1899 / 143 p. 10 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 20 Jun 1899 18:00:01 GMT) scan diff

—* von Werthzöllen

8 Deutscher Reichstag. 96. Sitzung vom 19. Juni 1899, 1 Uhr.

Auf der Tagesordnung steht zunächst die dritte Berathung des Gesetzeniwurfs, betreffend die Handels⸗ beziehungen zum britischen Reiche. Nach dem Beschlusse der zweiten Lesung sollte der Bundesrath bis zum 30. Juli 1900 die Ermächtigung haben, den Angehörigen und den Er⸗ zeugnissen des britischen Reichs und der britischen Kolonien die Meistbegünstigung zu gewähren.

Abg Freiherr Heyl zu Herrnsheim (nl.) beantragt, hin⸗ zuzufügen, daß diese Ermächtigung nur denjenigen Gebietstheilen gegenüber gelten solle, welche den deutschen Angehörigen und Erzeug⸗ viffen ebenfalls die Meistbegünstigung gewähren. Der Antragsteller weist darauf hin, daß der Gesetzentwurf auf Canada keine Anwendung mehr finden könne, weil Canada Deutschland gegen⸗ über seine Zölle erhöht und Deutschland zu Gunsten Frankreichs differenziert habe. Es müsse die Sicherheit geschaffen werden, daß, wenn andere britische Kolonien ebenso vorgingen wie Canada, sie von Deutschland dem erhöhten Tarife unterworfen würden. In der nächsten Zeit werde es vielleicht nothwendig werden, Ost⸗Indien und Australien gegenüber vorzugehen, da diese vielleicht demnächst Deutschland differenzieren würden. Ost⸗Indien z. B. erhebe

r Zucker einen Zuschlagszoll wegen der Prämie, die aber nicht nach rem Nettobetrage, sondern nach ihrem Bruttobetrage in Rechnung

gestellt werde. Graf

Staatssekretär des Innern, Staats⸗Minister Dr. von Posadowsky⸗Wehner:

Meine Herren! Ich bitte dringend, den Gesetzentwurf in der Fassung zu belassen, welche er in der zweiten Lesung erhalten hat. Die staatsrechtliche Auffassung der verbündeten Regierungen über die Auslegung dieses Gesetzentwurfs habe ich bereits in meinen Aus⸗ führungen in der ersten und zweiten Lesung des Gesetzentwurfs ganz unzweifelhaft gelassen. Wir werden uns nicht einen Augenblick be⸗ denken, denjenigen Staat, der uns differenziert, auch unsererseits zu differenzieren. Die Zuckerfrage habe ich für eine zweifelhafte erklärt und für eine solche, die in casu concreto nur aus Nützlichkeits⸗ gründen zu entscheiden sein wird. Ich möchte Sie umsomehr bitten, meine Herren, den Gesetzentwurf, so wie er in der zweiten Lesung ge⸗ staltet ist, anzunehmen, als unsere Vollmacht sich nur auf ein Jahr erstreckt und ich eben die Meldung bekomme, daß auf unsere Ver⸗ tragsvorschläge eine Antwort der englischen Regierung eingegangen ist. Ich würde es deshalb für vortheilhaft halten, nicht aus einem gewissen Gefühl, wie soll ich sagen, des Zweifels heraus, unsere Vollmacht weiter zu beschränken, als wir erklärt haben, uns selbst beschränken zu wollen. Sollten die Parteien aber in ihrer Majorität, was ich nicht übersehen kann, geneigt sein, den Antrag anzunehmen, so bitte ich aus dringenden Gründen, zunächst die Vorlage in die Kommission

zu verweisen, in der ich weitere Aufklärung geben werde.

Abg. Dr. Lieber (Zentr.) hat erhebliche, Bedenken gegen den vorgelegten Antrag, hält aber die Ueberweisung an eine Kommission

Pnicht für nöthig, sondern empfiehlt die einfache Annahme der Vorlage, da man der Regierung ohne weiteres vertrauen könne. Außerdem

21 liege der vorgestern angekündigte Antrag Kanitz wegen der Einführung 2 ja jetzt vor und werde demnächst zur Berathung ommen.

Abg. Broemel (fr. Vog.) schließt sich diesen Ausführungen an, da keine sachlichen Gründe vorlägen, die den verbündeten Regierungen zu gewährende Vollmacht irgendwie einzuschränken.

„Abg. Dr. Roesicke⸗Kaiserslautern (b. k. F.): Ich verstehe nicht, wie Graf von Posadowsky sich gegen den Antrag von Heyl

aussprechen kann, da er doch Deutschland unter keinen Umständen differenzieren lassen will. Angesichts der handelspolitischen Vorgänge der letzten zehn Jahre können wir nicht eine Vollmacht ohne jede

Einschränkung geben; wir werden daher für den Antrag von Heyl

stimmen.

Abg von Kardorff (Rp.): Bei der Geschäftslage des Hauses wird keine große Neigung vorhanden sein, die Vorlage an eine Kom⸗ mission zu überweisen. Ich bin auch sonst gern bereit, den Wünschen der Regierung in Bezug auf auswärtige Angelegenheiten mich an⸗ zuschließen. Aber in diesem Punkte kann ich mich den Ausführungen des Staatssekretärs Grafen von Posadowsky nicht anschließen. Der Antrag von Heyl giebt uns einen gewissen Schutz dagegen, daß nicht aanndere englische Kolonien ähnlich wie Canada gegen uns vorgehen.

1 bg. Liebermann von Sonnenberg (Reformp.): Wenn England jetzt mit einer Antwort gekommen ist, so sind daran vielleicht die Verhandlungen des Reichstages schuld, und die Annahme des An⸗

trages wird vielleicht dazu beitragen, die Frage noch schneller in Fluß zu bringen. Ich bitte deshalb, den Antrag von Heyl anzunehmen, zumal der Antrag Kanitz doch wohl erst im November zur Berathung kommen kann. Jede handelspolitische Niederlage empfindet das deutsche

Volk als eine Verletzung seines Nationalstolzes, namentlich an⸗

gesichts der schlechten Rolle, welche Deutschland in Samoa gespielt

hat, und angesichts der frechen Sprache, in welcher die enalische

Thronfolge in den deutschen Staaten in der englischen Presse er⸗

örtert wird.

