1900 / 138 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 12 Jun 1900 18:00:01 GMT) scan diff

Bevollmächtigter zum Bundesrath, Gesandter der Freien und Hansestadt Lübeck Dr. Klügmann: Nachdem der Herr Staats⸗ sekretär des Reichs⸗Justizamts das Verhältniß der Lübecker Verordnung zu den Reichsgesetzen hier ausführlich dargelegt hat, habe ich nicht geglaubt meinerseits das Wort nehmen zu sollen trotz der mannigfachen Angriffe, die die Verordnung hier erfahren hat. Aber eine Aeußerung des Herrn Vorredners nöthigt mich, nun doch auf einige Augenblicke Ihre Aufmerksamkeit in An⸗ spruch zu nehmen. Er behauptete, die lübische Regierung habe nicht die Erklärung abgeben können, daß sie zum Erlaß dieser Verordnung durch Erfahrungen veranlaßt worden sei, die in erregten Zeiten in Lübeck über das Strikepostenstehen gemacht worden seien. Ungern gehe ich auf die Denkschrift zurück, die vor einem Jahre vorgelegt worden ist; aber wenn Sie sie ansehen, werden Sie eine Reihe von Fällen finden, die gerade in Lübeck vorgekommen sind, und zu schweren Bestrafungen geführt haben. Und diese Fälle sind es, die schon seit längerer Zeit den Senat bewogen haben, in Be⸗ dacht zu nehmen, dem Strikepostenstehen ein Ende zu machen. (Aha! bei den Sozialdemokraten.) Ja wohl! Das wurde ja eben bestritten von dem Herrn Vorredner, und um das zu konstatieren, habe ich das Wort genommen. Es liegt in der That nicht so, daß infolge der Verhandlungen, die hier stattgefunden haben, der Senat in Lübeck auf den Gedanken gekommen ist, eine solche Verordnung zu erlassen; er hatte das schon im voraus in Aussicht genommen und wartete nur das Ergebniß der Verhandlungen hier im Reichstage ab. Nun muß ich sagen: wie die Theorie aufkommen kann, daß die Gesetzgebung es handelt sich übrigens ja nur um eine Polizeiverordnung —, daß das Polizeiverordnungsrecht in den Einzelstaaten dadurch lahm gelegt werden soll, daß über denselben Gegenstand hier im Reichstage kein Be⸗ schluß zu stande kommt, das verstehe ich garnicht. Sie würden ja die Gesetzgebung in den Einzelstaaten brach legen können dadurch, daß Sie hier einen Antrag im Reichstage beschließen, den der Bundes⸗ rath nicht annimmt, und damit wäre die Sache für die Ces ebgebnng der Partikularstaaten ein für alle mal erledigt. Darauf können si die Bundesstaaten auf keinen Fall einlassen. Ich darf noch Eins versichern: hätte der Senat die Ueberzeugung gehabt, daß das Koaälitionsrecht der Arbeiter geschädigt oder gar, wie es heißt, ihm ins Gesicht geschlagen werde durch diese Verord nung, so hätte er sie nicht erlassen. Es ist in der That eine Uebertreibung, eine Behauptung, die nicht aufrecht erhalten werden kann, daß das Koalitionsrecht der Arbeiter, welches ja reichsgesetzlich ge⸗ sichert ist (lebhafte Zwischenrufe von den Sozialdemokraten), ebenso wie auch die Strikes auch diese sind reichs⸗ gesetzlich gesichert —, daß die Strikes nicht durchgeführt werden könnten ohne Strikepostenstehen. (Zurufe.) Jawohl, das ist be⸗ hauptet worden. (Glocke des Präsidenten.) Ich kann Ihnen einfach mittheilen, daß seit der Verordnung mehrere Strikes in Lübeck durch⸗ geführt worden sind ohne Strikepostensteben. Also, wie wollen Sie behaupten, es sei unmöglich, wie vorhin gesagt wurde, einen Strike durch⸗ zuführen ohne Strikepostenstehen? 2 die Arbeiter das wirklich nicht vermocht, so würden sie zweifellos, wie sie das in anderen Fällen gemacht haben, die gerichtliche Hilfe gegen ein nach ihrer Meinung den Reichsgesetzen widersprechendes Gesetz in Anspruch genommen haben. Nichts von alledem ist geschehen, sondern sie haben das Strikepostenstehen unterlassen, weil sie es nicht nöthig hatten. (Zurufe.) Ja wohl, nur deshalb! Also, es ist völlig un⸗ berechtigt, zu behaupten, ohne Postenstehen seien Arbeitseinstellungen überhaupt nicht möglich. Das Gegentheil ist ja auch ganz natürlich. In keinem Berufsstande ist der Verkehr unter den Genossen so leicht wie unter den Arbeitern. In den Werkstätten, auf den Straßen, von Haus zu Haus treffen sie sich täglich und sehen sich. Ebenso auch von Ort zu Ort, durch ihre Agenten, durch ihre Agitatoren, durch die Fachgenossen, die Zeitungen u. s. w. Da brauchen sie nicht dieses äußerlich hervortretende, den Strike auf⸗ fällig und störend dokumentierende Strikepostenstehen. Der lübische Senat ist gewiß nicht die letzte Regierung, die erkennt, daß soziale Reformen infolge der großen Umgestaltungen unseres wirthschaftlichen Lebens erforderlich sind. Lübeck ist in vielen Beziehungen vorangegangen mit sozialen Einrichtungen. Das Gewerbegericht besteht in Lübeck seit 1878, lange bevor das Reich sich der Sache annahm; wir haben Dienstbotenkrankenkassen nach den Normen der Arbeiterversicherung längst eingerichtet. In der der Arbeiterwohnungen liegt ähnlich wie in Hamburg augenblicklich ein Gesetzentwurf den gesetzgebenden Körperschaften in Lübeck vor. Alle diese und andere Reformen setzen die Uebereinstimmung sämmt⸗ licher Bevölkerungsklassen voraus, denen sie auch Opfer auf⸗ erlegen. Der gute Wille bei den übrigen Gesellschaftsklassen ist aber nur zu erreichen, wenn dem Hinaustreten des wirth⸗ schaftlichen Kampfes auf die Straße, welches hauptsächlich die Gesell⸗ schaftsklassen gegen einander erbintert, Einhalt geschieht. Ich darf sagen, daß die neueren Strikes, welche sich in Lübeck abgespielt haben, sich sehr viel ruhiger abgewickelt haben als früher zweifellos doch ein Vortheil für alle Betheiligten! Ich kann auch versichern, daß das gegenseitige Verhältniß der Organe der Polizeiverwaltung und der Arbeiter infolge dieser Verordnung durchaus nicht gelitten hat.

Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Staats⸗Minister Graf von Bülow:

Meine Herren! Es ist im Laufe der Diskussion eine italienische Publikation zur Sprache gebracht worden, welche vor der Auswande⸗ rung nach Deutschland warnt. Ich möchte zunächst konstatieren, daß es sich nicht um einen amtlichen Erlaß, nicht um ein amtliches Zirkular handelt, sondern um eine Notiz, die in einer italienischen Zeitschrift erschienen ist, die etwa den Charakter trägt der bei uns im Reichsamt des Innern erscheinenden „Nachrichten für Handel und Industrie.“

Eine Reihe fremder Staaten legt das Bestreben an den Tag, ihre Arbeiter abzuhalten, nach Ländern auszuwandern, wo sie lohnendere Arbeitsbedingungen finden. Zu den Mittelv, die Aus⸗ wanderung zu verhüten, gehört auch, Nachrichten einzuziehen über Arbeits⸗ und Lebensverhältnisse in den fremden Ländern und solche Nachrichten, wenn sie ungünstig lauten, der Oecffentlichkeit zu⸗ gänglich zu machen. In dem vorliegenden Falle ist die italienische Regierung von ihrem Agenten offenbar irthümlich informiert worden. (Zurufe von den Sozialdemokraten) Ich habe nicht unterlassen, diesen falschen Behauptungen in geeigneter Weise entgegenzutreten und bin nach Möglichkeit bemüht gewesen, derartige irrige Vorstellungen zu beseitigen. (Bravol! rechts. Zurufe bei den Sozialdemokraten.)

Bevollmächtigter zum Bundesrath, Großherzoglich sächsischer Ge⸗ heimer Legationsrath Dr. Paulßen: Meine Herren, wenn etwas geeignet ist, den Beweis zu erbringen, wie schwer es ist, darzulegen, daß die hier angefochtenen Gesetze gegen die Reichsgesetze verstoßen, so ist es die Verschiedenheit der Begründung und die Verschiedenheit der Bestimmungen, die hier von den einzelnen Rednern für ihre Meinung angezogen worden sind. Ich will nicht auf diese einzelnen Gesichtspunkte, die hier in Betracht kommen, eingehen, ich habe in dieser Hinsicht mich allenthalben den Ausführungen des Herrn Staatssekretärs des Reichs⸗Justizamts anzuschließen. Denn die reußische Regierung steht vollständig auf diesem Standpunkte. Ich möchte nur auf einen Gesichtspunkt noch hinweisen. Ich muß der Behauptung enlschieden widersprechen, als sei es ein illoyales mse, wer. einzelner Bundesstaaten, wenn sie mit ihrer Gesetzgebung in die hier behandelte Materie des Bruchs des Kontraktverhältnisses ländlicher Arbeiter gegenüber ihren Arbeitgebern eingreifen. Diese Materie ist von der Reichsgesetzgebung noch nicht ergriffen worden. Bekanntlich regelt das Verhältniß der gewerblichen Arbeiter zu ihren Arbeit⸗ gebern die Gewerbeordnung, ebenso das Verhältniß der Hand⸗ lungsangestellten zu ihren Prinzipalen das Handelsgesetzbuch. Für die Verhältnisse der landwirthschaftlichen Arbeiter gegenuüber ihren Arbeitgebern besteht ein entsprechendes Reichsgesetz nicht.

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Soweit das Bürgerliche Gesetzbuch zivilrechtliche Bestimmungen ent⸗ hält, die hier Bezug haben, ist es in dem hier behandelten Falle respektiert. Es ist von niemandem behauptet worden, daß das vor⸗ liegende Gesetz gegen die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs verstößt. Da also ein Gesetz, welches die Verhältnisse der landwirth⸗ schaftlichen Arbeiter zu ihren Arbeitgebern regelt, nicht besteht, ist die Landesgesetzgebung mit vollem Fug berechtigt, auf diesem Gebiet ein⸗ zugreifen, wenn die gesetzgebenden Korporationen dieses Bedürfniß für vorliegend erachten. So hat der Staat Reuß j. L. verfahren. Ich glaube, daß Einwendungen dagegen nicht zu erheben sind.

Abg. Schwartz⸗Lübeck (Soz.): Der Lübecker Senat hat im Einverständniß mit den Lübecker Industriellen diese Verordnung er⸗ lassen; gleichzeitig sind durch Uriasbriefe die Arbeiter, welche sich bei Strikebewegungen in erster Linie betheiligt hatten, in ganz Deutsch⸗ land arbeitslos gemacht worden. An den Ausschreitungen, die früher stattgefunden haben, sind die Unternehmer selbst Schuld gewesen, denn sie hatten die Arbeitswilligen mit Knütteln und Revolvern bewaffnet, und daraus sind die blutigen Zusammenstöße entstanden, von denen hier lißt Gebrauch gemacht wird.

Abg. Dr. Roesicke⸗Kaiserslautern (b. k. F.) tritt den Aus⸗ fällen, welche der Abg. Stadthagen auf die kontraktbrüchigen Arbeit⸗ geber gemacht habe, entgegen. Man sei nicht sowohl berechtigt, von einer Sklaverei der Arbeiter, sondern der Arbeitgeber zu sprechen, in der sie sich namentlich zur Zeit der Erntearbeiten befänden. Der landwirthschaftliche Arbeitgeber verdiene die absprechende Beurtheilung nicht. die Herr Stadtbagen ihm angedeihen ließe. Im weiteren nimmt Redner den Abg. Freiherrn von Wangenheim, welchen der Abg. Stadthagen angegriffen hatte, in Schutz. Für den ländlichen Arbeiter seien die Naturallöhne eine Wohl⸗ that, die man ihnen von der linken Seite doch nicht verärgern sollte; wenn die ländlichen Arbeiter sich lediglich auf die Geldlöhne an⸗ gewiesen sähen, würden sie erst merken, was ihnen mit den Natural⸗ löhnen entgehe. Man sollte also die ländlichen Arbeiter nicht auf diese illoyale Weise unzufrieden zu machen sich bestreben. Auch er gönne den ländlichen Arbeitern ganz gewiß die hohen Löhne wie den industriellen Arbeitern, aber dazu gehöre auch, daß man die ländlichen Arbeitgeber in den Stand setze, diese Löhne zu zahlen. Die Industrie aber verlange billige Nahrungsmittel, und damit werde dem Land⸗ wirth die Möglichkeit entzogen, seine Arbeiter besser zu entlohnen.

