondern schon die Zuversicht, daß der Frieden gestört werden könnte. Soweit können wir unmöglich gehen. Wir sind bereit, die Vorlage in der Kommission zu prüfen. Herr Klasing irrt aber, wenn er⸗ glaubt, daß wir deshalb, weil wir das Ziel billigen, auch die Mittel billigen müssen. Solche Versuche sind bisher immer mißlungen. Wir werden jeden Versuch, eine solche Fohmnulferung finden, mit voller Unbefangenheit und Gewissenhaftigkeit prüfen. Was das Endergebniß sein wird, werden wir ja in der Kommission sehen.

err von Heydebrand warf uns vor, daß wir nicht fest zufassen wollen. Hier handelt es sich aber nur um ein kleines Mittel, das wir für unwirksam und schädlich halten, unwirksam gegen die Sozialdemokratie und Anarchie. Ein solches Gesetz erlassen hieße einen Brunnen mit einem morschen Deckel zudecken. Die Versammlungen der Anarchisten geben uns die beste Gelegenbeit, ihre Bestrehungen kennen zu lernen und sie zu bekämfen, namentlich durch die Presse. Die Propaganda im Wirthöhaus, auf der Landstraße fönnen Sie mit einem solchen Gesetz überhaupt nicht treffen. Der Staat zeigt seine Macht psychologisch eigentlich besser, wenn er diese Bewegung ruhig gewähren läßt, als wenn er sie mit solchen Mitteln belämdft. Henken Sie nur an England. Jedenfalls weben Sie mit solchen Mittern den Heiligenschein des Martyriums um die

Verfolgten und schmieden die getrennten Elemente fester zusammen.

Nicht alle sind Sozialdemokraten, welche den soztaldemokratischen

Führern folgen; es sind darunter die allerverschiedenartigsten Ele⸗-

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