Der Abg. Freiherr Heyl zu Herrnsheim beantragt die

Ueberweisung der Vorlage und seines Antrages an eine Kommission

von 21 Mitgliedern.

Staatssekretär des Innern, von Posadowsky⸗Wehner: Meine Herren! Ich will mich durch den Herrn Vorredner weder nach Samoa noch nach Coburg⸗Gotha locken lassen. (Sehr richtig!) Ich will nur die Sache behandeln, die uns hier beschäftigt. Der Grund, warum ich Sie gebeten habe, den Antrag des Herrn Abg. Freiherrn von Heyl abzulehnen, ist einfach der, daß es für uns eine sehr verschiedene Sache ist, von einer Vollmacht Gebrauch zu machen in der Richtung, die ich Ihnen bereits früher angedeutet habe, oder diese Richtung in einem Gesetze positiv festgelegt zu sehen. Es sind taktische Erwägungen, aus denen ich meine Bitte an Sie richtete. Was speziell den englisch⸗deutschen Handelsvertrag betrifft, so bemerke ich, um Irrthümern vorzubeugen, daß wir im gegenwärtigen Augen⸗ blicke noch nicht im Besitz der Gegenvorschläge Englands sind, sondern nur Nachricht bekommen haben, daß ein Gegenantrag, eine Gegen⸗ erklärung der englischen Regierung auf der englischen Botschaft ein⸗ gegangen ist. Ob ich also in der Lage sein werde, wenn Sie die An⸗ gel⸗genbeit an die Kommission verweisen, irgend welche Mittheilungen schon über die englischen Gegenvorschläge zu machen, ist mir zweifelhaft. Schließlich möchte ich noch einen Irrthum berichtigen in Bezug auf

Staats⸗Minister Dr. Graf

die staatsrechtliche Stellung des Herrn Präsidenten der Nordameri⸗

kanlschen Republik gegenüber den Vorschriften des Dingley⸗Tarifs. Nach unserer Auffassung hat, nachdem das im Diagley⸗Tarif begrenzte Procisorium für den Abschluß von Handelsverträgen abgelaufen ist, jest der Präsident der Amerikanischen Republik in Verbindung mit

dem Senat dasselbe Recht, internationale Verträge abzuschließen, wie

ehedem.

Abg. Dr. Hahn (b. k. F.): Ich muß es offen aussprechen, wir haben nicht das rechte Vertrauen zur Regierung, g- sie die deutschen Interessen in diesem Fall energisch genug vertritt. Aus diesem Grunde ist wodl auch der Antrag des Freiherrn von H yl entstanden.

1

Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Staats⸗Minister

von Bülow:

Ich hatte nicht erwartet, meine Herren, daß die Samoa⸗Frage im Laufe der heutigen Diskussion angeschnitten werden würde. Nachdem dies aber geschehen ist, nehme ich keinen Anstand, unseren Standpunkt in dieser Angelegenheit zu präzisieren.

Unsere Haltung in der Samoa⸗Frage habe ich vor einiger Zeit dahin zusammengefaßt, daß wir den Rechtsboden in der Samoa⸗Akte weder selbst verlassen, noch uns durch Andere von demselben ver⸗ drängen lassen würden. Daraus folgt, daß, wenn wir die Rechte an⸗ erkennen, die Andere aus der Samva⸗Akte für sich herleiten können, wir andererseits unsere eigenen deutschen Rechte unbedingt aufrecht erhalten. Aus dieser unserer Auffassung geht ferner hervor, daß alle Aenderungen, Entscheidungen und Maßnahmen auf Samoa abhängig sind von unserer Zustimmung und ohne unsere Zustimmung nicht end⸗ gültig durchgeführt werden können.

Auf Grund dieses Prinzips der Einstimmigkeit, das, wenn ich mich so ausdrücken darf, das Brett war, auf das wir uns stellen mußten, um durch die zeitweise einigermaßen erregten Gewässer der Samoa⸗Frage durchzukommen, die Basis, welche wir nach dem Geiste der Samoa⸗Akte wie nach Lage der thatsächlichen Verhältnisse be⸗ haupten mußten und die wir behauptet haben auf Grund dieses Prinzips der Einstimmigkeit ist die Samoa⸗Kommission gebildet worden, die seitdem in Samoa eingetroffen ist. Die Samoa⸗ Kommission stellt bis auf weiteres die Regierung von Samoa dar, sie hat die provisorische Regierungsgewalt über Samoa übernommen. Die dortigen maritimen und konsularischen Vertreter der drei Mächte sind von den drei Regierungen angewiesen worden, sich der Samoa⸗ Kommission unterzuordnen, welche die höchste Gewalt auf Samoa repräsentiert.

Von unserem Delegirten in der Samoa⸗Kommission liegen bisher nur telegraphische Meldungen vor, die ich in einem unseren Missionen im Auslande mitgetheilten Auszug, den ich vor mir liegen habe, mit Erlaubniß des Herrn Präsidenten hier verlesen möchte, obwohl der wesentliche Inhalt bereits bekannt ist.

„Die Ober⸗Kommission ist am 13. Mai in Apia eingetroffen und hat alsbald mit beiden Parteien wegen Auflösung der Streit⸗ kräfte verhandelt. Die Befürchtung, daß die Ruhe nur durch Wiederaufnahme der Feindseligkeiten gegen Mataafa wieder⸗ herzustellen sei, hat sich als grundlos erwiesen. Malietoa⸗Tanu und Mataafa haben beide der Kommission Besuche gemacht, den Entschluß ihrer Parteien, der Kommission zu gehorchen, über⸗ mittelt und die Niederlegung und Auslieferung aller Waffen ver⸗ sprochen.

