1900 / 50 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 24 Feb 1900 18:00:01 GMT) scan diff

i Bestreben unausgesetzt darauf gerichtet gewesen ist, neue Bestimmungen in dieser Beziehung zu schaffen, und ich hoffe, daß

dieses Bestreben zu einem gedeihlichen Ende führen wird. Die alte Kirchenordnung bietet nicht die genügende Grundlage, eine solche muß erst neu geschaffen werden und bei dieser Arbeit bin ich jetzt.

Auf die kirchliche Noth einer Nachbarstadt möchte ich nicht näher eingehen. Sie ist in der Kommifsion erörtert worden. Ich möchte dem Herrn Vorredner aber doch erwidern, daß es uns gelunden ist, eine ganze Reihe katholischer Garnisonkirchen zu schaffen, daß in diesem Bestreben fortgefahren wird und daß auch die von ihm ge⸗ meinte Stadt es ist Spandau in erster Linie berücksichtigt werden soll, wenn sich ein Bedürfniß herausstellt.

Auf die übrigen Beschwerden angebliche Entheiligung der Sonn⸗ und Feiertage näher einzugehen, versage ich mir. Er hat sie nicht näber spezialisiert, und ich habe die Empfindung, daß er einzelne Fälle angeführt hat, die bereits Jahre zurückliegen und die längst erledigt sind.

Abg. Dr. Müller⸗Sagan (fr. Volksp.) spricht sich für die Resolution aus, an der nur der Umstand wunderbar sei, daß man sie überhaupt noch beschließen müsse. Dem freiesten Verkehr zwischen Beichtvater und Beichtkid dürfe sich nichts in den Weg stellen. Deshalb könne man auch auf die neue Kirchenordnung nicht warten, sondern müsse die Resoluttonen trotz der entgegenkommenden Erklärung der Heeresverwaltung annehmen.

Abg. Gröber: Wir hören immer und immer wieder, daß trotz der strengen Vorschrift, welche der Kriegs⸗Minister soeben erwähnt hat, die untersten Vorgesetzten, die Unteroffiztere, alle möglichen Dienstverrichtungen und Appells gerade auf den Sonntag Vormittag verlegen, sodaß die Mannschaften trotz alledem von der Theilnahme an dem Hauptgottesdienst am Sonntag Vormittag abgehalten werden. Der Kriegs⸗Minister sollte nicht nur diese Vorschrift zur Nachachtung einschärfen, sondern auch für eine Kontrole darüber sorgen, daß sie auch wirklich innegehalten wird. Gerade auf den freiwilligen Kirchen⸗ besuch lege ich den allergrößten Werth. 8

Abg von Janta⸗Polczynski (Pole) spricht in Verhinderung des erkrankten Abg. von Jazdewski, der das Material in Händen habe, den Abgg. Gröber und Dr. Lingens seinen Dank für den Eifer aus, den sie bei der Vertretung der polnischen Beschwerden an den Tag gelegt haben. 8

Das Kapitel wird bewilligt.

Das Kapitel „Militär⸗Justizverwaltung“ erscheint entsprechend der am 1. Oktober 1900 in Kraft tretenden Militär⸗

Strafgerichtsordnung umgearbeitet. 8

Abg. Dr. Müller⸗Sagän erklärt sich namens seiner Partei⸗ genossen gegen die Art, wie die Besolrungsfrage der neuen Beamten der Kriegs⸗ und Ober⸗Kriegsgerichte, sowie des Reichs⸗Militärgerichts geregelt sei. Diese Beamten seien viel zu günstig weggekommen und die Rückwirkung auf die anderen, namentlich die akademisch gebildeten Kategorien von Militärbeamten werde nicht ausbleiben. Leider habe die Partei mit ihren Anträgen auf Reduktion, insbesondere auch mit dem Antrage auf Beseitigung der Pferderationen für diese Militär⸗ Justirbeamten, keine Gegenliebe gefunden.

Die Ausgaben fuͤr die Militär⸗Justizverwaltung und der Etat für das Reichs⸗Militärgericht werden bewilligt.

Die Ausgaben für die höheren Truppenbefehls⸗ haber, Gouverneure, Kommandanten, Platzmajors, Adjutantur⸗ Offiziere und Offiziere in besonderen Stellungen, Generalstab und Landesvermessungswesen, Ingenieur⸗ und Pionier⸗Korps werden ohne Debatte angenommen.

Bei den Ausgaben für die „Geldverpflegung der Truppen“ Tit. 3: „Korps⸗ Roßärzte, Ober⸗Roßärzte, Roß⸗ ärzte, Zahlmeister, Büchsenmacher, Regiments⸗Sattler“ ec. ꝛc., kommt folgender Antrag des Abg. H offmann⸗Hall (d. Volksp.) zur Verhandlung:

„Den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, er möge dahin wirken, daß die Gehälter der Korps⸗Roßärzte, Ober⸗Roßärzte, Roßärzte und Unter⸗Roßärzte der außerbayerischen Kontingente des Reichs⸗ heeres denen der entsprechenden Klassen der Veterinärärzte der bayerischen Armee gleichgestellt werden, daß als Vorbedingung für die Zulassung zum Studium für die militärärztliche Laufbahn Maturitätsprüfung einer Vollanstalt vorgeschrieben, und daß die thierärztliche Studienzeit auf neun Semester erhöht werde.“

Abg. Bassermann (nl.): Das Bedürfniß einer Aufbesserung der Roßärzte wird allgemein anerkannt. In Preußen beträgt das Maximalgehalt nur 1400 ℳ, der bayerische kann von 1500 bis 2400 aufsteigen; solche Differenzen sollten nicht rvorkommen. Als weiterer Nachtheil für die nichtbayerischen Roßärzte kommt hinzu, daß die Privatpraxis, die frühber sehr einträglich war, sehr abgenommen hat. Im einzelnen liegen die Verhältnisse nach den verschiedenen Theilen des Reichs sebr ungleich; am ungünstigsten stehen sich die Roßärzte östlich der Elbe. Es ist der allgemeine Wunsch innerhalb der betheiligten nichtbayerischen Kreise, daß das veraltete preußische System dem bavperischen weiche. Auch das Kriegs⸗Ministerium hat schon voriges Jahr sich diesen Anforderungen nicht verschlossen gezeigt. Redner beankragt getrennte Abstimmung über die beiden Theile des Antrags.

