wir diesen Weg gehen und eine authentische Interpretation des Gesetzes vornehmen; ich darf wohl in dieser Richtung auf den Inhalt der Ihnen vorliegenden Begründung verweisen.
Wenn wir nun diese uns dargebotene Gelegenheit benutzt haben, zugleich noch über den Rahmen einer authentischen Auslegung hinaus einige kleine Unebenheiten in der bisherigen Fassung des Gesetzes zu beseitigen, so dürfte auch das wohl nur die Billigung des hohen Hauses finden.
Aus der Begründung möchte ich dann aber noch einen Punkt besonders hervorheben, und dieser Punkt betrifft diejenigen Schatz⸗ anweisungen, die nur ausgegeben werden zur Ausgleichung der vor⸗ übergehenden Schwankungen in den Kassen des Reichs. In dieser Beziehung wollte ich darauf aufmerksam machen, daß an dem dritten Absatz des § 7, der insbesondere die Vorschrift enthält über die Nicht⸗ überschreitbarkeit der Umlaufszeit dieser Art von Schatzanweisungen, absolut nichts geändert werden soll. Diese Vorschriften bleiben also durch die Vorlage vollständig unberührt.
Zum Schlusse möchte ich dann auch noch das Eine hervorheben, daß die Reichsschuldenverwaltung ihrerseits Gelegenheit gehabt hat, an der Ihnen vorliegenden Fassung des Gesetzentwurfs sich zu be⸗ teiligen, und wir haben die Sicherheit, daß, wenn der Gesetzentwurf in der Fassung, die die verbündeten Regierungen Ihnen hier vor⸗ geschlagen haben, zur Annahme gelangen sollte, dann weitere Anstände hinsichtlich der Einlösung von Schatzanweisungen sich nicht mehr er⸗ geben werden.
Nach alledem darf ich das hohe Haus bitten, dieser Gesetzesvorlage, die lediglich einem dringenden praktischen Bedürfnis entsprungen ist,
die Zustimmung nicht zu versagen.
Abg. Kaempf (fr. Volksp.): Diese “ bestätigen, daß in der Tat in der Reichsschuldenordnung eine Reihe von Be⸗ stimmungen enthalten sind, die zu Zweifeln Veranlassung geben. Der Entwurf geht aber auch auf das materielle Gebiet über und dies in dem Grade, daß ich Kommissionsberatung beantrage. Bezüglich der Schatzanweisung bestimmt die Reichsschuldenordnung, wenn sie für vorübergehende Bedürfnisse der Reichskasse ausgegeben werden, eine dreimonatige Umlaufsfrist; bezüglich derjenigen Schatzanweisungen, die zur Deckung von bewilligten Krediten ausgegeben werden, findet sich eine solche Bestimmung nicht. Eine genaue Definition des Begriffs „Schatzanweisungen“ findet sich in dem Gesetze ebensowenig. In der Praxis ist ein Unterschied zwischen verzinslichen und nicht⸗ verzinslichen Schatzanweisungen auch nicht gemacht worden. Der einzige Nachteil, der besteht, ist, daß die verzinslichen Schatz⸗ anweisungen nach der Zeit, die sie laufen, eingelöst werden müssen, während die Einlösung der verzinslichen Schuldverschreibungen davon abhängt, ob das Reich Mittel zur Einlösung verfügbar hat. In solchen Fällen, wo es sich um die Realisierung von Anleihe⸗ krediten handelt, soll nun die Ausgabe von EEöö sowohl unverzinslichen, kurzfristigen, als verzinslichen, langfristigen, bis zur Ausgabe definitiver Schuldverschreibungen erfolgen können. Ich er⸗ kenne an, daß diese Maßregel für die Verwaltung gegenüber der jeweiligen Lage des Geldmarktes zweckmäßig und von Nutzen sein wird. Die Bedenken fangen aber da an, wo es sich darum handelt, beim Verfallen von verzinslichen, mit Coupons versehenen Schatz⸗ anweisungen neue Schatzanweisungen auszugeben. Dazu soll der Kanzler, ohne den Reichstag zu fragen, ermächtigt sein. Es könnte bei der Fortdauer der starken Geldbedürfnisse des Reichs dann einmal der Moment eintreten, wo die Ausgabe dieser neuen Schatz⸗ scheine mit Unzuträglichkeiten verknüpft sein könnte. Ich brauche nicht auszuführen, welche Bedenken es hat, mit einer großen schwebenden Schuld belastet zu sein und dadurch in zu große Abhängigkeit vom Geldmarkte zu geraten. Die wiederholte Ausgabe kurzfristiger Schatz⸗ anweisungen halte ich für unbedenklich, für bedenklich aber die erneute Ausgabe langfristiger verzinslicher Schatzanweisungen ohne Mit⸗ wirkung des Reichstags und unter Uebergehung seines Geldbewilli⸗ gungsrechts. Ich beantrage daher die Ueberweisung der Vorlage an die Budgetkommission.
Abg. Dr. Spahn (Zentr.): Mir will scheinen, als ob die vom Vorredner erörterte Frage nicht gelegentlich dieser Vorlage erledigt werden kann, sondern in dem jeweiligen Etatsgesetz erledigt werden muß. Die Reichsschuldenordnung wird dauernd gemacht; die Bedenken des Vorredners aber fußen alle auf den jeweiligen Geldmarkt⸗ konjunkturen. Deshalb halte ich die Verweisung an eine Kommission nicht für nötig. Ich wüßte nicht, welches Recht des Reichstags ge⸗ fährdet wäre, wenn wir erklären, wir wollen den Reichskanzler nicht zwingen, unter Umständen gerade in schlechter Marktlage Schuld⸗ verschreibungen ausgeben zu müssen.
Abg. Dove (Fr. Vgg.): In der Sache dürften wir so ziemlich einig sein. Auch meine Freunde wollen der Regierung die Möglichkeit
eeben, die Konjunktur des Marktes mehr, als es nach der bisherigen
uslegung möglich war, auszunutzen. Bei der Abänderung werden wir uns aber deren Tragweite sehr überlegen müssen. Gewiß handelt es sich hier um die Schatzanweisungen, die vermöge der Er⸗ mächtigung im Etatsgesetz zur Beschaffung der bewilligten Kredit⸗ mittel ausgegeben werden; richtig ist auch, daß die Sedismaterie eigentlich das Etatsgesetz ist, aber es hat doch Bedenken, ob nicht beim Etatsgesetz der Reichstag die Sache einmal auf die leichte Achsel nimmt. Schon jetzt hat man Schatzanweisungen mit fünf⸗ auch sechsjähriger Umlaufsfrist; das finde ich doch schon für eine be⸗ trächtlich lange Zeit. Diese Frage erscheint auch mir von so großer Bedeutung, daß sie in einer Kommission grundsätzlich erörtert werden
müßte.
