1900 / 21 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 23 Jan 1900 18:00:01 GMT) scan diff

vieles im Argen. Bis jetzt ist es den Berufsgenossenschaften nur ge⸗ stattet, aber nicht geboten, Unfallverhütungsvorschriften zu erlassen. Wir leiden unter einer Vielheit derartiger Bestimmungen; es muß eine Instanz geschaffen werden, welche entscheidet, was als maß⸗ gebende Unfallverhütungsvorschrift zu gelten hat. Die Ausdehnung der Aufgabe der Berufsgenossenschaften auf die Einrichtung von Arbeitsnachweisen scheint mir nicht angezeigt; diese Aufgabe sollte man anderen Organen, den Kommunen oder den Arbeitsämtern überlassen. Ich wüͤnsche mit Herrn Trimborn, daß es gelingen möge, das Gesetz noch in dieser Session zu verabschieden. Den Herren von der Sozialdemokratie, welche noch immer den Werth unserer Sozial⸗ gesetze zu verkleinern bemüht sind, empfehle ich das eben vollendete Werk von Zacher über Arbeiterversicherung in den verschiedenen Ländern; sie können daraus lernen, wie weit wir den anderen Staaten auf diesem Gebiete vorangeeilt sind.

Abg. Stadthagen (Soz.) führt aus: Seit dem Jahre 1894 habe sich die Regierung immer weiter von Dem zurückgezogen, was sie damals selbst vorgeschlagen habe, und zwar lediglich aus Furcht vor dem Zentralverband der deutschen Industriellen. Großes sei nur für die Unternehmer geleistet worden. Im Punkte der Verschuldungs⸗ frage, im ganzen Verfahren, in der Rentenbemessung, überall seien wieder Rückschritte zu verzeichnen. Das unrichtige Prinzip, daß nur, wer Schuld habe, auch die Haftpflicht zu tragen habe, welches dem Haftpflichtgesetz zu Grunde liege, werde immer wieder betont, wenn die volle Lohnentschädigung für den unfallverletzten Arbeiter verlangt werde. Jenes unrichtige Prinzip werde auf allen anderen Gebieten vom Bürgerlichen Gesetzbuch auf⸗ gehoben; nur dem Arbeiter solle nach wie vor schweres nrecht zu⸗ gefügt werden, indem ihm ein Theil des Lohnes entzogen werde. Als der Ruf nach Revision des Haftpflichtgesetzes, Anfangs der 70 er Jahre immer allgemeiner geworden, sei von vielen Politikern anerkannt

worden, daß das starre Verschuldungsprinzip zu verlassen sei; der Abg. Freiherr von Hertling habe noch im Jahre 1881 verlangt, das lle Unfälle, weil, ganz abgesehen von der Schuldfrage, das Wesen des in⸗ ustriellen Betriebes die Unfallsgefahr mit sich bringe, voll entschädigt ürden. Nicht Reform, sondern Aufhebung der Berufsgenossenschaft ollte das Feldgeschrei sein Nicht die Vertreter der Berufsgenossen⸗ chaft, sondern die Klagen der Arbeiter, der Wittwen und Waisen ollte man hören, wenn man sich einen Begriff machen wolle, wie ücksichtslos und gefühllos diese Berufsgenossenschaften vorgingen, ie jetzt gar noch von Gerichtswegen als Behörde an⸗ rkannt worden seien. Diesen Berufsgenossenschaften wolle man ch die Sphäre ihrer Befugnisse erweitern, ihnen wolle Arbeitsnachweis überlassen. Die Zusammenwerfung er industriellen Betriebe, die man als landwirthschaftliche Nebenbetriebe bezeichne, mit landwirthschaftlichen Betrieben schädige ie Arbeiter und nütze den Unternehmern, den Grundbesitzern. (Zuruf: Daran' änderten auch die Zuschläge nicht das mindeste. st in den Entwürfen werde das richtige Prinzip der vollen tzleistung, wie es das Bürgerliche Gesetzbuch aufstelle, Im § 5 werde direkt die bisherige Haftung dem Arbeiter abgeschwächt; da heiße es: Der Anspruch könne theilweise abgelehnt werden, wenn der Verletzte bei Begehung eines im strafgerichtlichen Urtheil Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens sich zu⸗ Nach dieser Bestimmung könnte jeder Arbeiter, der sich die Verletzung in der Nothwehr zuziebe, ab⸗ ewiesen werden, wenn er nur im geringsten über die Nothwehr inausgehe. Es seien eine Reihe von Urtheilen ergangen, welche es ehr wahrscheinlich machten, daß in Zukunft derartiges vorkommen könne. Die fakultative Fassung stelle es ganz in das Belieben des Richters, den Anspruch des Arbeiters anzuerkennen oder abzulehnen, man stelle danach den Arbeiter wieder als jenen hin, der kein Recht auf Schadensersatz, sondern nur ein Recht auf Almosen habe. Dieselbe Unterscheidung bei der Frage der Erwerksunfähigkeit. Das Bürgerliche Gesetzbuch setze auch hier vollen Schadenersatz fest; im § ba werde gesagt: So lange der Verletzte infolge des Unfalls thatsächlich und un⸗ verschuldet arbeitslos sei. könne der Genossenschaftsvorstand die Theilrente bis zum Betrage der Vollrente vorübergehend erhöhen. Also auch hier das Belieben. Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit sei hier ein ganz anderer als im Bürgerlichen Gesetzbuch. Auf dem Arbeitsmarkt bekomme doch der Krüppel keine Arbeit, er müßte als völlig erwerbs⸗ unfäbig die Vollrente erhalten. Aber nichts davon; es werde eben für den Arbeiter ein minderes Recht geschaffen, als für jeden anderen Staatsbürger. Die Karenzzeit wolle man durchaus beibehalten, gegen ihre Verkürzung sträube sich der Zentralverband mit aller Macht. Er habe der Kommission von 1897 vorgeworfen, sie sei den Sozialdemokraten ins Garn gegangen, als die Kommission die Karenzzeit auf vier Wochen herabsetzte; kein Wunder, denn 86 % aller Unfälle fielen jetzt den Krankenkassen zur Last. Ueber diesen Beschluß habe sich bekannntlich der Abg. Freiherr von Stumm so alteriert, daß er aus der Kommission ausgetreten sei. Der Abg. Grillenberger habe schon damals vorausgesagt, daß Freiherr von Stumm und der Zentralverband sich jetzt hinter die Regierung stecken und da ihr Ziel schon erreichen würden. Er habe Recht be⸗ halten. Aber die sozialdemokratischen Anträge würden immer wieder⸗ kehren. Die ärztlichen Gutachten, die nach dem Beschluß der Kom⸗ mission auch den Arbeitern für die Verfolgung ihrer Ansprüche beim Schiedegericht ausgestellt werden sollten, habe die Regierung nicht in den Entwurf aufgenommen, weil Freiherr von Stumm und der Zentralverband diese gefährlichen Einrichtungen nicht wollten. Manchen Vorsitzenden von Berufsgenossenschaften und manchen Vertretern derselben würden 20.‧, 25 000 Gehbalt gezahlt für eine Funktion, die wesentlich keinen weiteren Inhalt hätte, als auf die Herabsetzung irgend einer Unfallrente zu wirken; den Arbeitern, den Verletzten wolle man dagegen nicht einmal das mündliche Verfahren vor dem Schieds⸗ gericht gestatten. In allen diesen wesentlichen Punkten sei der Ent⸗ wurf dem Freiherrn von Stumm entgegengekommen. Redner befürwortet zum Schluß, auf Grund allgemeiner, geheimer, direkter Wabl Arbeiterausschüsse einzurichten, welche bei der Ausführung der Unfall⸗ versicherung mitzusprechen hätten.