Abg. Hoffmann⸗Hell führt aus, daß die Hebung des Standes der Roßärzte ohne gleichzeinige Hebung ihrer Vorbildung und ohne die Gleichstellung mit den übrigen Akademikern nicht zu erreichen sei. Der heutige Roßarzt diene nicht einmal als Einjähriger, sondern als gemeiner Mann in der Kaserne und müsse nachher mit den Lehr⸗ schmieden zusammen arbeiten. Was sei, wenn er das Schmiede⸗ examen gluͤcklich bestanden habe und nun auf die Hochschule komme, um zu studieren, wohl von seinem Schulwissen noch übrig? Hier thue dringend noth, daß Wandel geschaffen werde. Die Vorbildung des ärztlichen Personals müsse in der angegebenen Weise vertieft und die ganze Rang⸗ und dienstliche Stellung der Roßärzte den modernen An⸗ forderungen entsprechend erhöht werden.

Abg. Eickhoff (fr. Volksp.) spricht sich ebenfalls im Sinne des Antrags aus, soweit er die Gehaltsaufbesserung betreffe. Den zweiten Theil des Antrags billige seine Partei zwar auch durchaus, aber sie lege gar keinen Werth darauf, daß er gerade an dieser Stelle zur Er⸗ ledigung gelange.

Abg. Dr. Graf Udo zu Stolberg⸗Wernigerode (d. kons.) spricht sich gegen die Erhöhung der Anforderungen an die Vorbildung der Roßärzte aus; sei der junge Mann intelligent, so komme er mit dem Primanerzeugniß vollständig aus.

Abg. Dr. Paasche (nl.) äußert sich im Sinne des Abg Basser⸗

„Auch fuͤür eine ganze Reihe anderer Beamtenklassen liege noch

it einer Aufbesserung vor, trotz der im wesentlichen

abgeschlossenen Erhöbung der Beamtengehälter. Es würde sich diese

Aufbesserung ermöglichen lassen dadurch, daß man ein weiteres Auf⸗

ücken gestatte, und in diesem Sinne möchte das Reichs⸗Schatzamt sich er Sache annehmen. 1 -

Zu demselben Titel hat die Kommission die nachstehende Resolution beantragt:

‚den Reichskanzler zu ersuchen, darauf hinzuwirken, daß die Stabshoboisten in die Servisklasse der Feldwebel versetzt werden.“

Ueber diese Resolution sowie über diejenige, betreffend die

Roßärzte, wird erst in der dritten Lesung abgestimmt werden.

5 g. Bassermann befürwortet bei demselben Kapitel die Besserstellung der Militär⸗Kapellmeister, für welche sich der Reichstag schon im vorigen Jahre durch Annahme einer bezüglichen Resolution erwärmt habe; die Einreihung in die Servisklasse der Feldwebel würde in der Richtung der Feee der Wünsche seiner Partei liegen. Seit der erfolgten Gehaltserhöhung seien vielfach die Re⸗

gimentszulagen, die die Betreffenden bisher bezogen, in Wegfall

gekommen, womit der Zweck der beabsichtigten Aufbesserung vereitelt worden sei.

Bei der Position von 1 606 000 für Gefechts⸗ und Schießübungen im Gelände und sonstige besondere Uebungen erwidert auf eine Beschwerde des Abg. Baron de

Schmid (b. k. F.) der

Direktor im Kriegs⸗Ministerium Generalleutnant von der Boek, daß die General⸗Kommandos autorisiert seien, bei Nothständen even⸗ tuell Mannschaften als Erntearbeiter abzukommandieren.

Beim Kapitel „Naturalverpflegung“ bringt der

Abg. Dr. Müller⸗Sagan zur Sprache, daß für Kantinen sehr hohe Pachtverdienste herausgezogen würden, die der Befürchtung Raum gäben, daß diese Verdienste schließlich von den Soldaten be⸗ zahlt werden müßten, welche Speisen und Getränke von schlechter Qualität erhielten. Die Beköstigung der Mannschaften habe man durch warmes Abendbrot zu verbessern gesucht und dafür namhafte Opfer gebracht; es sollte jetzt nicht auf Umwegen den Mannschaften die Wohlthat, die man ihnen habe erweisen wollen, wieder illusorisch gemacht werden. Redner bittet um Auskunft über die Entwickelung des Kantinenwesens.

Major Wandel: Die Kantinen werden von den Trupyen ver⸗ waltet; die Militär⸗Verwaltung hat keinen Einfluß darauf. Die Mittheilungen der Presse baben sie trotzdem veranlaßt, den General⸗ Kommandos Mittheilung davon zu machen, und diese werden wohl die nöthigen Schritte thun, zu verhindern, daß durch unrechtmäßige Verpachtung der Kantinen den Mannschaften Nachtheile erwachsen.

Bei den Ausgaben für Garnison⸗Verwaltungs⸗ und Serviswesen plädirt der

Abg. Werner (Reformp.) für Besserstellung der Kasernen⸗ Inspektoren.

Bei dem Titel „Manöverkosten“ bemängelt der

Abg. Hoch (Soz.), daß den Beschwerden über die verspätete Entschädigung der Flurschäden noch immer nicht abgeholfen sei. Der Landrath des Kreises Hanau habe die entsprechende Verfügung des preußischen Ministers des Innern in seinem Kreisblatt damit be⸗ antwortet, daß er die vorjährigen Angaben des Kriegs⸗Ministers für unrichtig erklärt und die Schuld der Militärverwaltung zugeschoben habe, während der Kriegs⸗Minister die Zivilbehörde verantwortlich gemacht hälte. Die Bemühungen des Kriegs⸗Ministers um Abhilfe der Be⸗ schwerden seien. also durch die Zivilbehörde vereitelt worden. Das könne nicht im Interesse der Militärbehörde liegen.