Aba. Baudert (Soz.): Die Erörterung hat ergeben, daß man thatsächlich in den Einzelstaaten darauf ausgeht, durch Partikular⸗ gesetze zu erreichen, was vom Reichstage durch die Arbeitswilligen⸗ vorlage nicht zu erreichen war. Auch in Sachsen⸗Weimar wird ähnliches geplant, nur will man das Vorgehen Preußens abwarten.

Damit schließt die Besprechung. Nach einer persönlichen Bemerkung des Abg. Stadthagen wird der Gegenstand verlassen.

Darauf tritt das Haus in die zweite Lesung des Gesetz⸗ entwurfs, betreffend die Bekämpfung gemein⸗ gefährlicher Krankheiten, ein.

Referent ist der Abg. Dr. En demann (nl.).

Zu § 5 (Fortdauer der Geltung der landesrechtlichen Be⸗ stimmungen über die Anzeigepflicht) liegt ein Amendement des Abg. Dr. Böckel (b. k. F.) vor. Der Antragsteller ist nicht anwesend. § 5 wird ohne Debatte unverändert an⸗ genommen. G 14 besagt nach den Kommissionsbeschlüssen:

Für kranke und krankheits⸗ oder ansteckungsverdächtige Personen kann eine Absonderung angeordnet werden.

Die Absonderung kranker Personen hat derart zu erfolgen, daß der Kranke mit anderen als den zu seiner Pflege bestimmten Per⸗ sonen, dem Arzte oder dem Seelsorger, nicht in Berührung kommt, und eine Verbreitung der Krankheit tbunlichst ausgeschlossen ist. Werden auf Erfordern der Polizeibehörde in der Behausung des Kranken die nach dem Gutachten des beamteten Arztes zu diesem Zwecke nothwendigen Einrichtungen nicht getroffen, so kann, falls der beamtete Arzt es für unerläßlich und ohne Schädigung des Kranken für zulässig erklärt, die Ueberführung des Kranken in ein geeignetes Krankenhaus oder in einen anderen geeigneten Unterkunfts⸗ raum angeordnet werden. 1

Auf die Absonderung verdächtiger Personen findet Vorstehendes Anwendung. Jedoch dürfen verdächtige Personen nicht in demselben Raum mit Kranken untergebracht werden. Ansteckungsverdächtige Personen dürfen in demselben Raum mit krankheitsverdächtigen Personen nur untergebracht werden, soweit der beamtete Arzt es für zulässia hält. Wohnungen oder Häuser, in welchen erkrankte Personen sich befinden, können kenntlich gemacht werden. Für das berufsmäßige Pflegepersonal können Verkehrsbeschränkungen an⸗ geordnet werden. .

Abg. Wurm (Soz.) befürwortet einen Antrag, auch dem be⸗ 11”.ee Arzte, dem Vertrauensmann des Kranken, den Zutritt zu gewähren.

Abg. Rembold (Zentr.) wünscht einen Zusatz, wonach An⸗ gehörigen und Urkundspersonen, soweit es zur Erledigung wichtiger und dringender Angelegenheiten geboten sei, der Zutritt unter Be⸗ obachtung der erforderlichen Maßregeln gegen eine Weiterverbreitung der Krankheit gestattet sein solle

Abg. Reißhaus (Soz.) hat einen Zusatz beantragt, wonach durch die Isolierung des Kranken ein Zwang auf die von ihm ge⸗ wünschte Heilmethode nicht ausgeübt werden dürfe.

Abg. Antrick (Soz.) lenkt die Aufmerksamkeit des Hauses auf verschiedene Uebelstände in den Krankenhäusern, welche die Vorstände nicht beseitigen könnten, weil es ihnen an den geeigneten Mitteln fehle zur Kontrole des Wärterpersonals. Sogar in Anstalten wie der Charité herrschten bedenkliche Mißstände. Ganz unkundige Wärter würden angestellt. Es sei vorgekommen, daß die Wärter selber krank, sogar mit einer ansteckenden Krankheit behaftet gewesen seien, sie hätten mitunter einen achtzehnstündigen, fast ununterbrochenen Dienst. Kranke seien gestorben, ohne daß der Wärter es bemerkt habe. Die gelernten Wärter erhielten neben freier Kost und Woh⸗ nung nur 21 ℳ, nicht etwa wöchentlich, sondern monatlich. Die Arbeiter hätten einen wahren Widerwillen gegen die Krankenhausbehandlung der Charité nicht allein, sondern auch vieler anderer Krankenhäuser.

Abg. Prinz zu chönaich⸗Carolath (nl.) tritt dieser Schilderung entgegen und fordert die Angabe der Krankenhäuser, wo solche himmelschreienden Mißstände herrschten. Die deutschen Kranken⸗ häuser seien ollen ausländischen Krankenhäusern überlegen. Sollten aber solche Zustände irgendwo vorhanden sein, so müsse Remedur ein⸗ treten. Vereinzelte Ausnahmen kämen nicht in Betracht

Abg. Reißhaus: Um Ausnahmen handelt es sich nicht. Die Zustände in Erfurt sind ebenfalls schlimm genug.

Präsident des Kaiserlichen Gesundheitsamts Dr. Köhler: Nur durch eine ausreichende Isolierung der Kranken kann der Zweck des Gesetzes durchgeführt werden. Dieser Zweck sollte nicht abgeschwächt werden, wie es die Anträge wollen. Die Mängel einzelner Kranken⸗ häuser sollen nicht bestritten werden, wir werden den Anschuldigungen nochgehen und prüfen, ob sie begründet sind; zur Zeit muß ich sie als mindestens übertrieben bezeichnen.

Gebheimer Medizinalrath im Kaiserlichen Gesundheitsamt Dr. von Kirchner stellt die Behauptungen der soztaldemokcatischen Redner in Bezug auf die Krankenhäuser richtig.

Abg. Dr. Müller⸗Sagan (fr. Volksp.) weist den von sozial⸗ demokratischer Seite erhobenen Vorwurf, daß das Verfahren des Pro⸗ fessor Neißer in Breslau verbrecherisch gewesen sei, zurück.