Mataafa hat am 31. Mai den Anfang mit Ablieferung von über 1800 Gewehren gemacht. Beide Häuptlinge sind von der Kommission als gleichberechtigte Parteihäupter empfangen worden, und es ist nicht ausgeschlossen, daß dem Streit beider Theile durch Abschaffung des Königthums ein Ende gemacht werden wird. Admiral Kautz hat mit dem amerikanischen Kriegsschiff „Philadelphia“ die Rückreise nach San Franciscoangetreten. Statt der „Philadelphia“ wird demnächst der Kreuzer „Newark“ eintreffen. Der englische Konsul Maxse wird sich am 16. Juni nach Europa zurückbegeben. Alsdann wird auch General⸗Konsul Rose den von ihm Ende vorigen Jahres beantragten Uͤrlaub erhalten. Die verhafteten Deutschen, Hufnagel und Marquardt, sind, nachdem die Kommission sich von ihrer völligen Unschuld überzeugt hat, ungesäumt in Freiheit gesetzt worden. Die Bevölkerung von Samoa setzt großes Vertrauen in die Kommission. Nach Ordnung der allgemeinen politischen Ver⸗

hältnisse wird die Kommission zu der Entschädigungsfrage Stellung nehmen.“

Meine Herren, die Samoa⸗Kommission hat vor allem die Aufgabe, gemäß der Samoa⸗Akte auf Samoa den Frieden und die Rechtsordnung wiederherzustellen, welche dort in einer Weise gestört worden sind, die das deutsche Rechtsgefühl tief verletzt hat. (Sehr wahr! sehr richtig!) Es würde nach unserer Auffassung dem Artikel I der Samoa⸗Akte entsprechen, wenn hinsichtlich der Schaffung einer künftigen Ein⸗ geborenen⸗Regierung die Wünsche der Bevölkerung thunlichst in Be⸗ rücksichtigung gezogen würden. Es könnte das vielleicht in der Weise geschehen, daß eine Mehrheit unter den maßgebenden Häuptlingen, oder eine Mehrheit unter den breiteren Schichten der Bevölkerung konstatiert würde. Hierbei halten wir aber daran fest, und das möchte ich ausdrücklich wiederhelen, daß wir gegenüber den Streiligkeiten der eingeborenen Häuptlinge wie gegenüber den verschiedenen Thron⸗ kandidaten nicht Partei ergreifen. Wenn wir die Parteinahme der Agenten anderer Mächte für Tanu nicht gebilligt haben, so identifizieren wir uns auch nicht mit dessen Gegner. Die Streitig⸗ keiten der samoanischen Häuptlinge und die dortigen Thronrivalitäten sind zu lokaler Natur, als daß wir für diesen oder jenen derselben Partei ergreifen sollten.

Wir haben noch eine andere Aufgabe, auf die der Herr Abg. Liebermann von Sonnenberg soeben hingewiesen hat, deren wir uns vollkommen bewußt sind und die wir nicht einen Augenblick aus dem Auge gelassen haben, nämlich dahin zu wirken, daß unsere Staats⸗ angehörigen auf Samoa entschädigt werden für die Verluste, die sie erlitten haben durch Zerstörung von deutschem Eigenthum oder durch widerrechtliche Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit. (Lebhaftes Bravol und Zustimmung.) Wir werden nichts unterlassen, damit unseren Landsleuten auf Samoa, die gelitten haben unter Vorgängen, die wir für unbi llig und ungerecht halten, ihr gutes Recht werde. (Lebhaftes Bravo!) Diese Frage, meine Herren, ist aber noch nicht reif für ein diplomatisches Eingreifen. Ein solches wird erst möglich sein, wenn auf Samoa die Ordnung wirklich wiederhergestellt sein wird. Wir geben uns der Heffnung hin, daß in dieser wie in jeder anderen Be⸗ ziehung die Kommission zu einem Ergebniß gelangen wird, das den Grundsätzen wahrer Billigkeit entspricht. Wir werden nicht um eines Haares Breite von unserem guten Recht abweichen. (Lebhafter Beifall.) Auf der anderen Seite werden wir aber auch nicht vergessen, daß internationale Differenzern, bei denen sich nicht nur mancherlei politische und wirtbschaftliche Interessen durchkreuzen, sondern wo auch das nationale Empfinden mitgesprochen hat, mit ruhiger Ueberlegung und mit kaltem Blute behandelt werden müssen. (Lebhaftes Bravo 9

Abg. Dr. Lieber spricht über diese Erklärung seine Be⸗

friedigung aus und protestiert dagegen, daß das deutsche Volk kein

Vertrauen zur Regierung habe; die Parteien der Mitte des Haufes theilen die Ansichten des Abg. Hahn nicht. Redner lehnt auch ab, auf die coburg⸗gothaische Toronfolge einzugehen, namentlich bei Angelegen⸗ heiten von Handelsbeziehungen mit fremden Reichen.

Abg. Freiheir Heyl zu Herrneheim ist der Ansicht, daß die

. 2 —eacg 8 gegengber Canada g. merika, welche beide zu Gunsten Frankreichs die Meistbegünstin vernachlässigt hätten. stbegüns igung

Nachdem Abg. Dr. Hahn nochmals festgestellt hat, daß; weiten Kreisen des Volkes ein gewisses Mißtrauen gegenüber den verbündeten Regierungen herrsche, wird die Debatte ge⸗ schlossen und die Vorlage mit dem Antrage von Heyl 8 Kommission von 21 Mitgliedern überwiesen. 8

Darauf folgt die erste Berathung des Gesetzentwurs zum Schutze des gewerberchn Nebertsrfetssempeg⸗ Reeichskanzler Füͤrst zu Hohenlohe⸗Schillingsfürft. Mieine Herren! Noch ehe der Gesetzentwurf, der heute ung beschäftigt, dem Reichstage vorgelegt war, wurden lebhafte Angriffe gegen denselben erhoben, sowohl in der Presse, wie auch in öffentlichen Versammlungen; deeacfil haben auch bereits im Reichstage mehrfachen Ausdruck vifenden. Und doch bringt das Gesetz Ihnen nichts Neues und Unerwartetes.

Schon vor acht Jahren hat der Minister von Berlepsch die spätere Wiederaufnahme der damals abgelehnten Regierungsvorlage mit gleichen Zielen ausdrücklich in Aussicht gestellt. Nach den Erfahrungen, die man in der Zwischenzeit bei Ausständen gemacht hat, konnte niemand voraussetzen, daß die verbündeten Regierungen ihre Absicht dauernd aufgeben würden, den Terrorismus, der bei Ausständen den Arbeitswilligen gegenüber angewandt wird, energisch zu bekämpfen.