Kriegs⸗Minister, General der Infanterie von Goßler:

Wenn der Herr Vorredner annimmt, daß die Militärverwaltung und die Zioilbehörden uneinig sind, so ist diese Annahme nicht richtig. Die Auskunft, die ich im vorigen Jahr gegeben habe, gründete sich soweit mir die Verhältnisse damals bekannt waren darauf, daß die Anmeldungen der Schäden thatsächlich außerordentlich verzögert waren und ich annehmen mußte, daß dieses zum theil den Orts⸗ vorständen zur Last zu legen sei. Nach den jetzt vorliegenden Erhebungen kann ich aber ohne weiteres anerkennen, daß der größte Theil der betreffenden Ortsvorstände gut gearbeitet hat und Bemängelungen nur in wenigen Fällen erhoben werden konnten. Die näheren Ermittelungen haben ergeben, daß die Verhältnisse im Kreise Hanau besonders schwierig lagen. Allein über 40 000 Parzellen sind abzuschätzen gewesen. Die Auf⸗ stellung der Listen der beschädigten Parzellen hat infolse der Masse derselben und der Art der Grundstücksvertheilung die größte Mühe verursacht und ist, wie ich nachträglich zugebe, für die Ortsvorstände ein schweres Stück Arbeit gewesen. Sieben Abschätzungskommissionen sind im Kreise thätig gewesen. Die zur Auszahlung gelangten Ver⸗ gütungen belaufen sich auf rund eine halbe Million Mark, und es kann nicht verwundern, daß bei der Prüfung und Abmessung der⸗ artiger Beträge eine ganze Reihe Rückfragen nothwendig geworden sind. Auch die Herbeiführung der Unterschriften von Protokollen in manchen Fällen infolge Wechsels der Sachverständigen bis zu 20 erforderte viel Zeit, sodaß Verhältnisse vorlagen, die ganz ungewöhnlich schwieriger Natur waren. Der Intendantur sind von den Nachweisungen 25 % im Oktober, 41 % im No⸗ vember und 34 % im Dezember, die letzten sogar erst am 21. Dezember zugegangen. Die von der Intendantur zu prüfen⸗ den Nachweisungen mußten behufs Aufklärung verschiedener Irrthümer zum theil zweimal zurückgegeben werden. Es erklärt sich dieses, wie gesagt, aus den ungünstigen Verhältnissen des Kreises, besonders er⸗ schwert dadurch, daß viele beschädigte Felder ohne Vorabschätzung abgeerntet waren, in manchen Fällen sogar die in Betracht kommenden Parzellen nicht mehr ermittelt werden konnten. Trotzdem ist auch diese Schwierigkeit durch weitgehendes Entgegen⸗

stärverwaltung überwunden worden. Es handelt sich dann noch um die Frage der Zahlung der Vergütungen; die letzten Gelder sind von der Intendantur am 6. Januar 1898 angewiesen worden, obwohl die letzte Nachweisung erst am 21. Dezember bei der Intendantur eingegangen war. Ich glaube hiernach feststellen zu können, daß die Intendantur sehr gut und rasch gearbeitet hat, und muß daher in dieser Beziehung jeden Vorwurf gegen meine Ver⸗ waltung ablehnen. Verbesserungsbedürftig hat sich dagegen die Art der Abhebung der Gelder erwiesen, und habe ich infolge⸗ dessen in Verbindung mit den Herren Ministern des Innern und der Finanzen Vorsorge getroffen, daß die Empfänger die ihnen zustehenden Beträge nicht mehr bei den Kreiskassen abzuheben brauchen, sondern daß die betreffenden Beträge den Orts⸗ kassen überwiesen werden, sodaß jeder Einzelne seine Entschädigung bei dem Ortsvorsteher in Empfang nehmen kann. Außerdem habe ich die Intendanturen beauftragt, die Abschätzungsnachweisungen nicht bis zur geschehenen Prüfung sämmtlicher Anweisungen aufzusammeln, sondern dieselben je nach Eintreffen von den Landrathsämtern in ein⸗ zelnen Theilen zur Zahlung anzuweisen. Der Herr Vorredner wird sich hiernach davon überzeugen, daß wir bestrebt gewesen sind, die Uebelstände, die sich im Kreise Hanau herausgestellt haben, für die Zukunft mögzlichst zu beseitigen.

Abg. Hoch: Die Flurschädenabschätzung habe viel zu lange ge⸗ dauert, das sei zugestanden; aber niemand wolle jetzt daran schuld sein. Für eine so umfangreiche Entschädigung, wie sie hier npth⸗ e würde, müßte eben nach einem kürzeren Verfahren gesucht werden.

Kriegs⸗Minister, General der Infanterie von Goßler:

Der Herr Vorredner mag sich die Verhältnisse ruhig überlegen; ich habe ausdrücklich den Ortsvorständen keinen Vorwurf gemacht, aber nachgewiesen, daß die Eingaben sehr langsam eingegangen sind. Die Zustände im Kreise Hanau brachten es mit Rücksicht darauf, daß der Grundbesitz sehr vertheilt ist, und bei der Fruchtbarkeit des Bodens mit sich, daß die Aufstellung der Nachweisungen schwierig war und viel Zeit erforderte. Das wird sich aber bei großen Ortschaften mit sehr zersplittertem Besitz niemals ganz ver⸗ meiden lassen. Ich meine also, diese Verhältnisse waren so außer⸗ gewöhnlicher Natur, daß aus ihnen eine allgemeine Folgerung nicht gezogen werden kann. Ich bleibe dabei, daß alles geschehen ist, was ge⸗

schehen konnte, kann aber andererseits nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß eine sorgfältige Prüfung der Nachweisungen nöthig ist, wenn nicht Entschädigungen gezahlt werden sollen, die in keinem Verhältniß zu den Schäden stehen.