Abg. Gamp (Rp.): Unzweifelhaft befindet sich die Reichsfinanz⸗ verwaltung in einer üblen Lage, und es muß ihr geholfen werden. Wunderbar ist allerdings, daß erst jetzt, nachdem wir 30 Jahre lang derart Schulden gemacht haben, das Bedürfnis dazu hervortritt. Die Ausgabe von Schatzanweisungen auf 4 oder 5 Jahre, wie sie 1900 erfolgte, widerspricht dem Zwecke der Schatzanweisungen. Wenn man solche auf 5 Jahre ausgibt und die Gelegenheit zur Ausgabe von Schuldverschreibungen trotz günstiger Lage des Geldmarktes unbenutzt läßt, so beweist das, daß man dem Schatzamt, da die Personen dort häufig wechseln, kein Vertrauen entgegenbringen kann. Jeden⸗ falls hätten diese Schatzanweisungen schon aus der Welt geschafft werden können und mässen. Ich bin kein Freund dieser Schatz⸗ anweisungspolitik; die Schatzverwaltung müßte sich bemühen, unsere Konsols unter die kleinen Leute zu bringen, die sie dauernd festhalten würden, nicht aber große Kredite durch Ausgabe von Schatzanweisungen zu decken. Bequemer ist es ja für die Finanzverwaltung, an die Reichsbank zu gehen, direkt oder durch Vermittlung anderer Kreise, und auch die Reichsbank geht ja 8 darauf ein, weil das Reich ein sehr zahlungsfähiger Schuldner st, aber die sonsigen wirtschaftlichen Aufgaben der Reichsbank werden durch diese Heranziehu g zur Befriedigung der Kreditbedürf⸗ nisse des Reichs erheblich geschäbdigt. Am 9. Februar stand die 3 ⅛ prozentige Reichsanleibe 102,20, die Schatzanweisungen, die
stes Jahr am 1. Avpril fällig sind, standen 101,20, also ein
nzes Prozent nietriger, obwohl sic ½ % Zinsen mehr haben. Das — oen, daß der Weg tder Ausgabe kurzfristiger Schatz⸗ u nicht der richtige ist. Das Richtigste wäre, möglichst balt möglichst gründlich von dieser Schatzanweisungswirtschaft Ein oter zwei Jahre Frist wäte schon das aller⸗
Wenn Herr Kaempf den unerwarteten Rückgang des Kurses
der Konsols am 12. Januar auf die Börsengesetzgebung zurückführte, so war er vollständig im 287 Der Kurs der Konsols entwickelt
8 8
Staatssekretär könnte froh sein, wenn es ihm gelänge, die Anleihe so unterzubringen, wie es seinem Vorgänger gelungen ist. Bei uns sind die niedrig verzinslichen Anleihen fast nur in den Händen der großen Banken usw., nicht in denen der kleinen Leute; das liegt nur an der Schwerfälligkeit der Verwaltung, denn die Spar⸗ kassen geben auch nur 3 %, und in diesen ist eine ganze Menge von Geld angelegt. Man sollte das Eindringen der Konsols in den Kreis der kleinen Leute erleichtern. Wenn der Staatssekretär jetzt ein Bedürfnis an Geld hatte, so sollte er nicht Schatzanweisungen aus⸗ geben, sondern eine Reichsanleihe, und die Termine so ansetzen, daß die kleinen Leute ihr Geld anlegen können. Es sollten auch kleinere Abschnitte zu 500 und 300 ℳ usw festgesetzt werden. Aus⸗ zahlung der Zinsen sollte durch die Post erleichtert, und die Umsatz⸗ steuer für kleine Beträge beseitigt werden. Gegenwärtig sind unge⸗ heuere Beträge unserer Konsols in England untergebracht, braucht es Geld, so wirft es diese auf den Markt und drückt den Kurs herab. Das könnte dadurch vermieden werden, daß die Konsols mehr bei den kleinen Leuten untergebracht werden. Ob meine politischen Freunde einer kommissarischen Beratung zustimmen würden, weiß ich jetzt nicht. Es war bis jetzt üblich, ihr nicht zu widersprechen, wenn große Parteien sie verlangten. Ich meine, auch wenn es nicht zu einer Kommissionsberatung käme, könnten wir uns bis zur dritten Lesung verständigen.
Staatssekretär Stengel:
Meine Herren! Ich möchte mich vor allem gegen einen Vor⸗
wurf verwahren, der mir von seiten des Herrn Vorredners gemacht
worden ist, indem derselbe es so hinzustellen gesucht hat, als hätte
ich in meiner Rede vom 12. Januar d. J. irgend einen Tadel aus⸗
gesprochen in Ansehung des Vorgehens meines Herrn Amtsvorgängers
bei Begebung der Anleihe von 1903. Ich gestatte mir, das wörtlich
vorzulesen, was ich in dieser Beziehung ausgeführt habe: Ich
habe gesagt:
Persönlich trifft mich ja in Ansehung jener Vorgänge nicht die mindeste Verantwortung; ich war damals mit der Leitung der Reichsschatzverwaltung bekanntlich noch nicht befaßt. Aber eben deshalb ist es mir noch am ehesten möglich, ein freies und un⸗ befangenes Wort über diese Dinge zu sprechen, und da kann ich nur sagen: nach meiner Ueberzeugung würde auch beim Einschlagen eines anderen Verfahrens, beim Einschlagen anderer Wege, als sie gegangen worden sind, voraussichtlich das Endergebnis kein wesentlich anderes gewesen sein.”
Wie man aus diesen Worten einen Tadel oder Vorwurf deduzieren kann, den ich mir erlaubt hätte in bezug auf eine Amtshandlung meines Herrn Vorgängers, ist mir unerfindlich.