Die abfällige Kritik der gegenwärtigen Vorlage wird nun ins⸗ besondere von der sozialdemokratischen Partei in leidenschaftlicher Weise ausgeübt, und zwar ohne Zweifel aus dem Grunde, weil sie die Folgen des Gesetzes ihren Interessen für nachtheilig hält (Zurufe bei den Sozialdemokraten. Glocke des Präsidenten) und befürchtet, daß die Macht, welche sie auf die Arbeiter ausübt dadurch beeinträchtigt werden könnte. 1

Daß diese Besorgniß nicht unbegründet ist, muß ich zugeben. Ich begreife deshalb vollkommen, daß die Herren der sozialdemokra⸗ jischen Partei den Gesetzentwurf bekämpfen. Was ich aber nicht be⸗ greifen würde, wäre, wenn diejenigen Parteien, deren Bestrebungen weder auf die republikanische Startsform noch auf den Kollektivismus abzielen, sich auch an der grundfätzlichen Bekämpfung des Gesetzes betheiligen wollten. (Lachen links. Sehr richtig! rechts.)

Denn, meine Herren, das Koalitionsrecht der Arbeiter soll nicht im geringsten beschränkt werden. (Heiterkeit links.) Arbeitgebern wie Arbeitnehmern bleibt nach wie vor das Recht und die Möglichkeit, sich zur Einwirkung auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen behufs gemeinschaftlicher Verabredung zusammenzuschließen; Arbeiterausstände bleiben wie bisher möglich. (Zurufe bei den Sozialdemokraten.) Es ist eine Uebertreibung, wenn man behauptet, daß dem Arbeiter die Möglichkeit abgeschnitten werden solle, bessere Bedingungen für seine Arbeit zu erreichen. Das Gesetz soll lediglich die Beschränkung der Willensfreiheit des Einzelnen durch Terrorismus, vor allem aber das Treiben gewerbsmäßiger Agitatoren und Hetzer verhindern.

Wenn wir das Gesetz erst in letzter Stunde vorgelegt haben, so lag der Grund der Verzögerung in Hindernissen, die die verbündeten Regierungen zu beseitigen nicht in der Lage waren. So kam das Ende der Tagung heran.

Nach den feierlichen Ankündigungen der Thronrede und bei den Gerüchten, die über den Inhalt des Gesetzes tendenziös verbreitet wurden, durften die verbündeten Regierungen nicht zögern, das Gesetz dem Reichstage vorzulegen, um damit die künstlich geschaffenen Besorgnisse zu zerstreuen. Wenn ich nicht irre, ist dieser Zweck errelcht. Jeder Unbefangene wird zugeben, daß die verbündeten Regierungen noch auf dem Standpunkt stehen, auf dem sie 1890 gestanden haben. Ich hoffe, daß wir, wenn auch nicht jetzt, doch bei späterer Behandlung ein Gesetz zu stande bringen werden, das die Interessen der Arbeiter zu schützen geeignet ist. (Bravol rechts.)

Staatssekretär des Innern, Staats⸗Minister Dr. Graf von Posadowsky⸗Wehner:

Meine Herren! Sie werden gestatten, daß ich den allgemeinen einleitenden Worten des Herrn Reichskanzlers noch Einiges hinzufüge. Ich verpflichte mich dann, wenn Sie meine Ausführungen bestreiten, Ihnen auch sehr ernsthaft und aufmerksam zuzuhören.

Der Herr Reichskanzler hat bereits angedeutet, daß diese Vor⸗ lage in der Oeffentlichkeit seitens ihrer radikalen Gegner vorzugs⸗ weise bekämpft ist aus allgemein politischen und nicht aus sachlichen Gründen.

In der gegnerischen Presse habe ich keine ruhige, objektive Er⸗ örterung der Kernfrage gefunden: sind überhaupt die Zustände, wie sie sich zur Zeit entwickelt haben, länger vereinbar mit der staatlichen Ordnung? (Sehr richtig! rechts.) Man behauptet, wir wollten zwar formell die Koalitionsfreiheit den deutschen Arbeitern lassen, sie ihnen aber thatsächlich nehmen. (Sehr richtig! links.) Diese Behauptung ist unrichtig (Sehr richtig! rechts; Widerspruch links), und diejenigen Herren, welche diese Behauptung aufstellen, sollten wissen, daß dem so ist. (Sehr gut! rechts; Lachen bei den Sozialdemokraten.) Wir denken garnicht daran, die berechtigte Koalitionsfreiheit des deutschen Arbeiters aufzuheben oder auch nur zu beschränken. Im Gegentheil, ich persönlich bin der Ansicht, daß diese Koalitionsfreiheit in gewissem Maße im wirthschaftlichen Interesse aufrecht erhalten werden muß. (Unterbrechung bei den Sozialdemokraten; Glocke des Präsidenten.) Es haben sich infolge der modernen Industrie gewaltige Arbeitsstätten entwickelt, Arbeitsstätten, die den Umfang und die Einwohnerzahl einer kleinen, ja einer mittleren Stadt haben. Durch die wachsende Volksbildung des deutschen Arbeiters, durch die zunehmende Wohl⸗ habenheit der übrigen Klassen der Bevölkerung sind ganz naturgemäß auch die Ansprüche der Arbeiter an ihre Lebenshaltung gewachsen und auch ihr Selbstbewußtsein, und ich will hinzufügen: dieses Selbst⸗ bewußsein der Arbeiter hat sich wesentlich gesteigert unter der Herrschaft des allgemeinen Wahlrechts. Die Arbeiter haben erkannt, daß ihre Interessen zum theil solidarisch sind, und daß für sie ein Vortheil darin liegt, wenn sie diese Interessen auch solidarisch geltend machen. Und wie die Syndikate ihrerseits die Preise ihrer Waaren durch Koalitionen zu erhöhen suchen, so koalieren sich unter Umständen auch die Arbeiter, um den Werth dessen, wovon sie leben, ihrer Arbeits⸗ kraft, zu steigern und diese ihre Arbeitskraft so günstig wie möglich zu verwenden. Das sind wirthschaftliche Erscheinungen, gegen die sich nichts machen läßt, mit denen das moderne Erwerbsleben meines Er⸗ achtens rechnen muß, und man kann sich damit trösten, daß jede Ueberspannung der natürlichen, wirthschaftlichen Gesetze von der einen Partei oder der anderen schließlich zu einem Niedergang führt und

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darig auch das natürliche Korrektiv derartiger Ueberspannungen liegt.