Staatssekretär des Innern, Staats⸗Minister Dr. Graf von Posadowsky⸗Wehner:

Meine Herren! Der Herr Abg. Trimborn und auch die übrigen Redner der bürgerlichen Parteien haben sich heute, glücklicherweise, nicht auf solche Gewaltmaßregeln eingelassen, uns die Pistole auf die Brust zu setzen (Heiterkeit), sondern sie haben verständigerweise anerkannt, daß die verbündeten Regierungen bei dieser Vorlage in den allermeisten Punkten den Vorschlägen der Kommission gefolgt, und daß sie bemüht gewesen sind, auf dem Gebiet der Unfallversicherung einen veesentlichen Fortschritt im Interesse der Arbeiter herbeizuführen. Die Rede des Herrn Abg. Stadthagen trug freilich vollkommen

den Charakter einer Strafpredigt. Ich glaube aber, die bürgerlichen Parteien ebenso wie die Regierung können das gute Ge⸗ wissen haben, diese Strafpredigt nicht verdient zu haben. Ich möchte gegenüber seinen Ausführungen an ein Zitat aus dem „Vorwärts“ anknüpfen, das ganz außerordentlich interessant ist, dort heißt es in einem Artikel vom 16. Januar d. J.:

„Allerdings muß der auf Grund des Haftpflichtgesetzes Anspruch Erhebende ein Verschulden des Unternehmers oder seiner Beamten nachweisen, und das ist in den meisten Fällen aus Mangel an Beweisen unmöglich.

(Hört, hört! links.) Dafür gewährt aber das Haftpflichtgesetz eine den vollen Lohn ensprechende Entschädigung, während das Unfallversicherungsgesetz nur einen Theil des Lohnes in Betracht zieht.“

Also in diesem leitenden Blatte der sozialdemokratischen Partei

egenüber oder.

estgestellten gezogen habe.

idealen Anspruch hatte, die volle Entschädigung zu bekommen, daß aber in der Regel dem Arbeiter der Schuldbeweis nicht möglich war und er deshalb sehr häufig nichts bekam, während er jetzt allerdings nur einen Theil seines Lohnes bekommt, den aber sicher und ohne zu große Schwierigkeiten und Verschleppungen. Auf diesem Gedanken beruht die ganze Unfallversiherungsgesetzgebung. Es ist ein genossenschaft⸗ liches Prinzip, was allerdings dem Einen in gewissem Grade die Rechte, die er sonst auf Grund privater Rechte verfolgen konnte, be⸗ schränkt, aber auch dem Anderen, der ohne jede Schuld des Unter⸗ nehmers verunglückte, eine Rente zuspricht.

Der Herr Abg. Stadthagen greift somit die ganze Grundlage unserer Unfallversicherungsgesetze an, wenn er fordert, der Arbeiter, der durch eine Schuld des Unternehmers verunglückt ist, muß die volle Entschädigung des Privatrechts haben. Dagegen solle auch der eine Rente erhalten, der nicht die Spur eines Nachweises erbringen kann, daß der Unternehmer bei seinem Betriebe sich irgend ein Versehen hat zu Schulden kommen lassen.

Meine Herren, wenn man so die Unfallgesetzgebung gestalten wollte, dann müßte man auch wieder für alle diejenigen, die volle Entschädigung fordern, den vollen Beweis des allgemeinen gerichtlichen Verfahrens einführen; damit würde man einen der wesentlichsten Theile aus dem ganzen Organismus unserer Unfallversicherungs⸗ gesetzgebung überhaupt herausnehmen. Auf den Standpunkt werden sich, glaube ich, weder die verbündeten Regierungen noch der Reichs⸗ tag in absehbarer Zeit stellen, daß auf einer Seite dem Arbeiter die vollen Rechte des Privatrechts gewährt werden, auf der anderen Seite aber das Privatrecht zu Gunsten des Unternehmers nicht anwendbar sein soll; denn wenn der Unternehmer keine Schuld hat, kann er nach privatrechtlichen Grundsätzen auch nicht vermögensrechtlich verant⸗ wortlich gemacht werden. (Sehr richtig!) Also auf der einen Seite will der Herr Abg. Stadthagen das allgemeine Recht in allen Fällen anwenden, wo er glaubt, es liege Schuld des Unter⸗ nehmers vor, auf der anderen Seite aber, wenn eine Schuld des Unternehmers nicht vorliegt, will er ein Ausnahmegesetz gegen den Unternehmer außerhalb des allgemeinen Privatrechts einführen. (Sehr richtig!) Das ist ein Aufbau des Rechtsverhältnisses, für das ich wiederhole meines Erachtens weder eine Mehrheit der verbündeten Regierungen, noch eine Mehrheit des Hauses in ab⸗ sehbarer Zeit zu gewinnen sein wird. Ich glaube, meine Herren, es entspricht weiter Ihren Wünschen, wenn ich mich nicht in alle Einzel⸗ heiten vertiefe, die heute hier berührt sind, sondern nur eine Anzahl größerer Gesichtspunkte erörtere. Es ist ganz unzweifelhaft noch ein Mangel in der gegenwärtigen Unfallversicherungsgesetzgebung, daß eine große Anzahl von Personen, die der Gefahr der Unfälle unter⸗ liegen, jetzt noch nicht unter das Gesetz fallen. Entsprechend den Vorschlägen der Kommission haben wir ja in der Vorlage den Kreis der versicherungspflichtigen Personen bereits erweitert, sogar noch etwas mehr, als die Vorschläge der Kommission selbst. Aber ich gestehe ohne weiteres, daß noch ein großer Theil von Arbeitern Unfällen ausgesetzt ist, die nicht versichert sind und denen es zu wünschen wäre, daß ihnen die Wohlthaten der Unfallversicherungs⸗ gesetzgebung zu gute kämen. Aber ich glaube, bei der jetzigen Einrichtung der Berufsgenossenschaften, die sich zum theil über ganz Deutschland erstrecken, wäre es ganz unausführbar, den ganzen Kreis der Handlungsgehilfen, der gesammten Arbeiter im Handwerk, der Dienstboten versicherungepflichtig zu machen innerhalb des Rahmens der bestehenden Berufsgenossenschaften. Der Rahmen ist zu weit für diese vielen kleinen Betriebe. Stellen Sie sich vor, wenn man nur sämmtliche Dienstboten den Berufsgenossenschaften angliedern wollte, was das für ein ungeheurer Apparat wäre. Ich bin der Ansicht, daß das ein Apparat sein würde von einer solchen Größe, von einer solchen Ausdehnung, daß er nicht mehr geleitet werden könnte von den ehrenamtlichen Vorständen der Berufsgenossen⸗ schaften, sondern nur durch eine amtliche Organisation. Wollen wir deshalb die Unfallfürsorge auf alle die Kategorien erstrecken, die ich eben genannt habe und die in der vorliegenden Novelle noch nicht in⸗ begriffen sind, dann bin ich allerdings der Ansicht, müssen wir ent⸗ weder für diese Arbeiterkategorien territoriale Berufsgenossen⸗ schaften bilden oder die Versicherung derselben an die bestehende Invalidenversicherung angliedern. Weil das aber eine so große, so neue, so schwierige Organisation wäre, hat man, um zunächst irgend einen Fortschritt auf dem Gebiet der Unfallversicherung zu er⸗ zielen, in Uebereinstimmung mit der Kommission vorläufig davon abgesehen, den Kreis der Versicherungspflichtigen noch weiter zu ziehen, sondern hat sich auf die Gewerbe beschränkt, die jetzt in der Novelle neu aufgenommen sind, und die weitere Fürsorge für die aus⸗ geschiedenen Kategorien der Zukunft überlassen.