Nun sind von verschiedenen Herrn Vorrednern, den Herren Kaempf, Dove, Gamp, eine solche Reihe von Bedenken und Aus⸗ stellungen erhoben worden gegenüber der Vorlage und in bezug auf Bestimmungen der Reichsschuldenordnung selbst, daß ich mich wirklich außerstande sehe, auf alle diese Einwendungen im einzelnen zu antworten. Ich habe den Eindruck, daß von seiten des Herrn Dr. Spahn in dieser Richtung in der Tat der allein korrekte Standpunkt eingenommen worden ist, und der Herr Abg. Dr. Spahn hat meines Erachtens das Wesentliche der Ausführungen sener beiden Herren Vorredner bereits treffend widerlegt. Wenn es den beiden Herren Vorrednern, Kaempf und Dove, und in gewissem Maße auch Herrn Gamp nach ginge, so würde uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als schließlich die ganze Reichsschuldenordnung einer Revision zu unter⸗ werfen. Davon kann aber wohl vorerst keine Rede sein, jedenfalls be⸗ steht nach meiner Ueberzeugung zur Zeit dazu nicht der mindeste Anlaß. Der Herr Abg. Gamp hat gemeint, es sei ja 30 Jahre anstandslos gegangen. Von 1870 bis 1903 hätte sich niemals ein Anstand in bezug auf die Einlösung solcher verzinslichen Schatzanweisungen ergeben. Das glaube ich dem Herrn Abg. Gamp wohl, es sind eben von 1870 bis 1900 verzinsliche Anweisungen überhaupt nicht ausgegeben worden, infolgedessen konnte es nach der Natur der Sache auch in bezug auf die Einlösung derselben keinen Anstand geben.
Nun möchte ich meinerseits aber doch mit ein paar Worten ein⸗ gehen auf die prinzipiellen Bedenken, die erhoben worden sind in bezug auf die Aufnahme einer sogenannten schwebenden Schuld. Ich erkenne ohne weiteres an, daß die Aufnahme schwebender Schulden auch nur auf eine kurze Reihe von Jahren immerhin, von finanzpolitischem Gesichtspunkte aus betrachtet, manche Bedenken gegen sich hat. Man
arf — und darin pflichte ich dem Herrn Vorredner bei — schwebende Schulden nicht zur Regel werden lassen. Aber ausnahmsweise kann eine schwebende Schuld sehr wohl berechtigt sein. Ich mache in dieser Hinsicht nur auf einen Umstand aufmerksam, der vielfach übersehen wird. Der Markt für die Aufnahme einer schwebenden Schuld für verzinsliche Schatzanweisungen ist ein ganz anderer als der Markt für definitive Anlagen, für Begebung von definitiven Reichsanleihen. Wenn nun der Markt für solche dauernde Anlagen einmal zeitweise übersättigt, wenn er zeitweilig sozusagen überfahren ist, so kann es ganz zweckmäßig und vorteilhaft sein, nicht nur im Interesse des Reichs und seiner Finanzen, sondern auch im Interesse des Publikums und der Besitzer solcher Schuldobligationen des Reichs, wenn man diesen Markt einige Zeit etwas schont und den anderen Markt zeitweise aufsucht. Ein solcher übersättigter Markt kann durch nichts besser kuriert werden, als wenn man ihn wenigstens für kurze Zeit auf angemessene Däät setzt.
Meine Herren, es kann sich bei schlechtem Kursstand, der ja auch durch andere Gründe veranlaßt sein kann, wie bemerkt, sehr empfehlen, ausnahmsweise auch einmal zur Ausgabe verzinslicher Schatz⸗ anweisungen überzugehen, und es beweist gerade der Vorgang von 1900, wie wichtig es ist, diese Form der Schuldaufnahme zu haben. Als im Jahre 1900 die Ausgabe 4 % iger Schatzanweisungen in Höhe von 80 Millionen stattfand, stand der Kurs der Deutschen Reichsanleihe auf ungefähr 85 ½4. Hätte das Reich bei den damaligen Kursverhältnissen eine definitive Anleihe aufgenommen, es würde wahrscheinlich nicht viel mehr als einen Begebungskurs von 84 % erzielt haben, und zu diesem Kurs von 84 % hätte der dem⸗ entsprechende Nennwert der Anleihe dauernd mit 3 % verzinst werden müssen. Also ich glaube, gerade der Vorgang von 1900 dürfte einen Beweis dafür abgeben, daß man über die ausnahmsweise vorüber⸗ gehende Aufnahme einer schwebenden Schuld im allgemeinen nicht allzu abfällig wird urteilen können,
Nun sind speziell von dem Herrn Abg. Gamp noch verschiedenerlei Ratschläge erteilt worden, die zum Teil noch weit über den Rahmen dieses Gesetzentmwurft und der Reichzschuldenordnung überhaupt hinaus⸗
des Reichsschatzamts Dr. Freiherr von
sich adäquat ter Enkbickelung des Privatdiskonts. Herr 692* der —2 keinen Dienst geleistet, indem er sie als Vor⸗ spann benutzte. mag über Herrn von Thielmann denlen, wie man will, man mird anerkennen mossen, daß er bei den Emissionen das siskalische Jateresse darchauns wahrgenommen hat. Der jetzige
gingen. Bevor ich hierauf weiter eingehe, möchte ich noch eines vor⸗ wegnehmen. Der Herr Abg. Gamp hat sich insbesondere der Inter⸗ essen des kleinen Sparers sehr warm angenommen. Gewiß, meine
aber:
est modus in rebus. Ich glaube, die Erwerbung von Schuldverschreibungen auch des Reichs, überhaupt erstklassiger Papiere, hat für den kleinen Sparer doch auch seine Schranken insofern, als mit dem Besitz solcher Schuldverschreibungen immerhin das Risiko von Kursverlusten verknüpft ist. Nach meiner Ueberzeugung wird der kleine Sparer nach wie vor doch immer noch am besten tun, wenn er sich für die Anlage seiner Ersparnisse an die Sparkasse wendet. (Sehr richtig!) Dort ist er wenigstens vor Kursverlusten geschützt. Auch vor anderen Verlusten. Es ist mitunter für den kleinen Sparer recht schwierig, sich einen sicheren Platz zu wählen für die Auf⸗ bewahrung seiner Wertpapiere, und gerade der kleine Sparer empfindet Verluste am allerschwersten.
Nun kann ich dem Herrn Abg. Gamp und auch den übrigen Herren Vorrednern die Zusage geben, daß von unserer Seite die Rat⸗ schläge, die sie uns erteilt haben, insbesondere auch in Ansehung der künftigen Begebung von Anleihen, gewiß sorgfältigst werden in Er⸗ wägung gezogen werden. Aber mehr kann ich Ihnen auch nicht ver⸗ sprechen; denn das werden Sie mir zugeben, meine Herren, daß wir hier in diesem Saale coram publico unmöglich im voraus alle die Bedingungen und Modalitäten festlegen können, die etwa zu beachten sind bei der demnächstigen und künftigen Begebung von Reichsanleihen. In diesen Dingen muß meines Erachtens die Exekutive freie Hand haben, um je nach den augenblicklichen Konjunkturen die richtige Ent⸗ scheidung zu treffen. Nur dann werden auch die Interessen nicht nur des Reichs, sondern auch der zahlreichen Besitzer von Schuldverschrei⸗ bungen des Reichs zu ihrem Rechte kommen.