Ich bin hier in dem hohen se häufig hingewiesen worden auf

Aeußerungen des bekannten Ehepaares Webb über die englische Arbeiterbewegung, und selbst diese Schriftsteller, die in dieser Frage auf einem so arbeiterfreundlichen Standpunkt stehen, schreiben über englische Streikverhältnisse Folgendes, was ich den Herrn Präsidenten zu verlesen mir zu gestatten bitte. Bei Besprechung der großen Ar⸗ heiterausstände am Tyne sagen sie Folgendes:

„Innerbhalb eines Zeitraumes von 35 Monaten gab es nicht weniger als 35 Wochen, in denen die eine oder andere der vier wichtigsten Abtheilungen der Arbeiter in der Stapelindustrie des Distrikts absolut jede Arbeit verweigerte. Das bedeutet den Still⸗ stand ungeheurer Betriebe, das erzwungene Feiern von Zehn⸗ tausenden anderer Handwerker und Tagelöhner, den Verkauf ihres Hausraths und das langsame Verhungern von Tausenden von Familien, die an dem Streik ganz unbetheiligt waren. Die Wir⸗ kungen waren aber, soweit die Gewerkvereine in Frage kamen, nicht auf diese sensationellen, aber vorübergehenden Erscheinungen be⸗ schränkt. Die Arbeiter haben in der That den Unternehmern in die Hände gearbeitet, die die Gewerkvereine zerstört sehen möchten. Diese inneren Kämpfe am Tyne haben alle an ihnen betheiligten Gewerkvereine in einen Zustand lokaler Schwäche versetzt, von der sie sich bis jetzt noch nicht erholt haben.“

Aus diesem Zeugniß geht hervor, daß derartige Arbeiterkämpfe über⸗ haupt eine zweischneidige Waffe sind.

Wir wollen aber in diese Verhältnisse nicht eingreifen und glauben, daß man in dieselben auch thatsächlich nicht eingreifen kann. Aber wenn der Arbeiter sein Recht vertritt, kann er das in einem Rechtsstaate nur nach dem Grundsatze: Neminem laedit, qui jure suo utitur. Man darf von seinem Rechte nur Gebrauch machen in einem geordneten Staat, soweit man hierdurch das Recht eines Anderen nicht verletzt und somit in eine fremde Rechtssphäre nicht eingreift. (Sehr richtig;! Unruhe und Zurufe bei den Sozialdemo⸗ kraten.) (Glocke des Präsidenten.)

Ich verspreche Ihnen, daß ich dem Wunsch des Herrn Prä⸗ sidenten jedenfalls getreulich nachkommen will. (Heiterkeit.)

Meine Herren, ich meine also: einen solchen Begriff der Koali⸗ tionsfreiheit, wie ihn die radikalen Gegner dieser Vorlage definieren, ist unvereinbar mit der Sicherheit und Ordnung des Staatswesens überhaupt. Und, meine Herren, so sehr auch Kritik an der Denk⸗ schrift geübt ist, die wir die Ehre hatten, dem hohen Hause vor⸗ zulegen und die eine einfache Zusammenstellung der Berichte der lokalen Verwaltungs⸗ und Justizbehörden ist, so geben doch die in dieser Denk chrift mitgetheilten Thatsachen den unzweifelhaften Be⸗ weis, daß man die Koalitionsfreiheit seitens der Arbeiter in einem Sinne ausgelegt hat, der mit der persönlichen Freiheit sowohl der Arbeitgeber als der Arbeitnehmer nicht mehr vereinbar ist. (Sehr wahr! rechts.)

Ich würde es für sehr möglich gehalten haben, statt Ihnen hier eine besondere Vorlage zu unterbreiten, einfach qualifizierte Be⸗ stimmungen zum Schutz der persönlichen Freiheit in das Strafgesetz⸗ buch aufzonehmen; denn die Bestimmungen, die Sie in dieser Vorlage finden, sind nichts wie ein durch die Erfahrung gebotener verstärkter

Schutz der persönlichen Freiheit des Individuums. (Sehr richtig! rechts) Was ist Koalitionsfreiheit, meine Herren? Was ist überhaupt Freiheit? (Zurufe von den Sozialdemokraten.) Gewißz, meine Heeren, ich werde Ihnen die Antwort darauf geben, und ich werde sehen, ob Sie meine Antwort widerlegen können. Freiheit ist jedenfalls, etwas zu thun, aber auch zu lassen. (Sehr wahr! rechts. Zuruf von den Sozialdemokraten.) Und wenn Sie von Koalitionsfreiheit (Zurufe von den Sozialdemokraten.) Meine Herren, ich begreife nicht, warum Sie so aufgeregt sind; wer das gute Recht für sich zu haben glaubt, hat auch den Muth der Kaltblütigkeit. (Sehr richtig! rechts.) Die Koalitionsfreiheit ist jedenfalls die Freiheit, sich zu koalieren oder auch eine Koalition ab⸗ zulehnen. Der Kampf über die ganze Vorlage wird sich also darum handeln: wieweit sind Gewerksgenossen befugt, durch Nöthigung und alle die Mittel, die hier im Gesetze unter Strafe gestellt werden, ihre Gewerbsgenossen oder die Arbeitgeber zu zwingen, etwas zu thun oder zu unterlassen? Ich finde hier in der führenden Zeitung der Sozial⸗ demokratie eine recht interessante Auseinandersetzung. Dort beißt es bei einer Besprechung dieser Arbeiterschutzvorlage: (Pause. Zürufe von den Sozialdemokraten.) Sie bekommen es ganz sicher zu hören; Sie brauchen sich nicht aufzuregen. Dort heißt es also:

Das volle, unbehinderte, freie, gegen jeden Angriff, er komme von wem er will, geschützte Koalitionsrecht des Arbeiters ist eine innere Nothwendigkeit der Arbeiterverhältnisse, die durch einen rechtlich freien Vertrag von rechtlich freien Arbeitern zeschlossen werden. Dem Arbeiter das freie Recht der Koalition durch Gesetzgebung, Verwaltungsmaßregeln, Rechtsprechung oder

Zwang seitens der Unternehmerschaft oder sonstwie nehmen,

heißt: dem Arbeiter das Recht nehmen, es abzulehnen, nur unter den

Lohn⸗ und Arbeitsbedingungen zu arbeiten, die allein der Arbeit⸗

geber vorschreibt.