Es ist dabei derselbe Weg eingeschlagen, den ich beschritten habe mit der Invalidenversicherung und jetzt mit der Unfallversicherung. Wollen wir wirklich einen positiven Erfolg erreichen, dann dürfen wir nicht zu viel auf einmal anfangen, sondern müssen eine Aufgabe nach der anderen lösen.

Meine Herren, was die Regelung der Fürsorge für die Ge⸗ fangenen betrifft, so will ich zunächst erklären, daß diese Frage über⸗ haupt in eine Gesetzesform zu kleiden nicht einfach war, und ich möchte deshalb den Herren, die zu erkenren gegeben haben, daß man vielleicht nicht weit genug gegangen ist, dech in Erinnerung bringen, daß ich mit dem Parallelogramm der Kräfte des Bundesraths und des Reichs⸗ tages zu arbeiten habe und infolge dessen sehr häufig die Diagonale nehmen muß, damit ich Ihnen überhaupt ein Gesetz vorlegen kann, das einigermaßen auf Ihre Zustimmung zu rechnen hat. Ich glaube nicht, doß sich die verbündeten Regierungen entschließen würden, auf diesem Gebiet irgend einen wesentlichen Schritt weiterzugehen; es sprechen dagegen Gründe der Diszivlin und auch psychologische Gründe.

Was speziell die Frage betrifft, daß die Unternehmer direkt zu den Beiträgen für die Gefangenenfürsorge herangezogen werden sollen, so ist das allerdings in Aussicht genommen, wenn auch im Gesetz nicht unmittelbar ausgedrückt, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil, wenn der Unternehmer direkt zu Beiträgen für die Unfallfürsorge der Gefangenen herangezogen würde, er selbstverständlich um den gleicher Betrag den Lohn kürzte, den er der Verwaltung für die Arbeits⸗ kraft des Gefangenen bietet; und wie ich aus meinen eigenen Er⸗ fahrungen bestätigen kann, ist es häufig ganz außerordentlich schwer, überhaupt tüchtige, zuverlässige Unternehmer für die Verwerthung der Arbeitskraft in Gefangenenanstalten zu finden. Wir haben deshalb die Frage, ob die Beiträge von der betreffenden Verwaltung zu tragen

wird anerkannt, daß nach dem Haftpflichtgesetz der Arbeiter zwar den

nach Lage des Falles den Vertrag mit dem Unternehmer abschließen zu können.

Meine Herren, ich komme auf die Einrichtung der örtlichen Schiedsgerichte. Ich freue mich, daß aus den Kreisen, aus denen bisher gewisse Bedenken gegen die örtlichen Schiedsgerichte geltend gemacht sind, dieser Widerstand nicht mehr laut geworden ist. Ich habe hier ein Aktenstück vor mir über den Geschäftsgang der örtlichen Schiedsgerichte auf dem Gebiete der Unfallversicherung. Ich will hier diese Zahlen urbi et orbi nicht mittheilen; aber diese Zahlen sind doch derart, daß ich es für eine absolute Nothwendigkeit halte, diese Schiedsgerichte den Berufsgenossenschaften abzunehmen und sie zu ver⸗ binden mit den Schiedsgerichten der Invalidenversicherung, die von einem Beamten im Hauptamt geleitet werden sollen. (Sehr richtig!) Ein Geschäftsgang, meine Herren, wie er sich zum theil bei diesen Schiedsgerichten der Berufsgenossenschaft entwickelt hat, ist meines Erachtens gegenüber der Arbeiterbevölkerung nicht länger zu verant⸗ worten. (Sehr richtig!)

Ich möchte hierbei einen Irrthum aufklären. Einer der Herren Redner schien zu glauben, daß sich die Bestimmungen über die Haft⸗ pflicht nur auf die Regreßpflicht beziehen, d. h. auf die Pflicht des Unternehmers, durch dessen Schuld ein Unfall entstanden ist, die hierfür zu zahlende Rente der Berufsgenossenschaft zu erstatten. Nein meine Herren, statutarisch kann ein Haftpflichtverband für jede Haft⸗ pflicht von den Berufsgenossenschaften eingerichtet werden, die überhaupt nach Maßgade der Gesetze in Frage kommt. Im allgemeinen glaube ich, daß durch die jetzige Einrichtung der Schiedsgerichte der Unfall⸗ versicherung für die Arbeiter, die unter dieses Gesetz fallen, eine er⸗ hebliche Verbesserung eintreten wird. Sie werden es in Zukunft zu den Schiedsgerichten räumlich wesentlich näher haben als jetzt. Erweist es sich aber in Zukunft, daß diese Schiedsgerichte überlastet sind, so wird man kleinere Bezirke einrichten müssen. Ich kann mir z. B. denken, daß man in Preußen eventuell nicht für jeden Regierungs⸗ bezirk, sondern für jeden Landgerichtsbezirk ein solches Schiedsgericht einrichtete.