Dieser Standpunkt entspricht meines Erachtens auch vollständig der Gesetzes⸗ und der Rechtslage; der Herr Reichskanzler ist für die Ausführung der Anleihegesetze verantwortlich, er trägt diese Ver⸗ antwortung, und es bietet sich alljährlich bei der Vorlage der Denk⸗ schrift über die Ausführung der Anleihegesetze ausreichend Gelegen⸗ heit, über das, was geschehen ist, diesem hohen Hause Rechenschaft
abzulegen.
Ich möchte schließlich noch einmal die Bitte an das hohe Haus richten, diesem Gesetzentwurf, der in der Tat nur einem augenblicklich vorhandenen dringenden Bedürfnis entsprungen ist, die Zustimmung nicht zu versagen.
Abg. Dr. .“ (nl.): Ich bitte, von einer Kommissions⸗ beratung abzusehen, da die Sache dringend und die Budgetkommission ohnehin überlastet ist. Der Reichstag wird auch wenig Neigung haben, die vor ein paar Jahren gemachte Arbeit wieder von vorn an⸗ zufangen. Wir können dem Gesetz so, wie es vorliegt, unsere Zu⸗ stimmung geben.
Abg. von Normann (d. kons.): Auch wir halten eine Kom⸗ missionsberatung nicht für notwendig, da die Vorlage nur eine Klar⸗ stellung der Reichsschuldenordnung enthält.
Abg. Schrader (fr. Vgg.): Die Frage der Ausgabe der Schatz⸗ anweisungen ist bis jetzt wirklich von geringer Bedeutung. In ge⸗ wissen Zeiten ist aber diese Maßregel notwendig. Etwaige Uneben⸗ S der Vorlage könnten zwischen der zweiten und dritten Lesung
eseitigt werden. Wir werden in der zweiten Lesung für die Vorlage stimmen. · 1.
Abg. Kaempf hält an seiner Meinung fest, daß in der Budget⸗ kommission eine Klärung der Frage herbeigeführt werden müsse.
Abg. von Strombeck (Zentr.) erklärt, er habe im Gegensatz zur Mehrheit seiner politischen Freunde einige Bedenken gegen die Vorlage. Durch die wiederholte Ausgabe von Schatzanweisungen werde zweifellos die Reichsschuld vermehrt, und diese Vermehrung geschehe ohne Genehmigung des Reichstags.
Abg. Singer (Soz.) erklärt sich ebenfalls für Kommissions⸗ beratung, die dem Plenum die Arbeit abnehmen würde. Redner wendet sich dann gegen die Ausführungen des Abg. Kaempf. Die kleinen Leute benutzten die Sparkassen, um ihr Geld jederzeitig flüssig machen zu können. Den Kureschwankungen der Anleihe würden sie sich nicht aussetzen. Sie würden an Provisionen mehr bezahlen, als ie an Zinsen erhalten. Die Postanstalten mit dem Verkauf von Reichsanleihen zu beauftragen, wie es der Abg. Kaempf wünsche, würde sie zu einer Art Warenhäuser machen.
Abg. Gamp weist darauf hin, daß die Sozialdemokraten seiner Zeit selber für die Postsparkasse gestimmt, also keine große Abneigung gegen eine Belastung der Post gezeigt hätten.
Damit schließt die erste Beratung.
Der Antrag Kaempf auf Ueberweisung der Vorlage an die Budgetkommission wird gegen die Linke und einige Mit⸗ glieder des Zentrums abgelehnt. 1
In der zweiten Beratung wird der Gesetzentwurf ohne weitere Debatte im einzelnen angenommen.
Darauf wird die zweite Beratung des Reichs haus⸗ haltsetats für 1904 bei dem Etat des Reichsamts des Innern fortgesetzt, und zwar bei den Ausgaben für das Kaiserliche Gesundheitsamt.
Zu DTitel 1 dieses Kapitels liegt noch folgende Resolu⸗ tion der Abgg. Dr. Mugdan (fr. Volksp.) und Ge⸗ nossen vor:
„Die verbündeten Regierungen zu ersuchen, die Prüfung der Bekanntmachung betreffend die Prüfungsordnung für Aerzte, vom 28. Mai 1901 dahin zu ändern:
Die Vorschriften wegen des praktischen Jahres finden auf die⸗ jenigen Kandidaten keine Anwendung, welche das medizinische Stu⸗ dium auf einer deutschen Universität vor dem 28. Mai 1901 be⸗ Fonaes und die ärztliche Prüfung vor dem 1. April 1906 vollständig estanden haben.“
Die Resolution wird ohne Debatte angenommen, ebenso der Rest der Ausgaben für das Kaiserliche Gesundheitsamt.
Bei den Ausgaben für das Kaiserliche Patentamt bemerkt der
Abg. Pauli⸗Oberbarnim (Rp): Nach dem Etatsentwurf sollen die hauptamtlichen Mitglieder des Patentamts in Rang, Titel und Besoldung gehoben werden, um sie von den ihnen jetzt gleichgestellten Abteilungsvorsitzenden und den diesen gleichgeordneten Mitgliedern der Beschwerdeabteilung zu unterscheiden. Die ersteren sollen durch den Titel Geheimer Regierungsrat ausgezeichnet und ihr Gehalt erhöht werden. Diese Regelung scheint uns nicht ganz patent zu sein. Ich beantrage, das ganze Kapitel der Budgetkommission zu überweisen.
Abg. Eickhoff (fr. Volksp): Ich habe im vorigen Jahre die Erwartung ausgesprochen, daß mit einem neuen Hause im Patentamt ein neuer Geist einziehen möge. Diese Erwartung hat sich erfüllt. Ich möchte wünschen, daß der neue Präsident die Handelskammern, (Gewerbevereine und Fabrikantenvereine zu gutachtlichen Aeußerungen über strittige Fragen zuzieht und sie zur Teilnahme an den Ver⸗ handlungen des Patentamts einladet.
1- Das Kapitel „Patentamt“ wird der Budgetkommission über⸗ wiesen.
Bei den Ausgaben für das Reichsversicherungsamt kommt der
Abg. Dr. Ruegenberg (Zentr.) auf den Streit der Kranken⸗ kassen und Aerzte in Cöln zurück. In einer großen Versammlung, die sich am Sonntag in Cöln mit dieser Frage beschäftigt habe, seien seine neulichen Ausführungen als Auefluß völliger Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse ginge stellt worden. Redner erllärt, seine Ausführungen auf Grund von Erkundigungen gemacht zu haben, die
Herren, verdient gerade der kleine Sparer alle mögliche Rücksicht;
er persönlich vorher in Cöln eingezogen habe.
die Geschäfte neu begründen.