Wenn ich mir überhaupt ein Urtheil über die Flurschäden⸗ vergütungen gestatten darf, so wird nach meinen Wahrnehmungen ver⸗ hältnißmäßig viel zu viel gezahlt; die Militärverwaltung zeigt jedoch in dieser Hinsicht besonderes Entgegenkommen, um, wenn auch vielfach unberechtigte Mißstimmung zu vermeiden. Einer Prüfung nach Recht und Billigkeit kann sie sich jedoch nicht entziehen, da sie für die gesetzmäßige Verwendung der ihr anvertrauten Gelder verant⸗ wortlich ist.

Bei den Ausgaben für das Militär⸗Medizinal⸗ wesen befürwortet der

Abg. Graf von Oriola (nl.) angelegentlich die Aufbesserung 5 und Rangverhältnisse der Korps⸗, Stabs⸗ und Garnison⸗ potheker.

Die Ausgaben werden bis zum Kapitel „Verpflegung

der Ersatz⸗ und Reservemannschaften und Arrestanten auf dem Marsche“ einschließlich bewilligt.

Um 5 ¾ Uhr wird die Fortsetzung der Berathung auf Sonnabend 1 Uhr vertagt.

8 Preußischer Landtag Haus der Abgeordneten.

1 Sitzung vom 23. Februar 1900, 11 Uhr.

Auf der Tagesordnung steht die erste Berathung des Gesetzentwurfs, betreffend die Bildung der Wähler⸗

abtheilungen bei den Gemeindewahlen.

Minister des Innern Freiherr von Rheinbaben:

Mieeie Herren! Ich habe gestern versucht, von meinem Platze aus

so laut zu sprechen wie möglich und trotzdem war ich, wie der Herr Abg. Richter gestern bemerkte, auf der linken Seite nicht verständlich. Ich werde also versuchen, heute von hier aus zu Ihnen zu sprechen, in der Hoffnung, daß ich dann verständlicher bin, und von dem Wunsche aus getragen, daß die Ausführungen, die ich zu machen habe, nament⸗ lich auch die ziffermäßigen Darlegungen, auf allen Seiten des Hauses verstanden werden können.

Meine Herren, mit der Vorlage, die Ihrer Berathung unter⸗ breitet ist, macht die Königliche Staatsregierung einen dritten Versuch, zu einer Ausgleichung der Verschiebungen zu gelangen, die durch die Steuerreform in der Zusammensetzung der Wählerabtheilungen herbei⸗ geführt worden sind, nachdem die beiden früheren Versuche zu einem befriedigenden Ergebniß nicht geführt haben. Wie den Herren ja allen bekannt ist, ging die letzte Vorlage von dem sogenannten Durchschnitts⸗ prinzip aus derart, daß alle Wähler, die mehr als eine durchschnittliche Steuerleistung aufzuweisen haben, wenigstens in die zweite Wähler⸗ abtheilung aufzurücken hätten. In den Kom missionsberathungen wurden gegen diesen einen allein vorgeschlagenen Modus erhebliche Bedenken geäußert, und es wurde ein zweiter Modus zur Erörterung gestellt: Die Frage der Abschichtung der Wählerabtheilungen nach Zwölfteln. Eine Vereinbarung über diesen Modus konnte schließlich nicht erfolgen, weil man sich über die Frage nicht einigen konnte, ob zur Einführung dieses Systems eine einfache oder eine qualifizierte Majorität der Gemeindevertretung erforderlich sei.

Die Staatsregierung sah sich also vor der Frage, ob sie bei der neuen Vorlage allein auf das Durchschnittsprinzip zurückkommen wollte, oder ob sie das Prinzip der Zwölftelung, das hier von verschiedenen Seiten vertreten worden war, in die Vorlage mit aufnehmen wollte. Ueber diese Frage Klarheit zu gewinnen, war nur dadurch möglich, daß die nächstbetheiligten, mit den Verhältnissen aufs eingehendste vertrauten Behörden über die ganze Materie noch einmal gehört wurden. Das war auch deshalb nothwendig, weil von verschiedenen Seiten lebhafte Bedenken gegen das Durchschnittsprinzip in der Richtung erhoben wurden, daß man von ihm namentlich für die Zukunft eine erhebliche Verstärkung der Sozialdemokratie befürchtete. Auch kommen aus den gemischtsprachlichen Landestheilen Klagen, daß durch das Durch⸗ schnittsprinzip in den kleinen Gemeinden, wo jetzt schon das Deutsch⸗ thum sich schwer des andringenden Polenthums zu wehren vermag, das Deutschthum geschädigt und das Polenthum künstlich befördert werden würde. Auch über diese beiden Fragen von so großer Be⸗ deutung war es unerläßlich, die Nächstbetheiligten zu hören.

Ich habe infolge dessen veranlaßt, daß Konferenzen in den wichtigsten Provinzen stattfanden, an denen die Ober⸗Präsidenten, die Regierungs⸗Präsidenten, die Landräthe und ein großer Theil der Bürgermeister der größeren, mittleren und kleineren Gemeinden theilnahmen. Um nicht ein allzu massenhaftes Material zu bekommen, dessen Bearbeitung sehr viel Zeit in Anspruch genommen und die Staatsregierung mit dem schon in der vorigen Session, wenn auch völlig zu Unrecht erhobenen Vorwurfe einer Verzögerung der Sache belastet haben würde, haben die Konferenzen nicht in allen Provinzen stattgefunden, sondern nur in denjenigen, die für die in Rede stehen⸗ den Materien von besonderer Bedeutung sind. Die Konferenzen haben stattgefunden für Posen und Westpreußen, für Schlesien und Branden⸗ burg, für Westfalen und die Rheinprovinz.