Meine Herren, die ganze Frage der Karenzzeit will ich jetzt nicht mehr aufrollen. Ich glaubte auch, sie wäre entschieden durch die Be⸗ schlüsse des hohen Hauses zum Invalidenversicherungsgesetz. Denn da ist ausdrücklich bestimmt, daß in dem Falle, wenn eine Invaliden⸗ versicherungs⸗Anstalt die prophylaktische Krankenfürsorge übernimmt, in jedem Falle die Krankenversicherung die Kosten hierfür bis zum Ablauf der 13. Woche zu erstatten hat. Das ist also ganz dasselbe Verhältniß, wie es jetzt besteht zwischen Unfall⸗ und Kranken⸗ versicherung. Daß es unter Umständen wünschenswerth sein kann, die Krankenversicherung finanziell zu stärken, gestehe ich gern zu. Ich meine aber, es ist gleichgültig, unter welchen Formen man diese Stärkung vornimmt. Ich habe es früher erklärt und halte daran fest, daß aus demselben Grunde, aus dem man hier im § 5 e die Lücke zwischen Unfall⸗ und Krankenversicherung ausgefüllt hat, man auch die Lücke zwischen Invaliden⸗ und Krankenversicherung in gleicher Weise ausfüllen muß, mit anderen Worten, daß man die Kranken⸗ versicherung für 26 Wochen gewähren muß. Wenn wir das aber durchsetzen wollen, wird es unzweifelhaft nothwendig, daß wir die Beitragspflicht für die Krankenversicherung in der Weise regeln, daß Arbeiter und Arbeitgeber je die Hälfte zu tragen haben. Da⸗ durch würde die beste Stärkung der Krankenversicherung er⸗ reicht werden. Es ist das aber eventuell eine weitere erheb⸗ liche Belastung der Unternehmer und ich möchte deshalb dringend davon abrathen, jetzt im Wege anderweiter Regelung der Karenzzeit die Krankenversicherungskassen in diesem Gesetz auf Kosten der Unternehmer zu stärken, ganz abgesehen von anderen Bedenken, die dagegen geltend gemacht sind. Man hat u. a. im Bundesrath mit Recht dagegen geltend gemacht, daß, wenn man in dieser Weise der Krankenversicherung die Sorge abnehmen würde über die Dauer der Krankheit, gerade der Stimulus für die Krankenver⸗ sicherung verloren ginge, möglichst intensiv das Heilverfahren zu betreiben und so möglichst schnell eine Heilung herbeizuführen. Dieses Interesse würde verloren gehen, wenn die Krankenkassen wüßten, daß das Plus, was über 4 Wochen hinausgeht, von den Unfallversicherungs⸗ genossenschaften zu tragen ist.

Meine Herren, ich komme nun zur Frage des Rekurses zurück. Das Reichsamt des Innern hatte zunächst allerdings einen Gesetz⸗ entwurf ausgearbeitet, in dem der Rekurs keinen Platz gefunden hatte. Es war ja auch in der Kommission, die die erste Novelle zum Unfall⸗ versicherungs⸗Gesetz berieth, darin Uebereinstimmung, daß unter allen Umständen das Reichs⸗Versicherungsamt zu entlasten sei. Ich war aber der Ansicht, daß der Weg, den die Kommission gewählt hatte, nur dann den Rekurs auszuschließen, wenn die Rente weniger als 25 % beträgt, kein glücklicher war; denn große prinzipielle Fragen auf dem Gebiet der Arbeiterversicherung können bei Fällen, wo die Rente nicht 25 % beträgt, ganz ebenso vorkommen wie da, wo die volle Rente gewährt wird. Ich glaubte auch zunächst, daß es kein Bedenken haben würde, die Entlastung des Reichs⸗Versicherungsamts herbei⸗ zuführen durch Beseitigung des Rekurses, weil statistisch von allen Entschädigungsansprüchen, die von den Arbeitern geltend gemacht werden, nur ein Prozent, und von denen, die für die Berufsgenossen⸗ schaften Anlaß zum Rekurs geben, nur ein halb Prozent überhaupt eine reformatorische Entscheidung im Stadium des Rekurses bisher gefunden hat, und ein fernerer Grund, warum man zu⸗ nächst glaubte, auf den Rekurs verzichten zu können, war der, daß jetzt die Schiedesgerichte doch erheblich gründ⸗ licher, schneller und vielleicht auch sachgemäßer arbeiten werden, als die bisherigen nebenamtlichen kleinen Gerichte für die Unfallversicherung. Aber ich war mir immerhin klar, daß das ein Schritt ist, der politisch und sozialpolitisch so wichtig sei, daß man ihn nur machen soll, wenn die verbündeten Regierungen selbst einiger⸗ maßen darüber einig sind. Bei der Berathung im Bundesrath zeigte sich aber, daß die Ansichten der Regierungen darin zwar einig waren, daß unter Umständen eine Entlastung des Reichs⸗Versicherungsamts im Interesse der geordneten Geschäftsthätigkeit dieser obersten richter⸗

lichen Instanz in Arbeiterversicherungssachen nothwendig wäre, mang

hatte aber doch Bedenken, den Weg zu gehen, der vorgeschlagen

war. Infolge dessen entschloß man sich, den Rekurs bei⸗ zubehalten, wählte aber gleichzeitig die Bestimmung, daß

offenbar unberechtigte Rekursgesuche durch einfachen Bescheid

einer Beschlußkammer von drei Mitgliedern zurückzuweisen wären.

Meine Herren, das ist ja auch nur eine sehr geringe Abweichung von

den Beschlüssen der Kommission. Die Kommission hatte beschloss

sind oder von dem Unternehmer, ausdrücklich offen gelassen, um je

en, daß offenbar unberechtigte Rekurse durch Beschluß der Be. chuß⸗

allzusehr zu erschweren.

kammer zurückgewiesen werden koͤnnen. Wir sind nun einen Schritt weiter gegangen und haben gesagt: sie müssen dann zurückgewiesen werden. Daß das ein kautschukartiger Begriff ist, kann ich nicht finden. Ich möchte zunächst bemerken, daß nach einer Pripatstatistik, die sich ein Mitglied des Reichs⸗Versicherungsamts selbst aufgestellt hat, in seiner Spruchkammer 33 % aller Sachen, die in diese Kammer gelangt sind, einfach a limine als vollkommen un⸗ begründet zurückgewiesen sind. Außerdem ist ja eine Garantie dadurch gegeben, daß neben dem Vorsitzenden ein Arbeitgeber und ein Arbeitnehmer sitzt, und es wird sich selbstverständlich nur um solche Fälle handeln können, wo ein Mann eine höhere Rente be⸗ ansprucht, obgleich er schon die volle Rente besitzt, wo er offensichtlich seinen bisherigen Arbeitslohn gegenüber den klaren bisherigen Fest⸗ stellungen falsch berechnet hat, kurzum um Ansprüche, die sofort zahlen⸗ mäßig oder aus dem urkundlichen Inhalt der Akten sich als unberechtigt herausstellen. Daß noch in der Rekursinstanz wesentlich neue Thatsachen werden festgestellt werden, glaube ich nicht; ich glaube, die Feststellung der Thatsachen wird immer abgeschlossen werden in der Schiedsgerichtsinstanz, und jetzt mehr als früher. Es wird sich in der Rekursinstanz doch wesentlich um die Entscheidung von Rechtsfragen handeln.