Der Antrag Rembold wird angenommen und mit einer geringfügigen weiteren, vom Abg. Baudert beantragten Aenderung der ganze § 14 nach Ablehnung der anderen Anträge.

Der Rest des Gesetzes wird nach unerheblicher Debatte angenommen, ebenso die Resolution wegen Einführung einer allgemeinen obligatorischen Leichenschau.

Schluß 8 ¾ Uhr. Nächste Situng Dienstag 11 Uhr. (Dritte Lesung der Deckungsvorlagen und der Flottenvorlage des Reichs⸗Seuchengesetzes; kleinere Vorlagen.)

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Preußischer Landtag. Herrenhaus.

12. Sitzung vom 11. Juni 1900, 2 Uhr. Der Präsident begrüßt das neu berufene und eingetretene Mitglied Herrn von Zitzewitz und theilt u. a. mit, daß dem Hause von Below das Präsentationsrecht eingeräumt

worden ist.

Zur Berathung steht zunächst der in abgeänderter Fassung vom Abgeordnetenhause zurückgelangte Gesetzentwurf über die Zwangserziehung Minderjähriger.

Berichterstatter Ober⸗Bürgermeister Giese empfiehlt nameng der IX. Kommission die unveränderte Annahme des Gesetzes in der Fassung des Abgeordnetenhauses, obwohl die Abänderungen des Ab⸗ geordnetenhauses nicht durchweg Verbesserungen seien. Zu den Aenderungen gehöre außer der Ueberschrift u. s. w., in der es statt „Zwangserziehung“ „Fürsorgeerziehung“ heißen solle, die in § 10, wo entgegen dem Beschlusse des Herrenhauses die ursprüngliche Re⸗ . wiederhergestellt worden sei, nach der die Zöglinge in Arbeitshäusern und Landarmenhäusern nicht untergebracht werden dürften. Die Kommission habe sich aber um so mehr dabei beruhigen können, als der Minister des Innern eine zufriedeastellende Erklärung abgegeben habe. 8

Minister des Innern Freiherr von Rheinbaben:

Meine Herren, ich bitte um die Erlaubniß, mich nur kurz zu dem von dem Herrn Referenten behandelten § 10 äußern zu dürfen. Das Abgeordnetenhaus hat hinsichtlich des § 10 die Fassung der Regie⸗ rungsvorlage wiederhergestellt. Der § 10 enthält also die positive Bestimmung, daß die Zöglinge nicht in Arbeitshäusern und Land⸗ armenhäusern untergebracht werden dürfen, wenn sie das schulpflichtige Alter zurückgelegt haben. Der Herr Referent hat aber meines Er⸗ achtens vollständig zutreffend hervorgehoben, daß das nur eine schein⸗ bare materielle Aenderung der Beschlüsse des Herrenhauses ist. Meine Herren, was bezwecken wir mit dem ganzen Para⸗ graphen? Wir bezwecken, diejenigen jugendlichen Elemente, die infolge eigener verderblicher Anlagen oder infolge der ungünstigen Einwirkung ihrer Eltern oder der sonstigen Verhältnisse, in denen sie aufwachsen, der Gefahr der Verderbung ausgesetzt sind, dieser Gefahr zu entreißen, ihnen der Religion wieder ans Herz zu führen, die Schule auf sie wirken zu lassen und ihnen, soweit er⸗ forderlich, eine feste und gedeihliche Erziehung zu geben. Soweit also eine Anstaltserziehung erfolgt und die Kinder nicht in Familien unter⸗ gebracht werden, muß dieser Gesichtspunkt der maßgebende für die Erziehung sein. Es würde infolgedessen unzulänglich sein, einzelne dieser jugendlichen Elemente mit den in Landarmenhäusern detinierten oder in Arbeits⸗ häusern untergebrachten zusammenzubringen, denn für diese Anstalten sind eben nicht die maßgebenden Gesichtspunkte der Erziehung aus⸗ schlaggebend, sondern entweder die bloße Versorgung der Armen in Arbeitshäusern oder die Bestrafung der Korrektionellen. Es würde also unzulässig sein, eine derartige Vermischung vorzunehmen und die in den verschiedenen Anstalten Befindlichen gemeinsam zur Arbeit zu bringen oder durch dasselbe Aufsichtspersonal beaufsichtigen zu lassen. Aber ich stimme dem Herrn Referenten darin bei und darüber bestand auch im Abgeordnetenhause kein Zweifel bei den Mehrheits⸗ parteien —, daß der Wortlaut des § 10 keine Anwendung figpet, wenn die Fälle so liegen, wie sie der Herr Referent dargelegt hat. Wenn beispielsweise in einer Arbeitsanstalt ein leerstehender Flügel ist, der durch eine besondere Mauer vollständig von der alten Anstalt abgetrennt ist, so daß, wenn ich so sagen darf, ein Durcheinanderlaufen der Fürsorgezöglinge und der Korrigenden ausgeschlossen ist, so sehe ich keinen Grund, warum in diesem Falle der leerstehende Flügel nicht zur Unterbringung von Fürsorgezöglingen Verwendung finden soll, denn dann sind sie ja nicht im Arbeitshause, sondern in einem besonderen, selbständigen Gebäude untergebracht. Aehnlich würde die Sache liegen, wenn eine Provinz ein Gut gekauft hat und auf einem leerstehenden Vorwerke die Fürsorgezöglinge unterbringen will. In beiden Fällen findet eine Vermischung der Zöglinge mit den Korrigenden nicht statt, die wir ja auch unter allen Umständen verhüten wollen, und so liegt kein Grund vor, weshalb diese Baulichkeiten nicht zu Zwecken der Fürsorgeerziehung verwendet werden sollten. Ich erkläre, daß ich sogar noch einen Schritt weiter gehe, nämlich, daß ich auch keinen Hinderungsgrund für eine gewisse gemeinschaftliche ökonomische Ver⸗ waltung sehe, derartig, daß manche Bedarfsartikel gemeinsam bezogen werden und der Absatz gewisser Produkte gemeinsam erfolgt, und ich gebe auch noch eine dritte Erklärung ab, daß mir auch kein Hirn⸗ derungsgrund vorzuliegen scheint für eine Generalverwaltung mit einer einheitlichen Spitze und Oberleitung. Aber daran halte ich fest, und darüber bestand auch in der Kommission des Abgeordneten⸗ hauses kein Zweifel, daß das Arbeitspersonal für die Korri⸗ genden nicht zur Fürsorgeerziehung verwendet werden darf. Denn die Fürsorgezöglinge sollen erzogen und nicht nach den für die Korrigendenanstalten maßgebenden Gesichtspunkten behandelt werden.