Bei diesen Konferenzen wurde von der weit überwiegenden Mehr⸗ zahl der Theilnehmer ein erhebliches Bedürfniß zu einer Reformthätigkeit in Abrede gestellt, weil erhebliche Verschiebungen in plutokratischer Beziehung nur bei einer Minderzahl größerer Orte eingetreten seien, und weil sich die eingetretenen Verschiebungen nicht als dem öffentlichen Wohle nachträglich erwiesen hätten. Es wurde von keiner Seite ein Fall angeführt, daß die Plutokraten, wenn ich so sagen darf, von ihrer gesteigerten Macht in den Wählerabtheilungen einen dem allgemeinen Wohl nachträglichen Gebrauch gemacht hätten. Deshalb wurde von der überwiegenden Mehrzahl der Theilnehmer ein hervorragendes Bedürfniß, erneut den Weg der Reform zu betreten, verneint. Trotzdem, meine Herren, hat die Staatsregierung geglaubt, abermals Ihnen eine Vorlage machen zu sollen, in der man sich bemüht hat, die Verschiebungen in der Zusammensetzung der Wählerabtheilungen auszugleichen. Die Staatsregierung ist von dem Wunsche erfüllt, die Zusage, die sie in dieser Beziehung! gegeben hat, einzulösen, und sie ist von dem ferneren Wunsche erfüllt, daß dem Mittelstande das Maß von Wahlrecht wieder eingeräumt wird, das er vor der Steuerreform, also etwa im Jahre 1891, besaß. Und nun diesem Wunsche zur Durchführung zu verhelfen, ist sie erneut den jetzt vor⸗ liegenden Weg gegangen und hat Ibnen die Vorlage unterbreitet.

58 (sSchluß in der Zweiten Beilogs.)

Berlin, Sonnabend, den 24. Februar

1“

zeiger.

(Schluß aus der Ersten Beilage)

Meine Herren, der Vorlage liegen drei Hauptgedanken zu Grunde. Einmal enthält sie sich, soweit es in ihren Kräften steht, jeder Ein⸗ seitigkeit in konfessioneller und politischer Beziehung. Ich muß es daher entschieden zurückweisen, wenn seitens gewisser Preßorgane der Staatsregierung und mir speziell der Vorwurf gemacht worden ist, wir hätten Parteipolttik getrieben. Meine Herren, im Bewußtsein eines guten Gewissens werde ich persönlich dergleichen Vorwürfe ge⸗ lassen hinnehmen; aber ich muß namens der Staatsregierung gegen einen derartigen Vorwurf entschieden Einspruch erheben. Ich will nicht bei dergleichen Vorwürfen das Wort aufnehmen, daß niemand einen hinter dem Busch sucht, der nicht selber dahinter gesteckt hat. Aber wenn ich das Wort nicht anwende, so kann ich um so mehr Glauben für die Staatsregierung verlangen, daß ihr jede Einseitigkeit in politischer und konfessioneller Hinsicht fern gelegen hat, und sie sich nur bemüht hat, eine Basis für Wiederherstellung der Zustände von 1891 zu finden.

Ich komme damit zu dem zweiten Punkt. Der zweite Punkt ist der, eine Basis zu finden, wie ich Ihnen schon andeutete, die geeignet ist, die Zustände in der Zusammensetzung der Wählerabtheilungen von 1891 wieder herzustellen; also denjenigen Kreisen der Bevölkerung, die durch die Steuerreform in ihrem Wahlrecht verkürzt worden sind, wieder das frühere Wahlrecht zu verleihen. Meine Herren, in dieser Beziehung ergab sich nun bei den Konferenzen, die, wie ich mir er⸗ laubt habe, zu bemerken, stattgefunden haben, daß sich ein Modus, der diese Verschiedenheiten einheitlich für die Monarchie auszugleichen im stande wäre, schlechterdings nicht finden läßt, weil die Ver⸗ schiedenheiten in der Monarchie, in den Provinzen, in den Krelsen, ja selbst in den einzelnen Gemeinden der Kreise überaus groß sind. Das, was für die eine Stelle paßt, erscheint für die andere Stelle schlechterdings unanwendbar. Das liegt ja auch in der Natur der Dinge. Die Einführung des Durchschnitts⸗ prinzips wird da vielfach die Zustände wiederherstellen, wo starke Verschiebungen stattgefunden haben, also namentlich in den großen Städten und in den Städten mit lebhafter industrieller Entwickelung,

wo infolge Hinzutritts großer Vermögen große Verschiebungen in der

Zusammensetzung der Wählerabtheilungen stattgefunden haben. Um⸗ gekehrt wird wiederum das Durchschnittsprinzip da zu stark wirken, wo eine allgemein homogene Zufammensetzung der verschiedenen Wählerabtheilungen stattfindet. Hier wirkt das Durchschnittsprinzip, das à tout prix eine Verstärkung der beiden ersten Klassen herbei⸗ führt, zu stark und verändert die bisherige, im allgemeinen homogene und zutreffende Zusammensetzung der drei Wählerabtheilungen. Ich werde mir erlauben, Ihnen einige wenige Beispiele anzuführen, welche beweisen, wie schwer, ja unmöglich es ist, ein Prinzip zu finden, das den außerordentlich großen Verschiedenheiten der Monarchie ge⸗ recht zu werden in der Lage ist, das die Wahlverschiebungen wieder ausgleicht, aber nicht darüber hinausgeht.

In einer großen Anzahl von Städten würde das Durchschnitts⸗ prinzip weit über die Herstellung der Zustände von 1891 hinaus⸗ gehen. Ich werde mir erlauben, die Ziffern immer nur voll anzu⸗ geben. Es würden in dieser Beziehung in Stettin, wo im Jahre 1891 in der zweiten Klasse 13 Prozent der Wahlberechtigten waren, nach dem Durchschnittsprinzip 21 Prozent in diese Abtheilung kommen; in Erfurt würde das Verhältniß von 12 auf 17 steigen, in Wiesbaden von 14 auf 18, in Potsdam von 12 auf 19, in Elbing von 14 auf 18, in Königsberg von 11 auf 15, in Bonn von 14 auf 18, in Beuthen von 10 auf 14, in Solingen von 14 auf 18, in Mühlhausen von 11 auf 16, in Stargard von 15 auf 20, in Weißen⸗ fels von 14 auf 18, in Aschersleben von 9 auf 15, in Insterburg von 13 auf 20, in Kattowitz von 9 auf 13. Ich will Sie nicht ermüden, indem ich Ihnen alle dirse Städte vorlese; ich will schließen mit der Stadt Suhl, bei der sich das Verhältniß von 6 auf 17 Prozent er⸗ höhen würde.