Ich will bei der vorgerückten Stunde auf die vielen Einzelheiten, die heute noch angeführt sind, nicht eingehen, namentlich nicht auf die Frage der Pflichtärzte und auf die Frage, welche der sozialdemokratische Herr Redner angedeutet hat, daß wiederum eine Begünstigung der Großbetriebe in der Landwirthschaft darin liege, daß die technischen landwirthschaftlichen Betriebe mit den landwirthschaftlichen Berufs⸗ genossenschaften vereinigt werden könnten, während in diesen technischen Betrieben die Anzahl der Unfälle viel größer sei. Diese Gefahr brauchen Sie garnicht zu befürchten; denn die Zahl der landwirth⸗ schaftlichen Betriebe, die eine Technik nebenbei betreiben, sind in der großen Minorität; die übrigen Landwirthe, die einen solchen fech⸗ nischen Betrieb nicht haben, werden schon selbst dafür sorgen, daß dann entsprechende Gefahrentarife für diese technischen Betriebe fest⸗ gestellt werden.

Ich möchte aber nech eine prinzipielle Frage erörtern, die der Feststellung der ersten Untersuchung. Ich glaube, das Bild, das sich aus den Verhandlungen über die Invalidenversicherung ergiebt, ist hier ein wenig verschoben worden; der Herr Redner der soztal⸗ demokratischen Partei befindet sich im Unrecht, wenn er dem Herrn Abg. Trimborn sagte, das Zentrum hätte nur festhalten sollen, um die Regierung zur Einführung der obligatorischen Rentenstellen zu nöthigen. Gerade umgekehrt war ja die Sache: prinzipiell batten die verbündeten Regierungen die obligatorischen Rentenstellen vorgeschlagen,

und hier im Reichstage ist diese Bestimmung abgeändert worden. (Sehr ichtig!) Also ich möchte den Herrn Redner der Sozialdemokraten daran

erinnern: wir brauchten nicht gezwungen zu werden. (Sehr richtig!) Meine Auffassung war von Anfang an, man sollte obligatorische Rentenstellen schaffen, die der Krystallisationspunkt einer lokalen Organisation der Arbeiterversicherung über⸗ haupt wären. (Sehr richtig) Dies Ziel ist leider nicht erreicht. Die Sahe liegt aber jetzt nun anders. Jetzt hat man zu Rentenstellen die bestehenden Verwaltungsbehörden gemacht und nur die Möglichkeit offen gelassen, in besonderen Fällen, wo es dae Bedürfniß erheischt, wo die allgemeinen Verwaltungsbehörden die Aufgaben nicht mehr lösen können, besondere Rentenstellen einzurichten. Ich glaube, wir thun klug, jetzt einmal erst ab“ zuwarten, ob überhaupt solche besonderen Rentenstellen eingerichtet werden, und wie sich diese Einrichtung eventuell bewährt. (Sehr richtig!) Sind die Rentenstellen eingerichtet, sind die Befürchtungen, die man gegenüber dem Vorschlage der Regierung hegte, durch ihre praktische Thärigkeit beseitigt, dann wird vielleicht einmal der Zeit⸗ vunkt kommen, wo man auch diesen Rentenstellen eine gewisse Mit⸗ wirkung auf dem Gebiete der Unfallversiherung gewähren kann. Nachdem aber eben erst durch ein Kompromiß zwischen Regierung und

8 Reichstag diese Frage geregelt ist, möchte ich nicht empfehlen, sie jetzt

wieder in Angriff zu nehmen, bevor wir nicht erst im einzelnen prak⸗ tische Erfahrungen gesammelt haben. (Sehr richtig!)

Ich schließe mich dem Wunsche und der Bitte des Herrn Abg. Trimborn vollkommen an, diese Novelle möge schleunigst berathen werden. Ich möchte auch den Herren Sozialdemokraten ans Herz legen, uns nicht durch zu viele Anträge das Geschäft in der Kommission

in dieser Session und möglichst bald dieses Gesetz verabschiedet würde, was ja schon vor drei Jahren Gegenstand so eingehender Erörterung gewesen ist; denn erst, wenn wir dieses Gesetz ver⸗ abschiedet haben, können wir im Reichsamt des Innern an die viel wichtigere Aufgabe gehen, an die gründliche Reform des Kranken⸗ versicherungsgesetzes. Wenn Sie möglichst bald dieses Gesetz ver⸗ abschieden, rücken Sie somit die Möglichkeit, die Reform der drei großen Versicherungsgesetze überhaupt zum Abschluß zu bringen, wesentlich näher. Ich bitte Sie deshalb dringend, dem Wunsche und der Bitte des Herrn Abg. Trimborn in der Kommissionsverhandlung stattzugeben. (Lebhafter Beifall.)

Um 6 Uhr wird die Fortsetzung der Berathung auf Dienstag 1 Uhr vertagt. 8

8 Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 7. Sitzung vom 22. Januar 1900, 11. Uhr.

Ueber den Beginn der Sitzung ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden.

Das Haus geht zur Berathung des Antrags der Abgg. Dr. Barth (fr. Vgg.) und Dr. Wiemer (fr. Volksp.) über:

„die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, eine Abände⸗ rung des Gesetzes vom 27. Juni 1860, betreffend die Feststellung der Wahlbezirke für das Haus der Abgeordneten, und des Ge⸗ setzes vom 17. Mai 1867, entsprechend den in den letzten

40 Jahren eingetretenen Verschiebungen der Bevölkerung, in die Wege zu leiten.“

Abg. Dr. Barth: J nehme an, daß die Konservativen jetzt ein ideales Interesse für diese berechtigten Forderungen haben werden. Es giebt nichts Idealeres, als die Beseitigung des Unrechts aus der Gesetzgebung. Vor mehreren Dezennien hat Fürst Bismarck in Bezug auf das preußische Wahlrecht das Wort von dem „elendesten aller Wahlrechte“ gesprochen. Hier in Berlin wählt der Reichskanzler mit

16

Ich lege in der That Werth darauf, daß

Deutschlands, die Sozialdemokratie, ist garnicht in diesem Hause vertreten

infolge der Struktur des Wahlrechtes. Das sehen die Herren von der

Rechten natürlich als einen Vorzug an. Wenn die Sozialdemokratie

nur eine vorübergehende Erscheinung ist, so sind alle politischen Dinge

überhaupt vorübergehende Erscheinungen. Wir müssen doch der Sozial⸗

demokratie Gelegenbeit geben, an den Geschäften des Landes hier theil⸗

zunehmen. Die Sozialdemokratie besteht viel mehr aus Possibilisten

als aus Revolutionären, sonst hätte sie schon länast dieses Recht, das

ihr auf die Dauer doch nicht vorenthalten werden kann, gefordert.