Wir können uns auf diese Ausführungen durchaus beziehen, denn auf dieser Anschauung beruht unsere ganze Vorlage. Wir wollen auch dem Arbeiter das vollkommen freie Selbstbestimmungs⸗ recht geben, unter welchen Bedingungen er arbeiten will oder nicht. Die Deduktion des führenden sozialdemokratischen Blattes enthält meines Erachtens nur eine schwere Lücke: die Koalitionsfreiheit ist bier nur dahin verstanden, sich zu koalieren gegenüber den staat⸗ lichen Behörden und den Arbeitgebern; aber diese selbe Koalitionsfreiheit, die im Namen der Freiheit der deutschen Arbeiter⸗ caft gefordert wird, verwandelt sich sofort in einen unerbittlichen Zwang, sich einer Koalition anzuschließen, sobald das nur von be⸗ rusenen Agttatoren oder unter Umständen von einer Minderheit von Arbeitern verlangt wird. Deshalb ist Ihre Deduktion der Koalitions⸗ freiheir eine einseitige; Sie verlangen in der That, daß, wenn land⸗ fremde Agitatoren nach einer Arbeitsstätte kommen, oder wenn sogar nur einer Minderheit von Arbeitern die bisherigen Arbeitsbedingungen nicht mehr zusagen, dann sofort der Beschluß, zu striken, als eine hohere Gewalt, als ein Schicksalsspruch angesehen wird, dem sich seder Arbeiter fügen muß, und Sie betrachten jeden Arbeiter als Ver⸗ rätber, der sich diesem Schicksalsspruch nicht fügt.

Ich habe hier eine Notiz über eine Aeußerung, die ein sozial⸗ demokratischer Redner kürzlich in einer Berliner Versammlung gethan

t, und die meine Ausführungen, glaube ich, sehr drastisch belegt,

den ich eben mir gestattete, Ihnen aus dem „Vorwärts“ vorzulesen. Dieser Herr sagte:

In der Denkschrift wird besonders betont, daß es eine Pflicht des Staates sei, die Arbeitswilligen als würdige Stützen des Staates zu schützen. Also diese Schlafmützen, diese Dummen, die noch nicht zu der richtigen Erkenntniß ihrer Lage gekommen sind, sind die würdigen Stützen des Staates. (Hört, hört! rechts. Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Was muß das für ein Staatswesen sein, das sich nur auf Dumm⸗ heit stützen kann?

(Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Und diese Arbeitswilligen sollen wir nicht verachten?! Einen Schuft kann man nur als einen Schuft ansehen. (Hört, hört! rechts. Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Also: wenn ein paar Agitatoren oder unter Umständen eine Minderheit von Arbeitern einen Streik proklamieren, ist jeder ein Dummer, jeder ein Schuft, der da sagt: ich bin nach meinen Verhältnissen mit meinem Lohn zufrieden, ich will meine Arbeit weiterführen. (Hört, hört! rechts. Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Freilich, in Ihren Augen ist ja jedes Mittel, was hierbei angewendet wird, ein erlaubtes. Es ist besonders darauf hingewiesen worden in Ihrer Presse, daß diese Gesetzesvorlage ein unerhörtes Attentat auf die Koalitions⸗ freiheit der Arbeiter sei (sehr wahr! bei den Sozialdemokraten. Zuruf rechts) und eine Vernichtung dieses Rechts bedeute. (Sehr wahr! bei den Scozialdemokraten. Heiterkeit rechts.) Aber Sie werden doch durch diese Vorlage in die Enge getrieben durch den Nachweis der konsequenten Unterscheidung zwischen der berechtigten Ausübung der Koalitionsfreiheit und einem durch ein übertriebenes Selbstbewußtsein der betheiligten Arbeiterschaft hervorgerufenen Miß⸗ brauch derselben. So zeigt sich bei dieser ganzen Debatte im klaren Licht, was Sie Ihrerseits und die radikalen Gegner der Vor⸗ lage eigentlich unter Kealitionsfreiheit verstehen. „Ohne ein Recht, zu drohen den Arbeitern gegenüber ich bitte, meine Herren, hier recht aufmerksam zu folgen wäre in der That das Koalitionsrecht völlig werthlos.“ 1 Han (Hört, hört! rechts.) Das sagt der „Vorwärts“ bei Bekämpfung der Vorlage, und dabei ist das äußerst Interessante, daß in dieser Vorlage die bisherige Bestimmung der Gewerbeordnung, wonach die Drohung auch mit einer berechtisten Handlung unter den §153 der Gewerbeordnung fällt, gerade aufgehoben ist. Es steht expressis verbis darin, daß eine Drohung mit berechtigten Handlungen nicht mehr unter das Gesetz fällt. Was folgt daraus? Daß Sie nach Ihrer Auffassung der Koa⸗ litionsfreiheit auch das Recht für sich in Anspruch nehmen, mit unberechtigten Handlungen zu drohen. (Sehr richtig! rechts. Heiterkeit linkk) Wie man im Einzelnen darüber denkt, er⸗ giebt sich aus einem sehr interessanten Artikel der „Neuen Zeit“, wo es heißt: 2egs „Die Quintessenz ihrer zehn Paragraphen ihrer ist klein geschrieben; es geht auf die Vorlage . besteht darin, durch eine Reihe kautschukner Strafandrohungen alles das zu hindern oder durch übermäßige Gefängniß⸗ und Geldstrafen zu rächen, was zur wirksamen Durchführung eines Strikes noth⸗ wendig ist. Es giebt keine zur praktischen Durchführung eines Strikes nothwendige Handlung, die nicht unter die kautschuknen Strafbestimmungen des Gesetzes gebracht werden könnte.“