Als er auf die Re⸗
solution im einzelnen eingehen will, ersucht ihn der Vizepräsident Dr. Paasche, sich auf die Widerlegung persönlich eeü ge⸗ richteter Angriffe zu beschränken. Redner gibt darauf die weitere Er⸗ klärung ab, daß er nach dem Erscheinen jener Resolution sofort nach Cöln gefahren sei; dort seien ihm seine Behauptungen bis auf einen kleinen nebensächlichen Punkt als richtig bestätigt worden.
Abg. Molkenbuhr (Soz.): An den Reichstag sind aus berufs⸗ genossenschaftlichen Kreisen eine Reihe von Petitionen gelangt, die die Beseitigung des § 34 des Gewerbe⸗Unfallversicherungsgesetzes erstreben, der die Ansammlung eines größeren Reservefonds fordert. Dagegen laufen die Berufsgenossenschaften Sturm. Besonders gejammert wird über die ungeheueren Fonds, die die Berufsgenossenschaften ansammeln sollen; aber übersehen wird gänzlich, daß die gegenwärtig vorhandenen Vermögen absolut nicht ausreichen, die laufenden Verpflichtungen zu decken. Die neue Vorschrift wirkt allerdings bedrückend auf alle diejenigen, begrür Ein Weg, aus diesen Schwierigkeiten herauszukommen, läge in der Vereinigung der drei Versicherungs⸗ zweige. Die Erhöhung der Umlagen anderseits ist aber garnicht so außerordentlich erheblich, sondern beträgt nur ½ % des Arbeitslohnes, und diese Erhöhung ist auch keineswegs durch die Ver⸗ stärkung des Reservefonds allein verursacht; die Novelle von 1900 enthielt ja daneben 8 einige Verbesserungen, durch welche die Bezüge der Versicherten gesteigert wurden. Redner geht dann auf die weiteren Angaben in den Petitionen gegen den § 34 des Gewerbe⸗Unfallversicherungsgesetzes ein, daß jetzt die Vollrente viel weniger häufig bewilligt werde, das Heilverfahren ganz bedeutend vervollkommnet und die Unfallverhütung besser ausgestaltet worden sei. Beide Tatsachen könnten nicht etwa für das Verlangen nach Be⸗ seitigung des § 34 verwertet werden. Die Zahl der tödlich verlaufenen Unfälle sei keineswegs im allgemeinen zurückgegangen; vielmehr dürfte die Verminderung der Vollrenten auf eine veränderte Geschäftspraxis der Berufsgenossenschaften zurückzuführen sein. Ebenso lasse das Heil⸗ verfahren und besonders die Organisation der Unfallverhütung noch sehr viel zu wünschen übrig; die Zahl der von den Berufsgenossen⸗ schaften „beauftragten“ Kontrolleure sei noch immer viel zu gering. Bei den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften geschehe leider mit wenigen Ausnahmen für die Unfallverhütung noch nichts. Hier sehe man auch, wie es mit der gerühmten Königstreue der Agrarier stehe; denn sie wüßten ja doch, daß sie, wenn sie in dieser Richtung etwas täten, nur im Sinne der bekannten Aeußerung Seiner Majestat des Kaisers im Landesökonomiekollegium handelten. Hier müßte doch endlich von den Machtmitteln Gebrauch gemacht werden, die das landwirtschaftliche Unfallversicherungsgesetz an die Hand gebe, wenn die Agrarier sich gegen den kaiserlichen Willen auflehnten.
Abg. Schmidt⸗Elberfeld (fr. Volksp.): Auf meinen Antrag ist seinerzeit der § 34 des erwähnten Gesetzes beschlossen worden. Feauaf⸗ dings ist über die Wirkung dieses § 34 große Beunruhigung in die berufsgenossenschaftlichen Kreise hineingetragen worden. Man hat offenbar die mangelnde Gesetzeskenntnis der Gewerbetreibenden benutzt, um diese Bestimmung in demagogischer Weise auszunutzen, als ob den Betreffenden unrechtmäßigerweise zu viel ab⸗ genommen werde. Auch auf dem Berufsgenossenschaftstage in Bremen wurde eine Resolution dagegen an enommen, nachdem dort ein Herr Wenzel nachzuweisen gesucht hatte, daß die von der Regierung darüber vorgelegte Denkschrift unrichtige Angaben enthielte. Der Betreffende irrt sich, und die groben Febler, die er anderen nachsagt, liegen bei ihm selber. Man hat sich 1900 im Reichstage auf einen Mittelweg zwischen dem Umlage⸗ und dem Kapitaldeckungsverfahren geeinigt, um das plötzliche Erschweren der Verpflichtung um mehrere hundert Millionen zu vermeiden. Schon 1884 wurde zugegeben, daß die Umlageform die spätere Zeit erheblich belasten und die Neuetablierung von Geschäften, namentlich von kleinen Handwerksbetrieben, erschweren würde; diese Voraussage 1. und hat jene Beschlußfassung bewirkt. Für das kleine Gewerbe, den Mittelstand und das Handwerk ist der hohe Reservefonds als eine Sicherung gegen wechselnde geschäftliche Kon⸗ junkturen zu betrachten. Die Fehler der Gegenrechnung, die Herr Wenzel aufgestellt hat, sind nur darauf zurückzuführen, daß er gegen die einfachsten Regeln der Regeldetri verstoßen hat. Er hat auch die Verhandlungen des Reichstags nicht genau gelesen. Hoffentlich nimmt er seine Behauptung zurück, wie er schon auf dem Berufsgenossen⸗ schaftstage in Bremen wegen eines Angriffs gegen ein Bundes⸗ ratsmitglied hat Abbitte leisten müssen. Die größeren Reserven schützen vor einer plötzlichen Steigerung der Beiträge auch im Falle der Abnahme der Versicherungspflichtgen. Man wird uns später Zenr dafür wissen, daß wir in dieser Beziehung Vorsorge getroffen aben.
Abg. von Gerlach (fr. Vgg.): Durch eine Entscheidung der Königlichen Eisenbahndirektion veen⸗ wurde einem üscheidung dem beide Beine abgefahren waren, eine Hilflosenrente aberkannt, weil er ja, abgesehen von den eg.s des Unfalls, gesund und im Besitz der Hände sei. Auf diese Entscheidung könnte man auch die Bezeichnung „Gemütstiefe“ anwenden. Der Bescheid der Eisenbahndirektion stützt sich auf verschiedene Entscheidungen des Reichsgesundheitsamts. Diese Enscheidungen verstoßen aber gegen die Billigkeit, die Absicht des Gesetzgebers und den klaren Wortlaut des Gesetzes.