Sie werden aus diesen wenigen Daten ersehen, daß es in vielen Städten unmöglich sein wird, durch das Durchschnittsprinzip dem alten Zustand wieder herzustellen, ohne weit über dieses Ziel hinauszuschießen.

Im Gegensatz hierzu wird in vielen Gemeinden die Zwölftelung der richtigere Maßstab sein, um die Verschiebungen wieder aus⸗ zugleichen. Allein, auch bei den eingehenden Ermittelungen, die wir bei den Konferenzen veranlaßt haben, und die nachher durch sehr aus⸗ reichendes statistisches Material belegt worden sind, hat sich ergeben, daß auch das Zwölftelungsprinzip nicht überall der richtige Maßstab sein würde, daß wir also zum Durchschnittsprinzip und zum Zwölftelungsprinzip noch ein weiteres Prinzip hinzufügen müssen. Daß das Zwölftelungsprinzip auch jetzt schon nicht überall genügt, beweisen einige Daten, die ich anführen werde. Von 146 Probe⸗ städten mit mehr als 10 000 Einwohnern würden 41 sowohl von dem Durchschnitts⸗ als auch vom Zwölftelungssystem eine theilweise Verstärkung der zweiten Wählerklasse gegen 1891 erfahren, also ein Drittel aller Probestädte. Das sind eine große Anzahl von Städten, die ich Ihnen nicht alle vorlesen will: Erfurt, Solingen, Tilsit, Mühlhausen u. s. w. Wenn jetzt schon das Zwölftelungssystem zum theil zu weit geht, so würde ebenso auch das Durchschnittsprinzip für die Zukunft bedenklich sein. Es ist eine gewisse Naturnothwendigkeit, daß der Durchschnitt im Laufe der Jahre immer weiter sinken muß, und daß daher immer weitere Bevölkerungs⸗ kreise aus der dritten in die zweite Klasse aufrücken müssen. Die Entwickelung unserer gewerblichen Verhältnisse bringt es mit sich, daß die Löhne imr allgemeinen eine steigende Tendenz aufweisen. Das mag zeitweise unterbrochen werden; im allgemeinen kann man be⸗ haupten: es ist wohl unzweifelhaft richtig, daß die Löhne stetig ge⸗ stiegen sind und weiter steigen werden. Ist das der Fall, so treten immer weitere Kreise der Bevölkerung in die Klasse der Wahlberechtigten, das heißt, diejenigen Leute der Monarchie, die mehr als 660 Einkommen zahlen, ein; der Kreis der Wahl⸗

berechtigten wird also immer erweitert; steigt aber die Zahl der Wahlberechtigten, so sinkt natürlich der Durchschnittsbetrag der Steuerleistuns. Ich will ein ganz einfaches Beispiel gebrauchen: wenn das Gesammtaufkommen „an Steuern in einer Gemeinde 6000 beträgt, und es sind 200 Wahlberechtigte vorhanden, so ist der Durchschnittsbetrag 30 ℳ; alle Leute die mehr als 30 Steuern zahlen, rücken also in die zweite Klasse ein. Treten nun infolge der von mir eben geschilderten Momente neue Kreise den Wahldberechtigten hinzu und werden aus diesen 200 Wahlberechtigten 300, so sinkt der Durchschnitt auf 20 ℳ, und jeder, der 20 Steuern aufbringt, rückt in die zweite Wäblerklasse ein.

Auch in der Beziehung darf ich mir einige interessante Daten mitzutheilen erlauben. Von der Gesammtzunahme an Zensiten im Jahre 1898/99 in der Stadt Barmen entfallen nicht weniger als 84 % auf die drei untersten Einkommen⸗Steuerklassen, also die Klassen bis zu 1350 Einkommen, nur 12 % auf die Einkommen bis 3000 und nur 4,72 % auf die Einkommen über 3000 Natürlich stellt sich die Steuerleistung gerade umgekehrt. Die 84 % aus den drei untersten Klassen haben nur 12 % an Steuern aufgebracht, die 12 %, bis 3000 11 % und die 4,72 % Zensiten über 3000 haben 77 % der Steuern aufgebracht. In Krefeld stellt sich die Sache so, daß 88 % von den Zensiten auf die drei untersten Steuerklassen ent⸗ fallen, 9 % auf die Steuerzahler bis 3000 und 3 % auf die Zensiten über 3000 In Solingen entfallen sogar 93 % aller Zensiten auf die untersten Steuerklassen, in Duisburg 91 % und in Essen auch 91 %.

Die Entwickelung eines stetigen Herabdrückens des Durchschnitts⸗ satzes ist in einzelnen Gemeinden auch thatsächlich ziffermäßig zu konstatieren gewesen. In Barmen ist der Durchschnitt im Jahre von 1892 bis 1899 von 62 auf 51 gefallen. (Hört! Hört!) In Krefeld von 68 auf 58, in Solingen von 43 auf 36, in Duis⸗ burg von 59 auf 49 Ein charakteristischer Fall hat sich in einer dieser Gemeinden ereignet. Dort war ein großer Strike. Die Fabrikanten behaupteten, ausreichende Löhne gezahlt zu haben; sie ver⸗ öffentlichten die Lohnlisten. Aus diesen ergab sich, daß die Arbeiter ein ausreichendes Einkommen gehabt haben und steuerpflichtig waren. Der findige Vorsitzende der Veranlagungskommission kriegte sie am Kanthaken und veranlagte eine Menge dieser Leute zur Einkommen⸗ steuer. Infolgedessen sank der Durchschnitt von 58 auf 48 in einem einzigen Jahre.