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exekutieren gegen jeden Widerwilligen.“ Wenn der Staat das duldete, so würde man in der That sagen können, der Staat legt das Schwert seiner Gewalt aus der Hand. (Sehr richtig! rechts.) Zwangsrechte kann nur der Staat ausüben und der, dem die Zwangsrechte durch staatliche Autorität und staatliche Vollmacht übertragen sind, aber nie ein Privatmann. Darin ruht der kolossale logische Mangel Ihrer

deshalb muß sich auch jeder einzelne Arbeiter zwangsweise den Ver⸗ fügungen irgend einer Parteileitung oder irgend welcher Agitatoren fügen. Sie wollen Zwang üben, indem Sie in dem bestehenden Staate einen Staat bilden, Zwang üben, indem Sie die Solidarität der Arbeiter, der Interessenten, die vielfach garnicht vorbanden ist, durch derartige terroristische Mittel hberbeiführen, und deshalb müssen Sie auch Feinde dieser Vorlage sein, das gestehe ich Ihnen zu. Ich frage Sie, wie verträgt sich nun gegenüber diesen Thatsachen die Er⸗ klärung, die ich vorhin hier verlesen hatte, daß Sie freie Arbeiter und freien Arbeitsvertrag gegen Jedermann verlangen? Jedermann ist nicht nur der Arbeitgeber, es ist nicht nur der Staat, sondern vor allen Dingen ist Jedermann in der Arbeiterbevölkerung auch der Mitarbeiter, der Arbeitsgenosse. Meine Herren, es ist richtig, daß die Vorschriften, die in der Vorlage niedergelegt sind,

1869. Aber ich glaube, selbst die Herren von der sozialdemokratischen Partei werden zugestehen, daß sich seit dem Jahre 1869 die Ver⸗

mit der zunehmenden Vergrößerung der Industriezentren, mit der wachsenden Volksbildung, die ich gern zugestehe, mit der Zunahme der Wohlhabenheit des ganzen deutschen Volkes, und auch durch die Be⸗ theiligung der Arbeiter an den direkten Reichstagswahlen hat sich das Selbstbewußtsein der Arbeiter ganz außerordentlich gesteigert, und dieses gesteigerte Selbstbewußtsein hat eben unter Umständen auch die Arbeiterbevölkerung dazu geführt, in ihrem Interesse eine Macht für sich in Anspruch zu nehmen, die mit den Interessen und der Rechts⸗ sphäre der übrigen Staatsbürger und der jetzt bestehenden Staats⸗ ordnung absolut unvereinbar ist.

Meine Herren, muß meines Erachtens entweder den Beweis führen, daß die Hand⸗

persönliche Freiheit eines Anderen beschränken, oder er muß den Be⸗ weis führen, daß die bestehenden gesetzlichen Vorschriften diese Hand⸗ lungen schon unter Strafe stellen, mithin vollkommen ausreichen. Wir sind der Ansicht, daß die Handlungen, die wir in der Vorlage unter Strafe gestellt haben, auch strafwürdige sind, daß sie in einem

Unterdrückung sich als ausreichend nicht erwiesen haben.

Mittel des Zwanges gegenüber ihren Arbeitern anwenden und durch solche Mittel Arbeiter von gesetzlich erlaubten Koalitionen fernzuhalten

suchen.

(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Nun ist aber in diesem Ge⸗ setzentwurf keine Handlung unter Strafe gestellt, die nicht ent⸗ weder mittels körperlichen Zwanges oder mittels einer Drohung, einer Ehrverletzung oder Verrufserklärung oder mittels einer vorsätzlichen Körperverletzung oder Sachbeschädigung begangen ist oder in einer schuldhaften Betheiligung an einer dieser Handlungen besteht. Mit anderen Worten: Sie bezeichnen also diese offenbaren Rechts⸗ widrigkeiten als nothwendige Voraussetzungen für die Ausübung der Koalitionsfreiheit in Ihrem Sinne.

Den Gipfel in dieser Beziehung leistet sich eine im „Vorwärts“ abgedruckte Aeußerung des Organs der Vereinigung der Maler. Dort wird gesagt:

„Wehe dem, welcher es wagen sollte, den Freiheitsidealen der Sozialdemokratie zu nahe zu treten!“ r2870 (Hört! rechts.) 9 rülm „Die Annahme der Zuchthausvorlage durch den Reichstag wäre die Proklamation der Revolutiou— ö1.“ nicht der Revolution desselben Tages, aber der Revolution der nahen Zukunft.“ . Ich entnehme dieses Zitat dem „Vorwärts“. Ich babe es selbst in der betreffenden Zeitung nicht nachschlagen können. Das Blatt folgert weiter: 1 „Es bleibt hiernach für die Arbeiterklasse nur ein Zweifaches übrig. Entweder die Arbeiter verzichten fernerhin auf jegliche Ver⸗ besserung ihrer Lebenslage, oder sie begeben sich auf den Boden der Ungesetzlichkeiten. Ersteres werden sie nie thun, und daß sie zu letzterem nicht gezwungen werden, hat der Reichstag in der Hand, indem er den Gesetzentwurf einfach und ohne lange Verhand⸗ lungen ablehnt.“