Abg. Trimborn (Zentr.): Ich bin im großen und ganzen der⸗ selben Meinung. Es wurden seinerzeit im Reichstage gerade die Fälle, wo ein Verunglückter beide Hände oder Füße verloren hat, als solche anerkannt, wo die Hilflosenrente gezahlt werden müßte. Auf Grund des § 48 des Gewerbe.Unfallversicherungsgese es haben die meisten Berufsgenossenschaften Dienstvorschriften Cirsen. in denen den Veenfseene enseeeennten die Pensionsberechtigung und der⸗ artige Versorgungen zugebilligt werden. Nur drei enossenschaften haben diese Wohltaten ihren Beamten nicht zu teil werden lassen. Vielleicht kann das Reichsversicherungsamt hier Abhilfe schaffen. Von der Weiterversicherung und Selbstversicherung der Handwerker wird jetzt leider nur ein i geringer Gebrauch gemacht. Es müßte dafür durch tabellarische Uebersichten über die geringen Bei⸗ träge, durch Vorträge in den Meisterkursen, Gesellenvereinen, in Fort⸗ bildungsschulen usw. Propaganda gemacht werden. Hygienische Vor⸗ träge und Themata allgemeiner Gesundheitsfragen würden auch sehr segensreich wirken.
Abg. Körsten (Soz.) weist auf die Zunahme der Unfälle gegen das Vorjahr hin, während die Zahl der Todesfälle enngüle gegen zurückgegangen sei. Die Entscheidungen des Reichsversicherungsamts würden für die Arbeiter immer ungünstiger. So werden, führt Redner weiter aus, neuerdings die Renten entzogen, wenn ein Arbeiter einen oder mehrere Fingerglieder verloren und sich mit der Zeit daran an⸗ geblich „gewöhnt“ hat. In einer Holzarbeiterversammlung befanden sich 75 % Verstümmelte, von diesen bezogen aber nur 20 % Renten. Dahin führt diese Spruchpraxis des Reichsversicherungs⸗ amts von dem „kleinen, unberechenbaren Schaden“, der durch den Verlust von Fingergliedern usw. eingetreten ist. Besonders schlimm ist die immer mehr einreißende Praxis des Reichsversicherungsamts, alles auf „Gewerbekrankheiten“ zurückzuführen, wodurch eine weitere Verminderung der Unfallrenten herbeigeführt wird. Daneben wird es den Unfallverletzten, deren Renten herabgesetzt worden sind, immer schwieriger, ein Attest zu erlangen, wenn sie den Bescheid anfechten wollen. Kein Krankenhaus stellt ein solches aus. Viele Aerzte weigern sich, eins auszustellen. Anderseits bekommt der Verletzte das Attest, das der behandelnde Arzt ausstellt, überhaupt nicht zu sehen, ja die Berufsgenossenschaften ver⸗ weigern sogar die Einsichtnahme. Bei den Rekursverhandlungen wird der Vertreter des Arbeiters häufig nicht einmal zugelassen. Das Reichsversicherungsamt ist auch schon dazu gelangt, zu erklären, daß es gleichgültig sei, ob ein Arbeiter ein Drittel seines Verdienstes im Beruf oder außerhalb berdignt., Vielfach verlangt jetzt das Reichsversicherungsamt auch, daß vor dem Eintritt in die Prüfung. des Rentenanspruches die Karten vom Arbeiter voll geklebt werden müssen, auch wenn durch Schuld oder Nachlässigkeit des Arbeitgebers jahrelang nicht geklebt worden ist. So steht es in der Praxid, und da darf man sich nicht wundern, daß die Invaliden⸗ und Altersrenten zurückgehen. b
Abg. Dr. Spahn: Wenn die Wünsche des Vorredners erfüllt werden sollen, müßte das ganze Verfahren vor den Schiedsgerichten umgestaltet werden. Zu den Einzelfällen hier im Reichstage Stellung zu nehmen, ist sehr schwer; wir müssen doch von der Voraussetzun ausgehen, daß die Herren im Reichsversicherungsamt auch na bester Ueberzeugung ihre Entscheidung treffen. In den Berichten ist die Angabe der Konfession der Empfänger von Darlehen aus Mitteln der Landesversicherungsanstalten immer noch nicht voll⸗ ständig enthalten. Wir bitten wiederholt um diese Angaben, um er⸗ sehen zu können, eb die katholischen Anstalten in größerem Umfange bei der Vergebung dieser Gelder berücksichtigt worden sind. Redner fordert schließlich Parität für die Konfession des Krankenpflege⸗ personals. In den Heilanstalten der Berufsgenossenschaften müßte volle Parität gewährt werden.
Staatssekretär des Innern, von Posadowsky⸗Wehner:
Ich gehe zunächst auf einige Bemerkungen des ersten Herrn Vor⸗ redners ein. Es ist behauptet worden, das Reichsversicherungsamt hätte den Grundsatz einer gewissen Gewöhnungsrente; wenn jemand trotz eines körperlichen Schadens sich gewöhnt hätte, eine gewisse Arbeit zu ver⸗ richten, werde die ihm zustehende Rente gekürzt. Das Sachverhältnis ist aber doch ein etwas anderes. Das Reichsversicherungsamt gewährt bisweilen Verunglückten, die durch einen Unfall in ihrer körperlichen Bewegungsfähigkeit irgendwie beschränkt sind, eine etwas höhere Rente, als eigentlich nach dem objektiven Befund ihres Leidens geboten wäre, von der Ueberzeugung ausgehend, daß ein Mann, der irgend einen Schaden an einem Gliede seines Körpers erlitten hat, allerdings eine gewisse Zeit gebrauche, um mit diesem Schaden, mit dieser körper⸗ lichen Behinderung seine alte Arbeit wieder in dem bisherigen Um⸗ fange fortsetzen zu können. Wenn dann eine Zeit vergangen ist, von der man annehmen kann, daß er sich inzwischen gewöhnt hat, mit dem beschädigten Gliede die alte Arbeit wieder zu verrichten, dann wird allerdings die Rente entsprechend heruntergesetzt, weil man sagt: jetzt hat der Mann sich so weit wieder eingearbeitet, z. B. mit einem verletzten Finger oder Arm, daß er seine Arbeit wieder in einem bestimmten Umfange verrichten kann. Daß aber darin, wie der Herr Vorredner anzunehmen schien, die Absicht läge, die Rente künstlich herabzudrücken, das ist nicht der Fall. Außerdem muß ich auf das entschiedenste bestreiten, daß das Reichsversicherungs⸗ amt jemals ein Erkenntnis dahingehend gefällt habe, daß jemand um deswillen eine geringere Rente zu bekommen habe, weil ein Arbeitgeber ihm den alten Lohn weitergewährt hat. Das wäre eine vollständig verkehrte Rechtsprechung. Humane Arbeitgeber gewähren sehr häufig Arbeitern, die infolge eines Unglücksfalles in ihrem Betriebe weniger arbeitsfähig geworden sind, trotzdem den alten Lohn weiter. Das ist selbstverständlich nur ein Akt der Frei⸗ gebigkeit des Arbeitgebers. Das darf aber natürlich bei einer gericht⸗ lichen Entscheidung auf Grund des Unfallversicherungsgesetzes nie in Rechnung gesetzt werden. Akte gutherziger Freigebigkeit gehen die Behörden nichts an; die rechtsprechende Behörde hat lediglich zu ent⸗ scheiden: in welchem Grade ist die bisherige normale Erwerbstätig⸗ keit des Mannes eingeschränkt?