Ich glaube also, meine Herren, daß der Herr Referent recht

hat, wenn er sagt, daß hier nur ein scheinbarer und nicht ein

materieller Widerspruch vorhanden ist, und deshalb würde ich Sie bitten, den Beschlüssen, wie sie vom Abgeordnetenhause an und gelangt sind, Ihre Sanktion zu geben, und damit das wichtige Gesetz zum Abschluß zu bringen, das, wie wir alle hoffen, einem tief⸗ empfundenen und schweren Mißstande in unserem Vaterlande Abhilfe zu bringen geeignet ist. (Bravo!)

Ober⸗Bürgermeister Struckmann kann sich dieser Interpretation des Ministers nicht anschließen. Sie weiche ab von den Intentionen des Abgeordnetenhauses, und es werde der Anschein erweckt, als ob der andere Faktor der Gesetzgebung sich geirrt habe. Es wäre nicht wünschenswerth, wenn es üblich würde, hinterher solche Interpretationen zuzulassen. Auch der Wortlaut des Paragraphen widerspreche dieser Interpretation. Das Abgeordnetenhaus habe also keineswegs das⸗ selbe beschlossen wie das Herrenhaus. Dagegen ließe sich ja nichts einwenden, daß eine Korrigendenanstalt ihre zur Verfügung stehenden Gebäude zur Unterbringung der Fürsorgesöalinge verwende, aber die Leitung müsse jedenfalls eine gesonderte sein; denn der Geist, der von oben her in eine solche Anstalt gebracht werde, sei die Hauptsache⸗ Dieser Geist müsse ein erziehlicher sein, nicht ein militärtscher. v dürften da nicht mitspielen.

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

sitten.

für eine Verschlechterung im Sinne des Herrn Struckmann.

Freiherr von Manteuffel erkennt on, daß das Abgeordneten⸗ haus die Vorlage in einigen Punkten verbessert habe. Die Abänderung von „Zwangserziehung“ in „Fürsorgeerziehung“ sei im höchsten Grade geschmacklos; tröstlich sei es aber, daß das Volk stets Zwangserziehung sagen werde. Das Herrenhaus habe den Zwang gegen die Eltern durch⸗ aus gewollt. Indessen müsse er auch vom Herrenhause sagen: Der Klügere giebt nach. In Bezug auf § 10 habe das Herrenhaus nur bestimmter gesagt, was vom Abgeordnetenhause gemeint sei. Man könne sich auf die Interpretation des Ministers in Zukunft berufen, und damit sei der Sache gedient. Die Bedenken des Herrn Struck⸗ mann gegen die einheitliche Oberleitung seien unbegründet. Für die Korrigendenanstalt werde ein technischer Direktor vorhanden sein. Diesem könne doch der Leiter der Fürsorgeanstalt, ein Geistlicher oder Pädagoge, unterstellt sein, ohne daß seine Zöglinge darunter Schaden 8

Damit schließt die allgemeine Besprechung.

In der Einzelberathung verwahrt sich h“

Ober⸗Bürgermeister Struckmann gegen den Schluß des Be⸗ richterstatters, daß er mit seinem Widerspruch gegen § 10 allein stehe. Im Abgeordnetenhause habe Abg. von Zedlitz dem Minister bestritten, daß die Fassung des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses nur redaktionell verschieden sei.

Herr von Levetzow hält die Aenderung des Abgeordnetenhauses Durch die Erklärung des Ministers sei aber die Fassung des Abgeordneten⸗ hauses ungefährlich geworden.

10 wird unverändert in der Fassung des Abgeordneten⸗ hauses angenommen, ebenso der Rest des Gesetzes und das Gesetz im Ganzen einstimmig.

Es folgt der mündliche Bericht der X. Kommission über den Gesetzentwurf, betreffend die Bildung der Wähler⸗ abtheilungen bei den Gemeindewahlen.

Berichterstatter Graf Botho zu Eulenburg empfiehlt namens der Kommission die unveränderte Annahme des Gesetzentwurfs in der Fassung des Abgeordnetenhausts. 8

Wie in der Kommission wird auch im Plenum die Dis⸗ kussion über die §§ 1 und 5 bezw. 2, 3 und 4 verbunden.

Die Ober⸗Bürgermeister Becker und Marx wollen dem §92 folgende Fassung geben:

In den vach der jedesmaligen Volkszählung mehr als 10 000 Einwohner zählenden Gemeinden werden die Wählerabtheilungen derart gebildet, daß auf die erste Abtheilung 512, auf die zweite Abtheilung 1⁄12, auf die dritte Abtheilung 12 der Gesammtsumme der im § 1 bezeichneten Steuerbeträge aller Wähler fallen, eine höhere Abtheilung aber nicht mehr Wähler zählen darf als eine niedere.

Ferner beantragen sie, die §§ 3 und 4 zu streichen; eventuell wollen sie in den §§ 2 bis 4 die Drittelung so ändern, daß ent⸗ weder jeder Wähler, dessen Steuerbetrag den auf einen Wähler ent⸗ fallenden durchschnittlichen Steuerbetrag übersteigt, stets der zweiten oder der ersten Abtheilung zugewiesen wird; bei Berechnung des durchschnittlichen Steuerbetrags sind die Wähler, die zur Staatseinkommensteuer nicht veranlagt sind, und wo das Wahlrecht an einen Einkommensteuersatz von 6 geknüpft ist, auch die zu diesem Satze ver⸗ anlagten Wähler, sowie die Steuer, mit welcher dieselben in die Wählerliste eingetragen sind, außer Betracht zu lassen; oder daß bei der Bildung der Wählerabtheilungen an Stelle des auf einen Wäbler entfallenden durschnittlichen Steuerbetrages ein den Durch⸗ schnitt bis zur Hälfte desselben übersteigender Betrag tritt; oder daß auf die erste Wählerabtheilung ¼⁄12, auf die zweite Ab⸗ theilung ½12, auf die dritte Abtheilung 3⁄1⁄2 der Gesammtsumme der im § 1 bezeichneten Steuerbeträge aller Wähler fallen, eine Abtheilung aber nicht mehr Wähler zählen darf als eine niedere.