Vom Boden der Verfassung will unser Antrag nicht im Geringsten

abweichen, wir stehen sogar durchaus auf dem Standpunkte des Gesetzes von 1860; wir verlangen nur dasselbe, was man damals für gerecht hielt. Danach soll durchschnittlich auf 50 000 Seelen je ein Ab⸗

geordneter entfallen, und Berlin erhielt infolge dess n auf Grund der Volkszählung von 1858, bei welcher es 458 600 Einwohner hatte, neun Abgeordnete, und nur soviel hat es noch jetzt. Das Gesetz von 1860 hätte eigentlich eine Revision der Eintheilung der Wahlbezirke in bestimmten Zwischenräumen vorsehen sollen, man unterließ das damals aber ausdrücklich, weil man das für selbstverständlich ansah. In dem Gesetz von 1867, welches durch die Annexion der neuen Landes⸗ theile nothwendig wurde, schlug die Regierungsvorlage selbst für Berlin 10 Abgeordnete vor, entsprechend den veränderten Bevölkerungsziffern; dieses Gesetz kam aber nicht zu stande. Von Jahr zu Jahr sind die Zustände der Wahlkreiseintheilung immer unerträglicher geworden. Nachdem jetzt vier Jahrzehnte vergangen sind, ist es an der Zeit, eine neue Eintheilung der Wahlkreise vorzunehmen. Die Bevölkerung hat sich seitdem um 50 % vermehrt, sodaß jetzt, wenn man die Zahl der Abgeordneten nicht veränderte, durch schnittlich auf je 75 000 Seelen ein Abgeordneter entfiele. Nach dieser Berechnung müßte Berlin jetzt 24 Abgeordnete erhalten. Charlottenburg müßte 2 Abgeordnete erhalten, Rixdorf und Schöneberg je einen. Breslau müßte 5 statt 3,. Frankfurt a. M. 3 statt 2, Stettin 2 statt 1, Kiel 2 statt 1, Hannover 3 statt 2, Köln 4 statt 2 Abgeordnete erhalten u. s. w. Preußen ist nicht mehr der reine Agrarierstaat, die Industrie spielt heute eine größere Rolle. Wenn man nicht die bloße Seelenzahl maßgebend sein läßt, sondern etwa die Steuerleistung der Wahlkreise für das Maß der politischen Ver⸗ tretung zu Grunde legen wollte, so würde, glaube ich, keiner meiner Freunde etwas dagegen haben. Berlin zahlt an Steuern mehr als die sämmtlichen Wahlkreise der 140 konservativen Abgeordneten. Die Konservativen sind allerdings bei der jetzigen Wahlkreiseintheilung bevorzugt; nach der gerechten Eintheilung würde die rechte Seite des Hauses allerdings mindestens 50 Mandate verlieren, aber dieser materielle Schaden kann doch nach den Erklärungen des Herrn von Köller für die Herren Konservativen nicht maßgebend sein. Den 124 Kanalfreunden stehen 178 Kanalgegner gegenüber; wenn man die hinter diesen stehende Bevölkerungszahl zu Grunde legt, ent⸗ fallen auf die Kanalfreunde 11 544 000, auf die Kanalgezner 11 550 000 Seelen, also ungefähr dieselbe Zaht; nach der Steuer⸗ leistung würde sich aber die Waage zu Gunsten der Kanalfreunde ganz bedeutend senken. Hat denn die Regierung Veranlassung, die Zahl der konservativen Abgeordneten über Gebühr anschwellen zu lassen? Nach ven Erfahrungen der letzten Jahre macht keine Partei der Regierung soviel zu schaffen wie die konservative. Wer es wohl meint mit dem Lande, muß den Agrariern entgegentreten. Deshalb sollte die Regierung die gegenwärtige Zusammensetzung des Parla⸗ ments ändern. Wir wissen es dem Reichskanzler Dank, daß er auf die Bedeutung der Industrie in unserem Lande hingewiesen hat. Aus politischen Rücksichten ist es nothwendia, endlich einmal die Wahl⸗ einzutheilen. Die Regierung kann sich dieser Pflicht nicht entziehen.

Abg. Dr. Lewald (kons.): Meine historischen Untersuchungen über das Gesetz von 1860 stimmen nicht mit denen des Vorredners überein; dieses Gesetz trug gerade den Stempel des Liberalismus. Das Gesetz von 1867 bestimmte, 8 nicht die Bevölkerungs⸗ zahl der Wahlkreise allein maßgebend sein solle. Die große Be⸗ völkerunsszahl von Berlin kann man nicht als stichhaltigen Grund anführen; es ist ein Unterschied, ob die Bevölkerung sich auf viele Quadratmeilen vertheilt oder in einer Stadt zu⸗ sammengedrängt ist. Daß man die politische Vertretung zu Gunsten der großen Städte verschieben will, wird man im Lande nicht verstehen. Die von dem Abg. Bartb angeführten großen Zentren sind bisher nicht zu kurz gekommen. Sehen Sie sich nur an, was Berlin alljährlich im Etat erhält. Wir behandeln die Sache rein sachlich gegenüber den Angriffen des Abg. Barth auf uns und können ein Bedürfniß nach einer Abänderung nicht anerkennen. Es muß den ganzen Erwerbs⸗ und anderen Verhältnissen Rechnung ge⸗ tragen werden, eine mechanische Abgrenzung der Wahlkreise ist nicht gerechtfertigt. 8