Es ist dann weiter behauptet worden, daß der Verletzte das Attest gar nicht in die Hand bekäme, das der behandelnde Arzt über seine Verletzung ausgestellt habe. Das kann ich auch in dieser Allgemeinheit als zutreffend nicht anerkennen; denn für die Schiedsgerichtsinstanz heißt es im § 9 des Gesetzes:
Die dem Schiedsgericht eingereichten Urkunden sind sowohl den Berufsgenossenschaften wie den Verletzten rechtzeitig zuzustellen. Und dann heißt es weiter:
Inwieweit ärztliche Zeugnisse in gleicher Weise mitzuteilen sind, unterliegt zunächst der Entscheidung des Vorsitzenden.
Es ist also keineswegs gesetzlich ausgeschlossen, daß die ärztlichen Zeugnisse, insbesondere das Zeugnis, welches der behandelnde Arzt ausgestellt hat, den Verletzten mitgeteilt werden; aber bei den Be⸗ ratungen in der Kommission war, als diese Fassung gewählt wurde, der Gesichtspunkt maßgebend, daß es in manchen Fällen geradezu eine Grausamkeit wäre, den Verletzten das Attest mitzuteilen; denn manchmal ist dieses ärztliche Attest für den Verletzten geradezu ein Todesurteil. Ich glaube aber, wenn nicht derartige Gründe vorliegen, werden die Schiedsgerichtsvorsitzenden dieses Attest, welches für den Verletzten unter Umständen ein wichtiges Beweismaterial ist, ganz oder auszugsweise mitzuteilen keinen Anstand nehmen.
Auch der Vorwurf ist nicht ganz gerechtfertigt, der dahin geht, daß, wenn eine erste Festsetzung in einer Unfallsache stattgefunden hat, und der Rechtsweg gegen diese erste Entscheidung noch nicht erschöpft ist, bei einer demnächstigen Herabsetzung dieser ersten Festsetzung der Verletzte eigentlich nicht wisse, was er zu tun hätte. Ich weise auf den § 89 des Unfallversicherungsgesetzes hin, wonach in solchem Falle ausdrücklich die Rechtsbelehrung vorgeschrieben ist, daß durch das gegen den früheren Bescheid eingelegte Rechtsmittel der Eintritt der Rechts⸗ kraft des neuen Bescheides nicht gehemmt wird. Der Verletzte weiß in solchem Fall also ganz genau, was er zu tun hat.
Es ist auch wieder hingewiesen worden darauf, daß die landwirt⸗ schaftlichen Berufsgenossenschaften noch nicht die nötigen Unfallver⸗ hütungsvorschriften erlassen hätten. daß die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften eine staä ndige Kom⸗ mission errichtet haben, um solche Unfallverhütungsvorschriften zu entwerfen. Ich glaube, sie werden jetzt schon dem Reichsversicherungs⸗ amt vorliegen, und daraufhin soll mit den Berussgenossenschaften wegen Erlaß dieser Unfallverhütungsvorschriften alsbald verhandelt werden. Ich bin allerdings der Ansicht, daß es dringend notwendig ist, solche Unfallverhütungsvorschriften zu erlassen; denn durch die letzte Novelle zur Unfallversicherung sind eine ganze Anzahl von Nebenbetrieben, die früher zu den gewerblichen Berufsgenossenschaften gehörten, den land⸗ wirtschaftlichen Berufsgenossenschaften überwiesen worden. Für diese gewerblichen Berufsgenossenschaften bestanden aber einschließlich der landwirtschaftlichen Nebenbetriebe schon vielfach Unfallverhütungs⸗ vorschriften. Jetzt sind diese Nebenbetriebe dadurch, daß sie den land⸗ wirtschaftlichen Berufsgenossenschaften mit überwiesen sind, teilweise ohne derartige Vorschriften. Deshalb ist es dringend notwendig. daß jetzt seitens der landwirtschaftlichen Berussgeuossenschaften Unfallverhütungsvorschriften alsbald ergehen. Zunächst beziehen sich die erwähnten Entwürfe, die von der ständigen Kommission der land⸗ wirtschaftlichen Berufsgenossenschaften aufgestellt worden sind, nur auf die landwirschaftlichen Maschinen; das ist das Wichtigste. Man wird aber weiter gehen müssen, und ich doffe dringend, daß im Laufe des nächsten Jahres weitere Unfallverhütungs⸗ vorschriften zustande kommen. Die ständige Kommisston hat idrer⸗
Staatsminister Dr. Graf
Ich kann dem gegenüber bemerken,
seits den besten Willen, etwas Genügendes und Praktisches zustande zu bringen, aber man muß allerdings nicht vergessen, daß in der Landwirtschaft, wo der kleinste Mann bisweilen Maschinen hat — ich erinnere nur an die Häckselschneidemaschinen, Dresch⸗ maschinen —, die Gefahr einer Verunglückung außerordentlich groß ist, um so mehr, als diese Arbeiten häufig in dunklen, schlecht er⸗ leuchteten Räumen verrichtet werden. Deshalb ist es auch außer⸗ ordentlich schwer, gerade für die Landwirtschaft praktische und wirklich ausführbare Unfallverhütungsvorschriften zu erlassen. Es handelt sich nicht, wie bei der Industrie, um große Betriebe, sondern vielfach um kleine Handmaschinen, und bei diesen kleinen Maschinen passieren die meisten Unfälle.