Wieiter beantragen sie zu § 3, daß die Wahl zwischen den im § 2 zugelassenen drei Wahlsystemen in den betreffenden Gemeinden durch Ortsstatut erfolgen soll. Im § 4 wollen sie Oetsstatute nur im 1., 11., 21,. und ff. Jahre abändern oder aufheben lassen. Die Einführung, Abänderung oder Aufhebung der Ortsstatute soll der Bestätigung, und zwar in Landgemeinden durch den Kreisausschuß, in Stadtgemeinden durch den Bezirksausschuß, unterliegen.

Im Falle der Ablehnung auch dieser Fassung beantragen die Herren: Zur Beschlußfassung über die erste Einführung der Orts⸗ stitute genügt die Mehrheit, zur Abänderung oder Aufhebung der Ortsstatute bedarf es aber in der Gemeindevertretung der Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Stimmberechtigten. Ober⸗Bürgermeister Becker hält es für nothwendig, seinen ab⸗

weichenden Standpunkt trotz der Aussichtslosigkeit zu vertreten. Das Durchschnittsprinzip sei für die Wählereintdeilung so ungeeignet wie möͤglsch. Bedenklich sei es auch, der Gemeinde durch Orksstatut das Recht zu geben, das Wahlsystem zu ändern. Es werde dadurch eine sehr bedenkliche Bewegung in die Gemeinden eingeführt. Die Zweidrittel⸗ Majorität widerspreche der Städteordnung. Man wolle dadurch mehr Ruhe schaffen. Warum lasse man aber dann nichkt den 10 jährigen Zwischenraum zu? In Gemeinden, wo die Zweidrittel⸗Majorität schwankend sei, könne in jedem Jahr eine Aenderung eintreten. Dazu komme dann noch das modifizierte Durchschnittsprinzip alles Aus⸗ nahmen, die die Regel kaum noch erkennen ließen. Die vorgesehenen Kautelen machten eben die Sache noch bedenklicher. Beim Zwölftelungssystem dagegen bedürfe es keiner Kautelen, unter ihm würden in den Gemeinden Ruhe und Frieden herrschen. Solange man das Dreiklassensystem aufrecht erhalte, könne man gegen das Zwölftel ungssyftem ebenso wenig etwas einwenden wie gegen das Drittelungssystem. Dieses wirke nur etwas zu sehr in Gegenden mit industrieller Bepölkerung. Es kämen in die zweite Klasse bessere Arbetter, Werfmeister u. s. w. Sei das aber ein Nachtheil im Interesse des Mittelstandes? Die Stntistik lasse sich für beide Systeme verwerthen; man sollte doch nicht nach der Schablone vorgehen. Deshalb hielten seine Freunde nach wie vor das Zwölftelungssystem für das beste. In der Kommission sei sen Hauptantrag mit 9 gegen 6 Stimmen, die von den Ver⸗ retern der Städte ausgingen, abgelehnt worden. Er habe 8 erwartet, daß wenigstens seine Unteranträge angenommen werden sinden, die sich auf den Boden der Beschlüsse der Mehrbeit stellten. 1 aarum solle die Mehrheit zur Beschlußfassung über die erste Einfüh⸗ 2 der Ortsstatute nicht genügen? Mit demselben Rechte könne Eim die †.Mehrheit auch vom Herrenhause verlangen. Er habe den ndruck, daß das Gesetz noch andere Absichten habe, mit denen er apathisiere, die aber an anderem Orte verfolgt werden könnten. Iet Berichterstatter Graf Eulenburg habe früher als Minister das

lftelungssystem vertreten.

Minister des Innern Freiherr von Rheinbaben: g Meine Herren! Ich muß zunächst einen Ausdruck, den der Herr eh-g. bei seinen letzten Ausführungen gebraucht hat, mit Be⸗ eange. nes zurückweisen. Er hat gemeint, es handle sich nicht um eine objektive Gesetzgebung. Meine Herren, ich betone ausdrücklich,

Zweite Beilage s⸗Anzeiger und Köni

Berlin, Dienstag, den 12. Jun

für die Staatsregierung handelt es sich um eine sehr objektive Gesetz⸗ gebung. Es handelt sich um die Einlösung eines Versprechens, welches die Staatsregierung wiederholt in feierlichster Weise gegeben hat; es handelt sich darum, ein Ziel zu erreichen, das das Abgeordneten⸗ haus sowohl wie dieses Haus stets als ein berechtigtes anerkannt hat, nämlich den mittleren Ständen unseres Volkes das Maß an Wahlrecht wieder einzuräumen, das ihnen vor der Steuerreform zustand und nur unter dem Einfluß dieser Reform genommen worden ist.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß, wenn wir nicht die Auswüchse des Dreiklassenwahlsystems beseitigen, wir dadurch die Axt an die Wurzel dieses Wahlsystems legen; will man es erhalten, so ist es durchaus nothwendig, diese Auswüchse, die sich unter dem Ein⸗ fluß der Steuerreform herausgebildet haben, zu beseitigen.

Wie man sie beseitigt, darüber, fürchte ich, werde ich mich mit dem Herrn Vorredner nicht verständigen können. Das Kind seiner Muse ist nun einmal das Zwölftelungssystem, während wir uns für das Durch⸗ schnittssystem entschieden haben. Der Herr Ober⸗Bürgermeister hat aber am Eingange seiner Ausführungen über die beiden Systeme als Kardinalfehler des Gesetzes es bezeichnet, daß es überhaupt eine orts⸗ statutarische Regelung des Gemeindewahlrechts zuließe. Ja, ich ver⸗ kenne nicht, daß die ortsstatutarische Regelung ihr Mißliches bei einer so wichtigen Angelegenheit hat; aber ich meine, man soll die Dinge auch nicht allzu schwarz darstellen. Ich erwähne in dieser Beziehung einmal, daß wir z. B. in der Hannoverschen Landgemeindeordnung nur ganz wenige generelle Grundsätze haben für die Bildung des Wahlsystems, daß im übrigen die Gemeinden vollständig in der Lage sind, sich das Wahlsystem, was ihnen als das zweckmäßigste und für ihre Verhältnisse passendste erscheint, auszuwählen, und ich wage zu behaupten, daß trotz dieser weitgehenden Befugnisse der Land⸗ gemeinden in Hannover nirgends die schweren Nachtheile in die Er⸗ getreten sind, von denen Herr Ober⸗Bürgermeister Becker prach.