Abg. Dr. Wiemer führt noch einige weitere Beispiele an, um die Ungerechtigkeit der Wahlkreiseintheilung zu Ungunsten der großen Städte zu beweisen. Die großen Wahlkreise in Berlin z. B., bemerkt der Redner, machen bei den Wahlen selbst die größten Schwierigkeiten. Die Bevölkerungszahl allein soll nicht entscheidend sein, aber sie soll in erster Linie mitsprechen. Nach dem Gesetz von 1860 soll ja die Volkszählung zu Grunde gelegt werden, und weiter verlangen wir auch nichts, nur mit der Maßgabe, daß nicht mehr 50 000, sondern 75 700 Seelen auf je einen Abgeordneten entfallen. Das Prinzip der Berechnung nach der Steuerleistung verwerfen wir, obwohl dabei die Städte noch besser wegkämen. Prinzipiell sind wir überhaupt für die Einführung des Reichstagswahlrechts auch für den Landtag. Die Intelligenz in den Städten ist doch mindestens eben so groß wie in den jetzt bevorzugten Wahlbenirken. Graf Limburg⸗Stirum sagte einmal, es sei jetzt nicht die Zeit, die Wahlbezirke zu ändern; wir denken, daß jetzt nach 40 Jabren endlich die Zeit dazu wäre. Der Einfluß des platten Landes würde durch unsern Antrag nicht beein⸗ trächtigt; in der Presse der Konservativen heißt es, der Antrag wolle die Ostelbier rechtlos machen; das ist doch eine starke Uebertreibung. Das platte Land wird immer ausschlaggebend bleiben. Die Herren aus Ostelbien haben ja auch im Herrenhause eine stärkere Ver⸗ tretung. Umsomehr müssen wir in diesem Hause eine der Bevölkerung entsprechende Eintheilung vornehmen. Man mag über die Verdienste des Adels denken, wie man will, aber die 100 Adligen hier im Hause entsprechen doch nicht der Bedeutung, die der Adel heute hat. Herr von Köller will die idealen Interessen vertreten, aber hier heißt es: Ja, Bauer, das ist ganz etwas Anderes. Für die preußische Regierung müssen die Gründe der politischen Gerechtigkeit maßgebend sein. Das Herrenhaus paßt nach seiner ganzen Struktur überhaupt nicht in das moderne Verfassungsleben, umsomehr sollte es aber damit einverstanden sein, daß die Volksvertretung im Abgeordneten⸗ hause richtig zusammengesetzt ist. Was Berlin vom Staate erhält, entspricht noch lange nicht seiner Steuerleistung. Berlin hätte auch nicht allein den Vorrbeil von einer gerechten Eintheilung der Wahl⸗ kreise. Die Entwickelung wird dahin gehen, daß die wirklichen Ver⸗ hältnisse im Lande auch in der Volksvertretung zum Ausdruck kommen veahoe- Bürgerthum die politische Vertretung erhält, die ihm gebührt.

Minister des Innern Freiherr von Rheinbaben:

Meine Herren! Ich habe nicht die Absicht, mich materiell an der Debatte zu betheiligen, und kann auch aus den Ausführungen der Herren Abgg. Dr. Barth und Dr. Wiemer keine Veranlassung ent⸗ nehmen, von diesem Vorsatze abzugehen. Meine Herren, es ist ein Grundsatz der Königlichen Staatsregierung, nicht schon zu einzelnen Anträgen, die in diesem Hause gestellt werden, sondern erst dann Stellung zu nehmen, wenn das hohe Haus selber in der Sache schlüssig geworden ist. An dieser Uebung im vorliegenden Falle fest⸗ zuhalten, ist für die Königliche Staatsregierung doppelte Veranlassung gegeben. Der Antrag würde zur Folge haben und bezweckt zum theil, eine Verschiebung in den Machtverhältnissen der einzelnen Parteien herbeizuführen. In einer solchen Frage, die von großer Bedeutung

dem Hausknecht zusammen in der dritten Klasse, in anderen Bezirken Berlins wählt der Budiker stolz in der ersten Klasse. Die stärkst Partei 88 1“

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Parteien steht sich doppelt Objektivität auferlegen und wird, an ihrer bisherigen Uebung festhaltend, erst dann Stellung nehmen, wenn ein Beschluß des hohen Hauses vorliegt.

Abg. Dr. Porsch (Zentr.): Die Frage ist sehr schwierig; wenn man an eine Revision der Wahlkreise herangeht, muß man auch die fundamentale Frage erörtern, ob das ganze Wahlsystem aufrecht⸗ erhalten werden soll. Wenn man diese Frage nicht mitlöst, wird durch eine bloße Aenderung der Wahlkreise das Spstem stabilisiert. Will man auch die Zahl der Abgeordneten verändern oder bloß die vorhandenen Mandate anders verth⸗ilen? Unsere Partei hat schon 1892 einen solchen Antrag Richter abgelehnt, weil eine Vermehrung der Abge⸗ ordneten das Parlament zu groß machen würde, und weilsie niemals zugeben kann, daß ohne solche Vermehrung der Gesammtzahl einige Mandate dem platten Lande genommen und den Städten zugewiesen werden. Die ganze Frage der durch die Steuergesetzgebung, auch in Bezug auf die Kommunalwahlen, ist noch nicht gelöst. Unsere Schuld ist es nicht, daß die vorzjährige Vorlage über das Kommunalwahlrecht in den Kanal gefallen ist. Ich hoffe, daß diese Vorlage aber noch zu stande kommt. Meine Freunde sind weder für noch gegen den Kanal engagiert; aber wir müssen ent⸗ schieden dagegen sein, daß die Majoritätsverhältnisse dieses Hauses wegen eines einzigen Gesetzes geändert werden sollen. Daher ist gerade die jetzige Zeit ungeeignet für diesen Antrag. In einem Zeitpunkte, wo die Landwirthschaft nothleidet und wir auf Abhilfe sinnen müssen, ist es uns ganz unmöglich, eine Demonstration m zumachen, welche darauf hinausgeht, der Landwirthschaft einen Theil ihrer politischen Vertretung zu nehmen. Auf das Herren haus kann man die Landwirthschaft nicht verweisen; die Land wirthe werden doch Werth da auf legen, selbst die Männer ihrer Vertretung zu bestimmen. In aaderer Zeit kann man jr erwägen, ob man eine solche Maßregel beschließen soll; aber in der gegenwärtigen Zeit ist es unangebracht. Die Wahlkreise haben auch ein Recht, die jetzige Zahl ihrer Ab⸗ geordneten zu behalten, vielleicht sogar ein verfassungsmäßiges Recht. Aber wir lehnen den Antrag nur zur Zeit ab. Im Prinzip ist der Antrag begründet, weil sich die Bevölkerungszahl bedeutend verschoben hat. In manchen Wahlbezirken ist die Zahl der Wahlmänner so groß geworden, daß an eine Verkleinerung der Wahlkreise zu denken ist. In Breslau z. B. findet man kaum noch Säle, groß genug für die Wahlen, und dabei müssen die Wahlmänner bis zum Schluß anwesend bleiben für eine eventuelle Stichwahl. In ab⸗ sehbarer Zeit muß also eine Revision unserer Wahlkreiseintheilung vorgenommen werden.