Ja, meine Herren, der Drohung mit der Revolution, der sehen wir ruhig entgegen; Sie haben ja auch einmal gedroht mit dem großen Kladderadatsch, haben sich aber überzeugt, daß sich in der Welt⸗ geschichte die Dinge nicht so schnell vollziehen, wie man manchmal in einem Vereinslokal glaubt. (Heiterkeit.) Aber Sie haben doch seit 1891, das kann ich nicht leugnen, in Bezug auf die Auffassung vom Recht der Arbeiter innerhalb des gesammten Staatsorganismus recht erhebliche Fortschritte gemacht. Noch 1891 hat die sozialdemo⸗ kratische Fraktion im Reichstage durch ihre Anträge zu § 153 der Gewerbeordnung körperlichen Zwang, Drobung, Ehrverletzung und Verrufserklärung als Waffen in den Arbeiterkämpfen unter Strafe gestellt wissen wollen und dadurch die Verwerflichkeit dieser Kampfes⸗ mittel und ihre Entbehrlichkeit für eine berechtigte Ausübung des Koalitionsrechtes ausdrücklich anerkannt (hört, hört! rechts), und diese Mittel also auch nicht für nothwendig gehalten, um das Koalitions⸗ recht thatsächlich auszuüben, und jetzt haben Sie den Fortschritt ge⸗ macht, daß Sie sagen: ohne Drohung, ohne die Handlungen, die in diesem Gesetz unter Strafe gestellt sind, ist das Koglitionsrecht ůber. haupt nicht auszuüben. (Sehr gut! rechts.) Was heißt das? Das heißt nichts Anderes, als die offene Erklärung der Partei, die sich allein für eine arbeiterfreundliche Partei hält: „Der Staat sind wir, wir beschließen, was der Arbeiter zu fordern hat; jeder Staats⸗

aber freilich sehr wenig zu dem Begriffe von Koalitionsfreiheit paßt,

bürger, der Arbeiter ist, hat sich diesen Beschlüssen zu fügen, und wir

Abg. Hirsch gestellt, aber vom damaligen Handels⸗Minister Freiherrn von Berlepsch für nicht annehmbar erklärt.

deshalb diese Bestimmung expressis verbis in das Gesetz aufge⸗ nommen, weil es nach der Judikatur bisher zweifelhaft war, ob der

entschieden. Mittel nicht immer nur um Fragen handelt, die mit der Besserung

dern sehr häufig um reine Machtfragen, vor allen Dingen darum und das halte ich eigentlich für das bedenklichste Mittel —, daß Ausstände lediglich hervorgerufen werden, weil organisierte Arbeiter nicht mit unorganisierten zusammenarbeiten wollen, oder weil man

Erachtens korrekterweise, der Ansicht ist, daß der Werkführer zunaͤchst

des Arbeitnehmers ist. 8

Ein englischer Soztialpolitiker, der sich gegen das Bestreben der englischen Gewerkvereine ausspricht, die Beschäftigung der freien Ar⸗ beiter zu hindern, schreibt hierzu sehr charakteristisch auf Grund der englischen Beobachtungen Folgendes:

„In jedem Syvstem der Sittenlehre, das ich kenne, ist das Recht zu arbeiten unbestritten und das Recht, Arbeiten zu geben, gleichfalls. Die Unionisten sagen aber zu den Arbeitern: ihr sollt nicht arbeiten, und zu den Arbeitgebern: es soll euch nicht gestattet sein, Beschäftigung zu geben. Die Sklaverei war humaner.“

Und hierzu möchte ich noch meinerseits bemerken, daß in dem Bericht der Royal Commission of labour ausdrücklich festgestellt ist, die allgemeine Politik der englischen Gewerkvereine gehe dahin, „ihren Mitgliedern das gemeinsame Arbeiten mit unorganisierten Arbeitern zu untersagen“.

Ueber die zahlreich hierüber erwachsenen Strikes und Betriebs⸗ störungen sind nach den Erhebungen der genannten Kommission vielfach Klagen erhoben worden. Die Kommission

deren Mehrheit übrigens den Trade Unions günstig gesinnt ist hielt jene Klagen insofern für berechtigt, als sie das Bedürfniß an⸗ erkannte, die Gesetzgebung von 1875 zum Schutze der Arbeitswilligen weiter auszugestalten, um die Arbeitswilligen in allen Fällen gegen violence und forcible obstruction, also gegen Gewalt und ge⸗ waltsame Behinderung, zu unterstützen. 18,e

Also auch die englische Kommission, die seinerzeit zum Studium der Arbeiterfrage eingesetzt wurde, hielt die sogenannte Konjurations⸗ bill vom Jahre 1875 nicht für genügend, und war der Ansicht, die

Gesetzgebung müsse verschärft werden, um die nichtorganisierten Ar⸗

beitswilligen zu schützen gegen den unerhörten Druck der organisierten.

Wenn fortgesetzt die Bestimmungen Englands uns entgegengehalten

werden, so glaube ich hier den Beweis geführt zu haben, daß dieses

Zeugniß nicht zutreffend ist.

Ich möchte nunmehr auf den Paragraphen der Vorlage eingeben,

der besonders Gegenstand des Angriffes gewesen ist, nämlich das

ganzen Deduktion, daß Sie sagen: weil die Arbeiter in der Ge⸗ 1 sammtheit bessere Bedingungen durch Koalitionen haben müssen,

wer die Berechtigung der Vorlage bestreitet, 8

lungen, die wir in dem Gesetzentwurf unter Strafe gestellt haben, sittlich erlaubt, daß sie nicht widerrechtlich sind, daß sie nicht die

Daß wir Licht und Schatten gleich vertheilen wollen, geht am allerbesten daraus hervor, daß wir auch die Arbeitgeber unter Strafe gestellt haben (Lachen bei den Sozialdemokraten), die ungesetzliche

Wie sich die Herren noch erinnern wollen, wurde der gleiche Antrag im Jahre 1891 bei Berathung der damaligen Novelle vom

§ 153 der Gewerbeordnung auch auf die Arbeitgeber Anwendung finden konnte; die Gerichte haben in dieser Beziehung verschieden

wesentlich eingehendere sind, wie diejenigen der Gewerbeordnung von

hältnisse sehr erheblich geändert haben, wie ich vorhin schon andeutete,

geordneten Staate nicht geduldet werden können, und daß, wie die juristische Erfahrung gelehrt hat, die bisherigen Vorschriften zu ihrer

Um Ihnen zu zeigen, daß wir durchaus gerecht und unparteiisch handeln wollen, haben wir

Dazu kommt, daß es sich bei der Anwendung jener ungesetzlichen

des materiellen Looses der Arbeiterbevölkerung zusammenhängen, son-

einen Werkführer, einen Aufsichtsbeamten beseitigen will, der, meines

der Vertrauensmann des Arbeitgebers und nicht das willige Organ

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