Ich erinnere aber auch an Vorgänge in der Rheinprovinz. Dort hatten die Gemeinden das Recht, einen Zensus einzuführen bis zu 36 ℳ, derart, daß alle diejenigen, welche diesen Zensus nicht zahlten, überhaupt von dem kommunalen Mitbestimmungsrechte aus⸗ geschlossen waren. Wir haben in der Rheinprovinz eine große Zahl von Gemeinden gehabt mit einem Zensus von 12, 18, 24 Tausende und Abertausende von kleineren Elementen waren durch diesen Zensus vom Wahlrecht durchaus aus⸗ geschlossen. Das war doch eine Fundamentalfrage des Gemeinde⸗ rechts, über die beschlossen werden mußte. Nun ist eine solche Beschlußfassung in den meisten Gemeinden erfolgt, und ich muß auch hier bestreiten, daß dadurch eine so tiefgehende Aufregung eingetreten sei und eine so schwere Schädigung des kommunalen Lebens, wie sie Herr Ober⸗Bürgermeister Becker von dem vorliegenden Gesetz befürchtet.

Nun sagt Herr Ober⸗Bürgermeister Becker, das Zwölftelungs⸗ prinzip sei das an sich richtigere, das Durchschnittsprinzip das falschere; er sagt, das Zwölftelungsprinzip schließe sich vielmehr an das Drei⸗ klassenwahlsystem an als das Durchschnittsprinzip. Ja, meine Herren, dieser Darlegung vermag ich beim besten Willen nicht zu folgen. Das Dreiklassenwahlsystem hat doch an sich die Bedeutung, daß die Steuersumme gleichmäßig in drei Theile getheilt und darnach die Wahlberechtigung abgemessen wird. Dieses Prinzip wird vollständig aufgegeben bei der Zwölftelung; denn es wird nicht mehr nach ¼12 gleichmäßig getheilt, sondern es wird nach ½, 41⁄½12 und 12 getheilt. Es findet also eine grundsätzliche Abweichung von dem System des Dreiklassenwahlrechts statt. Es steht allo dem Dreiklassenwahlrecht das Zwölftelungsprinzip viel ferner als das Durchschnittsprinzip; denn das Durchschnittsprinzip hält im allgemeinen das Dreillassensystem aufrecht und bringt nur hinsicht⸗ lich derjenigen, die mehr als den Durchschnittssteuerbetrag zahlen, eine Modifikation dieses Systems mit sich.

Aber abgesehen davon, ob das Durchschnittsprinzip oder das Zwölftelungsprinzip sich dem Dreiklassenwahlsystem mehr oder weniger anschließt, ist doch die Frage die, welches System an sich das richtigere und natürlichere ist, und da kann ich mich den Schlußfolge⸗ rungen des Herrn Vorredners auch nicht anschließen. Die Zwölftelung ist für mich eine Willkürlichkeit, sie ist ein ad hoc gemachtes Prinzip, um gewisse Unregelmäßigkeiten und Verschiebungen auszugleichen, aber an sich ist sie doch vollkommen willkürlich. Ei Prinzip ist überhaupt garnicht darin, sondern es ist lediglich ein Auskunftsmittel, das man mit voller Ueberlegung und auch mit vollem Rechte getroffen hat, um gewisse Verschiebungen, die eingetreten sind, auszugleichen. Aber ein materieller Grund, eine innere Berechtigung wohnt dem Prinzip nicht bei. Da muß ich sagen, daß das Dusrchschnittsprinzip viel berechtigter ist, indem es den Gedanken zum Ausdruck bringt, daß diejenigen Elemente, die in der That ein Mehr als die mittlere Leistung für die Gemeinden aufbringen, auch mindestens ein Durchschnittswahlrecht haben sollen, also in der zweiten Klasse wählen sollen. Das ist ein an sich sehr berechtigter sozialer Gedanke. Aber ich glaube, es ist vöglig müßig darüber zu streiten, welches von beiden Prinzipien das richtige ist. Es giebt überhaupt kein absolut richtiges Prinzip. In vielen Fällen wird das Durchschnittsprinzip das richtige sein, in vielen Fällen das Zwölftelungsprinzip. Die Verhältnisse sind in der Monarchie zu verschieden, um mit einem derartigen Prinzip alle Verschieden⸗ heiten decken zu können, und ich muß gegenüber dem Herrn Vorredner betonen, daß die Regelung nach dem Zwölftelungsprinzip durchaus nicht so unschädlich ist, wie er es hingestellt hat. Ich habe das vorige Mal schon dargelegt, daß das Zwölftelungsprinzip in Gemeinden mit ausgeglichenen Verhältnissen viel radikaler wirkt als das Durch⸗ schnittsprinzip. Denn in Gemeinden, wo die Verhältnisse gleich⸗ mäßig sind, kommt schon jetzt der mittlere Steuerzahler in die mittlere Abtheilung, nämlich in die zweite Klasse. Genau so wirkt das Durchschnittsprinzip; es erhält also die bestehenden Zustände auf⸗ recht, während das Zwölftelungsprinzip weit darüber hinaudwirkt, weil

glich Preußischen Staats⸗Anzeiger.

1900.