Nun bitte ich Sie, zu beachten, daß das schon sehr erhebliche Sinken des Durchschnitts erfolgt ist im Augenblick glänzender wirthschaft⸗ licher Konjunktur in den Landestheilen, von denen ich eben sprach, daß also die Ermäßigung der durchschnittlichen Steuerleistung durch den Hinzutritt neuer Zensiten aus den unteren Klassen paralysiert worden ist durch den Hinzutritt großer Ver⸗ mögen bei den oberen Zensiten. Nun bitte ich Sie, zu erwägen, welcher Entwickelung wir entgegengehen, wenn diese sünstigen wirth⸗ schaftlichen Momente wegfallen, wenn wir in der Industrie Zeiten wirthschaftlichen Rückgangs haben; dann fällt dieses ausgleichende Element der Vermögenszunahme bei den oberen Klassen weg, der Durchschnitt sinkt immer schneller und immer zahlreichere Elemente rücken aus den unteren Klassen in die oberen Klassen auf.

Wenn also das reine Durchschnittsprinzip eingeführt würde, so liegt die Gefahr vor, daß wir namentlich bei ungünstigen wirthschaft⸗ lichen Konjunkturen zu einem Wahlsystem kommen, das sich von der Ausgleichung der Verschiebung durch die Steuerreform völlig trennt, das geradezu die Grundlage unseres Kommunalwahlrechts, das Drei⸗ klassensystem, auf das schwerste zu gefährden geeignet ist. Auf diesem Gebiete, bei etwaigen Angriffen gegen die Grundlagen unseres Kom⸗ munalwahlrechts, werden Sie in der Staatsregterung nach wie vor einen entschlossenen Gegner finden.

Meine Herren, nun ist in der Presse namentlich der Vorwurf erhoben worden: es könne sich jetzt ja jede im Besitz befindliche Majorität einfach das System aussuchen, das ihr am bequemsten und sie am wenigsten in ihrem Besitzstande zu gefährden geeignet ist. Das ist natürlich nicht die Intention des Gesetzentwurfs, sondern es müssen die Kommunen, die das Recht haben, eine ortsstatutarische Regelung vorzunehmen, dasjenige Prinzip wählen, das die Ver⸗ schiebungen in den Wählerabtheilungen nach Möglichkeit auszugleichen geeignet ist. (Sehr gut!) Die großen Verschiebungen in den Wähler⸗ abtheilungen sind bekanntlich durch verschiedene Momente hervor⸗ gerufen. Zum großen Theil sind sie nicht auf die Steuerreform zurückzuführen, sondern auf den enormen Zuwachs an Vermögen in⸗ folge der günstigen wirthschaftlichen Lage in weiten Gebieten unseres Vaterlandes, namentlich in den Industriegebieten. Diesen Elementen das der gesteigerten Steuerleistung entsprechende Wahlrecht zu nehmen, kann nicht die Absicht sein und würde den Grund⸗ lagen unseres Dreiklassenwahlrechts nicht entsprechen. Soweit dagegen die veränderte Zusammensetzung der Wählerabthei⸗ lungen thatsächlich auf die Steuerreform zurückzuführen ist, müssen die Städte, wenn sie sich zu einer ortsstatutarischen Regelung entschließen, das System wählen, das diese Verschiebungen nach Mög⸗ lichkeit auszugleichen geeignet ist. Daß in dieser Beziehung keine Willkür herrscht, meine Herren, dafür sind die Aufsichtsinstanzen gegeben.

Wir haben in der Vorlage eine von den Bestimmungen des Landes⸗Verwaltungsgesetzes abweichende Regelung des Instanzenzuges derart vorgesehen, daß bei den Sachen, die in erster Instanz bei dem Kreisausschuß anhängig sind, die Beschwerde nicht an den Bezirks⸗ ausschuß, sondern an den Provinzialrath gehen soll, ebenso wie bei den Sachen, die schon in erster Instanz an den Bezirksausschuß kommen. Wir wollen so eine gewisse Einheitlichkeit herstellen und verhüten, daß in der Beschwerde⸗Instanz der eine Bezirksausschuß so und der andere so entscheidet. Nun ist der Provinzialrath aus freien Wahlen hervorgegangen; er besteht aus ganz unabhängigen und selbst⸗ ständigen Männern. Wir haben keinerlei Grund, irgendwie⸗ an⸗ zunehmen, daß der Provinzialrath dieser seiner Aufgabe nicht gewachsen sein wird.

Meine Herren, es war uns nahe gelegt, ob man nicht mit dem modi⸗ fizierten Durchschnitt noch weiter gehen möchte als die Vorlage. Diese er⸗ laubt bekanntlich nur eine Steigerung des Durchschnitts um 50 Prozent derart, daß, wenn der Durchschnittsbetrag z. B. 100 beträgt, eine Gemeinde beschließen kann, daß nur die Steuerzahler über 150 in die zweite Klasse einzurücken haben. Es war uns, wie gesagt, nahe gelegt, ob man nicht den Gemeinden in dieser Beziehung völlige Freiheit lassen sollte. Wir haben das abgelehnt, weil wir wünschen, nicht bloß den Schein, sondern das Sein zu bieten, eine wirkliche Reform in die Wege zu leiten. Wir haben infolge dessen die Frei⸗ heit der Gemeinden in dieser Beziehung in gewisser Weise begrenzt. Es ist ferner auch der Wunsch ausgesprochen worden, ob man nicht den Kommunen das Recht geben sollte, überhaupt bei dem gegenwärtigen Zustande zu bleiben da, wo eine erhebliche Verschiebung in der Zu⸗ sammensetzung der Wählerabtheilungen nicht stattgefunden habe. Es lassen sich gewisse Gründe für einen solchen Vorschlag anführen; denn die Wirkungen der Steuerreform sind ganz eigenthümliche gewesen. Wir haben in einer doch nicht ganz unerheblichen Anzahl von Gemeinden eine antiplutokratische Verschiebung zu konstatieren derart, daß die Zahl der höheren Wäblerabtheilungen nicht ab⸗, sondern zugenommen hat. Wir haben beispielsweise bei den Ge⸗ meinden mit über 10 000 Seelen von 144 Probegemeinden nicht wegiger als 9, bei denen die erste Klasse sogar eine Verstärkung erfahren hat. Es ist sehr eigenthümlich, daß beispiels⸗ weise in Essen, wo früher ein Steuerzahler die erste Klasse allein beherrschte, sie jetzt mit einer ganzen Anzahl anderer Zensiten theilen muß. Wir haben bei den kleineren Städten von 277 Probe⸗ gemeinden 17, bei denen die erste Klasse zugenommen, und 13, bei denen die zweite Klasse zugenommen hat. Wir haben bei 129 Land⸗ gemeinden 14, wo die erste Klasse zugenommen hat, und 17, wo die zweite Klasse zugenommen hat.