Der Herr Abg. Dr. Spahn hat mich gefragt, was geschehen ist gegenüber dem Antrage des Abg. Schmidt (Warburg): erstens, fest⸗ zustellen, wie die Darlehen der Versicherungsanstalten verwendet sind nach der konfessionellen Seite hin, und zweitens, wie es sich verhält mit der Anstellung des Pflegepersonals in denjenigen Anstalten, die den Invalidenversicherungsanstalten unterstellt sind. Ich habe schon im Jahre 1902 durch das Reichsversicherungsamt die Invalide versicherungsanstalten und Kasseneinrichtungen anweisen lassen, in ihren Geschäftsberichten eine Uebersicht über die von den Versicherungs⸗ trägern gewährten Darlehen an Gemeinden, Schulen usw. unter Be 3 zeichnung des konfessionellen Charakters des Darlehnsnehmers auf⸗ zunehmen. Herr Dr. Spahn wird sich aus den einzelnen Berichten überzeugt haben, daß sämtliche Versicherungsanstalten das getan haben; nur drei sind meines Wissens der Aufforderung nicht nachgekommen es ist aber wiederholt an das Reichsversicherungsamt verfügt worden, 8 das Notwendige dieserhalb zu veranlassen. Ich habe nunmehr auf
Grund der Zusammenstellungen, die dem Reichsversicherungsamt vor⸗
liegen von allen Versicherungsanstalten, auch einschließlich der be
zeichneten drei, einen Vergleich ziehen lassen, wie die Verteilung der Darlehen stattgefunden hat, und da ergibt sich folgendes:
Anstalten mit protestantischem Charakter Darlehen gewährt worde
in Höhe von 7 509 443 ℳ und an Anstalten mit katholischem Charakter in Höhe von 8 963 448 ℳ (Hört, hört! rechts.) Daß es sich in den einzelnen Bundesstaaten und Provinzen verschieden gestaltet, mag richtig sein. Wenn man aber alle Bundesstaaten und Provinzen zusammennimmt, ist durchaus paritätisch vorgegangen, und wenn man das Verhältnis der protestantischen zur katholischen Bevölkerung innerhalb Deutfchlands zum Vergleich heranzieht, so sind in der Tat die Institute mit vorwiegend katholischem Charakter erheblich besser weggekommen als die Institute mit vor⸗ wiegend protestantischem Charakter, weil die katholischen Institute
eine erheblich höhere Summe erhalten haben als die protestantischen. (Hört, hört! rechts.) ü
Was die Verteilung des Pflegepersonals betrifft, so bin ich allerdings der Ansicht, man sollte bei dieser Gelegenheit ebenfalls mög⸗ 8 lichst paritätisch verfahren, um auch nicht den Verdacht zu erwecken, daß man die Reichsversicherungsgesetzgebung benutzen will, um irgend welche konfessionellen Zwecke damit zu verfolgen. Aber es ist sehr zweifelhaft, ob das Reichsversicherungsamt überhaupt befugt ist, in dieser Beziehung den Versicherungsanstalten bestimmte Vorschriften mu machen; denn die Versicherungsanstalten haben nur die Verpflichtung, ein geeignetes Pflegematerial anzustellen; welchem konfessionellen Charakter dieses Pflegepersonal anzugehören hat, glaube ich, ist das Reichsversicherungsamt nicht befugt, den Versicherungsanstalten vor⸗ zuschreiben. Es ist Sache des persöalichen Takts, möchte ich sagen, daß man in dieser Beziehung den tatsächlichen Verhältnissen möglichst Rechnung trägt; bestimmte allgemeine Regeln werden sich dafür nicht geben lassen. 3 Zum Schluß noch einige Bemerkungen gegenüber den Aus⸗ führungen des Herrn Redners von der sozialdemokratischen Partei, die sich einerseits auf die Aenderung der Gesetzgebung bezogen, andererseits auf die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts. — Was die Aenderung der Gesetzgebung betrifft, meine Herren, so werden wir alle Anregungen, die von diesem Hause ausgehen, sobald eine Novelle zu den sozialpolitischen Gesetzen ergeht, sehr eingehend prüfen, und eventuell wird ihnen, soweit sie berechtigt sind, auch Rechn getragen werden. Vorläufig stehen wir nicht vor einer solchen No⸗ velle; wir haben ja eben erst die großen Arbeiten des Umbaues der Versicherungsgesetze beendet.
Was aber die Bemängelung der Rechtsprechung des Reichs⸗ versicherungsamts betrifft, so ist es gar nicht möglich, wenn man nicht den einzelnen Fall und die Akten kennt, irgend ein Urteil zur Sache abgeben. Die Herren haben einzelne Erkenntnisse geprüft und richten gegen die oberste richterliche Behörde in diesen sozialpolitischen Fragen daraufhin heftige Angriffe; es ist mir aber nicht möglich, sie zu wider⸗ legen. Denn ob diese Angriffe berechtigt sind oder nicht, darüber kann man nur ein unparteiisches und gerechtes Urteil haben, wenn man selbst die Akten kennt; ich muß aber annehmen, das das Reichs⸗ versicherungsamt seine Pflicht der Rechtsprechung gewissenhaft übt.
Nun eine weitere Frage. Es ist hier geklagt worden über die Art der Verhandlung, daß zu viel Sachen in einem Termin gemacht werden. Ich habe Sie damals, als wir die Nodellen zu den großen sozial⸗ politischen Gesetzen berieten, dringend, aber leider vergeblich gebeten, das Verfahren in diesen Sachen zu vereinfachen Cehr richtig! vechts) und namentlich die Rekursinstanz abzuschaffen. Das Neichsversicherungs⸗ amt hat jetzt infolgedessen mit einem bedenklichen Mas von Resten zu kämpfen gegenüder dem fortgesetzten Anwachsen der Rekurse. Gs war schon von der Kommission im Jahre 1896 ausdrücklich be⸗ schlossen worden, daß der Rekurs fortfallen sollte bei allen Reuten. wo es sich um Gewährung don Rente wegen Verminderung der Arbeitsfähigkeit um weniger als 25 % handelte; dagegen sollte natürlich die Revision zulössig sein infolge don Formmängeln. Jeuer Entwurf kam indes nicht zustande. Wenn Sie die Statistik nachsehen über die Vermehrung der Rekurse, so werden Sie sehen. mie sich seitdem die Verhältnisse geändert haben. Schen damals wurde seitens
der Regterung erklärt, daß die Junahme der Geschäfte heim Reichs⸗ versicherungsamt geradezu undaltdare Zustände derdeiführte. Seitdem
find jetzt üder sechs Jahre dergangen, und die Zustände haben sich in dieser Beziehung immer ungünstiger gestaltet; die Rebarse sind 7806 im Jahre 1895 auf 14 107 im Jahre 1902 gestiegen. Um also
einigermaßen kurrent zu bleiden, Heidt dem Reichsverstcheranamt
gar nichts anderes üdrig, als möglichst diele Sachen in einer
zu erledigen; denn seldstverständlich will dericnige, der den Instangem⸗
zug deschreitet, auch möglichst dald ein end gältiges Urerck haben. langsamer
Würde das Reichsdersccherungsamt 8