Abg. Noelle (nl.): Meine Partei steht dem Antrage völlig objektiv und unparteiisch gegenüber, und von diesem Standpunkt aus können wir den Antrag nur befürworten. Wir wollen, daß die Be⸗ völkerungszahl wieder als ein wesentliches Moment für die Wahlkreis⸗ eintheilung eintritt. Daß Herr Porsch gegen den Antrag ist, wundert mich; denn Herr Porsch ist doch sonst ein Anhänger der Parität. Wenn wir diese Frage mit der Frage des ganzen Wahlsystems ver⸗ binden, kommt überhaupt garnichts heraus. Bis die Kanalvorlage oder etwa gar ein neues Schulgesetz angenommen worden ist, können wir mit dieser Reform nicht warten. Daß der Ausführung dieses Antrags bedeutende Schwierigkeiten entgegenstehen, verkennen wir nicht, und wir beantragen deshalb, den Antrag einer Kommission von 14 Mit⸗ gliedern zu überweisen. Eine Schwierigkeit liegt dann vor, wenn einem Wahlkreise ein Abgeordneter genommen werden soll; aber unsere Wahlkreise sind keine Körperschaften, sondern nur Bezirke; allerdings sind sie gewissermaßen durch die 40 jährige Entwickelung dazu ge⸗ worden. Unter Berücksichtigung aller dieser Dinge muß die Kom⸗ mission dem Anteag eine solche Gestalt geben, daß er angenommen werden kann. 1

Abg. Freiherr von Zedlitz und Neukirch (frkonsf.): Wir haben als Partei kein Interesse an dieser Sache und betrachten sie lediglich vom Standpunkte der Gesammtheit. Die jetzigen Wahlkreise haben ein Recht auf die Vertretung, die sie bisher gehabt haben, uad ein solches verfassungsmäßiges Recht darf nur aus zwingenden Gründen abgeändert werden. Ich erkenne an, daß die Größe mancher Wahlkreise zu Unzuträglichkeiten führt; dann ist aber der richtige Weg zur Abhilfe die Theilung solcher Wahlkreise. An eine Vermehrung der Gesammtzahl der Abgeordneten können wir nicht denken; die jetzige Zahl von 433 ist schon so groß, daß man eher an eine Verminderung denken sollte. Der Antrag würde den großen Städten 30 neue Mandate schaffen auf Kosten der Aandwirthschaftlichen Kreise, und zwar nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Es würden also die Kreise begünstigt, die ohnehin schon im wirthschaftlichen Leben bevorzugt sind. 1892 hat sich Herr Hobrecht namens der Nationalliberalen gegen den Antrag erklärt. Wir können nicht zugeben, daß der Landwirthschaft der Einfluß ge⸗ nommen wird zu Gunsten der Städte, welche durch ihre Geld- macht schon in der Lage sind, ihre Interessen kräftiger zu vertreten. Daß die Kanalvorlage hiermit verquickt wird, ist 2.f ein Grund mehr gegen den Antrag. Wenn wir mit dieser Reform vorgehen, muß auch das Reich folgen, und dort hätte lediglich die Sozial demokratie den Vortheil davon. Preußen muß es für seine Ehren pflicht halten, einen Anstoß dazu zu vermeiden. Daß im Reiche jede Zuhälter dasselbe Stimmrecht wie z. B. Professor Virchow ode s'der Wasserpolak dasselbe Stimmrecht wie der Reichstags⸗Präsiden hat, wäre eher ein Punkt, in welchem die Antragsteller ändern sollten.é Neben der Bevölkerungszahl muß auch die Erfahrung aus⸗ schlaggebend sein, wie sie sich gerade der seßhafte Landwirth erwirbt. Wer auf dem Standpunkt der Sammlung steht, muß dagegen sei daß ein neuer Keil zwischen Landwirthschaft und Industrie getrieben wird. Wir lehnen daher sowohl den Antrag wie die Kommissions⸗

berathung ab.

Abg. Ehlers (fr. Vgg.): Daß die Rechte den Antrag ablehnt, ist ja ganz natürlich. Wenn es heißt, daß der Antrag den Einfluß der Landwirthschaft beschränke, so ist das Uebertreibung. Die Noth der Landwirthschaft liegt auf einem ganz anderen Gebiete. Die Konser⸗ vativen sollten die Berechtigung des Antrags anerkennen und wenigstens für die Kommissionsberathung stimmen. Herr Porsch will das ganze Wahlsystem mit hineinziehen; aber im vorigen Jahre haben doch die Herren vom Zentrum beim Kommunalwahlrecht einen einzelnen Punkt herausgegriffen. Dieselben Gründe, die Herr Porsch heute vorbrachte, kann man auch gegen eine Aenderung des Gemeinde⸗ wahlrechts geltend machen. Weshalb will das Zentrum einen Antrag, der ihm sonst sympathisch ist, nicht in einer Kommission be⸗ rathen? Nach 40 Jahren kann man doch die Sache wieder einmal prüfen. Die Konservattven haben ja ein sehr ausgebildetes kon⸗ stitutionelles Gewissen und sollten uns deshalb nicht hindern, den Antrag in einer Kommission zu prüfen. Auf den Standpunkt des gegenseitigen Neides dürfen wir uns nicht stellen. Auf eine geeignetere Zeit können wir nicht warten. Wohin kämen wir, wenn wir darauf warten sollten, daß alle Ungerechtigkeiten in der Welt mit einem Male abgeschafft werden? Ich empfehle die Ueberweisung des An⸗ trags an eine Kommission.

Die Diskussion wird geschlossen. Im Schlußwort wendet sich

Abg. Dr. Barth geen die Bemerkung des Abg. von Zedlitz, daß jeder Zuhälter ebenso viel Einfluß bei den Wahlen hade wie Herr Virchsw. Von solchen Gesichtspunkten aus dürfe man die Frage nicht beurtheilen. Diejenigen, welche das meiste für den Staat leisten, hätten jetzt viel geringeren Einfluß als die sogenannten Nothleidenden. Das historische Ünrecht zu beseitigen, sei die Aufgabe einer modernen Gesetzgebung. Ob man die Zahl der Abgeordneten vermehren oder vermindern solle, könne man jaz noch weiter erwägen. Er hätte gegen eine Verminderung der Zahl nichts einzuwenden. Der Minister des Innern habe sich reserviert gehalten; darin erblicke er ein größeres Entgegenkommen, als seiner Zeit der Minister Herrfurth bewiesen, der den Antrag strikte abgelehnt habe. Gerade die Kanal⸗ vorlage müsse es Jedem ans Herz legen, die Zusammensetzung der Volksvertretung zu ändern; denn in der Ablehnung der Kanalvorlaße Uiege ein großes Unrecht vor. Die Krone mache gegebenen Falles

für die einzelnen Parteien ist, muß die Regierung, die über den

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auch von ihrem Rechte Gebrauch, durch einen Pairsschub die Zu⸗ sammensetzung des Herrenhauses zu ändern.