Wir haben aber auch diesen Vorschlag in den Gesetzentwurf nicht aufgenommen, um die Latitüde der Gemeinden nicht allzu sehr zu erweitern, um nicht dadurch neue Streitobjekte für die Gemeinde zu schaffen.

Meine Herren, ich habe hiermit die Gründe in Kürze dargelegt, die für die von uns vorgeschlagene Dreitheilung sprechen, daß also entweder das gesetzliche Durchschnittsprinzip oder das Zwölftelungs⸗ prinzip oder das modifizierte Durchschnittsprinzip in der Weise, wie ich es angedeutet habe, in Anwendung zu kommen hat.

Ich komme damit zu dem dritten Punkt meiner Ausführungen. So sehr wir den Wunsch haben, die Verschiebung in der Zusammen⸗ setzung der Wählerabtheilungen auszugleichen, so sehr haben wir den Wunsch, über dieses Ziel nicht hinauszugehen und die Grund⸗ lagen unseres kommunalen Wahlrechts, das Dreiklassenwahlsystem, nicht erschüttern zu lassen.

Wenn in der Presse diese drei Modalitäten, die wir vorgeschlagen haben, angegriffen worden sind, so habe ich vollkommen den Beweis vermißt, daß diese drei Modalitäten nicht die Verschiebung in der Zusammensetzung der Wählerabtheilungen auszugleichen geeignet wären. Nur dann würde ich die Vorwürfe als berechtigt bezeichnen können, wenn diese vorgeschlagenen Modalitäten nicht geeignet wären, die Verschiebungen auszugleichen. Ich glaube, dieser Vorwurf kann nicht erhoben und der Beweis dafür nicht erbracht werden. Wenn heftige Vorwürfe gegen diese Modalitäten erhoben worden sind, so richten sie sich im Grunde nicht gegen diese Vorschläge, sondern sie entspringen dem Wunsche, überhaupt an den Grundlagen unseres Wahlrechts zu rütteln, in der Hoffnung, daß, wenn der Thurm einen Stoß bekommen hat, er allmählich von selber umfallen wird. In dieser Beziehung wird man in der Staatsregierung stets einen entschiedenen Gegner finden.

Was die Verhütung einer weiteren Erschütterung unseres Wahl⸗ rechts betrifft, so ist von manchen Seiten gesagt worden, man solle in dieser Beziehung nicht so ängstlich sein, man solle das ruhig der Zukunft überlassen. Meine Herren, ich wage es nicht, die Sache auf diese leichte Achsel zu nehmen. Ich meine, hier ist die Staatsregierunz und das hohe Haus vor eine ganz außerordentlich schwere Verant⸗ wortung gestellt, denn es handelt sich hier um einen der Schritte im politischen Leben, die zu thun man sich zehnmal überlegen soll, die man aber, wenn sie mal gethan sind, nicht zurückthun kann. (Sehr richtig!) Deswegen ist jeder Schritt, den wir über die Aus⸗ gleichung der Verschiebungen hinaus thun, überaus bedenk⸗ lich, und wir sollen es uns, wie ich eben sagte, zehnmal überlegen, ob wir den Schritt thun wollen.

Wir sehen überhaupt in der letzten Zeit die alten Grundlagen des bürgerlichen Lebens mehr oder minder ins Wanken gerathen da⸗ durch, daß immer neue, nicht eingesessene Elemente hinzutreten, und wir leben vor allem in einer Zeit, in der die Sozialdemokratie es auf ihre Fahne geschrieben hat, sich allmählich der Kommunal⸗ vertretungen zu bemächtigen. (Sehr richtig!) Meine Herren, diesem Bestreben entgegenzutreten, halte ich für eine Pflicht der Staats⸗ regierung wie des hohen Hauses. (Sehr richtig!)

Meine Herren, ich glaube, man muß in diesem Falle, wie bei Beurtheilung der Sozialdemokratie überhaupt, unterscheiden zwischen den Verführern und der großen Menge der Verführten, die wohl ihre Stimmen sozialdemokratisch ab⸗ geben, aber darum im Grunde ihres Herzens doch noch nicht mit unseren ganzen Zuständen innerlich so zerfallen sind, daß sie nicht doch auf den Weg des Rechts zurückgebracht werden könnten. Sie haben sich verführen lassen durch die Phantasmagorien der Sozial⸗ demokratie und haben noch nicht erkannt, daß diese ihnen doch nur Steine statt Brot giebt. Dieser verführten Menge gegenüber sollen sich die bürgerlichen Klassen, sollen sich die Kommunen, soll sich der Staat nicht wankend machen lassen in dem warmherzigen und werk⸗ thätigen Eintreten, wie es bisher der Fall gewesen ist. Wenn die

bürgerlichen Klassen ihre Pflicht in der Beziehung thun, voranleuchten den arbeitenden Ständen durch eine christliche Lebensführung, durch Arbeitsamkeit, durch warmherziges Eintreten für die Nächsten, so werden die Arbeiter selbst bald wieder einsehen lernen, daß