es alle Elemente, die über fünf Zwölftel hinaus steuern, in die erste Klasse, die über vier Zwölftel in die zweite Klasse und nur die Elemente, die innerhalb der letzten drei Zwölftel steuern, in dritte Abtheilung bringt. Also in vielen Gemeinden wird das Zwölfte⸗ lungsprinzix viel schärfer wirken als das Durchschnittsprinzip. Ich will nicht die Zahlen wiederholen, die ich früher schon vorgetragen habe. Andererseits erreicht die Zwölftelung noch nicht einmal das Ziel, die Abschichtung der Wählerabtheilungen herzustellen, wie sie im Jahre 1891 vorhanden war. Ich werde mir einige Daten anzu⸗ führen erlauben. Um Köln anzuführen, das dem Herrn Ober⸗Bürger⸗ meister Becker besonders nahe liegt, so waren dort im Jahre 1891 in der ersten Abtheilung von allen Wählern rund 3 %, in der zweiten Abtheilung rund 17 % und in der dritten Abtheilung rund 79 %. Unter dem Einfluß der Steuerreform sank der Satz in der ersten Abtheilung von 3 % auf 0,80 %, in der zweiten von 17 % auf 6 %, und infolge dessen stieg der Prozentsatz aller übrigen Wähler von 79 % auf 92 %, sodaß 92 % aller Wähler der dritten Abtheilung zugehörten. Ich wage zu behaupten, daß das keine gesunden Zustände sind, die dem Mittelstand das ihm gebührende Wahlrecht geben. Wie würde sich die Sache nach Einführung der Zwölftelung in Köln stellen? Ich habe hier die Berechnung auf einer anderen Grundlage, nämlich, wie sich die Verhältnisse nach Tausendtheilen der Bevölkerung gestalten würden. Danach bemaß sich in Köln die zweite Abtheilung im Jahre 1891 auf 11,70 pro Mille der Be⸗ völkerung; nach der Zwölftelung würde sie nur 9,33 auf das Tausendstel erhalten; es würden also noch nicht einmal die Zustände vom Jahre 1891 in Köln nach dem Zwölftelungsprinzip hergestellt. Ein noch viel prägnanteres Beispiel ist Berlin. In Berlin ist es dahin gekommen, daß nur Leute mit weit über 1000 Steuern in die zweite Abtheilung kommen, und auch in Berlin würde der Zustand von 1891 mit der Zwölftelung noch nicht hergestellt werden. Denn während hier im Jahre 1891, nach Tausendsteln der Bevölkerung berechnet, 11,42 in der zweiten Abtheilung wählten, würden nach dem Zwölftelungsprinzip nur 7,06 in die zweite Abtheilung kommen. Also das Zwölftelungsprinzip ist keineswegs die Panacee, das einzige Heilmittel für die Schäden, um deren Besserung es sich hier handelt. Ich kann nur noch einmal sagen, bei der großen Verschiedenheit der Verhältnisse ist es nicht anders möglich, als daß man verschiedene Modalitäten zuläßt, je nachdem die Verhältnisse das eine oder das andere erfordern.

Nun hat der Herr Ober⸗Bürgermeister Becker bemängelt, daß die Beschlußfassung über die Ortsstatute nur mit z⸗Mehrheit erfolgen soll. Er hat ausgeführt, daß man bisher in unserer Gesetz⸗ gebung die Zweidrittelmehrheit nicht kennt. Das ist nicht zutreffend. Beispielsweife ist in der Kreisordnung diese Zweidrittelmajorität aus⸗ drücklich vorgesehen. Gewisse für die Kreise wichtige Angelegenheiten können nur mit Zweidrittelmehrheit des Kreistages beschlossen werden. Aber es läßt sich in der That darüber streiten, ob eine Zweidrittel⸗ mehrheit oder eine andere zu wählen ist; die Regierungsvorlage hatte die einfache Majorität vorgesehen. Aber so, wie die Dinge einmal nach den Beschlüssen des Abgeordnetenhauses liegen, muß man, um die Regelung zum Abschluß zu bringen, die Zweidrittelmehrheit wählen, und ich würde glauben, daß das hohe Haus diesen Abschluß stark gefährdet, wenn man auf den Vorschlag der einfachen Majorität zurückkommen sollte. Kritik an einem Wahlreformgesetz zu üben, ist überaus leicht. Ich bitte Herrn Becker, mir einen anderen Vorschlag zu machen; ich würde daran dieselbe Kritik üben, wie er sie an unserm Entwurf geübt hat Es giebt kein Wahlsystem, das nicht der berechtigten Kritik unterliegen könnte. Aber wenn man den Willen hat, muß man auch den W gehen. Wenn man den Willen hat, die Kommunalwahlreform zum Ab⸗ schluß zu bringen und dem Mittelstand das Wahlrecht wiederzugeben, das ihm gebührt, so darf man sich nicht bei den Einzelheiten aufhalten, sonder muß den gesunden Gedanken anerkennen und mit Rücksicht auf den Beschluß des Abgeordnetenhauses den Weg wählen, der sich allein bietet, das ist eben die Vorlage, wie sie aus dem Abgeordnetenhause gekommen ist. Wir haben jetzt den dritten Versuch gemacht, diese schwierige Materie zum Abschluß zu bringen; ich würde es bedauern, wenn dieser Versuch scheiterte, und derjenige, der hofft, damit die Sache begraben ist, würde sich irren. würden im nächsten Jahre ganz genau vor denselben Schwierig⸗ keiten stehen. Wer den Abschluß will, dem bleibt nichts übrig, als sich auf den Boden der Vorlage zu stellen. Und im Interesse des Zustandekommens dieser wichtigen Vorlage und der B friedigung des Mittelstandes hinsichtlich seines Mitbestimmungsrechts bei den Kommunalwahlen kann ich nur dringend bitten, die Vorlage so, wie sie aus dem Abgeordnetenhause hierher gelangt ist, auch zum Abschluß zu bringen. (Lebhaftes Bravo.) DOber⸗Bürgermeister Becker will das Beispiel der Landgemeinden Hannovers für die größeren Gemeinden nicht gelten lassen. Das Dreiklassensystem bleibe bei dem Zwölftelungssystem bis auf 112 nach oden und 1⁄12 nach unten völlig unverändert. Er boffe, daß das Gesetz, dessen Zustandekommen schon sehr schwierig gewesen sei, keine lange Lebensdauer haben werde.

Damit schließt die allgemeine Besprechung.

§ 1 wird mit großer Mehrheit angenommen.

882 wird ebenfalls unverändert, unter Ablehnung des Hauptantrags und des Eventualantrags Becker⸗Marx, an⸗ genommen.

1 8 § 3 und dem dazu gestellten Antrag Becker⸗Marx emer

Ober⸗Bürgermeister Bender, daß durch die ortsstatutarische Bestimmung darüber, oh an Stelle des auf einen Wähler ent⸗ fallenden durchschnittlichen Steuerbetrags ein den Durchschnitt bis zur Hälfte desselben übersteigender Betrag treten soll, eine große Beunruhigung, ein destruktives Element in die Gemeinden

hineinkommen werde. Die Gemeinden brauchten Ruhe, um vorwärts zu kommen. Berichterstatter Graf zu Eulenburg weist darauf hin, daß diese Bestimmung trotz der Bedenken nicht enthehrt werden könne. Der Antrag wird abgelehnt und § 3 unverändert an genommen.

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